Literatur und Lüge - Karl Kraus - E-Book

Literatur und Lüge E-Book

Karl Kraus

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Beschreibung

Neben seinen sprachgewandten Glossen und Aufsätzen war Karl Kraus auch für seine Literaturkritik bekannt und berühmt. In diesem Band sammelte er diese Schriften, die auch allzuoft nicht einer gehörigen Portion Satire entbehren.

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Literatur und Lüge

Karl Kraus

Inhalt:

Literatur und Lüge

Die Büchse der Pandora Gesprochen als Einleitung zur ersten, von mir veranstalteten Aufführung am 29. Mai 1905.

Notizen

Die Maisonne eines Septemberlebens

Ihre Freundschaft mit Ibsen

Der Bulldogg

Literatur

Aus dem Papierkorb

Der alte Tepp

Girardi und Kainz

Aus der Branche

Notizen

Übersetzung aus Harden

Der Patriot

Harden-Lexikon

Seine Antwort

Notizen

Der Freiherr

Schnitzler-Feier

Notizen

Der Fall Kerr

Desperanto

Schoenebeckmesser

Wenn wir Toten erwachen

Razzia auf Literarhistoriker

Einer aus der Steiermark

Ein gut erhaltener Fünfziger

Bahr-Feier

Notizen

Die Staackmänner

Wer ist der Mörder?

Die neue Art des Schimpfens

Zum Gesamtbild der Kulturentwicklung

Notizen

Warnung vor der Unsterblichkeit

Literatur und Lüge, Karl Kraus

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849629861

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Kraus – Biografie und Bibliografie

Österreichischer Publizist und Schriftsteller, geboren am 28. April 1874 im nordböhmischen Gitschin (heute: Jicín), verstorben am 12. Juni 1936 in Wien. Sohn des jüdischen Papierfabrikanten Jakob Kraus und dessen Frau Ernestine. Schon mit drei Jahren zieht K. mit seiner Familie nach Wien, wo er 1892 sein Abitur ablegt und ein Jurastudium antritt. Bis 1896 studiert er auch Philosophie und Germanistik, bricht sein Studium dann aber ab. Schon während dieser Zeit gibt es erste Veröffentlichungen, z.B. in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". 1899 gründet er die überaus erfolgreiche Zeitschrift "Die Fackel" und distanziert sich vom Judentum. 1911 wird er Katholik. Während des Ersten Weltkriegs wird "Die Fackel" mehrfach konfisziert. Auch später eckt Kraus mit seinen pazifistischen und anti-nationalsozialistischen Äußerungen vermehrt an.

Wichtige Werke:

    Die demolirte Litteratur. 1897,.

    Sittlichkeit und Kriminalität. 1908

    Sprüche und Widersprüche. 1909.

    Die chinesische Mauer. 1910

    Die letzten Tage der Menschheit 1918

    Weltgericht. 1919

    Untergang der Welt durch schwarze Magie. 1922

    Literatur. 1921

    Traumstück. 1922

    Wolkenkuckucksheim. 1923

    Die Unüberwindlichen. 1927

Literatur und Lüge

Die Büchse der Pandora Gesprochen als Einleitung zur ersten, von mir veranstalteten Aufführung am 29. Mai 1905.

... Die Liebe der Frauen enthält wie die Büchse der Pandora alle Schmerzen des Lebens, aber sie sind eingehüllt in goldene Blätter und sind so voller Farben und Düfte, daß man nie klagen darf, die Büchse geöffnet zu haben. Die Düfte halten das Alter fern und bewahren noch in ihrem Letzten die eingeborene Kraft. Jedes Glück macht sich bezahlt, und ich sterbe ein wenig an diesen süßen und feinen Düften, die der schlimmen Büchse entsteigen, und trotzdem findet meine Hand, die das Alter schon zittern macht, noch die Kraft, verbotene Schlüssel zu drehn. Was ist Leben, Ruhm, Kunst! Ich gebe alles das für die benedeiten Stunden, die mein Kopf in Sommernächten auf Brüsten lag, geformt unter dem Becher des Königs von Thule, – nun wie dieser dahin und verschwunden ...

Félicien Rops.

»Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt.« Ein Dichter und Liebender, zwischen Liebe und künstlerischer Gestaltung der Frauenschönheit schwankend, hält Lulus Hand in der seinen und spricht die Worte, die der Schlüssel sind zu diesem Irrgarten der Weiblichkeit, zu dem Labyrinth, in dem manch ein Mann die Spur seines Verstandes verlor. Es ist der letzte Akt des »Erdgeist«. Alle Typen der Mannheit hat die Herrin der Liebe um sich versammelt, damit sie ihr dienen, indem sie nehmen, was sie zu spenden hat. Alwa, der Sohn ihres Gatten, spricht es aus. Und dann, wenn er sich an diesem süßen Quell des Verderbens vollberauscht, wenn sich sein Schicksal erfüllt haben wird, im letzten Akt der »Büchse der Pandora«, wird er, vor dem Bilde Lulus delirierend die Worte finden: »Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so natürlich, so selbstverständlich, so sonnenklar, was wir erlebt haben. Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig weißen, strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.« Diese Worte, vor dem Bilde des Weibes gesprochen, das zur Allzerstörerin wurde, weil es von allen zerstört ward, umspannen die Welt des Dichters Frank Wedekind. Eine Welt, in der die Frau, soll sie ihrer ästhetischen Vollendung reifen, nicht verflucht ist, dem Mann das Kreuz sittlicher Verantwortung abzunehmen. Die Erkenntnis, welche die tragische Kluft zwischen blühenden Lippen und bürgerlichen Stellungen begreift, mag heute vielleicht die einzige sein, die eines Dramatikers wert ist. Wer die »Büchse der Pandora«, die im »Erdgeist« zwar ihre stoffliche Voraussetzung hat, aber das gedankliche Verständnis des Ganzen erst erschließt, wer diese Tragödie Lulu begriffen hat, wird der gesamten deutschen Literatur, so da am Weibe schmarotzt und aus den »Beziehungen der Geschlechter« psychologischen Profit zieht, mit dem Gefühle gegenüberstehen, das der Erwachsene hat, wenn ihm das Einmaleins beigebracht werden soll. Ich würde mich nicht scheuen, diese große Revue psychologischer Kindereien mit manchem Klassiker zu eröffnen. Die tiefsten Erforscher männlichen Gefühlslebens haben vor dem Augenaufschlag ihrer eigenen Heldinnen zu stammeln begonnen, und die unsägliche Tragik, der sie Worte liehen, war durch alle Zeiten die Tragik der verlorenen Virginität. Ein »Werde du zur Dirne«, oft auch bloß ein verschämtes »Werde du zur –«, von irgendeinem Knasterbart gemurmelt, wir hören es durch alle dramatischen Entwicklungen bis in unsere Tage: immer wieder sehen wir den dramatischen Knoten aus einem Jungfernhäutchen geschürzt. Nie haben sich hier die Dichter als Erlöser der Menschheit gefühlt, sondern sich mit ihr unter das Damoklesschwert gebeugt, das sie in christlicher Demut freiwillig über sich aufgehängt hat. Den Irrwahn, daß die Ehre der Welt vermindert wird, wenn sie ihre Freude vermehrt, haben sie gläubig nachgebetet. Und sie schrieben Tragödien über das, »worüber kein Mann wegkann«. Daß man über die knorrigen Plattheiten eines denkenden Tischlermeisters viel weniger wegkönnen sollte als über das Abenteuer seiner Maria Magdalena, ist ja eine literarische Angelegenheit für sich. Aber dem dramatischen Gejammer über die Verminderung des weiblichen Marktwertes hat erst Frank Wedekind entsagt und abgesagt. In seiner Bekenntnisdichtung »Hidalla« erhebt sich Fanny turmhoch über den Freier, der sie verschmäht hat, weil ihr »der Vorzug« mangelt, der ihre Geschlechtsgenossinnen erst preiswert macht: »Deswegen also bin ich jetzt nichts mehr?! Das also war die Hauptsache an mir?! Läßt sich eine schmachvollere Beschimpfung für ein menschliches Wesen ersinnen? – als deswegen, um eines solchen – Vorzugs willen geliebt zu werden?! – Als wäre man ein Stück Vieh!« ... Und dann die gewaltige Doppeltragödie, deren zweiten Teil Sie heute schauen werden, die Tragödie von der gehetzten, ewig mißverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt. Ein Spießrutenlauf der Frau, die vom Schöpferwillen dem Egoismus des Besitzers zu dienen nicht bestimmt ist, die nur in der Freiheit zu ihren höheren Werten emporsteigen kann. Daß die flüchtige Schönheit des Tropenvogels mehr beseligt als der sichere Besitz, bei dem die Enge des Bauers die Pracht des Gefieders verwundet, hat sich noch kein Vogelsteller gesagt. Sei die Hetäre ein Traum des Mannes. Aber die Wirklichkeit soll sie ihm zur Hörigen – Hausfrau oder Maitresse – machen, weil das soziale Ehrbedürfnis ihm selbst über den Traum geht. So will auch jeder, der die polyandrische Frau will, diese für sich. Solchen Wunsch, nichts weiter, hat man als den Urquell aller Tragödien der Liebe zu betrachten. Der Erwählte sein wollen, ohne der Frau das Wahlrecht zu gewähren. Und daß vollends Titania auch einen Esel herzen könne, das wollen die Oberone nie begreifen, weil sie gemäß ihrer höheren Besinnungsfähigkeit und ihrer geringeren Geschlechtsfähigkeit nicht imstande wären, eine Eselin zu herzen. Darum werden sie in der Liebe selbst zu Eseln. Ohne ein vollgerüttelt Maß von sozialer Ehre können sie nicht leben: und darum Räuber und Mörder! Zwischen den Leichen aber schreitet eine Nachtwandlerin der Liebe dahin. Sie, in der alle Vorzüge der Frau eine in sozialen Vorstellungen befangene Welt zu »Lastern« werden ließ.

