Lisa heißt jetzt Lola und lebt in der Stadt - Romy Hausmann - E-Book

Lisa heißt jetzt Lola und lebt in der Stadt E-Book

Romy Hausmann

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Beschreibung

Was nützt es, wenn man clever und neugierig ist, aber in der niederbayerischen Provinz lebt? Nichts, denkt sich Lisa und lässt alles hinter sich. Die Oma, den frustrierenden Job, den Vater, der seit Jahren um ihre Mutter trauert. Seit deren Selbstmord vegetiert die gesamte Familie in einem grauen Einerlei dahin. Aber damit ist nun Schluss. Lisa zieht nach München und nennt sich fortan Lola. Party, Sex und große Freiheit – warum wollen nur die alten Wunden nicht verheilen?

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Seitenzahl: 364

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DAS BUCH

»Ach ja, mein Leben. Wie das halt so ist, wenn sich Radieschenschweine ganz oben auf der Liste der täglichen Highlights tummeln. Es sollte anders sein. Es sollte um mehr gehen. Aber fragen Sie jetzt bitte nicht, um was. Ich stelle mir ja gar nicht vor, in einer großen Stadt oder am Meer zu leben, teure Kleider zu tragen und einen Prinzen zu treffen, mit dem ich bis an mein Lebensende glücklich werde. Ich glaube nicht an Märchen, sondern vielmehr daran, dass die Gebrüder Grimm einfach zu faul waren, um sich ein realistischeres Ende auszudenken.«

DIE AUTORIN

Romy Hausmann ist Fernsehjournalistin, Medienberaterin, Menschenfreundin und Lebenssüchtige. Geboren 1981 in der ehemaligen DDR, hat sie bis heute ein fast obsessives Verhältnis zu Bananen und kann immer noch die erste Strophe von »Kleine, weiße Friedenstaube« auswendig. Sie mag Rock’n’Roll, Nächte, die entweder gar nicht oder mit Persönlichkeitsverlust enden, und süße, kleine Tierbabys. Ansonsten ist sie ganz normal. Findet sie.

ROMY HAUSMANN

Lisa heißt jetzt

Lola und lebt

in der

Stadt

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Originalausgabe 9/2014

Copyright © 2014 by Romy Hausmann

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Christiane Wirtz

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-08822-4

www.heyne.de

VON DER GROBEN

Ich stehe mit dem Rücken der Theke zugewandt. Mein Gesicht spiegelt sich in dem blank polierten Silber der Wurstschneidemaschine: rosa, glänzend, ein bisschen wie die Teewurst, die ich jeden Morgen in der Auslage mit Petersiliensträußchen anrichte. Ich könnte jetzt anfangen, darüber zu referieren, dass der Beruf der Fleischereifachverkäuferin eine sehr enge Zusammenarbeit mit Petersiliensträußchen erfordert, aber das würde doch niemanden interessieren. Nicht mal mich selbst. Eigentlich – wenn ich das jetzt mal so derbe formulieren darf – scheiße ich auf meinen Job. Natürlich nur im übertragenen Sinne, denn obwohl ich nicht viel darüber weiß, über meinen Job, meine ich, bin ich mir ziemlich sicher, dass man nicht auf die Wurstauslage kacken sollte. Ist bestimmt nicht gut fürs Geschäft. Im Gegenteil: Es ist sehr wichtig, immer freundlich zu den Kunden zu sein. Das ist im Einzelhandel das A und O – muss es ja sein, sonst hätte man es nicht ganz vorne ins Lehrbuch hineingeschrieben. A und O. A und O. Konzentrier dich, Lola. Es geht um die Wurst. Freundlich sein. Lächeln. Nicht mal ansatzweise denken, dass der aktuelle Kunde am kalten Braten ersticken möge. Kunden sollen nämlich nicht am kalten Braten ersticken. Steht sicher auch irgendwo im Lehrbuch.

»Übrigens, Fräulein Berner, Sie sehen heute ganz bezaubernd aus«, schaltet er sich in meine Gedanken ein, und mein Spiegelbild in der Schneidemaschine zieht eine Grimasse. Er ist niemand, von dem man so etwas hören möchte. Ein hässlicher, aufgequollener Bauer, der wie die anderen hässlichen, aufgequollenen Bauern in diesem Dorf, das ich gerne »Shittingen« nenne, einen immensen Wurstkonsum zu haben scheint. Es wäre nicht überheblich zu behaupten, es läge daran, dass ich im Gegensatz zu den meisten hier nicht aussehe, als wären meine Eltern miteinander verwandt gewesen.

»Darf’s ein bisschen mehr sein?«, frage ich zwar ungern, doch kurzfristig abgelenkt habe ich zu viel geschnitten.

Und überhaupt gehört diese Frage ja genauso zu meinem Job wie Petersiliensträußchen und Kundenfreundlichkeit und sollte mich nicht jedes Mal dazu bringen, sie auf mein Leben zu beziehen, und ihn nicht in die Verlegenheit, in diesem Säuselton »Aber immer doch« zu sagen. Prompt verspüre ich nämlich den Drang, mir den Zeigefinger in den Rachen zu rammen, entscheide mich dann aber doch dafür, ihm einfach die Wurst ins Papier zu wickeln. Hat übrigens auch was mit Kundenfreundlichkeit zu tun.

»Und dann nehme ich noch so hundertfünfzig Gramm von der Leberwurst«, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu und glotzt auf das kleine Logo-Schweinchen auf der Brusttasche meines Kittels.

»Grob oder fein?«

»Grob«, schnurrt er. Schnurrt er. So, danke, das war’s. Mein Tag ist gelaufen. Um Viertel nach acht. A und O. A und O. Weiterlächeln. Möglichst unbeeindruckt die 7,69 Euro für seine heutige Wichsvorlage kassieren. Ich meine, auf lange Sicht käme er natürlich um einiges günstiger, wenn er sich endlich eine Porno-DVD im Internet bestellen würde, anstatt täglich eine Wochenration Aufschnitt zu kaufen. Aber darüber nachzudenken, gehört nicht zum Jobprofil. Ich bin einfach nur die Wurstverkäuferin und verkaufe Wurst. Das ergibt Sinn.

»Es war mir wie immer ein Vergnügen.« Sein Vergnügen natürlich im Säuselton. Dass mir in diesem Augenblick wieder latent übel wird, liegt nur daran, dass die Mayonnaise, die Oma mir heute Morgen lieblos auf das Schinkenbrot geschmiert hat, ihren eigenen Todestag verpasst hat. Lächeln, Lola, komm, immer weiterlächeln.

Er klemmt sich das Wurstpaket unter die nasse Achsel, und bevor sich die Glastür mit einem Seufzer hinter ihm zuschiebt, dreht er sich noch einmal um. Um mir zuzuzwinkern. Um mir zuzuzwinkern!!! Entweder das, oder er hat irgendeine Störung mit der Augenmotorik.

