Lockruf des Goldes - Jack London - E-Book + Hörbuch

Lockruf des Goldes E-Book und Hörbuch

Jack London

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Für die eBook-Ausgabe neu lektoriert und mit modernisierter Rechtschreibung. Voll verlinkt, mit eBook-Inhaltsverzeichnis und zahlreichen Worterklärungen || Es gibt keinen anderen Roman, der den legendären Goldrausch am kanadischen Klondike River in den 1890er Jahren so authentisch schildert, wie Jack Londons ›Lockruf des Goldes‹. Kein Wunder, denn der Autor suchte dort selbst ein Jahr lang sein Glück als Goldschürfer. Der Held des Buches, Elam Harnish, ein zuversichtlicher, wagemutiger Kerl und Urtyp des Abenteurers, wird aber im Gegensatz zu Jack London fündig und zu einem der reichsten Männer weit und breit. Später geht er zurück nach San Francisco, um sein Vermögen in der Finanzwelt noch zu mehren. Doch am Ende findet er überraschend Glück ganz anderer Art. – ›Lockruf des Goldes‹ war zu Jack Londons Lebzeiten sein erfolgreichstes und meist verkauftes Buch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 440

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:5 Std. 58 min

Sprecher:Stefan Wilkening

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Innentitel

Klappentext

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Über Jack London

Impressum

Fußnoten

Klappentext

Es gibt keinen anderen Roman, der den legendären Goldrausch am kanadischen Klondike River in den 1890er Jahren so authentisch schildert, wie Jack Londons ›Lockruf des Goldes‹. Kein Wunder, denn der Autor suchte dort selbst ein Jahr lang sein Glück als Goldschürfer. Der Held des Buches, Elam Harnish, ein zuversichtlicher, wagemutiger Kerl und Urtyp des Abenteurers, wird aber im Gegensatz zu Jack London fündig und zu einem der reichsten Männer weit und breit. Später geht er zurück nach San Francisco, um sein Vermögen in der Finanzwelt noch zu mehren. Doch am Ende findet er überraschend Glück ganz anderer Art. – ›Lockruf des Goldes‹ war zu Jack Londons Lebzeiten sein erfolgreichstes und meist verkauftes Buch.

   

Über den Autor: Kaum ein Schriftsteller hat in so kurzer Lebensspanne (1876–1916) so großen literarischen Ruhm erworben, wie Jack London. – Er schrieb nicht nur über Abenteuer, er führte auch ein abenteuerliches Leben. Schon im Alter von 15 Jahren kauft er sich von geborgtem Geld ein Schiff und wird Austernpirat in der Bucht von San Francisco, fährt dann mit Robbenjägern zur See und zieht als Goldsucher zum Klondike. Als er im Alter von 23 Jahren seine schriftstellerische Karriere beginnt, wird er binnen kürzester Zeit zum Bestseller-Autor.

Lesen Sie mehr über den Autor im Anhang

 

 

Kapitel 1

Es war ein stiller Abend im Tivoli. Am Tresen, der an der einen Seite des großen schindelgedeckten Raumes entlang lief, stand ein halbes Dutzend Männer, von denen zwei sich gerade über die Heilkraft von Fichtennadel-Tee und Zitronensaft bei Skorbut stritten. Die Unterhaltung war jedoch schleppend, und Pausen mürrischen Schweigens kamen auf. Die anderen hörten kaum zu. In einer Reihe, der Mauer gegenüber, standen die Spieltische. Der Crap-Tisch war verlassen, ein einziger Mann saß am Pharaotisch1 und spielte. Nicht einmal die Roulettekugel rollte, und der Spielhalter stand an dem knisternden, rot glühenden Ofen und sprach mit einem hübschen, dunkeläugigen jungen Weibe, das von Juneau bis Fort Yukon als die »Jungfrau« bekannt war. Drei Mann saßen bei einem Dauerpoker, spielten aber nur mit kleinen Einsätzen und ohne Begeisterung, weil sie keine Zuschauer hatten. Auf der Diele des Tanzbodens, der hinter dem Raum lag, walzten drei Paare trübselig zu den Klängen einer Geige und eines Klaviers.

Nicht dass Circle City verlassen oder dass Geld knapp gewesen wäre; die Goldgräber waren von Moosehide Creek und anderen Fundstellen im Westen zurückgekehrt, die Sommerausbeute war gut gewesen, und die Taschen der Leute waren schwer von Staub und Nuggets. Klondike war noch nicht entdeckt, auch hatten die Goldgräber noch nicht gelernt, was sich durch tiefes Schürfen und die Anwendung von Feuer erreichen ließ. Im Winter wurde nichts geschafft, man pflegte noch während der langen arktischen Nacht in großen Lagern wie Circle City zu überwintern. Man verschlief die Zeit, die Taschen waren wohlgefüllt, und Geselligkeit gab es einzig und allein in den Wirtschaften. Und doch war Tivoli verlassen, und die Jungfrau, die neben dem Ofen stand und gähnte, ohne die Hand vorzuhalten, sagte zu Charley Bates: »Wenn nicht bald etwas Leben in die Bude kommt, geh’ ich zu Bett. Was ist denn nur los? Ist das ganze Lager ausgestorben?«

Bates machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern drehte sich mürrisch eine Zigarette. Dan Mac Donald, der Pionier der Gastwirte und Spieler am oberen Yukon, Besitzer des Tivoli und aller seiner Spieltische, wanderte verloren durch den weiten leeren Raum und erblickte die beiden am Ofen.

»Jemand gestorben?« fragte ihn die Jungfrau.

»Sieht so aus«, lautete die Antwort.

»Dann jedenfalls das ganze Lager«, beendete sie das Gespräch und gähnte wieder.

MacDonald nickte grinsend und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als die Tür weit aufgerissen wurde und ein Mann in der Öffnung erschien. Ein Hauch von Kälte, der sich in der Wärme des Raumes zu Dampf verdichtete, umwogte seine Knie, lief über den Boden, wurde immer dünner und verschwand schließlich einige Meter vom Ofen entfernt. Der Neuangekommene nahm den Reisigbesen vom Nagel an der Tür und bürstete sich den Schnee von den Mokassins und den langen Strümpfen. Man hätte ihn für einen großen Mann halten können, wäre nicht ein riesiger Kanadier von der Bar zu ihm getreten.

»Hallo, Daylight!« grüßte er. »Bei Gott, das ist Labsal für wehe Augen!«

»Hallo, Louis, wann bist du denn her geweht?« erwiderte der Ankömmling. »Komm, lass uns eins trinken und erzähl’ von Bone Creek. Na, ihr Hundsfötter, her mit den Pfoten. Wo ist dein Kompagnon? Ich bin auf dem Ausguck nach ihm.«

Ein anderer Riese löste sich von der Bar und schüttelte ihm die Hand. Olaf Henderson und der Franzosen-Louis, denen Bone Creek gemeinsam gehörte, waren die beiden längsten Männer im Lande, und der Neueingetroffene, wenn auch nur einen halben Kopf kleiner, erschien wie ein Zwerg zwischen ihnen.

»Hallo, Olaf, dich such’ ich gerade, savvy2«, sagte der mit Daylight Angeredete. »Morgen ist mein Geburtstag, und ich hab mir vorgenommen, euch alle zu werfen – savvy? Dich auch, Louis! Komm und trink eins, Olaf, ich erzähle euch alles.«

Seine Ankunft schien den Raum mit einer Flut von Wärme zu erfüllen. »Burning Daylight!« rief die Jungfrau, die erste, die ihn erkannte, als er nun ins Licht trat. Charley Bates’ ernste Züge erhellten sich bei seinem Anblick, und MacDonald trat zu den dreien an der Bar. Es war, als hätte die Ankunft Burning Daylights den ganzen Raum heller und heiterer gestimmt. Die Kellner liefen, Rufe ertönten, Lachen erklang. Und als der Geiger nach einem Blick ins Vorzimmer zum Klavierspieler bemerkte: »Burning Daylight ist da«, kam sofort Schwung in den Walzer, und die Tänzer wirbelten herum, als ob es ihnen wirklich Freude machte. Sie wussten von alters her, dass es keine Langeweile gab, wenn Burning Daylight da war.

Der wandte sich von der Bar ab und sah das Mädchen am Ofen und den verlangenden Blick, den sie ihm zum Willkommen zuwarf.