Einer der dramatischen Konflikte zwischen der weiblichen Natur und einem männlichen Dummkopf hat Lulu der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, und sie müßte in neunjähriger Kerkerhaft darüber nachdenken, daß Schönheit eine Strafe Gottes sei, wenn nicht die ihr ergebenen Sklaven der Liebe einen romantischen Plan zu ihrer Befreiung ausheckten, einen, der in der realen Welt nicht einmal in fanatisierten Gehirnen reifen, auch fanatischem Willen nicht gelingen kann. Mit Lulus Befreiung aber – durch das Gelingen des Unmöglichen zeichnet der Dichter die Opferfähigkeit der Liebessklaverei besser als durch die Einführung eines glaubhafteren Motivs – hebt die »Büchse der Pandora« an. Lulu, die Trägerin der Handlung im »Erdgeist«, ist jetzt die Getragene. Mehr als früher zeigt sich, daß ihre Anmut die eigentliche leidende Heldin des Dramas ist; ihr Porträt, das Bild ihrer schönen Tage, spielt eine größere Rolle als sie selbst, und waren es früher ihre aktiven Reize, die die Handlung schoben, so ist jetzt auf jeder Station des Leidensweges der Abstand zwischen einstiger Pracht und heutigem Jammer der Gefühlserreger. Die große Vergeltung hat begonnen, die Revanche einer Männerwelt, die die eigene Schuld zu rächen sich erkühnt. »Die Frau«, sagt Alwa, »hat in diesem Zimmer meinen Vater erschossen; trotzdem kann ich in dem Morde wie in der Strafe nichts anderes als ein entsetzliches Unglück sehen, das sie betroffen hat. Ich glaube auch, mein Vater hätte, wäre er mit dem Leben davongekommen, seine Hand nicht vollständig von ihr abgezogen.« In dieser Empfindensfähigkeit gesellt sich dem überlebenden Sohn der Knabe Alfred Hugenberg, dessen rührendes Schwärmen im Selbstmord endet. Aber zu einem Bündnis, das ergreifender nie erfunden wurde, treten Alwa und die opferfreudige, seelenstarke Freundin Geschwitz zusammen, zum Bündnis einer heterogenen Geschlechtlichkeit, die sie doch beide dem Zauber der allgeschlechtlichen Frau erliegen läßt. Das sind die wahren Gefangenen ihrer Liebe. Alle Enttäuschung, alle Qual, die von einem geliebten Wesen ausgeht, das nicht zu seelischer Dankbarkeit erschaffen ist, scheinen sie als Wonnen einzuschlürfen, an allen Abgründen noch Werte bejahend. Ihre Gedankenwelt ist, mag er sie auch noch so sehr in einzelnen Zügen von der seinen absondern, die Gedankenwelt des Dichters, jene, die schon in dem Shakespeareschen Sonett zu tönen anhebt:

Wie lieblich und wie süß machst Du die Schande, Die wie ein Wurm in duftiger Rose steckt Und Deiner Schönheit Knospenruf befleckt – Du hüllst die Schuld in wonnige Gewande! Die Zunge, die wohl Deinen Wandel tadelt, Wenn sie leichtfertig deutend, von Dir spricht, Läßt ohne Lob doch selbst den Tadel nicht, Weil schon Dein Name bösen Leumund adelt. O welche Wohnung ward den Fehlern, die Zu ihrem Aufenthalt Dich auserlesen! Die reinste Schönheit überschleiert sie Und tadellos erscheint Dein ganzes Wesen.

Man kanns auch – mit dem albernen Roman-Medizinerwort – Masochismus nennen. Aber der ist vielleicht der Boden künstlerischen Empfindens. Der »Besitz« der Frau, die Sicherheit des beatus possidens ist es, ohne was Phantasiearmut nicht glücklich sein kann. Realpolitik der Liebe! Rodrigo Quast, der Athlet, hat sich eine Nilpferdpeitsche angeschafft. Mit der wird er sie nicht nur zur »zukünftigen pompösesten Luftgymnastikerin der Jetztzeit« machen, sondern auch zum treuen Eheweib, das bloß jene Kavaliere bei sich zu empfangen hat, die er selbst bestimmt. Mit diesem unvergleichlichen Philosophen der Zuhältermoral beginnt der Zug der Peiniger: nun werden die Männer an Lulu durch Gemeinheit vergelten, was sie durch Torheit an ihr gesündigt haben. Die Reihe der verliebten Alleinbesitzer wird naturnotwendig von der Reihe der Praktiker der Liebe abgelöst. In ihr folgt auf Rodrigo, der leider die Fähigkeit verlernt hat, »zwei gesattelte Kavalleriepferde auf seinem Brustkorb zu balancieren«, Casti Piani, dessen Schurkengesicht eine bösere sadistische Gewalt über Lulus Sexualwillen erlangte. Um dem einen Erpresser zu entrinnen, muß sie sich dem andern an den Hals werfen, jedermanns Opfer, jeden opfernd, bis der Erschöpften als der letzte und summarische Rächer des Mannsgeschlechts – Jack the Ripper in den Weg tritt. Von Hugenberg, dem seelischesten, führt der Weg bis zu Jack, dem sexuellsten Manne, dem sie zufliegt wie die Motte dem Licht – dem extremsten Sadisten in der Reihe ihrer Peiniger, dessen Messeramt ein Symbol ist: er nimmt ihr, womit sie an den Männern gesündigt hat. –