»Schönen Tag noch!«, höre ich mich hinterherrufen, und meine Stimme klingt dabei glockenhell. »Hanna, meinst du, man könnte sich an einer Wiener-Würstchen-Kette erhängen? Also, na ja, rein physikalisch gesehen, meine ich.«

»Hä?« Hanna kneift die Augen zu dummen, kleinen Schlitzen zusammen. Da hat sie einen ausgezeichneten Realschulabschluss, aber mehr als die Vermutung, ich würde zeitnah meine Tage kriegen, lässt ihr Verstand dann doch nicht zu. Sie sagt nämlich immer, dass wir uns was darauf einbilden sollten. Immerhin ist die Metzgerei Frey ein Traditionsunternehmen in vierter Generation. Und wir dürfen hier arbeiten. Wir dürfen. Das hatte mein Vater auch gesagt, als er mir damals die Ausbildung verschaffte, und irgendwie muss es mich beeindruckt haben, denn normalerweise spricht er nicht besonders viel.

»Schnitz lieber noch ein paar Radieschen«, sagt Hanna und zieht einen Brocken luftgetrockneten Schinken aus der Auslage. Der Kleintierzuchtverein hat am Wochenende seine Jahresfeier und erwartet üppige und ordentlich dekorierte Aufschnittplatten. Petersiliensträußchen reichen da nicht aus. Das volle Programm. Kleine Schweinchen und Rosen aus Radieschen. Und ich schnitze, als ginge es um mein Leben. Keine Ahnung, wieso. Ginge es wirklich um mein Leben, würde ich nicht schnitzen.

Ich wäre nicht mal hier.

»Muss kurz Pipi«, sage ich und lasse das Schnitzmesser fallen. Hanna stöhnt. Erst vor Kurzem hatten wir ein Gespräch, in dem es um meine Arbeitsmoral ging, aber als ich den Eindruck bekam, dass sie dabei eigentlich nur ein paar pseudowichtige Sätze aus dem Lehrbuch zitierte, habe ich nicht mehr zugehört und stattdessen versucht, sie möglichst lange anzusehen, ohne zu zwinkern. Irgendwann kamen mir vor lauter Anstrengung die Tränen, und Hanna dachte tatsächlich, ich hätte es eingesehen. Na ja, aber wie gesagt, in der Schule war sie echt gut. Ich gehe durch den Flur zur Toilette, sperre die Tür ab, zünde mir eine Kippe an und hocke mich auf den geschlossenen Klodeckel. Also, wo waren wir?

Ach ja, mein Leben.

Wie das halt so ist, wenn sich Radieschenschweine ganz oben auf der Liste der täglichen Highlights tummeln. Es sollte anders sein. Es sollte um mehr gehen. Aber fragen Sie jetzt bitte nicht, um was. Ich stelle mir ja gar nicht vor, in einer großen Stadt oder am Meer zu leben, teure Kleider zu tragen und einen Prinzen zu treffen, mit dem ich bis an mein Lebensende glücklich werde. Ich glaube nicht an Märchen, sondern vielmehr daran, dass die Gebrüder Grimm einfach zu faul waren, um sich ein realistischeres Ende auszudenken.

– Hey, Jakob, komm, die Dirne ist da!

– Echt? Kacke, Aschenputtel ist doch noch gar nicht fertig!

– Ach, scheiß drauf, schreib: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Obwohl, im Grunde ist es bei mir ganz ähnlich. Ich lebe ja eigentlich auch nur, weil ich zufällig gerade nicht tot bin. Scheiße, da entwickele ich doch glatt eine spontane Sympathie für die Grimms. In meiner Vorstellung gibt es nämlich auch kein richtiges Ende, kein bestimmtes Ziel, keinen rosaroten, großen Plan, der im Dunklen leuchtet und sich kuschelig anfühlt. Nicht mehr.

Früher hatte ich ja schon so kindliche Dumm-Träume. Ich wollte Tierärztin werden oder Prinzessin. Aber das kam bei mir zu Hause nicht so gut an. Da hieß es, ich könne keine Tierärztin werden, weil ich kein eigenes Haustier zum Üben habe, und auch die mögliche Anschaffung wurde rigoros verweigert, denn Haustiere machen Dreck und fressen einem die Haare vom Kopf. Dabei hatte mein Vater doch schon mit Ende zwanzig eine Halbglatze. Noch weniger Haare, und er wäre kahl gewesen. Also keine Haustiere. Und Prinzessin, nun ja. Welcher Prinz sollte sich schon nach Shittingen verirren, an unserer Tür klingeln und sagen: »Du! Genau du! Dich habe ich gesucht!«? Das sah ich ein.

Inzwischen gibt es keine Träume mehr. Es gibt da eher so was Grobes. Abgesehen von der Leberwurst, meine ich. Etwas Grobes, das so in Richtung »irgendwie anders« geht. Hanna hat mal gesagt, ich wüsste nicht, was ich will, aber das ist Scheiße, denn woher soll man denn auch wissen, was man will, wenn man nicht weiß, was man haben kann? Ist doch wie beim Wurstkaufen. Man muss erst mal in die Auslage gucken, um zu wissen, was es gibt. Wofür hätte man die Auslage sonst erfunden? Überhaupt ist sie in letzter Zeit irgendwie schräg drauf und redet in einer Tour vom Erwachsenwerden. Dabei hat sie auch so einen richtig ernsten Blick drauf, und ich weiß dann nie, was ich sagen soll, denn eigentlich macht es doch keinen Unterschied, ob wir zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig sind. Wir atmen und verkaufen Wurst, gehen abends Bier trinken, immer weiter so, bis wir eines Tages aufwachen und schrumpelig sind. Übrigens wäre das noch der Glücksfall, denn ansonsten würden wir zwischendrin noch einen der hässlichen, aufgequollenen Bauern heiraten, schwanger werden und den schwiegerväterlichen Hof übernehmen. Da stünden wir dann, mit den Gummistiefeln knietief in der Kuhscheiße, mit der Mistgabel in der einen Hand und einem dicken, rotbäckigen Säugling im anderen Arm, der uns die Brüste leer saugen würde, bis sie aussähen wie Luftballons, aus denen man die Luft herausgelassen hat. So was sehen wir doch fast jeden Tag.