»Hallo, Jungfrau, altes Mädel«, rief er. »Hallo, Charley. Was ist denn los mit euch? Ihr macht ja Gesichter, wie sieben Tage Regenwetter! Kommt her, alle Mann, und getrunken! Her mit euch, ihr lebendigen Leichen, und sagt, was für Gift ihr haben wollt! Alle Mann her! Heute bin ich dran! Ich gebe aus! Morgen werde ich dreißig, und dann bin ich ein alter Mann. Die Jugend ist vorbei. Verstanden? Also her! Her mit euch!«

»Warte mal, Davins«, rief er dem Bankhalter am Pharaotische zu, der seinen Stuhl vom Tische zurückgeschoben hatte. »Lass sehen, wer ausgeben will, du oder ich!«

Er zog einen Beutel aus der Rocktasche, der schwer von Goldstaub war, und setzte ihn auf die hohe Karte. »Fünfzig«, sagte er.

Der Bankhalter drehte zwei Karten um. Die hohe Karte gewann. Er kritzelte den Betrag auf ein Stück Papier, der Wäger an der Bar wog für fünfzig Dollar Staub in der Goldwage ab und schüttete ihn in Burning Daylights Beutel. Im Tanzsaal war es unterdessen still geworden, die drei Paare steuerten, von dem Geiger und dem Klavierspieler gefolgt, auf die Bar los, und Daylight bemerkte sie.

»Her mit euch!« schrie er. »Her mit euch und sagt, was ihr haben wollt. Heute bin ich dran, und eine solche Nacht kommt nicht sobald wieder. Her mit euch, ihr Siwashes3 und Lachsfresser! Heute bin ich dran, das sag’ ich euch – –«

»Eine verflucht räudige Nacht«, fiel Charley Bates ein.

»Richtig, mein Sohn«, fuhr Burning Daylight heiter fort, »eine räudige Nacht, aber es ist meine Nacht, siehst du. Ich bin ein räudiger, alter Wolf. Kannst du mich heulen hören!«

Und er heulte wie ein einsamer grauer Waldwolf, bis sich die Jungfrau schaudernd ihre hübschen Finger in die Ohren steckte. Eine Minute später wirbelte sie in seinen Armen über den Tanzboden, wo bald darauf mit den drei anderen Mädchen und ihren Partnern ein ausgelassener Virginia Reel im Gange war. Männer und Frauen tanzten in Mokassins, und es dauerte nicht lange, so ging es hoch her. Burning Daylight war der Mittelpunkt, seine Scherze und rauen Späße rissen sie aus der Schlaffheit, in der er sie angetroffen hatte. Der Raum hatte durch sein Kommen gleichsam eine andere Atmosphäre erhalten. Er schien ihn ganz mit seiner Lebensfreude zu füllen. Wer von der Straße hereinkam, spürte es sofort, und als Antwort auf alle Fragen deuteten die Barkeeper nur nach hinten und erklärten: »Burning Daylight ist losgelassen.« Und die Leute blieben, und das Geschäft blühte. Das Spiel kam in Gang, bald waren alle Tische besetzt, und das Klirren der Jetons und das eintönige Surren der Roulettekugel übertönte gebieterisch den heiseren Lärm von Männerstimmen, Flüchen und schwerfälligem Lachen.

Wenige kannten Elam Harnish unter einem anderen Namen als Burning Daylight – den Namen, den man ihm in der ersten Zeit des Landes gegeben hatte, weil er seine Kameraden mit den Worten »Das Tageslicht brennt« aus den Betten zu jagen pflegte. Von den Pionieren in jener fernen arktischen Wildnis, wo alle Männer Pioniere waren, wurde er zu den ältesten gezählt. Männer wie Al Mayo und Jack MacQuestion waren zwar vor ihm da gewesen; aber sie waren aus dem Osten von der Hudsonbai über die Rocky Mountains gekommen. Er hingegen hatte den Weg über den Chilkoot- und den Chilkat-Pass erschlossen. Im Frühling 1883, vor zwölf Jahren, war er als achtzehnjähriger Bursche mit fünf Kameraden über den Chilkoot gekommen. Im Herbst war er mit einem zurückgekehrt. Vier waren den Entbehrungen in der rauen, unwirtlichen Wüste erlegen. Und zwölf Jahre lang hatte Elam Harnish Gold gegraben in dem finsteren Polarlande.

Und keiner hatte so hartnäckig und ausdauernd gegraben. Er war mit dem Lande aufgewachsen, kannte kein anderes Land. Zivilisation war ihm der Traum eines früheren Landes. Lager wie Forty Mile und Circle City waren Weltstädte für ihn. Und nicht allein, dass er mit dem Lande aufgewachsen war, er hatte das Land mit geschaffen. Er hatte Geografie und Geschichte dieses Landes gemacht, und die nach ihm kamen, schrieben über seine Fahrten und steckten die Wege ab, die sein Fuß getreten.

Helden neigen selten zu Heldenverehrung, aber unter den Bewohnern dieses jungen Landes galt er trotz seiner Jugend als einer der ältesten Helden. In der Zeit war er den meisten voraus. An Taten hatte er sie übertroffen. Und es war bekannt, dass er eine Ausdauer besaß, die selbst den Abgehärtetsten von ihnen umbringen konnte. Dazu kannte man ihn als einen mutigen Mann, einen ehrlichen Mann, als einen Mann ohne Furcht und Tadel.

In allen Ländern, wo das Leben ein Glücksspiel ist, das leichtsinnig beiseite geworfen wird, verfallen die Leute, um sich zu zerstreuen und zu vergnügen, fast automatisch dem Spiel. Am Yukon verspielte man das Leben für Gold, und wer das Gold aus der Erde gewann, verspielte es wieder an einen anderen. Und Elam Harnish machte keine Ausnahme. Er war in erster Linie Mann, und der Instinkt, der ihn das Spiel des Lebens zu spielen trieb, war stark. Die Umgebung hatte die Form seines Spiels bestimmt. Er war auf einer Farm in Iowa geboren, jedoch mit seinem Vater nach dem östlichen Oregon ausgewandert, und hier, in der Bergwerksgegend, hatte Elam seine Kindheit verlebt. Harte Knüffe einstecken und hohe Einsätze wagen, das war das einzige, was er gelernt hatte. Mut und Ausdauer galt es in dem Spiel, aber der große Gott Zufall teilte die Karten aus. Ehrliche Arbeit für einen sicheren, aber mageren Verdienst zählte nicht. Man spielte hoch. Man wagte alles für alles, und etwas weniger als alles galt als Verlust. Auf diese Weise verlor Elam Harnish am Yukon zwölf Jahre. Am Moosehide Creek hatte er allerdings im letzten Sommer für zwanzigtausend Dollar Gold gefunden, und im Boden steckten noch für weitere zwanzigtausend. Aber, wie er selbst sagte, hatte er damit kaum seinen Einsatz, ein Dutzend Jahre seines Lebens, herausbekommen, und vierzigtausend waren nicht viel – die gingen drauf für einen Trunk und einen Tanz im Tivoli, einen Winter in Circle City und Proviant für das nächste Jahr.

Unter den Yukonleuten galt noch das alte Wort: Schwer gewonnen – leicht vertan. Als der Reel zu Ende war, lud Elam Harnish wieder alle Anwesenden ein, mit ihm zu trinken. Getränke waren teuer. Dreißig Mann nahmen seine Einladung an und waren zwischen jedem Tanz Elams Gäste. Es war seine Nacht, kein anderer durfte einen Cent bezahlen. Nicht, dass Elam Harnish ein Säufer gewesen wäre – aus Whisky machte er sich nicht viel. Er war zu kraftvoll und robust, zu gesund an Körper und Seele, um zum Sklaven des Alkohols zu werden. Viele Monate schwerer Arbeit verbrachte er auf Schlittenreisen und Bootsfahrten, ohne ein stärkeres Getränk als Kaffee zu trinken, ja einmal hatte er sogar ein ganzes Jahr auf diesen verzichtet. Aber er war gesellig, und weil die Geselligkeit am Yukon nur in den Wirtschaften zu finden war, musste er sie dort suchen. In den Lagern der Minenarbeiter im Westen, wo er als Knabe gelebt hatte, war es immer so gewesen. Für ihn war es die Geselligkeit, die sich für einen Mann ziemte. Er kannte keine andere.