Aus einer losen Reihe von Vorgängen, die eine Kolportageromanphantasie hätte erfinden können, baut sich dem helleren Auge eine Welt der Perspektiven, der Stimmungen und Erschütterungen auf, und die Hintertreppenpoesie wird zur Poesie der Hintertreppe, die nur jener offizielle Schwachsinn verdammen kann, dem ein schlecht gemalter Palast lieber ist als ein gut gemalter Rinnstein. Aber nicht auf solcher Szene liegt hier die Wahrheit, sondern noch hinter ihr. Wie wenig Platz fände in Wedekinds Welt, in der die Menschen um der Gedanken willen leben, ein Realismus der Zustände! Er ist der erste deutsche Dramatiker, der wieder dem Gedanken den langentbehrten Zutritt auf die Bühne verschafft hat. Alle Natürlichkeitsschrullen sind wie weggeblasen. Was über und unter den Menschen liegt, ist wichtiger, als welchen Dialekt sie sprechen. Sie halten sogar wieder – man wagt es kaum für sich auszusprechen – Monologe. Auch wenn sie miteinander auf der Szene stehen. Der Vorhang geht auf, und ein gedunsener Athlet spinnt seine Zukunftsträume von fetten Gagen und Zuhältergewinsten, ein Dichter zetert wie Karl Moor über das tintenklecksende Säkulum, und eine leidende Frau träumt von der Rettung ihrer abgöttisch geliebten Freundin. Drei Menschen, die aneinander vorbeisprechen. Drei Welten. Eine dramatische Technik, die mit einer Hand drei Kugeln schiebt. Man kommt dahinter, daß es eine höhere Natürlichkeit gibt als die der kleinen Realität, mit deren Vorführung uns die deutsche Literatur durch zwei Jahrzehnte im Schweiße ihres Angesichtes dürftige Identitätsbeweise geliefert hat. Eine Sprache, die die verblüffendste Verbindung von Charakteristik und aphoristischer Erhöhung darstellt. Jedes Wort zugleich der Figur und ihrem Gedanken, ihrer Bestimmung angepaßt: Gesprächswendung und Motto. Der Zuhälter spricht: »Bei ihrer praktischen Einrichtung kostet es die Frau nicht halb so viel Mühe, ihren Mann zu ernähren, wie umgekehrt. Wenn ihr der Mann nur die geistige Arbeit besorgt und den Familiensinn nicht in die Binsen gehen läßt.« Wie hätte das ein sogenannter Realist ausgedrückt? Szenen wie die zwischen Alwa und Lulu im ersten, zwischen Casti Piani und Lulu im zweiten und vor allem jene im letzten Akt, in der die Geschwitz mit Lulus Porträt in das Londoner Elend hineinplatzt, hat ein anderer deutscher Dramatiker mit kunstvollster Stimmungstechnik nicht zustande gebracht, und keine andere Hand hätte heute Mut und Kraft zu solchem Griff in das Menscheninnerste. Shakespearisch grotesk wie das Leben selbst ist diese Abwechslung clownhafter und tragischer Wirkungen bis zu der Möglichkeit, beim Stiefelanziehen von stärkster Erschütterung durchwühlt zu sein. Diese visionär gewendete Moritat, diese vertiefte Melodramatik des »Von Stufe zu Stufe« ist außen Lebensbild, innen Bild des Lebens. Wie ein Fiebertraum – der Traum eines an Lulu erkrankten Dichters – jagen diese Vorgänge. Alwa könnte am Schluß sich über die Augen fahren und in den Armen einer erwachen, die sich erst im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt. Dieser zweite, der Pariser Akt, mit seinen matten Farben eines schäbigen Freudenlebens: alles wie hinter einem Schleier, bloß eine Etappe auf den parallelen Leidenswegen Lulus und Alwas. Sie, vorne, das Blatt eines Erpressers zerknitternd, er hinten im Spielzimmer, ein schwindelhaftes Wertpapier in der Hand. Im Taumel der Verlumpung hastet er über die Szene. Alles drängt dem Abgrund zu. Ein Gewirr von Spielern und Kokotten, die ein gaunerischer Bankier betrügt. Alles schemenhaft und in einer Sprache gehalten, die einen absichtlich konventionellen Ton muffiger Romandialoge hat: »Und nun kommen Sie, mein Freund! Jetzt wollen wir unser Glück im Baccarat versuchen!« Der »Marquis Casti Piani« – nicht als die Charge eines Mädchenhändlers, sondern als die leibhaftige Mission des Mädchenhandels auf die Bühne gestellt. In zwei Sätzen soziale Schlaglichter von einer Grelligkeit, die nur der Schleier der Vorgänge dämpft, ein Ironiegehalt, der hundert Pamphlete gegen die Lügnerin Gesellschaft und gegen den Heuchler Staat überflüssig macht. Ein Mensch, der Polizeispion und Mädchenhändler zugleich ist: »Die Staatsanwaltschaft bezahlt demjenigen, der die Mörderin des Dr. Schön der Polizei in die Hand liefert, 1000 Mark. Ich brauche nur den Polizisten heraufzupfeifen, der unten an der Ecke steht, dann habe ich 1000 Mark verdient. Dagegen bietet das Etablissement Oikonomopulos in Kairo 60 Pfund für Dich. Das sind 1200 Mark, also 200 Mark mehr als der Staatsanwalt bezahlt.« Und, da ihn Lulu mit Aktien abfertigen will: »Ich habe mich nie mit Aktien abgegeben. Der Staatsanwalt bezahlt in deutscher Reichswährung und Oikonomopulos zahlt in englischem Gold.« Die unmittelbarste Exekutive staatlicher Sittlichkeit und die Vertretung des Hauses Oikonomopulos in einer und derselben Hand vereinigt ... Ein gespenstisches Huschen und Hasten, ein Grad dramatischer Andeutung, den Offenbach festgehalten hat, da er die Stimmungen E.T.A. Hoffmanns vertonte. Olympia-Akt. Wie Spalanzani, der Adoptivvater eines Automaten, beschwindelt dieser Puntschu mit seinen falschen Papierwerten die Gesellschaft. Seine dämonische Verschmitztheit findet in ein paar Monologsätzen einen philosophischen Ausdruck, der den Unterschied der Geschlechter tiefer erfaßt als alle Wissenschaft der Neurologen. Er kommt aus dem Spielsaal und freut sich diebisch, daß seine Judenmoral um soviel einträglicher ist als die Moral der Huren, die dort um ihn versammelt waren. Sie müssen ihr Geschlecht, ihr »Josaphat«, vermieten – er kann sich mit seinem Verstand helfen. Die armen Frauenzimmer setzen das Kapital ihres Körpers zu; der Verstand des Spitzbuben erhält sich frisch: »braucht er sich nicht zu baden in Eau de Cologne!« So triumphiert die Unmoral des Mannes über die Nichtmoral der Frau. Der dritte Akt. Hier, wo Knüppel, Revolver und Schlächtermesser spielen, aus diesen Abgründen einer rohen Tatsachenwelt klingen die reinsten Töne. Das Unerhörte, das sich hier begibt, mag den abstoßen, der von der Kunst nichts weiter verlangt als Erholung oder daß sie doch nicht die Grenze seiner eigenen Leidensmöglichkeit überschreite. Aber sein Urteil müßte so schwach sein wie seine Nerven, wollte er die Großartigkeit dieser Gestaltung leugnen. Mit realistischen Erwartungen freilich darf man diese Fiebervision in einer Londoner Dachkammer so wenig miterleben wollen, wie die »unwahrscheinliche« Befreiungsgeschichte im ersten Akt und die Beseitigung Rodrigos im zweiten. Und wer in diesem Nacheinander von vier Liebeskunden der als Straßenmädchen verendenden Lulu eine rohe Pikanterie und nicht in diesem Wechsel grotesker und tragischer Eindrücke, in dieser Anhäufung schrecklicher Gesichte den Einfall eines Dichters sieht, darf sich über die niedrige Schätzung seiner eigenen Erlebnisfähigkeit nicht beklagen. Er verdient es, Zeitgenosse jener dramatischen Literatur zu sein, über die Frank Wedekind durch den Mund seines Alwa so bitter abspricht. Aber man kann im Ernst nicht glauben, daß einer so kurzsichtig sein könnte, über der »Peinlichkeit« des Stoffes die Größe seiner Behandlung und die innere Notwendigkeit seiner Wahl zu verkennen. Vor Knüppel, Revolver und Messer zu übersehen, daß sich dieser Lustmord wie ein aus den tiefsten Tiefen der Frauennatur geholtes Verhängnis vollzieht; über der lesbischen Verfassung dieser Gräfin Geschwitz zu vergessen, daß sie Größe hat und kein pathologisches Dutzendgeschöpf vorstellt, sondern wie ein Dämon der Unfreude durch die Tragödie schreitet. Zwar, die unendlichen Feinheiten dieser groben Dichtung erschließen sich dem Leser erst bei genauerer Bekanntschaft: Lulus Vorahnung ihres Endes, das schon auf den ersten Akt seine Schatten wirft, dieses Dahinschweben unter einem Bann und dieses Vorübergleiten an den Schicksalen der Männer, die ihr verfallen sind: auf die Nachricht vom Tode des kleinen Hugenberg im Gefängnis fragt sie, ob denn »der auch im Gefängnis ist«, und Alwas Leichnam macht ihr die Stube bloß unbehaglicher. Dann die blitzartige Erkenntnis des extremsten Mannes, Jacks, der dem unweiblichsten Weibe »wie einem Hunde den Kopf streichelt« und sofort die Beziehung dieser Geschwitz zu Lulu und damit ihre Nichteignung für sein fürchterliches Bedürfnis mitleidig wahrnimmt. »Dies Ungeheuer ist ganz sicher vor mir«, sagt er, nachdem er sie niedergestochen hat. Sie hat er nicht zur Lust gemordet, bloß als Hindernis beseitigt. Zu seiner Befriedigung könnte er ihr höchstens das Gehirn herausschneiden. –

Nicht eindringlich genug kann davor gewarnt werden, das Wesen der Dichtung in ihrer stofflichen Sonderbarkeit zu suchen. Eine Kritik, deren hausbackene Gesundheit sich über Dinge der Liebe den Kopf nicht zerbricht, hat schon im »Erdgeist« nichts weiter als ein Boulevard-Drama sehen wollen, in dem der Autor »Krasses mit Zotigem gemengt« habe. Ein führender Berliner Geist hat die Ahnungslosigkeit, mit der er der Welt des Doppeldramas gegenübersteht, durch den Rat bewiesen, der begabte Autor möge nur schnell ein anderes Stoffgebiet wählen. Als ob der Dichter »Stoffe wählen« könnte, wie der Tailleur oder der Wochenjournalist, der auch fremden Meinungen sein stilistisches Kleid borgt. Von der Urkraft, die hier Stoff und Form zugleich gebar, hat heute die deutsche Kritik noch keine Ahnung. Daß die offizielle Theaterwelt ihr Modernitätsideal im jährlichen Pensum ihrer geschickten Ziseleure erfüllt wähnt, daß der Tantiemensegen immerzu die Mittelmäßigkeit befruchtet und die Persönlichkeit die einzige Auszeichnung genießt, keinen Schiller-, Grillparzer- oder Bauernfeldpreis (oder wie die Belohnung für Fleiß, gute Sitten und Talentlosigkeit sonst heißen mag) zu bekommen – man ist gewohnt, es als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Aber nachgerade muß es erbittern, einen Dramatiker, der keine Zeile geschrieben hat, die nicht Weltanschauung und Theateranschauung zu absoluter Kongruenz brächte, und dessen perspektivische Gedankenreihen endlich über das armselige Milieugeschäft emporweisen, von der offiziellen Kunstwelt als ein Kuriosum behandelt zu sehen. Er ist »grotesk«. Und damit glauben die Gerechten, die in der Literatur immer zwei Fliegen mit einem Schlagwort treffen, ihn abgestempelt zu haben. Als ob das Groteske immer Selbstzweck einer Artistenlaune wäre! Sie verwechseln die Maske mit dem Gesicht und keiner ahnt, daß der groteske Vorwand hier nichts geringeres bedeuten könnte, als das Schamgefühl des Idealisten. Der auch Idealist bleibt, wenn er in einem Gedichte bekennt, daß er lieber eine Hure wäre, »als an Ruhm und Glück der reichste Mann«, und dessen Schamgefühl in viel tiefere Sphären langt, als das Schamgefühl derer, die an Stoffen Anstoß nehmen.

