Loderndes Silber - Maya Shepherd - E-Book

Loderndes Silber E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Die Lage im Reich des Winters spitzt sich weiter zu: Je mehr das Volk hungert und friert, desto größer wird der Einfluss der rebellischen Nihilisten. Der Winterkönig und seine Familie geraten in Bedrängnis und stehen vor der Wahl zu bleiben oder zu fliehen. In den eisigen Weiten Winters sind sie der Willkür ihrer Feinde ausgeliefert und kämpfen darum, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Dabei hofft die einstige Eisprinzessin Mariya auf Unterstützung von ihrem Freund Koray, der sich den Nihilisten angeschlossen hat. Wem gilt seine Loyalität? Wird er der Königsfamilie treu zur Seite stehen? Schon bald muss sich Mariya eingestehen, dass sie in ihrem größten Alptraum gefangen ist und sich das Schicksal ihrer Vorfahren zu wiederholen droht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Loderndes Silber

Hinweise zu sensiblen Inhalten:

Die Trilogie „Die Erben des Winters“ sollte nicht von Personen unter 14 Jahren gelesen werden. In einigen der Kapitel sind Szenen mit folgenden Inhalten zu finden:

- Krieg

- körperliche, seelische oder sexualisierte Gewalt

- Krankheit

- Erwähnungen, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern könnten

- Mobbing

- Blut

- Tod

Personen, die solche Inhalte beunruhigend finden könnten, lesen „Die Erben des Winters“ auf eigene Verantwortung.

 

 

 

Impressum

Copyright © 2022 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

[email protected]

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

Illustration »Schneekugel«: Laura Battisti – The Artsy Fox

Korrektorat: Jennifer Papendick

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

 

www.mayashepherd.de

Instagram: maya.shepherd

 

 

 

 

 

 

 

Für Lena

Glaub an dich selbst

 

Personenregister

WAS IM ERSTEN BUCH GESCHAH

Eine Ära geht vorbei

Anarchie

Ein Abschied für immer

Sankt Arthur

Feind und Freund

Das Ende ist nah

Nur ein Moment

Wahrheit und Lüge

Die letzte Nacht

Die Geister der Vergangenheit

Unverzeihlich

Der Tod eines Heiligen

Der Zug in die Freiheit

Irgendwann

Die Juli-Inseln

Winterbraut

Oksana, die Grausame

Der verwunschene Garten

Die Ehemaligen Leute

Eine Gabe

Marika, die Kriegerin

Eulalia von April

Bis zu den Wolken

Vergesellschaftung

Die Krähenkolonie

Grenzenlose Macht

Der Rote König

Sehnsucht nach Winter

Der Ehevertrag

Schneeweißes Herz

Kirill, der Verborgene

Die Auferstandene

Nachwort

Danksagung

Mehr von Maya Shepherd?

 

 Personenregister

 

Familie Wintera

 

Nicolaj

Winterkönig,

Sohn von Nazar Wintera und Theodora von März,

Ehemann von Katyn,

Vater von Odessa, Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander

 

Katyn

Tochter von Albert von April und Eulalia,

Ehefrau von Nicolaj,

Mutter von Odessa, Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander

 

Odessa

Eisprinzessin,

Erste Tochter von Nicolaj und Katyn,

Schwester von Tanaya, Mariya, Anastasia und Alexander

 

Tanaya

Eisprinzessin,

Zweite Tochter von Nicolaj und Katyn,

Schwester von Odessa, Mariya, Anastasia und Alexander

 

Mariya

Eisprinzessin,

Dritte Tochter von Nicolaj und Katyn,

Schwester von Odessa, Tanaya, Anastasia und Alexander

 

Anastasia

Eisprinzessin,

Vierte Tochter von Nicolaj und Katyn,

Schwester von Odessa, Tanaya, Mariya und Alexander

 

Alexander, Lexi

Thronfolger von Winter,

Fünftes Kind, erster Sohn von Nicolaj und Katyn,

Bruder von Odessa, Tanaya, Mariya und Anastasia

 

 

Vorfahren der Familie Wintera

 

Adeline †

Erste Wintera auf dem Eisigen Thron,

Ehefrau von Taras, dem Folterkönig,

Mutter von Eduard

 

Taras †

Winterkönig, Der Folterkönig

Ehemann von Adeline,

Vater von Eduard

 

Eduard †

Winterkönig,

Sohn von Taras und Adeline,

Ehemann von Gilda,

Vater von Jakow und Sofia

 