Er war eine auffallende Erscheinung, obgleich seine Kleidung nicht von der der anderen Männer im Tivoli abwich. An den Füßen trug er Mokassins aus weichgegerbter Elenhaut4 mit Perlenstickerei in Indianermustern. Seine Hosen zeigten nichts Außergewöhnliches, und sein Rock war aus einer wollenen Decke gemacht. Wollgefütterte Lederhandschuhe mit langen Stulpen hingen nach Yukon-Mode an einem Lederriemen, der ihm um Nacken und Schulter lief. Auf seinem Kopfe saß eine Pelzmütze, deren Ohrenklappen jetzt hochgeschlagen waren, während die Bänder herunterbaumelten. Sein mageres, längliches Gesicht, unter den Backenknochen leicht eingefallen, glich fast dem eines Indianers. Die sonnenverbrannte Haut und die scharfen schwarzen Augen verstärkten diesen Eindruck, obwohl gerade der Bronzeton und die Augen selbst bezeichnend für einen Weißen waren. Er sah älter als dreißig aus, wirkte aber jetzt, als er glattrasiert und faltenlos dastand, fast wie ein Knabe. Wenn man trotzdem den Eindruck hatte, dass er älter war, so hatte man zwar keinen greifbaren Anhalt dafür, aber man wusste, was der Mann durchgemacht und erlebt hatte und worin er anderen Männern so überlegen war – das war es. Er hatte sein Leben unverhüllt und unter ständigem Hochdruck gelebt, und etwas von alledem glühte in seinen Augen, zitterte in seiner Stimme und erschien, sobald er sprach, auf seinen Lippen.

Die waren dünn und pflegten sich nicht über den ebenmäßigen weißen Zähnen zu schließen. Aber ihre Härte wurde durch einen leichten Zug der Mundwinkel nach oben gemildert. Das verlieh ihm etwas Anziehendes, ebenso wie die winzigen Fältchen um die Augenwinkel, die ihn lustig erscheinen ließen. Rohheit und Grausamkeit mussten seiner Natur fremd sein. Die Nase war schmal und fein, mit beweglichen Flügeln und von guten Verhältnissen, während die hohe Stirn sehr schmal, dafür aber schön und ebenmäßig geformt war. Besonders indianerhaft wirkte das Haar, das sehr glatt und tiefschwarz und von einem Glanz war, wie nur Gesundheit ihn verleihen kann.

»Heute brennt Burning Daylight lichterloh«, lachte Dan MacDonald, als ein Ausbruch lärmender Lustigkeit vom Tanzboden herüber drang.

»Ja, das ist ein Kerl, was, Louis?« meinte Olaf Henderson.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte der Franzosen-Louis. »Der Junge ist echt wie Gold – –«

»Wenn der liebe Gott am letzten großen Siebetage Daylights Seele auswäscht«, unterbrach ihn Mac Donald, »dann muss der liebe Gott tüchtig Schlamm in seinen Kasten schaufeln.«

»Sehr gut«, murmelte Henderson und betrachtete den Spieler mit tiefer Bewunderung.

»Ausgezeichnet«, pflichtete der Franzosen-Louis ihm bei. »Und darauf wollen wir einen genehmigen, was?«

Gegen zwei Uhr morgens stellten die Tanzenden, die jetzt hungrig geworden waren, den Tanz auf eine halbe Stunde ein. Und in diesem Augenblick schlug Jack Kearns einen Poker vor. Jack Kearns war ein großer Mann mit gutmütigem Gesicht, der, gemeinsam mit Bettles, den verhängnisvollen Versuch gemacht hatte, eine Station an der Quelle des Koyokuk, weit jenseits des Polarkreises, anzulegen. Darauf war er nach Forty Mile und Sixty Mile zurückgekehrt und hatte, um seinen Unternehmungen eine andere Richtung zu geben, eine kleine Sägemühle und einen Flussdampfer in den Staaten bestellt. Erstere wurde jetzt gerade durch Indianer mit Hunden über den Chilkoot-Pass geschafft und sollte im Vorsommer nach der Eisschmelze den Yukon herunter schwimmen. Im Spätsommer, wenn die Beringsee und die Mündung des Yukon eisfrei waren, sollte dann der Dampfer, der in St. Michaels gebaut wurde, bis an die Reling mit Proviant beladen, flussaufwärts fahren.

Jack Kearns schlug also einen Poker vor. Der Franzosen-Louis, Dan MacDonald und Hai Campbell (der einen Goldfund bei Moosehide gemacht hatte) tanzten nicht, weil nicht genug Mädchen da waren, und so gingen sie auf den Vorschlag ein. Sie sahen sich gerade nach einem fünften Mann um, als Burning Daylight mit der Jungfrau am Arm und allen Tanzenden hinter sich aus dem Hinterzimmer kam. Die Pokerspieler riefen ihn, und er trat an ihren Tisch.

»Willst du mitmachen?« fragte Campbell. »Vielleicht hast du Glück?«

»Heute sicher«, antwortete Burning Daylight mit Begeisterung und fühlte im selben Augenblick, wie die Jungfrau warnend seinen Arm drückte. Sie wollte mit ihm tanzen.

»Heute hätte ich sicher Glück, aber ich will lieber tanzen, denn ich möchte euch nicht alles Geld abnehmen.«

Niemand redete ihm zu. Sie nahmen seine Ablehnung als endgültig hin. Die Jungfrau presste seinen Arm von neuem, damit er den hungrigen Tänzern folgte, aber da wurde er plötzlich anderen Sinnes. Nicht dass er keine Lust zum Tanzen gehabt oder ihr hätte weh tun wollen, aber der wiederholte mahnende Armdruck der Jungfrau reizte seine freie männliche Natur zum Widerstand. Der Wille, sich nichts von einem Weibe vorschreiben zu lassen, gewann die Oberhand in ihm. War er auch ein Liebling der Frauen, so machte er sich doch nicht viel aus ihnen. Sie waren Spielzeug, Tand, eine Erholung in dem großen Spiel des Lebens. Weiber, Whisky und Spiel standen für ihn auf einer Stufe, aber es war seiner Beobachtung nach leichter, mit Trinken und Kartenspielen zu brechen als mit einem Weibe, das einen Mann erst richtig eingefangen hatte.

Sein eigener Sklave sein, das war für seine gesunde Natur selbstverständlich, aber ehe er der Sklave eines anderen wurde, war er zu blutiger Rebellion bereit. Die süße Knechtschaft der Liebe war etwas, das er überhaupt nicht verstand. Verliebte Männer waren ihm stets wie Verrückte erschienen, und Verrücktheit zu analysieren, lohnte sich nicht. Kameradschaft zwischen Männern – ja, das war etwas anderes. Die hatte nichts mit Sklaverei zu tun. Sie war eine geschäftliche Vereinbarung, ein Handel zwischen Männern, die einander nicht verfolgten, sondern im Kampf für Leben und Reichtum die Gefahren von Schlittenreisen, von Strömen und Bergen teilten. Männer und Frauen verfolgten sich, und eines musste sich notgedrungen dem Willen des anderen beugen. Kameradschaft war anders. Sich tagelang über Sturm umfegte Pässe oder durch Sümpfe, die durch Moskitos verseucht waren, abzuschleppen und doppelt soviel zu tragen wie der Kamerad, das hatte weder etwas mit Unbilligkeit noch mit Zwang zu schaffen. Jeder tat sein Bestes, und nur darauf kam es an. Allerdings: der eine war stärker als der andere, aber so lange jeder nur tat, was er konnte, so lange war es ehrliches Spiel, gegen das es nichts einzuwenden gab.

Aber mit Weibern – nein – Weiber gaben wenig und forderten alles. Weiber besaßen Schürzenbänder und hatten die Neigung, jeden Mann, der sich mit ihnen einließ, damit zu umschlingen. Man brauchte nur an die Jungfrau zu denken. Als er kam, hatte sie beinahe einen Gähnkrampf gehabt, und jetzt war sie vor Freude außer sich, nur weil er tanzen wollte.

Ein Tanz, das wäre ja noch gegangen, aber nun drückte sie auch noch seinen Arm, um ihn vom Pokern abzuhalten. Das waren die verhassten Schürzenbänder, der erste Zwang von den vielen, die sie gegen ihn ausüben würde, wenn er jetzt nachgäbe. Sie war sicher ein netter Kerl, gesund, stark und hübsch, dazu eine ausgezeichnete Tänzerin, aber sie war nun einmal ein Weib mit der ganzen Neigung des Weibes, den Mann mit ihren Schürzenbändern einzufangen und an Händen und Füßen zu binden, um ihm sein Brandzeichen aufzudrücken. Lieber pokern.