Der Vorwurf, daß man in eine Dichtung etwas »hineingelegt« habe, wäre ihr stärkstes Lob. Denn nur in jene Dramen, deren Boden knapp unter ihrem Deckel liegt, läßt sich beim besten Willen nichts hineinlegen. Aber in das wahre Kunstwerk, in dem ein Dichter seine Welt gestaltet hat, können eben alle alles hineintun. Was in der »Büchse der Pandora« geschieht, kann für die ästhetische wie – hört, hört – für die moralistische Betrachtung der Frau herangezogen werden. Die Frage, ob es dem Dichter mehr um die Freude an ihrem Blühen oder mehr um die Betrachtung ihres ruinösen Waltens zu tun ist, kann jeder wie er will beantworten. So kommt bei diesem Werke schließlich auch der Sittenrichter auf seine Rechnung, der die Schrecknisse der Zuchtlosigkeit mit exemplarischer Deutlichkeit geschildert sieht und der in dem blutdampfenden Messer Jacks mehr die befreiende Tat erkennt als in Lulu das Opfer. So hat sich ein Publikum, dem der Stoff mißfällt, wenigstens nicht über die Gesinnung zu entrüsten. Leider. Denn ich halte die Gesinnung für arg genug. Ich sehe in der Gestaltung der Frau, die die Männer zu »haben« glauben, während sie von ihr gehabt werden, der Frau, die Jedem eine andere ist, Jedem ein anderes Gesicht zuwendet und darum seltener betrügt und jungfräulicher ist als das Püppchen domestiker Gemütsart, ich sehe darin eine vollendete Ehrenrettung der Unmoral. In der Zeichnung des Vollweibes mit der genialen Fähigkeit, sich nicht erinnern zu können, der Frau, die ohne Hemmung, aber auch ohne die Gefahren fortwährender seelischer Konzeption lebt und jedes Erlebnis im Vergessen wegspült. Begehrende, nicht Gebärende; nicht Genus-Erhalterin, aber Genuß-Spenderin. Nicht das erbrochene Schloß der Weiblichkeit; doch stets geöffnet, stets wieder geschlossen. Dem Gattungswillen entrückt, aber durch jeden Geschlechtsakt selbst neu geboren. Eine Nachtwandlerin der Liebe, die erst »fällt«, wenn sie angerufen wird, ewige Geberin, ewige Verliererin – von der ein philosophischer Strolch im Drama sagt: »Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist.« Daß der Freudenquell in dieser engen Welt zur Pandorabüchse werden muß: diesem unendlichen Bedauern scheint mir die Dichtung zu entstammen. »Der nächste Freiheitskampf der Menschheit«, sagt Wedekind in seinem programmatischeren Werke »Hidalla«, »wird gegen den Feudalismus der Liebe gerichtet sein! Die Scheu, die der Mensch seinen eigenen Gefühlen gegenüber hegt, gehört in die Zeit der Hexenprozesse und der Alchymie. Ist eine Menschheit nicht lächerlich, die Geheimnisse vor sich selber hat?! Oder glauben Sie vielleicht an den Pöbelwahn, das Liebesleben werde verschleiert, weil es häßlich sei?! Im Gegenteil, der Mensch wagt ihm nicht in die Augen zu sehen, so wie er vor seinem Fürsten, vor seiner Gottheit den Blick nicht zu heben wagt! Wünschen Sie einen Beweis? Was bei der Gottheit der Fluch, das ist bei der Liebe die Zote! Jahrtausende alter Aberglaube aus den Zeiten tiefster Barbarei hält die Vernunft im Bann. Auf diesem Aberglauben aber beruhen die drei barbarischen Lebensformen, von denen ich sprach: Die wie ein wildes Tier aus der menschlichen Gemeinschaft hinausgehetzte Dirne; das zu körperlicher und geistiger Krüppelhaftigkeit verurteilte, um sein ganzes Liebesleben betrogene alte Mädchen; und die zum Zweck möglichst günstiger Verheiratung bewahrte Unberührtheit des jungen Weibes. Durch dieses Axiom hoffte ich den Stolz des Weibes zu entflammen und zum Kampfgenossen zu gewinnen. Denn von Frauen solcher Erkenntnis erhoffte ich, da mit Wohlleben und Sorglosigkeit einmal abgerechnet war, eine frenetische Begeisterung für mein Reich der Schönheit.«

Nichts ist billiger als sittliche Entrüstung. Ein kultiviertes Publikum – nicht nur die Vorsicht der Polizeibehörde, auch der Geschmack der Veranstalter sorgte für seine Zusammensetzung – verschmäht billige Mittel der Abwehr. Es verzichtet auf die Gelegenheit, seiner eigenen Wohlanständigkeit applaudieren zu können. Das Gefühl dieser Wohlanständigkeit, das Gefühl, den auf der Bühne versammelten Spitzbuben und Sirenen moralisch überlegen zu sein, ist ein gefesteter Besitz, den nur der Protz betonen zu müssen glaubt. Bloß er möchte auch dem Dichter seine Überlegenheit zeigen. Dies aber könnte uns nie abhalten, auf die fast übermenschliche Mühe stolz zu sein, die wir daran wandten, dem starken und kühnen Dramatiker unsere Achtung zu beweisen. Denn keinem haben sich wie ihm die Striemen, die seelisches Erleben schlug, zu Ackerfurchen dichterischer Saat gewandelt.

Notizen

Juni 1906

Zwischen Ibsen-Essays von Karl Hauer und Frank Wedekind

Dieser Entlarvung eines berühmten Spiritisten stimme ich durchaus zu. Nur daß ich ausdrücklicher meine tiefste Verehrung bekunden möchte für den Dichter, der »Kaiser und Galiläer« und »Die Kronprätendenten«, »Brand« und »Peer Gynt«, »Frau Inger« und »Die nordische Heerfahrt« geschaffen hat – und dann hinging, um ein Rationalist des Wunderbaren zu werden, doch aus der nüchternsten Sache von der Welt, der Gesellschaftskritik, ein dramatisches Abracadabra zu machen. In jenen Zustand von Nichtberauschtheit zu verfallen, in dem man bereits weiße Pferde sieht, und als genialer Proktophantasmist ein Zeitalter zu schrecken. In faustischen Nebel, den eine seltene Wortkunst erzeugte, vermag die Phantasie des Betrachters ihre Gestalten zu stellen. Der Nebel eines modernen Ibsen-Dialogs ist uneinnehmbar, einer kahlen Gedankenprosa antwortet kein Echo jener Fjordwand, die einst des großen Dramatikers Ibsen große Kulisse war. »Und dann ist sie (die Wildente) auf dem Meeresgrund gewesen.« »Warum sagen Sie Meeresgrund?« »Was sollt' ich sonst sagen?« »Sie könnten sagen: Boden des Meeres – oder Meeresboden.« »Kann ich nicht ebenso gut Meeresgrund sagen?« »Ja, aber für mich klingt es immer so seltsam, wenn andere Leute Meeresgrund sagen.« Goethe: »Die Mütter sind es!« »Mütter!« »Schaudert's dich?« »Die Mütter! Mütter! – 's klingt so wunderlich!« Und doch wie anders! ... Aber ist's nicht auch wunderlich, zu sehen, wie sich das Vernunftgesindel der Tageskritik, wie sich alte Literaturprofessoren, deren psychologisches Verständnis gestern noch bis zur Enträtselung von Raupach und deren Modernität bis zur Genehmigung von Richard Voss reichte, plötzlich verständnisvoll um Ibsen bemühen? Da dürfen wir Jüngeren ehrlicher bekennen, daß wir vom Ibsen des bürgerlichen Dramas nicht viel mehr begreifen, als daß er der Apostel der Lehramtskandidatinnen geworden ist. Ein lebertraniger Moralist hat, soweit wir Zauberformeln verstehen, den Fortschritt der Menschheit in der geistig-sittlichen Belastung des Weibes erblickt und dem gedrückten »Weibchen« (Elvsted, Maja), in dem der echte Naturwille seine Erfüllung findet, jene Homuncula, die nur mehr der Trieb zu übersinnlichen Freuden gefährdet, gegenübergestellt; hat den Zwang, Puppe zu sein, als ein Problem der Frau erfaßt und nicht das Recht, Puppe zu sein. Er steht am Ende einer langen Reihe von Dramatikern, für die »Mann und Weib eins« sind und die, wenn sich ein Konflikt ergibt, den dramatischen Knoten aus dem verlorenen Jungfernhäutchen knüpfen. Er ist einer, der den Unterschied der Geschlechter so begreift, daß er die männlichen Eigenschaften auf die Frau überträgt. »Worauf es ankommt, das ist die Revolutionierung des Menschengeistes.« Aus dem Germanisch-Christlichen etwa ins Christlich-Germanische. Mit Wahrheit, Freiheit und Lebertran! Es gilt »Adelsmenschen« zu erschaffen. Hoffentlich werden sie auf das Ordensband des Herzogs von Meiningen nicht wenig stolz sein.