Gilda †

Ehefrau von Eduard,

Mutter von Jakow und Sofia

 

Sofia †

Winterkönigin,

Tochter von Eduard Wintera und Gilda,

Schwester von Jakow

 

Jakow †

Sohn von Eduard und Gilda,

Bruder von Sofia,

Ehemann von Helene,

Vater von Arthur

 

Helene †

Ehefrau von Jakow,

Mutter von Arthur

 

Arthur †

Winterkönig, Der Heilige

Sohn von Jakow und Helene,

Ehemann von Amelia und Oksana,

Vater von Marika und Kirill

 

Amelia †

Erste Ehefrau von Arthur,

Mutter von Marika

 

Oksana †

Zweite Ehefrau von Arthur,

Mutter von Kirill

 

Marika †

Winterkönigin, Die Kriegerin

Tochter von Arthur Wintera und Amelia,

Halbschwester von Kirill,

Mutter von Gedeon und Nazar

 

Kirill †

Der Verborgene,

Sohn von Arthur und Oksana,

Halbbruder von Marika

 

Gedeon †

Erster Sohn von Marika,

Bruder von Nazar

 

Nazar †

Winterkönig,

Zweiter Sohn von Marika,

Bruder von Gedeon,

Ehemann von Theodora von März,

Vater von Nicolaj

 

 

März

 

Theodora

Ehefrau von Winterkönig Nazar Wintera

Mutter von Nicolaj Wintera

 

Elizaveta

Königin von März,

Nichte von Theodora

 

 

April

 

Albert

König von April,

Ehemann von Eulalia,

Vater von Katyn

 

Eulalia

Ehefrau von Albert,

Mutter von Katyn

 

 

Juli-Inseln

 

Juli

Der Zehnte

König der Juli-Inseln,

Ehemann von Helia,

Vater von Juli, der Elfte

 

Juli

Der Elfte,

Thronfolger der Juli-Insel,

Sohn von Juli, der Zehnte

 

Helia

Dritte Ehefrau von Juli, der Zehnte

 

Cyana

Zofe

 

 

Bedienstete/Höflinge des Winterpalasts

 

Doktor Botkin

königlicher Leibarzt,

Vater von Koray

 

Koray

Sohn des Leibarztes Doktor Botkin,

Offizier der Goldenen Armee

 

Scargard †

Wunderheiler

 

Ella

Zofe von Odessa und Tanaya

 

Liliana †

Zofe von Mariya und Anastasia

 

Polina

Ehemalige Zofe

 

Fatin

Leibwächter des Winterkönigs

 

Gorim

Erster Berater des Winterkönigs

Zwerg

 

Madame Igor

Chimäre

 

Darija

Freundin der Königin Katyn

Schwarze Dame

 

Yuri

Schiffskapitän der Amelia

 

Timur

Ehemaliger Offizier der Goldenen Armee

 

 

Nihilisten

 

Walerian

Der Mann in Grau

Anführer der Nihilisten,

älterer Bruder von Miron

 

Miron †

Soldat,

jüngerer Bruder von Walerian

 

Molotow

Rechte Hand von Walerian,

Zwillingsbruder von Butan,

Wärter der Familie Wintera

 

Butan

Zwillingsbruder von Molotow

 

Wera

Das Schreckensweib,

Wärterin der Familie Wintera

 

Sergo

Der Lüstling,

Wärter der Familie Wintera

 

Dima

Die Frohnatur

Wärter der Familie Wintera

 

Berian

Wärter der Familie Wintera

 

Lasar

Eiserner Lasar,

Wärter der Familie Wintera

 

 WAS IM ERSTEN BUCH GESCHAH

Eisiges Gold

 

Das Reich des Winters ist ein Zusammenschluss der fünf Länder Oktober, November, Dezember, Januar und Februar, die alle vom Winterkönig regiert werden. Seit Jahren herrscht Krieg mit den Nachbarländern April und Mai, wodurch viele Soldaten an den Grenzen sterben. Die Bevölkerung leidet unter einer Hungersnot und verfügt nicht über genug Brennstoffe, um die Häuser zu heizen.

Eisprinzessin Mariya und ihre Geschwister wachsen behütet im Winterpalast auf, ohne etwas von der Not des Volkes zu ahnen. Als Mariyas Kindheitsfreund Koray ihr von den schlechten Lebensbedingungen erzählt, gerät ihre Welt ins Wanken. Zusammen mit Koray besucht sie ein Treffen der rebellischen Nihilisten, in denen sie Gleichgesinnte findet. Ungeachtet ihrer adligen Herkunft beschließt Mariya, ihnen zu helfen.