Mädchen wie Julia Bühler, die zwei Klassen über uns war und aus dem Urlaub in der Türkei mit einem Hennatattoo zurückkam. Da war sie vierzehn. Sie war vierzehn und hatte ein gottverdammtes Tattoo! Wir sagten, wir würden sie hassen. Ein paar Wochen später war das Tattoo zwar verblasst, aber Julia war leider immer noch cool, denn sie hatte mal ein Tattoo. Vor einem halben Jahr jedoch kam sie in den Laden und kaufte Lyoner, wie alle Mütter Lyoner kaufen, um sie ihren hässlichen Scheißblagen in den Mund zu schieben, damit sie ruhig sind. Julia Liebhardt, geborene Bühler, ist nun Ende zwanzig – theoretisch. Praktisch ist ihr Leben vorbei. Sie hat drei Kinder, Luftballontitten und konnte sich eine halbe Stunde lang darüber aufregen, dass der Fotograf, der die Klassenfotos ihrer ältesten Tochter gemacht hatte, die kleine, fette Sechsjährige aussehen ließ wie eine kleine, fette Sechsjährige. Das war nicht cool. Julia Liebhardt hat nie ein Tattoo gehabt.

Ach ja. Manchmal denke ich, irgendeiner müsste einfach mal raus aus dem Scheißkaff und den Typen hier zeigen, dass es auch anders geht. Dass es da draußen eine Welt gibt, ja, ganz recht: da draußen! Nicht nur im Fernsehen. Und ich würde ihn dann fragen, wie es dort so ist. Na ja, was soll’s, eigentlich habe ich ja gar keine Lust, mir über so was Gedanken zu machen. Mir überhaupt Gedanken zu machen. Es kommt ja doch alles, wie es kommen will, und man muss es wohl so hinnehmen. Laufen lassen quasi.

Apropos: Wo ich doch nun schon mal hier bin … Ich drücke die Zigarette unter dem Fenstersims aus, werfe sie in die Schüssel, setze mich und spüle den Gedanken an ein anderes Leben zusammen mit der Kippe und hellgelbem Morgenurin die Kanalisation hinunter.

»Lisa, komm, das muss schneller gehen!« Hanna greift nach dem Messer, das ich gerade erst wieder in die Hand genommen habe. Sie ist die Wurstkönigin, daran lässt sie nicht den geringsten Zweifel. Sie schnitzt schönere Radieschenschweine, knotet ihre schwarz gefärbten Haare sorgfältiger und verliert dadurch auch nie nur ein Haar über dem Aufschnitt. Und wie sie ausgerastet ist, als ich vor Kurzem einfach mal vorgeschlagen hatte, auf das Tatar zu spucken. Es war doch nur ein Spaß. Also, sehr wahrscheinlich war es nur ein Spaß. »Warum würdest du so was tun wollen?« Riesige Augen glotzten mich in Grund und Boden. Eine Antwort hatte ich nicht.

»Ey, Lisa, ehrlich, du musst dich einfach mal ein bisschen mehr anstrengen!« Außerdem will sie einfach nicht einsehen, dass ich Lola heiße. Keiner will das. Was natürlich daran liegen könnte, dass Lisa auf meiner Geburtsurkunde steht, und dem Hörensagen zufolge soll es auch der Name gewesen sein, den der Pfarrer bei meiner Taufe erwähnt hatte. Aber ich will nicht Lisa heißen!

Das wusste ich schon mit vier. Es klang schief und tat weh, wenn meine Mutter diesen Namen durch die Küche brüllte, wo er an den hässlichen braunen Fliesen mit den aufgeprägten Vogelmotiven abprallte und durch den Raum echote. Immer wieder. Lisa. Lisa. Lisa.

Doch eines Tages lief währenddessen das Radio. The Kinks mit Lola. Unglaublich, wie Lola sich dem Widerhall von Lisa entgegenstellte und schließlich gewann. The Kinks singen nämlich über drei Minuten lang. So lang schaffte es kein Echo, egal, wie laut meine Mutter schrie.

Seitdem weiß ich, dass ich in Wirklichkeit Lola heiße. Aber erklären Sie das mal irgendwem.

»Grüß Gott!« Die Frau des Bürgermeisters betritt den Laden. Ihr Mann bescheißt sie übrigens mit der Chorleiterin aus dem Nachbardorf, aber darauf soll man sie nicht ansprechen, meint Hanna. Kundenfreundlichkeit und so. Also geht es stattdessen um den Rinderbraten, den sie fürs Mittagessen am Sonntag vorbestellt hatte, und sie besteht darauf, dass er wirklich gut sein muss, denn Bäcker Kerstner kommt mit seiner Frau zu Besuch, und die haben es ja, wie man weiß, im Augenblick sehr schwer. Die Nichte einer Cousine hat nämlich eine Essstörung, worüber wir nun auch nicht so direkt sprechen, aber es ist ja ein offenes Geheimnis, dass sie Essigwasser säuft.

»Ich sag’s Ihnen, Fräulein Lisa, die armen Kerstners. Wenn das dumme Mädchen doch nur begreifen würde, was sie ihrer Familie damit antut!« Genau. Kein Essig mehr fürs Salatdressing übrig, das muss wirklich die Hölle sein. Schäm dich, dummes Mädchen. »Versprechen Sie mir einfach, dass das ein ganz ein feines Fleisch ist, Fräulein Lisa.«

Ich nicke. »Das Rind war noch so jung, fast noch ein Kalb, um nicht zu sagen: Es ist grad erst aus seiner Mutter herausgekrabbelt, hat einmal am frischen Gras geschnuppert und einer kleinen Blume die Knospe abgekaut, und schon liegt es totgeschmort bei Ihnen auf der Sonntagstafel, Frau Bürgermeister.« Hanna rammt ihren Ellenbogen in meine Rippen. »Ein ganz ein feines Fleisch, das verspreche ich Ihnen.«

Frau Bürgermeisters lächelt mich an, als hätte ich gerade die Welt gerettet, und drückt mir beim Bezahlen ein paar Cent Trinkgeld in die Hand. Dreizehn, um genau zu sein. So viel ist die Welt heutzutage also wert. Scheiß Inflation. Und eigentlich fehlt jetzt auch nur noch, dass sie sagt: »Aber nicht alles auf einmal ausgeben.« Macht sie aber nicht. Sie sagt Hanna und mir, dass wir gute Mädchen bleiben sollen. Trinkt kein Essigwasser. Das sagt sie zwar auch nicht, aber so ist es wohl gemeint.

Auf die Minute um zwölf sitzen wir in der Küche der Familie Frey im Stockwerk über der Metzgerei, während Rosi, die Frau des Chefs, mit einer monströsen Schöpfkelle Eintopf verteilt.