Juni 1907

Herr Harden, der Zitatenreiche, druckt unter einem Essay von Hedwig Dohm über Frauenlyrik einige Sätze von Luther, Rousseau, Goethe und Jean Paul ab, die das Lob weiblicher Handarbeit in der Dichtkunst in nicht unpassender Weise entwerten. Luthers starkes Wort: »Wenn Weiber wohlberedt sind, das ist an ihnen nicht zu loben; es steht ihnen an, daß sie stammeln und nicht wohlreden können. Das zieret sie viel besser«, macht eigentlich auch alle Beredsamkeit der Männer über das Weib überflüssig. In unklar zusammengestellten Zitaten aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe verblüfft eine Bemerkung, die Goethes Arzt, Hofrat Rehbein, fallen läßt und die wie eine Ahnung modernster Erkenntnisse vom Uterus anmutet. Herr Harden zitiert sie unvollständig, weil er die Bedeutung solcher Erkenntnisse geringer einschätzt als die Bedeutung der Marokko-Konferenz. Die Stelle lautet vollständig: »Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im allgemeinen, und der Hofrat Rehbein bemerkte, daß das poetische Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geistigem Geschlechtstrieb vorkomme. ›Da hören Sie nur‹, sagte Goethe lachend, indem er mich ansah, ›geistigen Geschlechtstrieb! – wie der Arzt das zurechtlegt!‹ – ›Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücke‹, fuhr dieser fort, ›aber es ist so etwas. Gewöhnlich haben diese Wesen das Glück der Liebe nicht genossen, und sie suchen nun in geistigen Richtungen Ersatz. Wären sie zu rechter Zeit verheiratet und hätten sie Kinder geboren, sie würden an poetische Produktionen nicht gedacht haben!« Goethe sagt dann: »Ich will nicht untersuchen, inwiefern Sie in diesem Fall (Therese von Jakob, Übersetzerin serbischer Volkslieder) recht haben; aber bei Frauenzimmertalenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß sie mit der Ehe aufhörten. Ich habe Mädchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber sobald sie Frauen und Mütter wurden, war es aus; sie hatten mit den Kindern zu tun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.« Freilich, nie sollte man ein der Frauenrechtlerei feindliches Bekenntnis durch Goethes prächtige Absage an die Männer auszugleichen versäumen: »Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht und wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man es für unhöflich hielt, so viele unwissende Männer beschämen zu lassen.« Und – in der Ausführung des Rehbein'schen Gesprächs –: »Doch unsere Dichterinnen mögen immer dichten und schreiben so viel sie wollen, wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Das ist es, was mir nicht gefällt. Man sehe doch nur unsere Zeitschriften, wie das alles so schwach ist und immer schwächer wird!« Zum Beispiel die ›Zukunft‹. Dilettanten nämlich und Frauen, sagt Goethe, haben »von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben gewöhnlich, wenn sie nur das Technische los hätten, so hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein sie sind sehr in der Irre.« Sie haben »von der Wichtigkeit der Motive in einem Gedicht keine Ahnung«. Und machen Gedichte, die »bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln«. Der lyrische Hausarzt der ›Zukunft‹ ist Herr Dr. Salus, und die Rechtsanwälte des Herrn Harden, Suse und Sello, dichten bekanntlich gleichfalls. Und in derselben Nummer der ›Zukunft‹, in der Goethes Verurteilung der Frauenlyrik zitiert wird, ist eine Probe männlicher Verskunst enthalten: nicht weniger als vier Seiten Verse eines der beiden dichtenden Rechtsanwälte, und siehe, im Inventar dieser Poesie finden wir: Lothos, Narzissen, Jasmin und Orchideen, Elfenhände und Engelsschwingen, glühende Pokale und Weihrauchkessel, Altar und Orgel, einen Silberflor und ein blütenweiches Kissen und – beinahe hätte ich ihn vergessen – einen Sarkophag. Harden, der Unerschrockene, hat wohl nicht gefürchtet, daß seine Leser ihm die Absicht zutrauen könnten, Goethes Wort von den Männern, die wie die Weiber schreiben, in derselben Nummer zu erweisen.

Die Maisonne eines Septemberlebens

Oktober 1906

I

Es ist bekanntlich eine Todsünde, an Ibsens Unsterblichkeit zu rühren, und wehe dem, der in annähernd so respektlosem Ton von ihm zu reden wagte, wie etwa Heine von Goethe: »Goethes Abneigung, sich dem Enthusiasmus hinzugeben, ist ebenso widerwärtig wie kindisch.« (Nebenbei: Wehe dem vor allem, der so respektlos von Heine spräche.) Aber gegen den geräuschvollen Versuch, den Lebensabend Ibsens durch eine Ulrike Löwyzow verklären zu lassen, muß doch Einspruch erhoben werden. Die Briefe, die das Fräulein Emilie Bardach an Ibsen geschrieben hat, werden hoffentlich nie zum Vorschein kommen; die Briefe, die er ihr geschrieben und die die Kommissionsfirma für Nachruhm Georg Cohen Brandeis in Kopenhagen in der Sterbestunde Ibsens an ihre journalistischen Geschäftsfreunde geliefert hat, sind so nichtssagend, daß ihnen das Interesse künftiger Literarhistoriker gesichert ist. Man müßte also für alle Fälle warten und den Zeitgenossen des Fräuleins Bardach die Verkuppelung der Ibsenwelt mit dem Geiste der Wiener Jours ersparen können. Nach hundert Jahren werden nämlich auch die Gebräuche jener Gesellschaftskreise, in denen man auf die Frage: »Kennen Sie Ibsen?« bis vor kurzem noch antwortete: »Wie macht man das?« ehrwürdig sein, während die allzuplötzliche Einführung des Fräuleins Bardach in die Nachwelt nur unseren Respekt vor dem tiefsten Frauenverkenner zu mindern vermöchte. Der ganze Rummel macht den Eindruck, daß eine Wiener Familie, die in Gossensaß den Sommer verbrachte, ins Unglück gestürzt wurde, weil die Tochter, »eine gute Partie, wenn auch etwas überspannt«, dem jungen, gesunden Konzipienten mit reellen Absichten einen symbolistischen Dichtergreis vorgezogen hat. Aber Dichtergreise annoncieren nicht in der Neuen Freien Presse: »Lebensabend zu verklären gesucht«, und so dürfte die hastige Publikation der Briefe darauf schließen lassen, daß das Fräulein Bardach schon bei der Annäherung an Ibsen, von dem Wunsche, sich literarhistorisch zu versorgen, beseelt gewesen ist. Wenn Ibsen seine Hilde Wangel wirklich »aus dem Leben« geholt hat – ein Rückschluß auf die Fülle dieses Lebens wäre für Fräulein Bardach nicht eben schmeichelhaft. Wie wir sie heute sehen und die Rapidität bewundern, mit der sie ihre Beziehungen zu den Johannistrieben einer Berühmtheit nachweist, sich als »Maisonne eines Septemberlebens« legitimiert, scheint sie uns mehr ein Strindberg-, als ein Ibsenstoff zu sein. Daß der Norweger den Schweden für »verrückt« gehalten hat, wird uns von den Anekdotenerzählern jetzt bis zum Überdruß versichert. Wenn wir Toten erwachen und sehen könnten, wie es sich weist, daß eines Weibes Stärke unsere Schwäche ist, wir hielten den Strindberg nicht mehr für ganz so verrückt und anerkennten das Gebot der Klugheit, rechtzeitig die Frauen nicht zu überschätzen.

Selten noch hat das Wort »Nachlaß« so sehr nach einem Ausverkauf gerochen wie diesmal. Und der fixe Kommis in der Neuen Freien Presse arrangierte Ibsens Liebesbriefe in der Auslage eines zwölfspaltigen Feuilletons. Herr Sil Vara ist unter den jungen Kräften des Wiener Journalismus, die erborgte Sentiments in eigenes Deutsch kleiden, der bedenklichsten eine. An derselben Stelle, an der einst Ludwig Speidel eine Mesalliance zwischen der deutschen Sprache und der Neuen Freien Presse glücklich zustande gebracht hat, schnäbelt die alte Schneppe mit frisierten Judenknaben, die sich auf Psychologie verstehen. Hier wurde am 3. August die Geburt einer »Zwillingsschwester der Ulrike von Levetzow« angezeigt. Herr Sil Vara beschrieb sie nach dem Bilde, das Herr Brandes seiner Publikation vorangestellt hat. »Mit diesen Augen hat sie ihn angesehen, als er im großen Saal des Wieland-Hofes speiste.« Die Frage, die der Schottenring stets frei hat an das Schicksal: »Was hat sie angehabt?« beantwortet Herr Sil Vara in einer Weise, die allerdings Ibsens Interesse für die Dame zu erklären vermöchte: »Wie eine Schlange ringelt eine überlange Federboa sich über eine Schulter und durch einen Arm hindurch.« Herr Sil Vara meint, daß »nur Jahre vergehen müssen«, und der rätselhafte Blick des Fräuleins Bardach könne »dem Lächeln der Mona Lisa ebenbürtig werden«. Wir können warten. Fräulein Bardach konnte es nicht. Herr Sil Vara selbst gibt zu, daß die Annäherung der Dame an Ibsen eine vorbereitete Sache war, findet aber gerade diesen Zug aus dem Leben des Fräuleins Bardach gewinnend. Er malt sich das ungeheure Erstaunen des mürrischen Dichters aus, der das Mädchen gefragt haben muß, »ob sie nicht gefürchtet hätte, auf ihre Anfrage barsch zurückgewiesen zu werden«. Sie aber, mit dem Stil und der Dialektik seiner weiblichen Gestalten wohl vertraut, dürfte schwärmerisch geantwortet haben: »O nein, ich habe es ja in Schönheit getan.« Auf diese ungeheure Schmockerei hin kann sich Ibsen nicht mehr zurückhalten und muß im Deutsch und in der Gesinnung des Herrn Sil Vara reagieren. Unter anderem also denkt er: »Sie hat recht, daran hatte ich schon lange vergessen; und übrigens scheint sie alle meine Werke gelesen zu haben.« Was Ibsen mit dem Fräulein Bardach gesprochen hat, weiß niemand. Nur Herr Sil Vara vermutet, daß es ein Dialog aus »Baumeister Solneß« war und schreibt ihn darum ab. Mit kleinen, neckischen Abweichungen. Ibsen im Bann einer höheren Tochter, Solneß auf der Spitze jenes Kirchturms, der gegenüber dem Institut Jeiteles steht. So für das Publikum einer Volkstheaterpremière appretiert, wird sich der »Magus« auch bei uns durchsetzen, und wenn er einmal nach Wien kommt, geben sich Bardachs gewiß die Ehre. Vorläufig geht die Familie von Gossensaß nach Ischl, wo auch der Konzipient sein wird ... Ibsen ist bei der Kommentierung der Stelle von den Teufelchen angelangt. »Dann schwieg er wieder«, erzählt Herr Sil Vara, »vergaß an seine Nachbarin und versank in Grübeleien.« Und bei der Erinnerung an die Wikinger, die ein robustes Gewissen hatten und Weiber annektieren konnten, seien sie einig geworden. Aber Fräulein Bardach habe dennoch vergebens »auf das Wunderbare gewartet« ... Dieser Ibsen hat nämlich immer entsagt. Schon in seiner Jugend, als ihn auf einem Balle »ein paar schöne Augen« – wie viel, gibt Herr Sil Vara nicht an, nur, daß sie einem Mädchen gehörten – gefesselt hatten. Ibsen entsagte auch diesmal. Und Herr Sil Vara fürchtet, die »Maisonne eines Septemberlebens« könnte »in dunklen Wolken des Lebens untergegangen« sein. Immerhin nahm sie noch rasch Gelegenheit, in Buchform mit Porträt und Vorwort zu erscheinen.