Nachts verfolgen sie Träume, in denen sie Wendepunkte im Leben ihrer Vorfahren miterlebt. Sie sieht diese als Warnung für ihre jetzige Situation an und versucht, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Ihre Eltern scheinen derweil blind für das Leid im Reich, denn sie quält die Sorge um ihr jüngstes Kind und den zukünftigen Thronfolger – Mariyas Bruder Lexi. Er leidet an einer schweren Krankheit. Der Einzige, der ihm helfen kann, ist der Wunderheiler Scargard. Dieser nutzt die Verzweiflung der Eltern aus, um sie für seine eigenen Zwecke zu manipulieren.

Mariya erhofft sich Hilfe von den Nihilisten, die auch beim Volk immer mehr Anklang finden. Doch sie muss erkennen, dass diese sie ausgenutzt haben, um ein Attentat auf den Winterkönig zu verüben. Um ihre Ziele zu erreichen, sind sie bereit, Köpfe rollen zu lassen, die von Mariyas Familie zuerst.

Sie wendet sich von der Vereinigung ab, einzig der Kontakt zu Miron bleibt bestehen. Dieser ist nicht nur der Bruder des nihilistischen Anführers Walerian, sondern auch mit ihrer Schwester Tanaya zusammen. Genau wie Mariya sieht er in dem Wunderheiler eine große Gefahr. Zusammen schmieden sie einen Plan, um Scargard zu töten.

Nachdem weder Gift noch Schusswaffen etwas gegen den Wunderheiler auszurichten vermögen, greifen die magischen Rusalken in den Kampf ein und ziehen Scargard unter die gefrorene Oberfläche eines Flusses, in dem er schließlich ertrinkt.

Die Tat bleibt nicht ohne Folgen: Miron übernimmt die alleinige Verantwortung für das Verbrechen und wird vom Winterkönig hingerichtet.

 

 

 

 

 

 

Teil 1

 

 Eine Ära geht vorbei

 

E

in Schrei riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Aufrecht saß ich in dem Bett, das vor einer Woche noch meinem Vater gehört hatte, und lauschte in die Dunkelheit. Mein eigener Herzschlag war lauter als alles andere. Wer hatte geschrien? Oder war es am Ende nur meine Angst, die mir einen Streich gespielt hatte? Seit meiner Krönung am vergangenen Sonntag fand ich keine Ruhe mehr. Mein Körper stand wie unter Strom.

So viele Menschen wollten plötzlich etwas von mir und ganz gleich, welche Entscheidungen ich auch fällte, es waren immer die Falschen. Ich konnte es nicht allen recht machen, obwohl ich mir große Mühe gab, meinen Freunden mit Wertschätzung und meinen Feinden mit Milde zu begegnen – anders als mein Vater es mich gelehrt hatte.

Eduard, der Mörder, wie er von vielen genannt wurde, begegnete allen gleichermaßen mit Misstrauen. Zeit seines Lebens rechnete er mit Verrat und versuchte, irgendwelche Komplotte gegen sich aufzudecken, von denen es ungewiss war, ob sie überhaupt bestanden. Er ließ Menschen nur wegen eines Verdachts oder der Anschuldigung eines anderen hinrichten.

So hatte ich nie werden wollen. Aber seitdem ich auf seinem Thron saß, verstand ich ihn besser. Es hieß, dass der Winterkönig von allen geliebt würde, aber mir schlug nur Missgunst entgegen, getarnt hinter Lügen.

Vielleicht lag es daran, dass ich eine Frau war – die erste Herrscherin. Vielleicht erging es allen am Anfang so und ich musste mich erst beweisen. Vielleicht konnten sie mich nicht akzeptieren, weil mir, ihrer Ansicht nach, die Gene zum Regieren fehlten. Aber ich war nun einmal die Tochter Eduards – sein einziges lebendes Kind. Die Krone stand mir dem Gesetz nach zu, auch wenn ich sie nie gewollt hatte. Trotzdem wies ich meine Pflicht nicht von mir, denn ich hatte nun die Verantwortung für ein gewaltiges Reich. Das Volk brauchte eine Winterkönigin, auf die es sich verlassen konnte.

Da waren Schritte auf dem Korridor und die Geräusche eines Handgemenges. Ich hatte mich nicht geirrt!