Außerdem mochte er mindestens ebenso gern pokern wie tanzen.

Sein ganzes Ich widersetzte sich diesem Druck auf den Arm, und er sagte:

»Ich hätte übrigens doch nicht übel Lust, mit euch zu spielen.«

Wieder fühlte er den Druck auf seinen Arm. Sie erprobte die Schürzenbänder an ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde war er ein Wilder, von aufwallender Furcht und Mordlust beherrscht. In dieser unmessbar kurzen Zeitspanne war er zu allem fähig; ein gereizter Tiger, den der Gedanke an die Falle mit Wut und Entsetzen erfüllte. Wäre er wirklich nichts als ein Wilder gewesen, so würde er wie ein Rasender über sie hergefallen sein und sie vernichtet haben. Aber im selben Augenblick kamen in ihm Generationen von Zivilisation zum Durchbruch, die ihn zu einem den Verhältnissen angepassten Gesellschaftstier machten. Takt und Sympathie stritten mit ihm, und mit einem lächelnden Blick in die Augen der Jungfrau sagte er: »Geh nur, und lass dir etwas zu essen geben. Ich bin nicht hungrig. Später können wir wieder tanzen. Es ist ja noch früh. Geh, Mädel!«

Er machte seinen Arm frei, klopfte ihr gemütlich auf die Schulter und wandte sich zu den Pokernden.

»Wie hoch wollt ihr gehen? Ich mache alles mit.«

»Bis in die Wolken«, sagte Jack Kearns.

»Also schön.«

Die Spieler blickten sich froh an, und Kearns wiederholte: »Bis in die Wolken!«

Elam Harnish ließ sich auf den leeren Stuhl nieder und holte seinen Goldbeutel heraus. Die Jungfrau schmollte einen Augenblick, dann wandte sie sich nach dem Tanzboden.

»Ich bring’ dir ein Butterbrot, Daylight«, rief sie über die Schulter zurück.

Er nickte, und sie lächelte ihm Verzeihung zu. Er war den Schürzenbändern entronnen und hatte obendrein ihre Gefühle nicht allzu sehr verletzt.

»Lasst uns mit Chips spielen«, schlug Daylight vor.

»Jetons machen immer solch Durcheinander auf dem Tische … Wenn’s euch allen recht ist?«

»Ich habe nichts dagegen«, antwortete Hal Campbell.

»Meine lauten auf fünfhundert.«

»Meine auch«, sagte Harnish, und die anderen erklärten ebenfalls, wie hoch ihre Chips gelten sollten. Der Franzosen-Louis, der Bescheidenste, bewertete die seinen mit hundert Dollar.

In jenen Tagen gab es in Alaska weder Betrüger noch Falschspieler. Es wurde ehrlich gespielt, und einer verließ sich auf den anderen. Das Wort eines Mannes wog ebenso viel wie sein Gold. Ein Chip war ein flaches, längliches Blechstück, vielleicht einen Cent wert. Setzte aber ein Mann im Spiel einen Chip und sagte ihn mit fünfhundert Dollar an, so wurde er zum Werte von fünfhundert Dollar angenommen. Wer ihn gewann, wusste, dass der Aussteller ihn mit genau abgewogenem Goldstaub zurückkaufte. Da die Chips von verschiedener Farbe waren, war es nicht schwer, den Eigentümer herauszufinden. In jenen frühen Tagen am Yukon fiel es niemand auch nur im Traum ein, mit Bargeld zu spielen. Beim Spiel war ein Mann gut für alles, was er besaß, einerlei, wo seine Besitzungen lagen und welcher Art sie waren.

Harnish zog die höchste Karte. Bei diesem guten Anzeichen rief er dem Kellner zu, dass er eine Runde für die ganze Gesellschaft ausgäbe. Als er Dan Mac Donald, der links von ihm saß, die ersten Karten austeilte, rief er:

»Los, ihr Halunken! Alle Mann an Deck! Krempelt die Ärmel auf! Hoppla! Ich sage euch, es gibt ’ne steife Brise. Passt auf, dass ihr nicht über Bord fliegt.« Dann ging es los. Es war ein ruhiges Spiel, bei dem wenig oder gar nicht gesprochen wurde, obwohl rings um die Spieler die ganze Stube toste. Elam hatte den Tunken entzündet. Immer mehr Gäste kamen ins Tivoli und blieben. Wenn Burning Daylight losgelassen war, blieb keiner zu Hause. Der Tanzboden war voll. Da es zu wenig Damen gab, banden sich mehrere Männer ein Taschentuch um den Arm, wurden nun zum weiblichen Geschlecht gerechnet und tanzten mit anderen Männern. Alle Spieltische waren dicht besetzt, und die Stimmen der Männer an den langen Schanktischen und um den Ofen wurden von dem ständigen Klirren der Jetons und dem scharfen, steigenden und wieder ersterbenden Schnurren des Roulettes begleitet. Ein echter Yukon-Abend war im Gange.

Das Spiel der fünf Männer war einförmig, das Glück wechselte, es gab keine großen Karten. Die Folge war, dass hoch gespielt wurde, dass aber keines der Spiele lange dauerte. Eine »volle Hand« gab dem Franzosen-Louis einen Pot von fünftausend gegen zwei »Dreiständer« von Campbell und Kearns. In einem Spiel, das schon geworfen werden sollte, wurde ein Pot von achthundert Dollar auf ein Paar Asse gewonnen. Und einmal »brachte« Harnish und bluffte Kearns für zweitausend Dollar. Als Kearns die Karten auflegte, zeigte es sich, dass er einen »flush royal« hatte, während Harnish die Frechheit besessen hatte, auf zwei Zehnen zu melden.

Um drei Uhr morgens aber kam die richtige Konstellation, der große Augenblick, auf den Pokerspieler wochenlang warten können. Im Augenblick durchlief das Gerücht das Tivoli. Die Zuschauer verstummten. Entfernter Sitzende ließen die Unterhaltung und scharten sich um den Tisch, der Tanzboden leerte sich, und schließlich standen alle in einer dichten schweigenden Gruppe um den Pokertisch. Ehe gekauft wurde, hatte das hohe Wetten schon begonnen und wurde fortgesetzt, obwohl noch nicht »gebracht« war. Kearns hatte gegeben, und der Franzosen-Louis machte den Anfang zum Pot mit einem Chip – was für ihn hundert Dollar bedeutete. Campbell hatte gerade »gebracht«, doch Elam Harnish, der nach ihm daran war, überschlug seine hundert mit vierhundert besser, indem er zu MacDonald bemerkte, dass er ihn billig heranließe.

MacDonald sah wieder in seine Karten und legte tausend Dollar in Chips in den Pot. Kearns grübelte lange und »brachte« schließlich. Nun musste der Franzosen-Louis neunhundert einschießen, um weiter mitzumachen, und er tat es denn auch nach einigem Bedenken. Campbell kostete das Weiterspielen und Kaufen ebenfalls neunhundert, aber zum allgemeinen Erstaunen »brachte« er sie und überschlug noch einmal mit fünfhundert Dollar.

»Endlich kommt Fahrt in die Sache«, bemerkte Harnish, »brachte« die fünfzehnhundert und noch tausend. »Der Sturm beginnt.«

»Ich bin zu allen Schandtaten bereit«, begleitete Mac Donalds Chips auf zweitausend und noch eine Tausenddollareinlage.

Die Männer setzten sich zurecht, denn jetzt wussten sie bestimmt, dass große Karten im Spiel waren. Obwohl ihre Gesichter nichts verrieten, strafften sich ihre Züge doch unbewusst. Jeder suchte gleichmütig auszusehen – und jeder nach seiner Art. Hal Campheil zeigte seine gewöhnliche Vorsicht. Franzosen-Louis verriet sein Interesse. MacDonald spielte sein herzliches Wohlwollen, das allerdings ein bisschen übertrieben wirkte. Kearns gab sich kaltblütig und zuversichtlich, während Elam Harnish munter und lustig wie nur je zu sein schien. Elftausend Dollar lagen schon im Pot, und die Chips häuften sich in der Mitte des Tisches.

»Ich habe keine Chips mehr«, bedauerte Kearns. »Wir geben jetzt am besten Gutscheine.«

»Es freut mich, dass du nicht schlapp machst«, lautete MacDonalds leutselige Antwort.