Alles in allem: wir verdanken Herrn Brandes eine seltsame Schaustellung. Der Eisbär trägt ein blaues Mascherl, und durch die Nase wurde ihm der Schottenring gezogen. Ibsenfanatiker, die selbst auf der Kirchturmspitze des »Baumeister Solneß« kein symbolistischer Schwindel erfaßt, mögen es als schmerzliche Enttäuschung empfinden, daß seine Maisonne Bardach geheißen hat. Andere werden den Dichter, der dadurch endlich auch dem Verständnis weiterer Kreise nähergerückt ist, gegen die Vertraulichkeiten des Wiener Feuilletongeistes schützen wollen, der dem Alten heute mit der Anrede »Septemberleben« auf die Schulter klopft.

Dezember 1906

II

Über die Maisonne eines Septemberlebens haben sich schwere biographische Wolken gelagert. Die Dezember-Nummer der ›Neuen Rundschau‹ zeigt an, daß sich die Beziehung Ibsen-Bardach im Aprilwetter des Nachruhms nicht als standhaft bewährt hat. Schon aus dem fälschenden Auszug der Neuen Freien Presse war dies zu entnehmen. Wer aber erst den ganzen Bericht liest, den der Ibsen-Herausgeber Elias über seine Unterredung mit der Witwe des Dichters veröffentlicht hat, der wird finden, daß ich den Nagel auf den Kopf des Herrn Brandes getroffen habe, als ich schrieb, die hastige Publikation der Briefe Ibsens lasse darauf schließen, daß das Fräulein Bardach schon bei der Annäherung an Ibsen von dem Wunsche, sich literarhistorisch zu versorgen, beseelt gewesen sei. Viele Originale des Dichters, meint Elias, »bewahren über ihre Bekanntschaft mit Henrik Ibsen vorderhand noch die Zurückhaltung, die gewissen anderen fehlt« .. »Betrachtungen solcher Art wurden zwischen Frau Ibsen und mir angeregt durch das Thema des kleinen Solneß-Fräuleins, das gerade nur den Tod Ibsens abgewartet hat, um ihre Harmlosigkeiten unter elektrische Beleuchtung zu stellen, damit sie den Schein biographischer Wichtigkeit empfingen. Dieses Hilde-Muster war für den Dichter nur ein ›Fall‹ wie andere mehr. Frau Ibsen sprach davon ohne Pathos, mit humoristischer Gleichgültigkeit (die Neue Freie Presse nennt es »Unbefangenheit«) – sie hatte alle die Briefe zu lesen bekommen, auf deren Antwort die Schreiberin oft so lange hatte warten müssen, hatte alle die Photographien gesammelt und noch das letzte Bild, worauf die Dame sich als ›Prinzessin von Apfelsinia‹ selbst glorifiziert, auf Ibsens Geheiß in den Papierkorb werfen müssen: so sehr war die Begegnung dem Dichter gleichgültig geworden, nachdem er ›ein Kunstwerk daraus gemacht hatte‹. Die Frau stand ebenso über diesen Dingen, wie der Mann über ihnen gestanden hatte. Nicht ins Kapitel der ›Dichterliebesleben‹ gehören sie –« Glaubt Herr Sil Vara noch immer, daß nur Jahre vergehen müssen, damit der rätselhafte Blick des Fräuleins Bardach dem Lächeln der Mona Lisa ebenbürtig werde? Er dürfte ein alter Mitarbeiter der Neuen Freien Presse werden, ehe er das erlebt. Die Sippschaft hat sich ein Reklamestückchen geleistet, das nun in seiner ganzen Dreistigkeit von zuständiger Seite enthüllt wird. Sogar der junge, gesunde Konzipient mit reellen Absichten, den ich in die Farce einführte und dem nach meiner Erfindung das Fräulein Bardach den symbolistischen Dichtergreis vorgezogen hat, scheint zu stimmen. Man könnte die Äußerungen der Gattin mit einigem Mißtrauen aufnehmen, wenn nicht Elias sich einer Unterredung entsänne, die er mit Ibsen selbst über die Wienerin von Gossensaß geführt hat. »Die habe ihm gleich Bekenntnissegemacht. Die Hauptsache: sie lege gar keinen Wert darauf, einmal einen wohlerzogenen jungen Mann zu heiraten, – sie werde gewiß gar nicht heiraten.« Ibsen erzählt, er habe die Dame studiert. »Aber sonst habe sie nicht viel Glück mit ihm gehabt.« Als ihren Ehrgeiz habe sie es bezeichnet, anderen Frauen Männer wegzunehmen. »Sie nahm mich nicht, aber ich nahm sie für eine Dichtung. Sie hat (hier kicherte er wieder) sich dann wohl mit einem andern getröstet«. »Frau Susanna«, erzählt Elias, »gerät bei diesem Kapitel in die Stimmung von Heiterkeit: ›Ibsen, habe ich manchmal zu ihm gesagt, Ibsen, halte dir die vielen überspannten Frauenzimmer vom Leibe‹«. Das hat er nun davon, daß er den Rat nicht befolgt hat! Schon Nestroy sagt: »Wie ich damals von einer Liebe, die ich nicht ausmärzen konnte, im April mich losgerissen, war meines Lebens Mai vorbei; aber nie hätt' ich mir gedacht, daß ich nach acht Jahren im Juni meine Juli u.s.w.«