An der Kopfseite des Tisches hängt Neun-Finger-Bert mit dem Gesicht nur Millimeter über seinem Teller und zischt: »Zu wenig Wurst, Rosi! Du lernst es aber auch nie!«

Rosi hält inne, eine volle Kelle schwebt direkt über meinem noch leeren Teller, und sieht zu ihrem Mann, dem undankbaren Schwein. Einen Moment lang und noch einen, dann schwappt die Kelle meine Ration schließlich auf den Teller. Ohne dass sie ihm gesagt hätte, dass er sie kann. Niemand würde ihm das sagen. Ich denke, das liegt am Stummel. Bert Frey hat nämlich vor über dreißig Jahren seinen halben rechten Zeigefinger im Wursthäcksler verloren. Ob man das fehlende Stück damals aus der Maschine herausgefischt oder einfach improvisatorisch ins Schweinehack eingearbeitet hat, ist nicht weiter belegt. Das ist natürlich seltsam, weil man hier sonst eigentlich über alles Bescheid weiß, letztlich dann aber doch unerheblich für die Tatsache, dass dieser Stummel nun irgendwie mächtig ist. Unheimlich. Zumal Neun-Finger-Bert ihn gerne als Mahnfinger einsetzt und immer jede Menge anzumahnen hat. Und dabei spricht er nicht. Er zischt. Ein Zischen, das sich schmerzhaft in die Großhirnrinde beißt.

»Das nächste Mal machst du es gefälligst richtig, Rosi. Da gehört ein ganzer Fleischwurstring rein.«

Sie nickt und nimmt sich als Letzte aus dem großen Topf.

Danach: Löffel, die am Porzellan entlangkratzen, ein bisschen Geschlürfe, das Ticken der Uhr an der Wand. Viel lieber würde ich jetzt mit Hanna auf dem Hof hinter der Metzgerei herumhängen und rauchen, doch als ich einmal nur ansatzweise versuchte, eine alternative Pausengestaltung anzufragen, hat Neun-Finger-Bert seinen Stummel erhoben und gezischt: »Wir haben das immer so gemacht.« Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen.

»Ihr helft der Rosi noch beim Abwaschen, und dann kommt ihr runter in die Halle zum Abspritzen«, entscheidet er nach dem Essen, als er seinen massigen Körper von der rustikalen Eckbank wuchtet, und verlässt die Küche.

Wieder kein Hofgang, dabei scheint die Sonne heute doch so schön. Die Verdauungszigarette stattdessen eingeschlossen im Klo unter Vortäuschung chronischer Blasenschwäche. Ich komme zurück in die Küche und trockne lustlos mit ab, während Hanna und Rosi sich über das schöne Wetter unterhalten. Dann gehen wir runter in die Schlachthalle, wo seit dem Morgen ein paar Schweine zum Ausbluten kopfüber herumbaumelten, die Neun-Finger-Bert inzwischen zerlegt hat. Hanna spritzt die blutigen Fliesen mit der Hochdruckbrause ab, und ich wische mit dem Mopp über den Boden. Schlachttage sind wirklich am schlimmsten. Es dauert immer Stunden, um diesen süßlich-gammeligen Geruch wieder aus der Nase zu bekommen. Vielleicht werde ich irgendwann Vegetarierin.

Am Nachmittag zweimal Wichsvorlage, zweimal Essigwasser, einmal Bürgermeister mit Chorleiterin, zweiundvierzig Cent Trinkgeld. Hanna und ich machen die Platten für den Kleintierzuchtverein fertig und planen den Abend, obwohl es dabei weniger um einen Plan geht als um eine Grundsätzlichkeit, denn der Apfelbaum ist nun mal die einzige Kneipe im Umkreis von zwanzig Kilometern. Ein größerer Ausflug lohnt alleine deshalb nicht, weil der letzte Bus nach Hause um halb elf fährt. Hanna hat zwar mal gesagt, dass sie sich bald ein Auto anschaffen wolle, und dass ab da alles besser werden würde, aber als ich sie gefragt habe, wo wir dann hinfahren würden, hat sie nur gelacht. Ich weiß nicht, was wäre, wenn der Apfelbaum eines Tages zumachen würde.

»Ey, vielleicht ist Wolfi heute auch da«, sagt sie in diesem Moment. Alle Mädchen in Shittingen stehen auf Wolfi, weil er seine Klamotten im Internet bestellt. Und als seine Mutter das letzte Mal bei uns eingekauft hat (Schweinehalsgrat, das weiß ich noch genau), hat sie erzählt, er sei jetzt bei der Bundeswehr, stationiert in Ellwangen. Ellwangen ist fast hundert Kilometer entfernt von hier. Hundert Kilometer! Wenn ich ihn sehe, muss ich ihn unbedingt mal fragen, ob es dort irgendwie anders ist.

»Könnte sein. Heute ist Freitag«, stelle ich fest, und ausnahmsweise spielt es tatsächlich eine Rolle, welchen Tag wir haben, weil die Jungs vom Bund freitagabends meistens schon zu Hause sind. »Weißt du schon, was du anziehst?«

»Meinen Minirock wahrscheinlich.« Freitags zieht Hanna immer den Minirock an.

»Ich wahrscheinlich auch«, sage ich, weil ich freitags auch immer den Minirock anziehe. »Vielleicht bügle ich mir auch noch die Haare.« Ich kneife meine Augen zusammen und starre sie an, während eine imaginäre Mundharmonika die ersten Töne von The Good, The Bad and The Ugly bläst.

In diesem Moment kneift Hanna ebenso die Augen zusammen und sagt stierend und monoton: »Ich werde Mama auch mal fragen, ob sie mir die Haare bügelt.«

Und dann herrscht erst mal Stille. Keine von uns will zuerst blinzeln.

Dabei weiß Hanna ja eigentlich genauso gut wie ich, dass sie nicht gebügelt werden muss. Es sind nur ganz, ganz leichte Wellen in ihrem schwarzen Haar, in diesem wunderschönen schneewittchenmäßigen Märchenhaar. In den Starmagazinen sieht man zurzeit ja nichts anderes als wunderschönes schneewittchenmäßiges Märchenhaar.

Ich blinzle. Mist. Verloren. Nicht nur beim Starren. Locken wie Ringelschwänzchen. Und noch dazu die Farbe. In der Grundschule haben die Kinder immer gerufen: »Lisa, dein Kopf brennt!« Und in der Realschule war es noch schlimmer: »Lisa Schamhaarschädel«. Danke, ihr Wichser. Zum Glück bekam ich irgendwann Brüste, und zwar so große, dass ich inzwischen auch eine Glatze haben könnte. Ha! Trotzdem dachte ich schon ein paarmal daran, mir die Haare wenigstens schwarz zu färben, so wie Hanna. Möglicherweise würde es mich ein bisschen blass machen, aber Schneewittchen war vom Hauttyp ja nun auch nicht unbedingt eine Latina und hat trotzdem sieben Kerle abgekriegt. Aber eigentlich weiß ich ja, dass ich niemals schwarze Haare haben werde. Allein schon wegen dieser störenden hohen Stimme, die darauf besteht, dass die Chemie in den Haarfärbemitteln durch die Kopfhaut sickern und das Gehirn angreifen würde. Sie gehört zu Annfried B. aka Grandmother Fucker oder wie sie sich am liebsten nennen lässt: Oma.