»Ich bin noch nicht fertig. Ich habe schon tausend Dollar darin. Wie steht es jetzt?«

»›Bringen‹ kostet dreitausend, aber es wird dich niemand hindern, mit mehr hineinzugehen.«

»Den Deubel will ich mehr! Du meinst wohl, ich bin gerade solch leichtsinniger Hund wie du.« Kearns guckte in seine Karten. »Aber ich will dir was sagen, Mac. Ich hab’ ’ne feine Karte, die dreitausend möcht’ ich doch gerade noch mal ›bringen‹.«

Er schrieb eine Summe auf ein Stück Papier, setzte seinen Namen drunter und schob es in die Mitte des Tisches.

Alle Augen richteten sich jetzt auf den Franzosen-Louis. Der zupfte einen Augenblick nervös an seinen Karten. Dann warf er mit einem ärgerlichen »Zum Kuckuck! Nichts zu machen« die Karten auf den Tisch.

Im nächsten Augenblick suchten die mehr als hundert Augenpaare Campbell.

»Ich will dicht nicht überbieten, Jack«, sagte er und begnügte sich, die nötigen zweitausend zu ›bringen‹. Jetzt richteten sich die Augen auf Harnish, der etwas auf ein Stück Papier schrieb, das er in die Mitte schob.

»Ich möchte nur bemerken, dass wir kein Wohlfahrtsverein für arme Kinder sind«, sagte er. »Ich ›bringe‹ und noch tausend. Jetzt bist du dran, Mac.«

»Darauf habe ich gerade gewartet, und ich geh’ noch tausend weiter«, war MacDonalds Entgegnung. »Gehst du immer noch mit, Jack?«

»Aber sicher.« Kearns beschäftigte sich lange mit seinen Karten. »Ich will’s darauf ankommen lassen, aber erst sollt ihr wissen, wie ich stehe. Da ist mein Dampfer ›Bella‹ – der ist wenigstens zwanzigtausend wert. Dann Sixty Mile mit einem Warenlager für fünftausend. Und ihr wisst, dass ich eine Sägemühle erwarte. Sie ist jetzt in Linderman, und das Schiff ist im Bau. Bin ich euch gut?«

»Los, du bist gut«, antwortete Daylight. »Und weil wir gerade dabei sind, so will ich auch gleich sagen, dass ich zwanzigtausend in Macs Geldschrank und noch zwanzigtausend im Boden von Moosehide stecken habe. Du kennst ihn, Campbell. Steckt soviel drinnen?«

»Sicher, Daylight.«

»Wie viel kostet es jetzt?« fragte Kearns.

»›Bringen‹: zweitausend.«

»Wir überbieten dich doch nur, wenn du hineingehst«, warnte Daylight ihn.

»Ich hab’ ’ne mächtige Chance«, sagte Kearns und fügte seinen Gutschein über zweitausend zu dem wachsenden Haufen. »Sie krabbelt mir ordentlich den Rücken herauf.«

»Ich hab’ zwar keine große Chance, aber anständige Karten«, erklärte Campbell, indem er seinen Gutschein hinschob; »aber ich kann nicht mehr überschlagen.«

»Das gehört mir«, Daylight machte eine Pause und schrieb. »Ich ›bringe‹ die tausend und noch so einen strammen Tausender.«

In diesem Augenblick tat die Jungfrau, die hinter ihm stand, etwas, das selbst der beste Freund eines Mannes nicht tun darf. Sie langte über Daylights Schulter, nahm die fünf Karten vom Tische und besah sie sich, indem sie sie dicht vor ihre Brust hielt. Was sie sah, waren drei Damen und zwei Achten, aber niemand konnte es aus ihren Zügen erraten. Aller Augen waren auf sie gerichtet, aber sie verzog keine Miene. Ihr Gesicht hätte in Eis ausgehauen sein können. Nicht eine Muskel verzog sich; weder bebten ihre Nasenflügel noch kam ein stärkerer Glanz in ihre Augen. Sie legte die Karten wieder auf den Tisch, und die forschenden Augen der Männer ließen von ihr ab, ohne etwas erfahren zu haben.

Mac Donald lächelte wohlwollend. »Ich ›bringe‹ noch zweitausend. Daylight. Wie steht es mit deiner Chance, Jack?«

»Immer noch da, Mac. Ihr habt mich jetzt fest, aber es ist ne Chance von der richtigen Sorte, und es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, nicht lockerzulassen. Ich ›bringe‹ dreitausend. Und zudem hab’ ich noch eine Chance: Daylight muss ja auch ›bringen‹.«

»Aber sicher«, stimmte Daylight zu, nachdem Campbell seine Karten hingeworfen hatte. »Er weiß, wann es darauf ankommt und spielt danach. Ich ›bringe‹ die zweitausend, und dann wollen wir kaufen.«

Und in der Totenstille, die nur von den leisen Stimmen der drei Spieler unterbrochen wurde, kauften sie. Vierunddreißigtausend Dollar lagen schon im Pot. und das Spiel war vielleicht noch nicht halb zu Ende. Zum Erstaunen der Jungfrau behielt Daylight seine drei Damen, warf seine Achten und zog zwei neue Karten. Und diesmal wagte nicht einmal sie zu sehen, was er gekauft hatte. Sie kannte die Grenzen ihrer Selbstbeherrschung. Auch er sah nicht nach. Die beiden neuen Karten lagen mit der Bildseite nach unten auf dem Tische, wie er sie bekommen hatte.

»Karten?« fragte Kearns MacDonald.

»Hab’ genug«, war die Antwort.

»Du kannst kaufen, wenn du willst.«

»Danke, ich hab’ genug.«

Kearns kaufte selbst zwei Karten, sah sie sich aber nicht an. Harnish ließ seine Karten immer noch auf dem Tisch liegen.

»Ich wette nie gegen eine Karte, die nicht zugekauft ist«, sagte er langsam und sah den Wirt an.

»Los Mac!«

Mac Donald zählte seine Karten sorgfältig, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie nicht schlecht waren, schrieb eine Summe auf ein Stück Papier und legte es mit der einfachen Bemerkung »Fünftausend« in den Pot.

Kearns, auf den sich jetzt alle Augen richteten, sah auf seine beiden zuletzt gezogenen Karten, zählte die drei anderen, um jeden Zweifel auszuschließen, dass er nicht mehr als fünf Karten hätte, und schrieb auch etwas auf.

»Ich ›bringe‹, Mac«, sagte er, »und noch ein kleines Tausend, nur damit Daylight weitergehen kann.«

Die Aufmerksamkeit sammelte sich wieder um Daylight. Er untersuchte ebenfalls seine Karten und zählte seine fünf Karten.

»Ich ›bringe‹ die sechstausend und noch fünftausend … nur um zu versuchen, dich rauszubringen, Jack.«

»Und ich setze fünftausend, um dir dabei zu helfen«, meinte MacDonald.

Seine Stimme war ein ganz klein wenig heiser und angestrengt, und ein nervöses Zittern um die Mundwinkel begleitete seine Worte.

Kearns war blass, und die Zuschauer bemerkten, dass seine Hand zitterte, als er den Gutschein schrieb. Seine Stimme war jedoch unverändert.

»Ich halte die fünftausend«, sagte er.

Jetzt war Daylight wieder an der Reihe. Das Licht der von der Decke herabhängenden Petroleumlampen spielte in den Schweißtropfen auf seiner Stirn. Die Bronzefarbe seiner Wangen war durch das emporsteigende Blut dunkler geworden. Seine schwarzen Augen funkelten, und seine Nasenflügel bebten vor Erregung. Gerade sie bezeugten seine Abstammung von Wilden, deren Rasse sich dank ihrer tiefen Lungen und üppigen Luftzufuhr erhalten hatte.

Doch im Gegensatz zu MacDonald war seine Stimme fest wie immer, und seine Hand zitterte nicht wie die Kearns, als er schrieb.

»Ich ›bringe‹ zehntausend«, sagte er. »Ich bin nicht bange vor dir, Mac, es ist wegen Jacks Chance.«

»Ich setze nun gerade fünftausend gegen diese Chance«, sagte MacDonald. »Ich hatte die beste Karte, ehe wir kauften, und ich nehme an, dass ich sie noch immer habe.«

»Es kommt ja vor, dass eine Chance nach dem Kaufen besser ist als vorher«, bemerkte Kearns. »Und da sagt mir die Pflicht: Immer ’ran, Jack, immer ’ran, und ich sage: noch fünftausend.«

Daylight legte sich zurück und betrachtete sich die Petroleumlampe, während er laut rechnete.