April 1907

Ihre Freundschaft mit Ibsen

Im geistigen Ghetto, das auf die umliegende Welt strenge Sperre gelegt hat, gab's neulich großen Lärm. Fräulein Emilie Bardach, die Maisonne, suchte noch einmal im Wege der Zeitung Anschluß an ein Septemberleben. Ohne Erfolg. So zuversichtlich der Titel »Meine Freundschaft mit Ibsen« klang, der Artikel, den die Neue Freie Presse gedruckt hat, dürfte vergebens geschrieben sein. Die Dame bleibt dabei, den Lebensabend Ibsens verschönert zu haben. Aber wenn nicht die grammatikalische Verwahrlosung, die ihr Artikel zeigt, für einen Rest von Weiblichkeit spräche, man würde ihr die Leistung, die sie vollbracht haben will, nicht glauben. Eine Maisonne, die auf ihrem Schein besteht: gegen solche Beharrlichkeit schirmt kein Unglaube. Es ist fatal, daß die Nachwelt Ibsens zugleich die Mitwelt des Fräuleins Bardach ist. Aber schließlich ist sie jene Welt, die für die falsche Erziehung ihrer jungen Mädchen selbst verantwortlich ist, und so muß sie auch für den literarhysterischen Ruhm sorgen, nach dem es die Frauen gelüstet, die mit ihren Trieben auf natürlichere Art nicht fertig werden durften. Da pocht eines Tages die Hilde Wangel an die Tür und präsentiert ihre Forderung. Scheußlich. Und man möchte brutal werden, wenn man sich nicht immer wieder sagte, daß man es mit einer Patientin zu tun hat. Nur die liberale Intelligenz spürt nicht, wie ärgerlich es ist, wenn die Muse krampfhaft darauf besteht, den Dichter angeregt zu haben; wenn sie ihre Dokumente ausbreitet, um nachzuweisen, daß sie Ibsen in Stimmung gebracht hat, – um also einen Vorwurf gegen einen Menschen zu erheben, der sich nicht mehr verteidigen kann. »Es konnte niemandem entgehen, daß er mich mit besonderem Interesse beobachtete.« Das ist eine jener tatsächlichen Feststellungen, durch die sich heutzutage eine höhere Tochter selbst für eine verminderte Heiratsfähigkeit schadlos hält. Aber wie wurde dieses Interesse geweckt? Fräulein Bardach entwickelt ihr Programm. »Ich lernte ihn am Schluß einer Ibsen-Feier kennen – ich glaube, sein Monument wurde eingeweiht. Dann war Konzert – dann drängte sich alles an ihn heran. Ich stand nicht weit ...« Und so hat es die Dame erreicht, daß sie heute auch bei der Enthüllung ihres eigenen Denkmals zugegen ist, und noch dazu eines Denkmals, das sie selbst geschaffen hat und dessen Hülle sie selbst fallen läßt. Sie darf sich darum nicht beklagen, daß man ihrer Offenheit mit Aufrichtigkeit begegnet und ein Privatleben, das in die Literatur eingegriffen hat, wieder auf sich selbst zurückführt. Von den Gesprächen mit Ibsen hat sie sich bloß das eine gemerkt, das er mit ihr über die »Eröffnung des Suez-Kanals« führte. Wäre dieses Gespräch ein Traum, wahrlich, der Professor Freud, der die Wünschelrute des Geschlechts an die verschütteten Quellen der Hysterie führt, wüßte ihn zu deuten. Und bei der bekannten Neigung des Traumes, schlechte Wortwitze zu machen, würde der Neurologe die Wiederholung eines bestimmten Wortes in den Bekenntnissen des Fräuleins Bardach: »ganz Anfang Mai« habe sie Herr Brandes besucht, im Sommer sei sie »in einem Schloß ganz im schottischen Hochland« gewesen, die sensationelle Wirkung der Publikation sei »ganz gegen ihr Gefühl« gegangen und Frau Ibsen sei ihr »mit ganz besonderer Liebenswürdigkeit entgegengekommen«, verdächtig finden. Und er käme vielleicht sogar hinter die wahre Stimmung Ibsens, der die Bekanntschaft mit dem Fräulein Bardach jenem Konzert verdankte, nachdem sich alles an ihn herangedrängt hat; er brauchte nur auch das schlechte Deutsch der Dame als eine jener versunkenen Glocken zu deuten, die aus dem Unterbewußtsein herauftönen, und auf den Satz zu verweisen: »Auf einem unserer Spaziergänge bückte er (Ibsen) sich plötzlich in seiner ganzen Schwerfälligkeit, und als ich ihn nach der Ursache fragte meinte er – er hätte nur einen Stein vom Boden entfernt, denn er könnte mich verletzen«. Er, nämlich der Stein, nicht Ibsen. Fräulein Bardach gibt aber auch mit vollem Bewußtsein zu, daß Ibsen sie später aus dem Auge verloren hat. Freilich war sie selbst daran schuld. »Er hatte keine Adresse und wußte nicht, was aus mir geworden.« Sie schrieb ihm nicht, um einem Mißbrauch ihrer Briefe vorzubeugen. Ibsen hätte sich vielleicht mit Herrn Brandes in Verbindung gesetzt, um vor der literarischen Welt mit dem Abenteuer von Gossensaß zu renommieren und am Ende gar seinen Anteil an der Gestalt der Hilde Wangel zu behaupten. Aber es wäre interessant, zu erfahren, ob Ibsen die Trostlosigkeit jenes Zustandes, in dem sich nach Nestroy ein »Liebhaber ohne Adress'« befindet, auch voll empfunden hat. Von der belebenden Wirkung, die die Briefe des Fräuleins Bardach auf ihn übten, können wir uns eine Vorstellung machen. Ein einziges Mal noch hatte sie ihm geschrieben. Und was war die Folge? Ein neues Drama. Es war das letzte, denn ihr Brief war der letzte Brief. Hören wir Fräulein Bardach: »Wie Baumeister Solneß manche zusammen verbrachte Stunden berührt – so blieb wohl auch mein Gratulationsbrief zu seinem siebzigsten Geburtstag nach so langer Trennung nicht ohne Einfluß auf ›Wenn wir Toten erwachen‹«. Wenngleich Fräulein Bardach in übertriebener Bescheidenheit hinzufügt: »Es war nicht meine Persönlichkeit, die es vollbracht – es war der Blick und Geist, mit denen Ibsen diese Persönlichkeit erfaßt«, so wissen wir, was wir davon zu halten haben. Es war doch ihre Persönlichkeit! Denn einer Persönlichkeit, die es vermocht hat, den Zweifeln an ihrer Mitwirkung beim Schaffen des »Baumeister Solneß« mit der Erklärung zu begegnen, sie habe auch »Wenn wir Toten erwachen« angeregt, ist alles mögliche zuzutrauen. Der Einfluß des Fräuleins Bardach auf Ibsen bleibt unbestreitbar. Was will es dagegen besagen, daß am andern Tag Herr von Hornstein die Dame, die sich auf seinen Rat in der Sache der Brief-Publikation beruft, Lügen straft und sich mit aller Entschiedenheit gegen den Verdacht wehrt, als ob er ihr je einen andern Rat erteilt hätte, als den, die Briefe Ibsens nicht zu publizieren! Kommt es denn überhaupt noch auf die Briefe Ibsens an? Längst überwiegt das Interesse an den Briefen des Fräuleins Bardach. Wir wollen sie kennen lernen. Wenn Ibsens Witwe vor der Literaturgeschichte die Quellen des dramatischen Schaffens ihres Gatten nicht verbergen will, winke sie eiligst den Brandes herbei!

Juli 1907

Der Bulldogg

›Simplicissimus‹ heißt der artige Schoßhund, der noch immer die Träume des deutschen Philisters in der roten Maske des gefährlichen Bullenbeißers schreckt. Im Leben ist er für jeden Bissen dankbar, den ihm die Firma Albert Langen zuwirft; er ist nicht weniger harmlos, aber weniger ehrlich, als der Dackel, dem die Verleger der ›Fliegenden Blätter‹ zurufen: Waldl, gehst her oder net! – denn er geht immer her. Es ist hier schon öfter das Thema der Scheinheiligkeit dieser Teufelei berührt worden, mit der der ›Simplicissimus‹ das Geistesleben des deutschen Bürgertums zu gefährden vorgibt. All dies Getue einer literarischen Modernität, das die zeichnerischen Gaben einiger außerordentlicher Könner begleitet, ist die purste Mischung aus Impotenz und Heuchelei. Es kommt im Lauf eines Jahres nicht selten vor, daß sich junge deutsche Autoren an mich mit Beiträgen wenden, die ihnen die freiesten Diener des deutschen Philisteriums, der Herausgeber der ›Zukunft‹ und der Redakteur des ›Simplicissimus‹, unter ausdrücklicher Anerkennung des künstlerischen Niveaus, aber mit dem Bedauern, daß es Rücksichten auf die Sittlichkeit gebe, abgelehnt haben. Ein in jeder Beziehung vortrefflicher Kenner der Langen'schen Verlegerseele, Frank Wedekind, hat mir einmal gesagt, der ›Simplicissimus‹ habe es bloß deshalb auf die Klerikalen so scharf, weil er die Institution der Pfarrersköchinnen für unmoralisch halte; und ich erinnere mich noch des schönen Tages, da Liliencron mir sein Gedicht »Die alte Hure im Heimatdorf« rezitierte und dessen Erscheinen im ›Simplicissimus‹ in Aussicht stellte, und des andern schönen Tags, da es unter dem Titel »Im Heimatdorf« im ›Simplicissimus‹ erschien. Daß ein herzhafter Griff in Webers Demokritos oder in einen alten Band der ›Fliegenden Blätter‹ ein Witzblatt frischer erhält, als der Abdruck der gesammelten Anekdoten des Herrn Roda Roda, hat die Redaktion des ›Simplicissimus‹ endlich eingesehen und zu ihren sonstigen Tugenden auch die der literarischen Bescheidenheit gesellt. Noch scheint sie vor dem endgültigen Verzicht auf das Raffinement einiger Mitarbeiter, die es durchaus mit der Psychologie und mit der Stimmungskunst halten wollen, zu zaudern; noch ist sie zum Rückzug in die Heimat der Schwipse und Pumpversuche, die ein deutscher Humorist nie ungestraft verläßt, nicht endgültig entschlossen. Aber die Zeit ist nicht mehr fern, wo man die »Bilder aus dem deutschen Familienleben« nur mehr unter den Titeln suchen wird, die dem Weinreisenden so angenehm im Ohre klingen: »Abgeblitzt«, »Ein Schwerenöter«, »Gut gegeben«, »Übertrumpft«, »Schlechte Ausrede«, »Immer derselbe«, »Schlagfertig«, »So, so!«, »Ein Praktikus«, »Durch die Blume« u.s.w.

Die Revolution war lange genug ein gutes Geschäft des Herrn Langen. Aber in der Geschichte des Zeitschriftenwesens ist noch jede Revolution einer zielbewußten Administration gewichen. Die Auswahl der menschlichen Schwächen, die die Satiriker geißeln, besorgen die Verleger, und kein gesellschaftlicher Übelstand könnte heute Ungnade vor den Augen des ›Simplicissimus‹ finden, den Herr Albert Langen pardonniert hätte. Wenn der ›Simplicissimus‹ eine »Automobilnummer« vorbereitet, so wird zuerst gebremst und dann gefahren. Wenn Herr Albert Langen seine Mitarbeiter zu einer Herkomerkonkurrenz des Witzes vereinigt, so heißt das: er hat mit einer bestimmten Automobilfirma ein Abkommen getroffen, wonach er den ganzen zeichnerischen und textlichen Witz einer Nummer des ›Simplicissimus‹ in den Dienst dieser Firma stellt. Nun verschlägt es gewiß nichts, daß selbst Künstler, wie Heine und Gulbransson, einem Industriellen Plakate oder auch illustrierte Annoncen in dem Blatte liefern, in dem sie sonst als freie Satiriker wirksam sind. Aber böse ist es, wenn diese Annoncen zugleich den Zweck illustrieren, dem der redaktionelle Inhalt des Blattes dient. Wer beim Anblick der Zeichnungen und bei der Lektüre der Novellen den Kopf schüttelt und dennoch zweifelt, ist plötzlich eingeweiht, wenn er die an sich durchaus erlaubten Annoncen mit den redaktionellen Beiträgen vergleicht.