Seitdem ich denken kann, trifft sie meine Entscheidungen, da habe ich keine Chance. Oma hat nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland wiederaufgebaut, ganz alleine, mit ihren bloßen winzigen Kinderhändchen, und dagegen bin ich natürlich nur ein kleiner, ahnungsloser Furz, der mit ein paar verzweifelten »Aber, aber, aber’s« um sich wirft und schließlich mit »Was für eine dumme Idee« mundtot gemacht wird. Ist ja schon mit der Genetik begründet für mich kaum widerlegbar. Meine Mutter hatte nämlich auch immer viele Ideen, bis sie eines Tages – da war ich gerade fünf Jahre alt – auf ebenjene kam, einfach mal aus dem vierten Stock zu springen. Ideen machen Flatsch! und enden als blutiger Brei. Sagt Oma. Und dann noch so was wie »Keine Diskussion mehr«. Wir diskutieren nämlich nicht, nie, und schon gar nicht über den uneleganten Abgang meiner Mutter. Pfui. Dafür gibt es einfach keine Gründe, und wenn es sie jemals gegeben haben sollte, dann hat man sie mit ihren breiigen Überresten vom Asphalt gekratzt.

Ich weiß noch, wie wir in der sechsten Klasse einmal einen Aufsatz über unsere Mütter schreiben sollten. Hundert Wörter waren die Vorgabe. Ich dagegen hätte ja nur eins gehabt, also ging ich zu Oma und fragte nach. Als Antwort bekam ich eine Handbewegung, die aussah, als verscheuchte sie eine lästige Fliege, und ein genervtes »Pah!«, das sie in den Raum spuckte. Mein Aufsatz las sich folglich: Meine Mutter war Hausfrau und ist aus dem Fenster gesprungen. Danach war sie Brei. Jetzt ist sie tot. Achtzehn Wörter. Ich musste auffüllen.

Meine Mutter war eine sehr ordentliche Hausfrau und ist aus dem frisch geputzten Fenster hinaus nach unten auf die Straße gesprungen. Fast wäre sie in unserem Garten gelandet. Der Garten war auch sehr ordentlich. Es gab viele Beete, und darin standen sehr viele weiße Rosen und ein Gartenzwerg. An seiner Mütze war ein Stück Keramik herausgebrochen. Aber trotzdem war der Garten schön. Meine Mutter war also auch eine gute und ordentliche Gärtnerin. Sie wäre daher bestimmt gerne im Garten gelandet, aber leider landete sie auf der Straße. Danach war sie sehr roter und matschiger Brei. Jetzt ist sie leider tot.«

Ich bekam eine Fünf.

Meine Lehrerin rechnete mir zwar an, dass ich tatsächlich hundert Wörter ablieferte, zweifelte aber an der Ernsthaftigkeit, mit der ich mich dieser Aufgabe gewidmet hatte. Ich legte Oma die Note zur Unterschrift vor und heulte dabei, doch sie zuckte bloß mit den Schultern und sagte: »Siehst du, daran ist nur deine Mutter schuld. Denk ruhig mal darüber nach, Lisa.«

Tue ich bis heute.

Und ich komme zu dem Schluss, dass man irgendwie echt am Arsch ist, wenn die Mutter grundlos depressiv war. Das ist fast noch schlimmer, als rote Ringellocken zu haben.

»Wieso bist du denn heute so spät?« Natürlich gleich an der Haustür. Der Kopf schräg, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Vor ein paar Wochen ist Oma zweiundsiebzig geworden. Und sie scheint zu schrumpfen. Wenn sie direkt vor mir steht, so wie jetzt gerade, dann kann ich einen breiten Streifen blassrosa Kopfhaut sehen, dort, wo sich der Scheitel in ihre dünner werdenden hellgrauen Haare legt. Ich glaube, ich will nicht alt werden. Und eigentlich kann ich es auch nicht gutheißen, dass sie alt wird. Ist. Eigentlich ist sie doch schon viel zu alt. Manchmal stelle ich mir vor, sie würde sterben. Ein Herzinfarkt oder so was. Sie würde in der Küche zusammenbrechen, mit dem Kopf auf das abgelatschte Linoleum knallen und die Augen verdrehen. Ich würde dann natürlich den Notruf wählen, aber eigentlich auch nur, weil man das eben so macht.

»Wir mussten warten, bis der Obermayer endlich die Sachen für die Vereinsfeier am Wochenende abgeholt hat.«

»Lisa, eine ganz eine schlimme Gossensprache ist das immer! Es heißt: der Herr Obermayer.«

»Okay. Wir mussten so lange warten, bis der Herr Obermayer endlich die beschissenen Sachen für seine kack Vereinsfeier abgeholt hat.«

Ich dränge mich an ihr vorbei durch den Flur in die Küche, in der mein Vater seit Jahren auf immer demselben Stuhl sitzt und sich zu keiner Tages- oder Nachtzeit zu bewegen scheint. Wirklich, er sitzt nur da. Immer. Und starrt dösig auf irgendeinen Punkt auf dem Tisch. Die Wurst auf der Platte, die Oma zum Abendessen vorbereitet hat, fängt bereits an, Wellen zu schlagen, aber natürlich würden die beiden niemals ohne mich beginnen. So was macht man nicht. Wir nicht. Wir mögen nicht viel Geld haben, aber dafür Manieren.

Also setz dich grade hin, Lisa, Ellenbogen vom Tisch, und friss dein Brot.

Jawoll, Frau Omandant.

»Der Herr Obermayer ist ein ganz ein netter Mensch«, sagt sie, während sie mir Tee eingießt. »Und so tierlieb. Schön, dass es auch noch solche Menschen gibt. Findest du nicht auch, Erwin?«

Mein Vater sagt nichts, stattdessen schmiert er sich mechanisch seine Stulle. Brot, Butter, Zungenwurst, mittelscharfer Senf aus dem Glas. Wie jeden Abend. Seit einigen Jahren arbeitet er nicht mehr. Keine Ahnung, warum. Er sagt ja nie was. Aber eigentlich war er auch schon stumm, als er noch Tankwart war. Die Tankstelle gibt es inzwischen nicht mehr. Also nicht für ihn. In Wirklichkeit gibt es sie natürlich noch, gleich am Ende unserer Straße, doch man will ihn dort nicht haben, obwohl Oma bis heute steif und fest behauptet, es sei eine Jugendgang aus dem Ostblock gewesen, die das ganze Bier geklaut habe. Nach seiner Kündigung hielt er es nicht für nötig, sich nach einer Alternative umzusehen. Er hielt es für nötig, sich auf seinen Stuhl zu setzen und zu glotzen. Und das zieht er nun – das muss man ihm lassen – auch konsequent durch.

»Zum Wochenende backe ich uns einen schönen Schmandkuchen«, sagt Oma. »Schön« mit ganz lang gezogenem Ö. Und dann sieht sie mich an, als würde sie irgendetwas erwarten.