»Ich habe neuntausend gesetzt, ehe gekauft wurde, und ich habe elftausend ›gebracht‹ und erhöht – das macht dreißig. Ich bin nur noch für zehn gut.« Er beugte sich vor und sah Kearns an. »Also ich ›bringe‹ die zehntausend.«

»Du kannst gut höher hineingehen«, antwortete Kearns. »Deine Hunde rechnen gut für fünf.«

»Nicht einen Hund. Du kannst all meinen Goldstaub und das andere Zeug gewinnen, aber nicht einen von meinen Hunden. Ich ›bringe‹ nur.«

MacDonald bedachte sich lange. Keiner rührte sich oder flüsterte. Kein Muskel erschlaffte in den Gesichtern der Zuschauer. Nicht einer trat auch nur von einem Fuß auf den anderen. Es herrschte feierliches Schweigen. Nichts war zu hören als das Prasseln in dem großen Ofen und das Heulen der Hunde, das gedämpft durch die Holzwände herein tönte. Nicht jede Nacht wurde am Yukon so hoch gespielt, und dieses Spiel war das höchste, das die Geschichte des Landes aufzuweisen hatte. Endlich sagte der Wirt:

»Wenn einer von euch gewinnt, muss ich eine Hypothek auf das Tivoli nehmen.«

Die beiden anderen Spieler nickten.

»Dann ›bringe‹ ich auch.«

MacDonald fügte seinen Gutschein über fünftausend zu den anderen.

Nicht einer von ihnen forderte den Pot für sich, und nicht einer nannte seine Karte. Gleichzeitig legten sie ihre Karten offen auf den Tisch, während die Zuschauer auf den Zehenspitzen standen und sich die Hälse ausreckten, um besser zu sehen.

Daylight hatte vier Damen und ein As; MacDonald vier Buben und ein As; und Kearns vier Könige und eine Drei. Kearns langte aus und zog den Pot zu sich, aber sein Arm zitterte dabei.

Daylight nahm sein As, warf es neben das Mac Donalds und sagte:

»Das hat mich die ganze Zeit hochgehalten, Mac. Ich wusste, dass nur die Könige mich schlagen konnten, und richtig, er hatte sie.«

»Was hattest du denn?« wandte er sich eifrig an Campbell.

»Flush royal von beiden Enden zu kaufen – eine gute Karte.«

»Das sollte ich meinen! Du hättest einen ›straight‹ einen ›straight flush‹ oder einen gewöhnlichen ›flush‹ bekommen können.«

»Das Rausgehen kostet mich sechstausend«, meinte Campbell betrübt.

»Ich wünschte, du hättest gekauft«, lachte Daylight, »dann hätte ich nicht die vierte Dame gekriegt. Nun muss ich Billy Rawlins Post besorgen und machen, dass ich nach Dyea komme. – Wie groß ist die Beute, Jack?«

Kearns versuchte den Pot zu zählen, war aber zu erregt. Daylight zog ihn zu sich herüber, sortierte Chips und Gutscheine und rechnete ruhig zusammen. »Hundertsiebenundzwanzigtausend!« meldete er.

»Jetzt kannst du Ausverkauf halten und nach Hause reisen, Jack.«

Der Gewinner lächelte und nickte, konnte aber kein Wort herausbringen.

»Ich möchte etwas zu trinken bestellen«, sagte Mac Donald, »die Bude gehört mir nun nicht mehr.«

»Doch!« antwortete Kearns, nachdem er seine Lippen mit der Zunge angefeuchtet hatte. »Deine Gutscheine gelten, solange du willst. Aber für Getränke zu sorgen ist meine Sache.«

»Sagt, was ihr haben wollt, Leute – der Gewinner bezahlt!« rief Daylight den Umstehenden laut zu, und zugleich erhob er sich und fasste die Jungfrau am Arm. »Kommt alle mit, wir tanzen einen Reel. Es ist noch früh am Tage, und morgen muss ich mit der Post los. He, Rawlins – ich verpflichte mich, die Post hin und zurück zu besorgen, und morgen früh um neun geht’s los – savvy? Alle her! Wo ist die Musik?«

 

 

Kapitel 2

Es war Daylights Nacht. Er war der Mittelpunkt, das Haupt der Lustbarkeit, unersättlich in seiner Laune, ein Ansteckungsherd von Frohsinn. Er vervielfältigte sich und damit den Trubel. Kein Streich, den er vorschlug, war zu ausgelassen für sein Gefolge, und ihm folgten alle bis auf die, die als singende Idioten auf dem Schlachtfeld blieben. Aber nie kam es zu Ausschreitungen. Es war am Yukon bekannt, dass an den Abenden, wenn Burning Daylight losgelassen war, Zank und Streit verpönt waren. Früher war es wohl einmal vorgekommen, aber da hatten die Leute zu spüren bekommen, was wahrer Zorn war, und zwar auf eine Weise, wie nur Burning Daylight es verstand. Wenn er Feste gab, mussten die Leute lachen und froh sein oder nach Hause gehen.

Daylight war unermüdlich. In einer Tanzpause bezahlte er Kearns die zwanzigtausend in Goldstaub und übertrug ihm seine Rechte auf Moosehide. Den Postkontrakt mit Billy Rawlins ordnete er ebenfalls und traf seine Vorbereitungen zur Abreise. Er schickte nach Kama, seinem Hundetreiber, einem Tananaw-Indianer, der seinen Stamm verlassen hatte, um in die Dienste der Weißen zu treten. Kama betrat das Tivoli, groß, mager, muskulös, in Felle gekleidet, ein Auserwählter seiner barbarischen Rasse, und doch selbst ein Barbar, der sich durch die ihn umtobenden Gäste nicht stören ließ, als Daylight ihm seine Befehle erteilte.

»Hm«, sagte Kama und zählte seine Aufträge an den Fingern her. »Briefe bei Rawlins abholen. Schlitten aufladen. Proviant bis Selkirk – du meinst viel Hundefutter, halten in Selkirk?«

»Viel Hundefutter, Kama.«

»Hm. Schlitten um neun Uhr herbringen. Schneeschuhe bringen. Kein Zelt bringen. Vielleicht das kleine Zelt bringen?«

»Nein, kein Zelt«, antwortete Daylight entschieden.

»Hm, sehr kalt.«

»Wir reisen mit leichtem Gepäck – savvy? Wir bringen viele Briefe hin, viele zurück. Du bist ein starker Mann. Sehr kalt, lange Reise – schön!«

»Ja, schön«, beschied Kama sich. »Sehr kalt, schert sich den Teufel drum. Fertig um neun Uhr.«

Er wandte sich auf den Hacken der Mokassins um und schritt hinaus, unerschütterlich, gleich einer Sphinx, ohne zu grüßen, ohne nach rechts oder links zu schauen. Die Jungfrau zog Daylight in eine Ecke »Hör’, Daylight«, sagte sie leise, »du bist fertig.«

»Bis auf den letzten Cent.«

»Ich hab’ achttausend in Macs Geldschrank« – begann sie.

Aber Daylight unterbrach sie. Die Schürzenbänder waren drohend nahe, und er schlug aus wie ein Füllen, das den Sattel spürt.

»Macht nichts«, sagte er, »so wie ich jetzt bin, bin ich auf die Welt gekommen, und so bin ich seither die meiste Zeit gewesen. Komm, lass uns tanzen.«

»Aber hör’ doch«, fuhr sie fort, »mein Geld arbeitet nicht. Ich möchte es dir leihen – um Proviant zu kaufen«, fügte sie schnell hinzu, als sie die Alarmzeichen auf seinem Gesicht bemerkte.

»Mich braucht niemand zu verproviantieren«, war die Antwort. »Ich sorge selbst für mich, und mache ich dann mal einen Treffer, dann bin ich sicher, dass mir auch alles gehört. Nein, ich danke dir, Mädel. Es ist sehr nett von dir. Ich verschaffe mir meinen Proviant, indem ich die Post hin und zurück fahre.«

»Daylight«, murmelte sie vorwurfsvoll.

Aber in einer plötzlichen Aufwallung zog er sie in den Tanzsaal, und während er sie im Walzer herum schwang, grübelte sie über die Hartnäckigkeit des Mannes, der sie in seinen Armen hielt und all ihrer List widerstand.