Von hier und dort springt ihm der Name »Züst« in die Augen. Der Name einer neuen Automobilfirma, der Herr Albert Langen die Marke seines Hundes, der das Bellen wie das Beißen verlernen soll, für ein Weilchen geliehen hat. Ein Inserat Th. Th. Heines, das die Erzeugnisse der Firma Züst verherrlicht, wäre an und für sich nur nach seinem künstlerischen Wert zu beurteilen. Daß die Front eines Züst'schen Kraftwagens der bekannte rote Bullenkopf bildet und daß ein Heine'scher Teufel den Chauffeur macht, ist schon eine traurige Symbolik. Vielleicht eine absichtliche: Wir sind ausgeliehen! scheint die Satire des Th. Th. Heine, die sich gegen den Herrn kehrt, der sie abrichten will, zu sagen. Aber siehe da, aus einer süßen Zeichnung des Herrn Reznicek, die das Hauptblatt schmückt, winkt dir der Name der einen und einzigen Automobilfirma entgegen: Hochzeitsreisende fahren nur mit Züst! Und selbst Herr Meyrink hat nicht umhin können, in eine seiner novellistischen Skizzen, in denen entweder die Wissenschaft mit der Phantasie oder der Buddhismus mit der Infanterie im Streite liegt, die neue Automobilmarke einzuführen. In der folgenden Nummer wird nur noch im Inseratenteil gefahren. Herr Gulbransson ist ein tüchtiger Chauffeur. Aber der Charakter jener Eingebungen künstlerischer Schöpferlaune, die den redaktionellen Inhalt der Automobil-Nummer gebildet haben, wird nachträglich durch ihre wortlose Übernahme in den Annoncenteil unterstrichen. Das Hochzeitsreisendenpaar des Herrn Reznicek sieht jetzt bloß auf die Strecke. Ehedem hat der Gatte ihr den Vorwurf machen müssen, daß sie immer mit ihren Füßen zu ihm herüberkomme, so daß er Gefahr laufe, die Bremse zu verlieren. Im Annoncenteil geht's wie geschmiert ... Nun, wer die Entwicklung des Herrn Albert Langen kennt, wird es begreiflich finden, daß gerade er mit einem Sport sympathisiert, der ein rasches Verschwinden mit Zurücklassung von Gestank ermöglicht. Aber sonst bellen die Bulldogge nur, wenn ein Automobil vorüberfährt. Dieser springt auf.

März 1909

Literatur

In einer Zeitungsspalte fällt mein Blick auf die Bemerkung, daß die »zwei ersten« Akte gefallen haben, so daß ich glauben muß, der Rezensent sei gleichzeitig in zwei Theatern gewesen und er stelle nun fest, daß hier und dort der erste Akt gefallen hat. Das ist journalistischer Sprachgebrauch, aber da eine Zeitung auch das Richtige treffen kann, so finde ich schon in der benachbarten Spalte eine Nachricht über die »nächsten zwei« Veranstaltungen eines Vereines. Und hier wieder zeigt sich, wie nichtig alle Form ist, wenn der Inhalt von übel. Denn mein splitterrichterisches Wohlgefallen wurde sogleich erledigt durch die Enthüllung, daß die erste der nächsten zwei Veranstaltungen ein »Servaes-Abend« sei. Um Himmelswillen, was ist das? fragte ich. Was haben die Leute mit uns vor? Servaes-Abend – es kann nicht sein! Gibts denn so etwas? Kann es so etwas geben? Aber es stand schwarz auf weiß, ein Verein, der den guten Geschmack hat, sich einen Verein für Kultur zu nennen, versprach uns einen Servaes-Abend. Wenn man mir die Frage vorlegte, was denn überhaupt ein Verein sei, so würde ich antworten, ein Verein sei ein Verein gegen die Kultur. Dieser hier aber möchte mich durch die Angabe irreführen, er sei ein Verein für die Kultur. Das gelingt ihm nicht, denn die Rechnung geht schließlich doch glatt auf, indem ein Verein gegen die Kultur für die Kultur sich folgerichtig als ein Verein herausstellt. Da ich nun dem Vereinsleben durchaus fern stehe, da die bloße Vorstellung, daß es einen Männergesang-Verein gibt, mir den Schlaf raubt und noch kein Turnverein zur Erhöhung meines Lebensmutes beigetragen hat, so kann ich darüber nicht urteilen, ob der Verein, um den es sich hier handelt, seinen statutenmäßigen Verpflichtungen betreffs der Kultur gerecht wird. Aber ein boshaftes Luder, wie ich bin, habe ich natürlich keine Anerkennung dafür, daß sich in dieser Wüste allgemeiner Kulturlosigkeit eine Oase des Snobtums gebildet hat, daß sich endlich wenigstens ein paar opfermutige Männer zusammengefunden haben, um die Kultur für eröffnet zu erklären, – vielmehr nähre ich meine teuflische Lust an dem Gedanken, daß alles verruinieret sein müsse. Es ist in der Tat schon nicht mehr mit mir auszuhalten. Jetzt hasse ich die Oasen in der Wüste, weil sie mir meine fata morgana verstellen! Publikum in jeder Form macht mir Verdruß, ich meide die Konzertsäle, und wenn sich in einem solchen wirklich einmal Leute drängen, denen man an der schwergebeugten Nase ansieht, daß sie den Hingang der Kultur betrauern, Männer, deren Bart noch die Linse von vorgestern trägt, deren Gilet aber aus Sammet und Sehnsuchten komponiert ist, Weiber, denen man das Haupt des Jochanaan unter der Bedingung geben möchte, daß sie nicht tanzen, – dann bin ichs auch nicht zufrieden! Ja, ich hasse die Häßlichkeit einer genießenden Menge, die nach dem stickigen Geschäftstag die verschlossenen Jalousien des Gemütes öffnet, um Kunstluft hereinzulassen. Aber der ästhetische Mißwachs, der sich an den Pforten der Kultur drängt, treibt mich in die Flucht. Wird mir schon totenübel, wenn ich um elf Uhr abends durch die Augustinerstraße gehe und die Nachklänge einer Wagneroper aus dem Wigelaweia des Ganges und der Hände einer zum Fraß strömenden Begeisterung heraushöre, was steht mir erst bevor, wenn dereinst Herr Richard Strauß seine Versteher findet? Man glaubt gar nicht, wie viele Häßlichkeit die angestrengte Beschäftigung mit der Schönheit erzeugt! Und ihre Art ist in allen Städten dieselbe. Überall, wo nur ein findiger Impresario einen Tempel der Schönheit errichtet, tauchen jetzt rudelweise diese undefinierbaren Gestalten auf, die man in früheren Zeiten dann und wann im Fiebertraum sah, aber nunmehr bei Reinhardt, in den Münchener Künstlerkneipen und in Wiener Kabaretts. Plötzlich steht ein Kerl neben dir, dem Kravatte und Barttracht zu einem seltsamen Ornament verwoben sind, das Motive aus Altwien und Ninive vereinigt, eine Kreuzung aus Biedermeier und dem echten Kambyses. Er sieht Klänge, weil er sie nicht hören kann, er hört Farben, weil er sie nicht sehen kann, er spricht durch die Nase und riecht aus dem Mund, seine Seele ist ein Kammerspiel und man hat nur den Wunsch, daß ihn so bald als möglich ein Bierbrauer totschlage. Denn vor diesem kann sich die Kunst retten, vor jenem nicht! Das Aufgebot verquollener Scheußlichkeit, das seit Jahren hinter den programmatischen Mißverständnissen her ist, macht ein Entrinnen unmöglich. Was sich da im Berliner Westen unter allen möglichen Marken als neue Gemeinschaft von Assyriern, Griechen, guten Europäern und Schmarotzern schlechtweg zusammengetan hat, dieses Gewimmel von einsamen Gemeinsamen, die Theaterreporter von Beruf und Baalspriester aus Neigung sind, bildet ein so unflätiges Hindernis im Kampf gegen den Philister, daß man das Ende aller Kunst und ein Verbot aller Freiheit ersehnt, um nur reines Terrain zu schaffen. Lieber allgemeine Blindheit als die Herrschaft eines Gesindels, das mit den Ohren blinzeln kann! Ein Wiener Greisler für zehn Berliner Satanisten! Das Udelquartett gegen einen Verein für Kultur! Selbst wenn er uns einen Servaes-Abend bringt.

Denn wir wissen ja nicht einmal, was das für ein Abend ist. Wir in Wien schätzen die Institution der Hopfnertage und der Riedlnächte, aber wir glauben nicht, daß sich die Servaes-Abende einbürgern werden. Was bedeutet das ungebräuchliche Wort Servaes? Ich erinnere mich dunkel, daß es einst ein Merkwort war, wenn man an das drollige Quiproquo eines Kunstkritikers der Neuen Freien Presse erinnern wollte. Da hatte einer in der Beschreibung des Guttenberg-Denkmals eine Buchdruckerpresse mit einem Fauteuil verwechselt oder umgekehrt, – das weiß ich nicht genau, da ich das Denkmal aus Antipathie gegen den dargestellten Mann und weil es eine Prostituiertengasse verschandelt, nie angesehen habe. Aber ich weiß genau, daß der Kunstkritiker, der zur aufmerksamen Betrachtung verpflichtet war, irgend etwas verwechselt hat. Ein anderesmal hat er in der Beschreibung eines ausgestellten Bildes Wüstensand mit Schnee verwechselt, was doch so bald keinem Kamel passieren dürfte. Infolgedessen wurde der Mann nur noch dazu verwendet, Berichte über Wohnungseinrichtungen zu stilisieren, die die Firmen der Administration bezahlten und in denen die Fauteuils genau bezeichnet waren. Da aber, wie erzählt wird, eine Verwechslung zwischen Portois und Fix vorkam, so sei nichts übrig geblieben, als dem Mann die Literaturkritik zu überantworten.