Ich überlege. Whitney Houston mit One Moment in Time? Ausgerollte Gebetsteppiche mit Begeisterungsschreien gen Mekka? ’ne Cheerleadergang, die zur Feier des Schmandkuchens wild mit ihren Puscheln durch die Küche hopst? Go, Oma! Go, Oma! Gebt mir ein O! Gebt mir ein M! Gebt mir ein A!

»Aha«, sage ich tonlos.

Und damit ist die Party vorbei.

Oma schüttelt den Kopf und macht ein paar unnötige Ts-Laute. »Weißt du, Lisa, es würde dir nicht schaden, mal ein bisschen mehr Dankbarkeit zu zeigen.«

Jawoll, da isser wieder, Herrschaften! Ein herzliches Willkommen an meinen Lieblingssatz! Nehmen Sie Platz, Bester, und bedienen Sie sich! Es ist genügend da: Brot, Wurst, Butter, und am Wochenende gibt’s sogar noch einen schönen Schmandkuchen! Einen mit ganz langem Ö! Greifen Sie zu! Nur nicht so schüchtern!

»Also?« Sie sieht mich immer noch an.

Sag es einfach, Lola. Sag es, damit endlich Ruhe ist. Sag: Danke für das Zuhause, das du mir und meinem stummen Vater gegeben hast, nachdem deine Schwiegertochter damals auf den Asphalt geknallt ist. Sag: Danke für dieses Zuhause, das sauber ist und nach Kuchen riecht! Danke für mein Zimmer im ersten Stock mit den gerippten braunen Vorhängen an den Fenstern und den zauberhaften blümchenbedruckten Tapeten an der Wand, für die ich natürlich auch dankbar bin. So dankbar, dass ich keine Poster aufhängen darf, weil der Klebestreifen sie kaputt machen könnte, die zauberhaften blümchenbedruckten Tapeten!!!

»Danke, Oma.«

Zufriedenes Nicken. Zum Kotzen.

»Und, war’s denn gut in der Arbeit?«, fragt sie nach einer Weile und beißt in ein hart gekochtes Ei. Vier Stück liegen jeden Abend auf einem kleinen weißen Teller mit blauem Zwiebelmuster. Es muss immer dieser Teller sein. Es muss immer das Zwiebelmuster sein. Und es müssen immer vier Eier sein: zwei für den stummen Erwin, eins für Oma und eins für mich. Und sie lagen alle genau sieben Minuten lang im sprudelnd heißen Wasser. Nicht sechseinhalb, nicht acht, nein, sieben. Sieben oder es gibt einen riesigen Knall, und der Erdball explodiert.

»Hm.«

»Jetzt erzähl doch mal, Lisa. Was hast du denn heute so gemacht?«

»Ich habe Wurst verkauft, Oma. Wie jeden Tag.«

»Sehr gut«, sagt sie, während ihr dabei der hart gekochte Sieben-Minuten-Dotter aus dem Mund krümelt, und ich mich wieder einmal mit dem Gedanken tröste, dass sie eines schönen Tages auf dem Linoleum herumzappeln wird.

Ich stelle mir vor, wie es ohne sie hier wäre. Erwin ließe mich machen, was immer ich wollte. Einmischungen jeglicher Art würden ja voraussetzen, dass er seinen Mund bewegt und spricht. Dieses Opfer würde er bestimmt nicht bringen. Ich wäre frei. Hätte schwarze Haare. Und vielleicht würde ich etwas ganz Verrücktes machen und ein Sechs-Minuten-Ei essen.

Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig in den Bus und schwanke, während er anfährt, zur hintersten Sitzreihe, unserem Platz, den Hanna auch ohne mich besetzt hat. Erst als ich mich neben sie plumpsen lasse, sieht sie von ihrem Handy auf. »Ey, ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

Natürlich sind ihre Haare glatt. Und natürlich sind es meine nicht, weil Oma mir das Bügeleisen unter grauenvollem Gejaule abgerungen hat. Die Hitze frisst sich die Haare entlang und brennt sich in die Kopfhaut ein. Schließlich entsteht so eine Art Schwelbrand im Gehirn, und du bist für den Rest deines Lebens darauf angewiesen, dass jemand dich mit Brei füttert. Okay, das mit dem Brei hab ich mir gerade ausgedacht, aber hätte ich das Ganze noch weiter hinterfragt, wäre der Bus wohl tatsächlich ohne mich gefahren.

»Bin eingeschlafen«, sage ich nun zu Hanna, weil es besser klingt und gleichzeitig erklärt, warum ich immer noch Locken habe.

»Na ja, wenn ich erst mein Auto habe.« Ein Satz, den sie nicht einmal zu Ende bringen muss, denn er fällt so oft, seit Jahren, immer wieder, der goldene, allmächtige Satz, dessen offenes Ende Tage voller Flexibilität und Freiheit verheißt.

»Wann willst du es dir denn nun anschaffen?«

»Bald.« Ganz ehrlich? Ich schätze, wir werden wohl für immer mit dem Bus fahren. »Wir könnten uns dann ja auch das Benzin teilen, oder?«

»Klar.« Du einen Schluck, ich einen Schluck.

»Ey, und wir sollten mal schauen, ob es in der Drogerie schöne Schminktäschchen gibt. Es wäre doch total cool, wenn wir dann immer ein Schminktäschchen im Handschuhfach hätten!«

»Ja.«

»Ist was mit dir?«

»Nein. Wir hätten dann immer unser Schminktäschchen dabei.«

Hanna lächelt und schaut aus dem Fenster. Wie glücklich sie dabei aussieht. Aber wahrscheinlich wäre ich auch glücklich, wenn ich Hanna wäre, ob mit oder ohne Auto. Ihre Haare, ihr Leben. Dieses hübsche neue Reihenhaus, in dem sie wohnt, mit ihrer Mutter, ihrem Vater und Spencer, dem Hamster. Vielleicht wäre ich sogar glücklich, wenn ich Spencer wäre. Der hat nämlich einen Käfig, der aussieht wie eine riesige Butterdose, irgendwie total schick. Und ihre Mutter hat Strass auf den Nägeln, was immer sehr schön schimmert, wenn sie an ihren L&M zieht. Der Vater, der nebenbei erwähnt sogar spricht, arbeitet bei der Post und verdient zumindest so viel Geld, dass sie im Sommer für eine Woche an die Adria fahren können. Samt Spencer in der Butterdose. Sie sind eine Familie. Keine Familie aus dem Bilderbuch, keine Märchenfamilie, nein, eine ganz normale, wo das Familienleben schlicht darin besteht, sich in friedlicher Koexistenz gegenseitig am Arsch zu lecken. Ihre Mutter sagt nie etwas, wenn Hanna sich die Haare färbt, wahrscheinlich weil sie einfach zu sehr damit beschäftigt ist, sich neue Strassmuster auf die Nägel zu kleben. So eine Mutter hätte ich auch gerne. Irgendwie hätte ich überhaupt gerne mal irgendwas. Nur für mich alleine. Ich lehne meinen Kopf an Hannas Schulter und beschließe, mich heute Abend richtig abzuschießen.