Um sechs Uhr stand er, von Whisky brennend, aber immer noch seiner mächtig, am Schanktisch und drückte jedem die Hand herunter. Das ging so vor sich, dass zwei Männer sich einander gegenüberstellten, während ihr rechter Ellbogen auf dem Schanktisch ruhte. Dann griffen sie sich bei der rechten Hand, und jeder versuchte, die des anderen herunterzupressen. Einer nach dem anderen kam an die Reihe, aber keiner konnte ihn bezwingen, und selbst Olaf Henderson und der Franzosen-Louis konnten nicht gegen ihn aufkommen. Da sie behaupteten, dass es ein Trick, ein eingeübter Griff war, forderte er sie zu einer anderen Probe heraus.

»Seht her, Leute!« rief er. »Ich will zweierlei tun: erstens meinen Beutel wiegen, und zweitens um alles wetten, dass ich zwei Mehlsäcke mehr heben werde als der Stärkste von euch.«

»Bei Gott – angenommen!« übertönte die Stimme des Franzosen-Louis das Getöse.

»Halt!« rief Olaf Henderson. »Ich bin wohl ebenso gut wie du, Louis. Ich übernehme die Hälfte der Wette.«

Als Elam Harnish’ Beutel auf die Waagschale gelegt wurde, zeigte es sich, dass sein Gewicht vierhundert Dollar entsprach, und Louis und Olaf hielten jeder die Hälfte gegen ihn. Fünfzig-Pfund-Säcke wurden aus MacDonalds Vorratsraum geholt. Zuerst erprobten ein paar andere Männer ihre Kräfte daran. Sie stellten sich auf zwei Stühle, und die Mehlsäcke wurden unter sie auf den Fußboden gelegt und zusammengebunden. Viele von ihnen konnten auf diese Weise vier- oder fünfhundert Pfund heben, und mancher brachte es sogar auf sechshundert. Dann machten sich die beiden Hünen dazu, indem sie mit siebenhundert begannen. Der Franzosen-Louis legte nun noch einen Sack dazu und hob siebenhundertundfünfzig Pfund vom Boden. Olaf wiederholte die Leistung, aber bei achthundert versagten beide. Immer wieder versuchten sie es, der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, ihre Glieder knackten. Beide konnten das Gewicht lüften, aber heben konnten sie es nicht.

»Bei Gott, Daylight, diesmal hast du dich verrechnet!« sagte der Franzosen-Louis, indem er sich aufrichtete und von den Stühlen sprang. »Das kann nur ein Mann aus Eisen, Hundert Pfund mehr – Freundchen, keine zehn Pfund mehr.«

Die Säcke wurden auseinander gebunden und noch zwei dazugestellt, aber da erhob Kearns Einwand.

»Nur einen Sack mehr.«

»Zwei!« schrie einer. »Zwei gilt die Wette.«

»Sie haben die letzten nicht gehoben«, protestierte Kearns. »Sie haben nur siebenhundertundfünfzig gehoben.«

Aber Daylight machte der Verwirrung ein großartiges Ende.

»Wozu das Gerede? Was ist ein Sack mehr? Kann ich. nicht drei Säcke mehr heben, dann sicher auch keine zwei. Nehmt beide.«

Er stellte sich auf die Stühle, hockte nieder und beugte sich vor, bis seine Hände den Strick gefasst hatten. Dann änderte er seine Fußstellung ein wenig, spannte prüfend die Muskeln und versuchte, die Stellung zu finden, die seinem Körper die beste Hebekraft verlieh. Der Franzosen-Louis betrachtete ihn zweifelnd.

»Los, Daylight, los! Den Deubel noch mal!« schrie er. Daylights Muskeln strafften sich zum zweiten Mal, und diesmal im Ernst, mit aller Energie, über die sein prachtvoller Körper verfügte, und ganz unmerklich, ohne Ruck, ohne Anstrengung, hob er die umfangreiche Last von neunhundert Pfund vom Boden und schwang sie wie ein Pendel zwischen seinen Schenkeln hin und her.

Olaf Henderson schöpfte tief und hörbar Atem. Die Jungfrau, die sich unbewusst mit gestrafft hatte, bis ihr die Muskeln schmerzten, erschlaffte, während der Franzosen-Louis ehrerbietig murmelte:

»M’sieur Daylight, Salut! Ich bin ein großer Säugling. Du bist ein großer Mann!«

Daylight ließ die Last fallen, sprang vom Stuhl und stürzte an den Schanktisch.

»Abwiegen!« schrie er und warf seinen Beutel dem Wäger zu, der vierhundert Dollar aus den Beuteln Hendersons und Louis’ in den seinen tat.

»Alle Mann her!« rief Daylight. »Sagt, was ihr haben wollt! Der Gewinner bezahlt.«

»Heut ist meine Nacht!« jauchzte er zehn Minuten später. »Ich bin der Einsiedlerwolf und habe dreißig Winter gesehen. Es ist mein Geburtstag, mein einziger Festtag im ganzen Jahr, und ich kann euch alle zusammen schmeißen. Kommt an, alle Mann! Ich will euch alle in den Schnee werfen. Kommt an, ihr Chechaquos und Sour-dougs5, ihr sollt eure Taufe kriegen!«

Die ganze Rotte bis auf die Kellner und die singenden Bacchanten strömte zur Tür hinaus. Der Wunsch, seine Würde zu wahren, mochte MacDonald durch den Kopf fahren, denn er näherte sich Daylight mit ausgestreckter Hand.

»Wie? Du zuerst?« lachte Daylight und ergriff seine Hand, wie zur Begrüßung.

»Nein, nein«, widersprach der Wirt schnell. »Ich will dir nur zum Geburtstag gratulieren. Dass du mich in den Schnee werfen kannst, weiß ich. Was kann ich gegen einen Mann machen, der neunhundert Pfund hebt?«

MacDonald wog hundertundachtzig Pfund, und Daylight hatte nur seine Hand ergriffen; aber durch einen plötzlichen Ruck riss er ihn um und warf ihn kopfüber in den Schnee. Dann kam der nächste an die Reihe, und ihm folgte schnell ein halbes Dutzend. Widerstand war nutzlos. Sie flogen Hals über Kopf und landeten in den groteskesten Stellungen im Schnee, ohne doch zu Schaden zu kommen. Bei dem dunklen Sternenlicht war es nicht leicht zu unterscheiden, wer von ihnen schon geworfen war und wer noch darauf wartete, dass die Reihe an ihn kam, und so begann er, ihre Rücken und Schultern zu befühlen, um zu erkennen, wer schon mit Schnee bestäubt war. »Schon getauft?« war die ständige Frage, wenn er seine schreckliche Hand ausstreckte.

Eine ganze Reihe lag schon im Schnee, während andere in komischer Demut vor ihm knieten, Schnee auf ihren Kopf streuten und behaupteten, die Zeremonie überstanden zu haben. Eine Gruppe von fünf Männern stand jedoch aufrecht – Hinterwäldler und Grenzer, die darauf brannten zu zeigen, dass sie es mit jedem, sogar mit Daylight aufnehmen könnten. Aber wenn sie auch die härteste Schule hinter sich hatten und Veteranen mancher harten Schlacht, Männer von Blut, Schweiß und Ausdauer waren, so fehlte ihnen doch eines, das Daylight in hohem Maße besaß – nämlich die beinahe vollkommene Zusammenarbeit von Gehirn und Muskeln. Das war an und für sich ganz einfach und nicht sein Verdienst. Diese Eigenschaft war ihm angeboren. Seine Nerven reagierten rascher als die ihren, seine Muskeln gehorchten dem Willen schneller, sie glichen explosivstem Sprengstoff. Alle Kraft in seinem Körper schnappte sofort ein wie die Stahlfeder einer Falle. Und dazu besaß er einen Überschuss an Kraft, wie ihn nur einer unter Millionen besitzt – eine Kraft, die nicht von Körpergröße, sondern von einer seltenen organischen Überlegenheit des Muskelgewebes abhing. So konnte er Wirkungen erzielen, ehe der Gegner sich überhaupt darüber klar war, was es galt und wie er Widerstand leisten konnte. Andererseits erkannte er einen gegen ihn selbst gerichteten Angriff so schnell, dass er rechtzeitig widerstehen und einen blitzartigen Gegenangriff machen konnte.