Fünfzehn Kilometer sind es von Shittingen bis in die Stadt. Kleinstadt. Nennen wir sie der Einfachheit halber »Shit City«. Shit City hat knapp zwanzigtausend Einwohner, und die Hälfte davon drängt sich an diesem Abend im Apfelbaum zusammen. Es ist heiß hier drinnen und stickig, der ganze Laden verschwindet seit Jahren unter einem Dauerfilter von schwerem, grauem Rauch. Irgendwo da hinten gibt es Erzählungen zufolge einen Billardtisch, und in einer anderen Ecke angeblich eine Dartscheibe, aber wir werden wohl nie erfahren, ob das wirklich stimmt. Blind vom Qualm halten wir uns krampfhaft an der Theke fest, um die unmittelbare Orientierung nicht zu verlieren. Unnötig also, nach Wolfi Ausschau zu halten.

»Zweimal Bananenweizen«, errät der Thekenknecht und legt noch zwei Schlehenschnäpse aufs Haus drauf. Selbst gebrannt von seiner Mutter.

»Ey, krasser Scheiß!« Kurzfristig wird Hannas Gesicht zu einer Fratze, doch irgendwie versteht er das als Kompliment und stellt uns gleich noch mal zwei hin.

Da tippt mir plötzlich von hinten jemand an die Schulter. Ich drehe mich um und kneife die Augen zusammen. Es ist Bert junior, der Sohn von Neun-Finger-Bert, der als Schlachter bei einer Metzgerei im Nachbardorf arbeitet. Er ist so alt wie wir, Metzger-untypisch schmächtig und hat ein Gesicht, das aussieht wie ein Gemälde von Picasso: rechts oben ein Auge, links unten ein Ohr, so als hätte man all seine Gesichtsmerkmale in einen Würfelbecher gesteckt und ordentlich drauflosgeschüttelt.

»Na, Mädels?«

»Na, Bert?«

Pause. Haddaway fängt an mit What is Love, und während die halbe Kneipe mitgrölt, muss Bert wenigstens erst mal für eine Weile mit dem Kopf zum Takt nicken, damit ihm wieder etwas einfallen kann. »Was läuft?« ist das Ergebnis.

»Haddaway mit What is Love«, will ich daraufhin antworten, aber das würde er nicht schnallen, also belasse ich es bei: »Wie immer«, und er nickt wieder.

Als nicht zu vermuten ist, dass noch mehr kommt, drehen wir uns wieder zur Theke um, wo bereits das nächste Schlehenduo steht. Der Thekenknecht grinst und zwinkert mir zu. Ich zwinkere zurück, obwohl er nicht mein Typ ist, aber nach einem halben Liter Bananenweizen und dem letzten Schnaps erkenne ich inzwischen durchaus die Möglichkeit, künftig meine Getränkekosten zu minimieren.

»Ey, du stehst doch nicht etwa auf den Thekenknecht? Der ist doch bestimmt schon Mitte vierzig, oder nicht?«, fragt Hanna, die mich beobachtet haben muss.

»Nee.« Sie hat ja recht. Wolfi könnte noch kommen, und er trägt bestimmt wieder ein neues Teil aus dem Internet. Was sollte er denn denken, wenn er mich beim Rumzwinkern mit dem Thekenknecht erwischen würde? Um abzulenken, nehme ich das Glas mit dem Freischnaps in die Hand und sage: »Anders wird er den wahrscheinlich nicht los.«

Wir kichern und prosten einander zu, und während sich die Schlehe durch meine Speiseröhre frisst, stelle ich mir vor, wie Mutter Thekenknecht, allein und hutzelalt, aber höchst euphorisch, für Tage und Nächte mit einem saisonal gefüllten Obstkörbchen in den Keller verschwindet und dabei zusieht, wie der Schnaps durch die Destille tröpfelt. Ach, ich wünschte, Oma hätte auch so ein Hobby. So ein einsames, sehr mitmenschenfreundliches. Dafür würde ich auch, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Leber opfern. So eine blöde Leber wird ja sowieso völlig überbewertet. Jeden Montag liegen mindestens ein halbes Dutzend davon bei uns in der Auslage. Hundert Gramm für neunundneunzig Cent, also komm. Einmal vor Oma Ruhe zu haben, ist dagegen unbezahlbar.

»Er steht immer noch da«, brummt Hanna mir ins Ohr und nickt über meine Schulter Richtung Bert junior.

»Lass ihn, der geht schon.« Kaum habe ich das gesagt, muss ich selbst darüber lachen. Wo sollte er denn hin? Wer in den Apfelbaum geht, der bleibt, bis der letzte Bus fährt. Ist so was wie ein ungeschriebenes Gesetz.

Dementsprechend hat sich Bert junior in den letzten zehn Minuten auch nicht von der Stelle gerührt.

»Ziemlich lahm heute, hä?«, brüllt er irgendwann gegen meinen Hinterkopf, aber ich reagiere nicht. Er ist hässlich und langweilig, sogar jetzt noch, wo ich einsehen muss, dass Wolfi heute wohl nicht mehr kommen wird. Ich versuche, mich damit zu trösten, dass Hanna sich die Haare nun ganz umsonst gebügelt hat und, falls Oma doch recht behalten sollte, vielleicht bald mit Brei gefüttert werden muss. Hilft aber kaum, also trinke ich Bananenweizen und Schlehenschnaps in Dutzenden, immer abwechselnd, bis ich merke, dass mein rechtes Augenlid ständig unkontrolliert herunterklappt. Links sehe ich seit den letzten drei Schnäpsen schon gar nichts mehr.

Aber ich spüre noch etwas.

Einen warmen, ekelhaften Whiskeyatem in meinem Gesicht.

Eine Hand auf meinem Knie.

»Ich kaufe gerne bei dir ein, Lisa«, sagt eine Stimme, und sie könnte jedem gehören. Dem Bauern von heute Morgen, dem Bauern von heute Vormittag, dem vom Nachmittag, dem tierlieben Herrn Obermayer. »Du hast so schöne Haare, Lisa, so schöne kleine Löckchen.«

Ja, dem tierlieben Herrn Obermayer. Ich glaube, sein jüngster Enkel hatte gerade Kommunion. Ich versuche, nach hinten zu rutschen, und falle dabei fast von meinem Hocker.

»Hanna?« Hanna ist nicht mehr da.

»Wie ein Engelchen.«

»Hanna?«

»Ich bin hier.« Hanna ist doch da! »War nur kurz auf Toilette.«

Darüber bin ich so erleichtert, dass ich beinahe vergesse, warum ich darüber so erleichtert bin, dann aber fällt es mir wieder ein, und ich pikse mit dem Zeigefinger in die Luft Richtung Whiskeyfahne. »Der hat mich angemacht!«

»Willst du lieber gehen?«, höre ich Bert junior neben mir.