»Es hat keinen Zweck, dass ihr dort stehenbleibt, Leute«, wandte sich Harnish an die wartende Gruppe. »Ihr könnt euch ebenso gut gleich werfen lassen und eure Taufe kriegen. An einem anderen Tage könnt ihr mich vielleicht schmeißen, aber an meinem Geburtstage will ich euch zeigen, dass ich der Stärkste bin. Ist das Pat Hanrahan, der so erwartungsvoll dasteht? Komm an, Pat.«

Pat Hanrahan, früherer Meisterschaftsringer und eine Kapazität in der Kunst des Raufens, trat vor. Die beiden Männer stürzten aufeinander los, doch ehe der Irländer zur Besinnung gekommen war, fand er sich in der unbarmherzigen Zange eines »Halfnelson«6, der ihm Schultern und Kopf in den Schnee presste. Joe Hines, früherer Holzhauer, flog mit einer Macht wie ein zweistöckiges Gebäude – sein Purzelbaum wurde von einem Schlag auf den Hintern begleitet – er war geliefert, ehe er sich überhaupt hatte zurechtstellen können.

Das alles schien Daylight nicht im geringsten anzustrengen. Er bedurfte keiner Vorbereitungen. Sein Körper explodierte plötzlich und mit furchtbarer Kraft, um im nächsten Augenblick wieder zu erschlaffen. So wurde Doc Watson, der graubärtige, eiserne Mann ohne Vergangenheit, der sich selbst ein Schrecken war, den Bruchteil einer Sekunde vor seinem eigenen Angriff geworfen. Als er zum Sprunge ansetzte, war Daylight schon über ihm, und mit so gefährlicher Schnelligkeit, dass er rücklings in den Schnee flog. Olaf Henderson wollte den Augenblick ausnutzen und stürzte sich seitwärts auf Daylight, der noch mit ausgestreckter Hand dastand, um Doc Watson wieder auf die Beine zu helfen. Aber Daylight ließ sich auf Hände und Knie fallen, sodass Olafs Knie an seiner Seite landeten. Olaf nahm das Hindernis, indem er der Länge nach auf die Nase fiel. Ehe er sich erheben konnte, hatte Daylight ihn auf den Rücken gedreht, schrubbte ihm Gesicht und Ohren mit Schnee und stopfte ihm ganze Hände voll in den Nacken.

»Ich bin ebenso stark wie du, Daylight!« sprudelte Olaf hervor, als er wieder auf die Füße gekommen war; »aber bei Gott, einen solchen Griff hab’ ich noch nicht gesehen.«

Franzosen-Louis war der letzte der fünf, und er hatte genug gesehen, um vorsichtig zu sein. Er umkreiste Daylight eine ganze Minute, ehe er es zum Zusammenstoß kommen ließ; und eine ganze Minute rangen sie miteinander, ohne dass einer das Übergewicht erhielt. Aber dann, gerade als der Kampf interessant zu werden begann, machte Daylight einen seiner blitzschnellen Griffwechsel und ließ gleichzeitig seine Muskeln explodieren. Der Franzosen-Louis wehrte sich, dass sein riesiger Körper krachte, und dann wurde er langsam in den Schnee gepresst.

»Der Gewinner bezahlt!« schrie Daylight, indem er auf die Füße sprang, und eilte ins Tivoli zurück. »Alle her, Leute! Hier geht’s zur Giftbude!«

Sie stellten sich in einer zwei bis drei Mann tiefen Reihe an dem langen Schanktisch auf und stampften sich den Frost aus den Füßen, denn es waren sechzig Grad Kälte draußen.

Bettles, der selbst der Tüchtigsten einer war und manche Heldentat vollbracht hatte, unterbrach sein Lied von der »Sassafras-Wurzel« und kam herüber geschwankt, um Daylight zu gratulieren. Aber mitten drin fühlte er den Drang, eine Rede zu halten, und erhob seine Stimme:

»Ich sag’ euch, Kameraden, ich bin verdammt stolz drauf, dass ich Daylight meinen Freund nennen darf. Wir haben manche Schlittenreise zusammen gemacht, und er ist achtzehnkarätig von den Mokassins aufwärts – verdammt soll er sein, die alte Haut! Er war ein Dreikäsehoch, als er ins Land kam. Aber als ihr in seinem Alter wart, wart ihr noch nicht mal trocken hinter den Ohren. Er war nie ein Säugling. Er ist als ausgewachsener Mann auf die Welt gekommen. Und ich sag’ euch, damals musste man ein Mann sein. Damals gab es noch keine marklose Zivilisation wie jetzt.« Bettles hielt einen Augenblick inne und schlang seinen Arm wie eine Bärentatze um Daylights Nacken. »Als wir beide in der guten alten Zeit den Yukon heraufkamen, regnete es keine Suppe, und es gab kein Tischlein-deck-dich-Wirtschaften. Unser Lagerfeuer wurde angezündet, wenn wir unser Wild gejagt hatten, und die meiste Zeit lebten wir von Lachsfährten und Kaninchenbäuchen – stimmt das?« Nachdem der Lachsturm sich gelegt hatte, den diese Umkehrung erregt hatte, zog Bettles seine Bärentatze zurück und wandte sich aufgebracht gegen die Menge. »Lacht nur, ihr räudigen Gelbschnäbel, lacht nur! Aber ich sage euch mit einfachen Worten, dass der Beste von euch nicht würdig ist, Daylight die Mokassins zu schnüren. Stimmt das nicht, Campbell? Stimmt das nicht, Mac? Daylight ist einer von der alten Garde, ein richtiger alter Bursche. Und in jenen Tagen gab es keine Dampfer und keine Poststationen, und wir mussten zusehen, wie wir mit Lachsbäuchen und Kaninchenfährten fertig wurden.«

Er sah sich triumphierend um, und in den Beifall, der jetzt folgte, mischten sich Rufe nach einer Rede von Daylight. Er gab seine Bereitwilligkeit zu erkennen. Ein Stuhl wurde gebracht, und man half ihm hinauf. Er war nicht nüchterner als die ganze Schar, die er jetzt überragte – ein wilder Schwarm in ungeschlachten Kleidern, mit Mokassins oder Muclucked7, mit um den Hals hängenden Fäustlingen und hochgeklappten Ohrenklappen, dass sie den Flügelhelmen der alten Wikinger glichen. Daylights schwarze Augen funkelten, und die Glut der schweren Getränke verdunkelte seine Wangen. Er wurde mit herzlichen Beifallsrufen von der Menge begrüßt, was eine verdächtige Feuchtigkeit in seine Augen steigen ließ, obwohl viele der Stimmen unartikuliert und undeutlich waren. Und doch hatten Männer seit Anbeginn der Welt es so gehalten, hatten mit Schlägerei und Trinken Feste gefeiert und gezecht. Wie die Helden vergangener Zeiten waren diese Männer, die Begründer des arktischen Reiches; sie prahlten, tranken und lärmten und suchten in wenigen wilden Augenblicken Vergessen der rauen Wirklichkeit.

»Schön, Jungens. Ich weiß zwar nicht, was ich euch sagen soll«, begann Daylight stockend, denn er musste erst die Herrschaft über sein wirres Gehirn wiedergewinnen. »Ich glaube, ich will euch eine Geschichte erzählen, Leute. Ich hatte einmal einen Partner, unten in Juneau. Er kam aus Nordcarolina und pflegte mir diese Geschichte zu erzählen.

Es war bei einer Hochzeit in den Bergen seiner Heimat. Die Familie und alle ihre Freunde waren versammelt. Der Pfarrer legte gerade die letzte Hand ans Werk und sagte: ›Was Gott zusammengefügt, die soll der Mensch nicht scheiden.‹

›Herr Pastor‹, sagte der Bräutigam, ›ich gestatte mir zu bezweifeln, dass dieser Satz grammatikalisch richtig ist. Ich möchte, dass diese Hochzeit in jeder Beziehung korrekt ausgeführt wird.‹

Als der Rauch sich verzog, sieht die Braut sich um und erblickt einen toten Pfarrer, einen toten Bräutigam, einen toten Bruder, zwei tote Onkel und fünf tote Hochzeitsgäste.

Da stößt sie einen tiefen Seufzer aus und sagt: ›Die neumodischen Selbstladepistolen haben alle meine Pläne über den Haufen geworfen.‹

Und so sage ich euch, Leute«, fuhr Daylight fort, als das stürmische Gelächter sich gelegt hatte, »dass Jack Kearns vier Könige meine ganzen Pläne umgeworfen haben. Ich bin so arm wie eine Kirchenmaus und muss nun mit der Post nach Dyea.«

»Nach Hause?« fragte einer.

Einen Augenblick flog ein ärgerliches Zucken über sein Gesicht, aber im nächsten Augenblick hatte er seine gute Laune wiedergefunden.