Dumme Frage. Natürlich will ich gehen. Oder eine Schusswaffe. Der tierliebe Herr Obermayer, dessen Enkel doch gerade erst Kommunion hatte. Würde es sich nicht so schrecklich anfühlen, wäre es eine Anekdote, die ich Oma erzählen wollte. Es würde sie bestimmt treffen. Und wenn nicht, dann bräuchte ich erst recht eine Schusswaffe. Damit würde ich sie nämlich auf jeden Fall treffen. Selbst in meinem momentanen Zustand, voll besoffen und halb blind.

»Lisa?«

Mein fünf Tonnen schwerer Schädel schnippt nach vorne und wieder zurück. Es soll eigentlich ein Nicken sein, fühlt sich aber anders an als sonst, und um meine Absichten klarer zu machen, rutsche ich vom Barhocker und fasse so lange unkontrolliert ins Leere, bis ich glaube, Hannas Arm gegriffen zu haben.

»Was hat sie denn? Ich meinte doch nur wegen der Löckchen!«

Hinter uns wird es unruhig, viele Stimmen sprechen durcheinander, ein kleiner Tumult. Instinktiv will ich mich umdrehen, vielleicht sogar vorschlagen, doch noch ein bisschen zu bleiben, wo nun endlich mal etwas los zu sein scheint, aber ich hänge an Hanna fest, und die prescht nach vorne zum Ausgang. Auf den letzten Metern gerate ich ins Straucheln, verliere ihren Arm und stolpere schließlich nach draußen. Im letzten Moment, bevor ich auf den Asphalt knalle, reißt Hanna mich zurück. Sie sagt: »Wir haben noch eine halbe Stunde, bis der letzte Bus fährt« und »War doch schön heute Abend, oder nicht?«.

Im nächsten Augenblick muss das Beamen erfunden worden sein, denn ich stehe nur eine Sekunde später, ich schwöre, nur eine einzige Sekunde später, mitten auf einem stoppelig rasierten Kornfeld, über dem der Mond hell und voll scheint wie eine riesige Diskokugel.

»Geil!«, schreit Hanna, die sich eine weitere Sekunde später in einen großen, dünnen Wolf mit beneidenswert glatten langen Haaren verwandelt und beginnt, die Diskokugel anzujaulen.

Ich folge ihrem Schrei mit meinem Blick. So viele Sterne sind da oben, ein leuchtender, milchiger Schweif in der stockdunklen Nacht, eine helle, unregelmäßige Spur wie gestocktes Eiweiß. Vielleicht hat ein Engel ins himmlische Schwarz gewichst. Ein wunderbares Gefühl ergreift mich, nimmt mich in den Arm und fängt an, mich herumzuwirbeln, bis mir ganz schwindelig wird.

»Macht euch nackig, macht euch nackig!«, stört ein kleines fleischfarbenes Schwein diesen wundervollen Moment und hüpft auf und ab. Es soll aufhören. Ich muss mich doch weiter im Kreis drehen, mit weit von mir gestreckten Armen. Ich muss fliegen. Ich muss da hoch, ich muss die Sterne anfassen und den Engeln zugucken.

»Auauauauauuu!«, singt der Wolf.

»Nackig, nackig, nackig!«, quiekt das kleine Schwein, bevor ich ihm endlich eins auf die Schnauze gebe und es rücklings auf dem Feld landet.

Hanna packt mich am Arm. »Warum hast du das gemacht, ey?«

Ich blinzele und kann nicht mehr aufhören damit. Für jeden Gedanken einen Wimpernschlag. Gerade noch hat es sich gut angefühlt. Dann kam das Schwein. All die Schweine in diesem Dorf, die jeden Tag in den Laden kommen, Wurst kaufen, die mich anfassen wollen. Die Wut brennt in meinem Bauch mit dem Schnaps um die Wette, verätzt meine Innereien, bis ich schließlich vollkommen ausgebrannt bin. Kein einziges Wort hat den Großbrand überlebt. Ich bin stumm. Erwin. O mein Gott, ich bin Erwin! Auch das noch.

Hanna lässt mich los und beugt sich über das regungslose kleine Tier am Boden. »Hast aber nicht richtig zugehauen, ey. Der lebt ja noch.« Das hat sie doch gesagt, oder habe ich es mir eingebildet? Nein, sie hat es gesagt, ganz bestimmt. Ihr Blick. Selbst in der Dunkelheit der Nacht will ich darin eine Aufforderung erkennen, und es kommt mir gar nicht so falsch vor. Dann fängt sie an zu lachen und sagt: »Ey, wie krass wäre es, wenn er sterben würde?«

Und damit holt sie es zurück, dieses wunderbare Gefühl. Sie stellt sich einfach auf die Zehenspitzen, greift mit ihren Händen direkt in den Himmel und holt es zurück. Ich kann nicht anders, als mich dem hinzugeben und trete zu. Kleine bunte Blasen in meiner Blutbahn explodieren und verschaffen mir mit jedem weiteren Tritt einen Rausch. Hanna spürt es auch. Wir treten abwechselnd. Es ist die absolute Macht, die Entscheidung über ein Leben, etwas Göttliches. Wie es stöhnt unter unseren Tritten. Die Blasen in meinem Blut zerplatzen in immer kürzeren Intervallen. Wir treten. Wir treten weiter. Wir treten immer noch weiter, bis das Schwein plötzlich anfängt, Fontänen zu kotzen. Mein ausgestreckter Fuß verharrt in der Luft und lässt sich nicht mehr bewegen. Ein Schwall Kotze legt sich schwer und stinkend über unsere Macht. Und dann ist es einfach vorbei.

Am Boden liegt plötzlich kein Schwein mehr, es ist Bert. Einfach nur der kleine, hässliche Bert, der nichts kann für all das, was möglicherweise zu diesem Moment geführt hat. Der mich nie angefasst hat, der eine Muschi doch höchstens als ausklappbare Heftmitte in DIN A4 im Playboy kennt. Bert, verdammt!

»Hör auf!«, schreie ich ihn an. »Hör auf zu kotzen!«

Ich zerre an seinem Oberkörper, der mir unfassbar schwer vorkommt und gleichzeitig so willig und leblos wie der Körper einer Puppe. Ich presse ihm die Hand vor den Mund, nur für ein paar Sekunden, dann ziehe ich sie wieder weg, weil mich die warme Nässe, die sich dagegen drückt, so dermaßen anwidert.

»Lisa, ey, komm, wir müssen abhauen!«, höre ich Hanna und weiß, dass sie recht hat.

Ich sage Bert, dass es mir leidtut und dass er besser aufhören sollte zu kotzen. Nicht dass er am Ende noch daran erstickt.

Dann rennen wir weg.

METZ, IRGENDWIE

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