Eilig stieg ich aus meinem Bett und rannte zum Schreibtisch. Unter dem Teppich befand sich eine Falltür, die zu einem Tunnel unter dem Palast hindurch ins Freie führte. Mein Vater hatte ihn nach dem Anschlag bauen lassen, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte und zu dem Verhängnis meines Bruders geworden war.

Mit ganzer Kraft zog ich an dem Ring, der die Luke verschloss, aber konnte sie nicht öffnen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es eines Schlüssels bedurfte, den ich nicht besaß. Mein Vater hätte ihn mir, im Angesicht seines Todes, überreichen sollen, aber bis zum Schluss hatte er sich an sein Leben geklammert und dessen Ende nicht einsehen wollen. Er hatte sich stur der Tatsache verweigert, dass ich seinen Platz einnehmen würde.

Der Tumult vor meiner Tür wurde lauter und in meiner Verzweiflung floh ich in das nächstbeste Versteck – hinter den Vorhang.

Keine Sekunde später stürmten Männer mit Säbeln und Kerzen in den Händen ins Zimmer. Sie stürzten zu dem leeren Bett.

»Sie ist fort«, rief einer von ihnen.

Andere durchwühlten die Laken und schlitzten mit ihren Klingen die Kissen auf, in denen ich kurz zuvor noch geruht hatte.

»Die Matratze ist noch warm!«

Nun wussten sie, dass ich noch nicht lange weg sein konnte. Es gab nur einen Ausgang. Ich hätte ihnen in die Arme laufen müssen, bei dem Versuch zu entkommen.

Mit hocherhobenen Kerzen spähten sie durch den Raum. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Für einen Wimpernschlag lang schöpfte ich Hoffnung, doch dann brach der Mond wie ein Verräter hinter den Wolken hervor und warf seinen silbernen Schein in das Zimmer. Meine nackten Füße schauten unter dem Vorhang hervor.

»Dort!«, hörte ich jemanden rufen und ehe ich mich versah, rissen sie den Stoff zurück und zerrten mich hervor. Das einfallende Mondlicht musste meine Silhouette hinter dem Vorhang sichtbar gemacht haben.

»Sofia Wintera, Eure Herrschaft ist zu Ende«, verkündete mir einer meiner Berater. »Ihr müsst zugunsten von Arthur abdanken. Euer Leben ist nicht in Gefahr, solange Ihr Euch nicht widersetzt!«

Arthur war der Sohn meines Bruders Jakow. Als seine Witwe Helene ins Exil verbannt wurde, war er noch nicht einmal geboren. Unser Vater hatte seit jeher seine Abstammung angezweifelt und ihn nie als Enkel anerkannt. Trotzdem hatten die Adligen ihn in den Weiten Januars aufgetrieben und beabsichtigten, ihm die Krone aufzusetzen. Sie zogen einen Fremden mir vor, nur wegen seines Geschlechts. Sogar der Sohn eines verurteilten Verräters war ihnen lieber als eine Frau auf dem Thron. Keine Woche hatte meine Herrschaft überdauert.

Zutiefst gedemütigt senkte ich den Kopf und ergab mich meinem Schicksal. Mein Vater hätte sich meiner geschämt, aber ich war nicht wie er. Wenn mir ein Kampf aussichtslos erschien, gab ich ihn auf.

 

Die Enttäuschung lastete schwer auf meiner Brust, als ich erwachte. Ein Teil von mir rebellierte gegen diese Ungerechtigkeit und verlangte von mir, zum Gegenschlag auszuholen. Aber mein Verstand sagte mir, dass es so besser war – sicherer.

Mit der Morgendämmerung kam die Erkenntnis und der Traum verblasste langsam. Ich war nicht Sofia. Dies war nicht meine Erinnerung und trotzdem konnte ich ihre Verzweiflung gut nachempfinden. Nicht jeder wurde mit so einem unbeugsamen Willen wie Eduard geboren, dem Starrsinn näherkam als Mut. Gewiss wäre Sofias sanftes Gemüt dem Reich zugutegekommen, aber sie hatte nie die Chance erhalten, dies unter Beweis zu stellen.

Winter war hart und brauchte einen starken König, der jedem Sturm trotzte. Wenn selbst ein Windstoß reichte, um ihn hinweg zu pusten, gebührte ihm kein Platz auf dem Eisigen Thron. Es war keine Frage des Geschlechts, das hatte zwei Generationen später Winterkönigin Marika, die Kriegerin, eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Auch wenn Frauen sich vermutlich noch mehr profilieren mussten, um die Zweifler zum Schweigen zu bringen.

Die Zimmertür öffnete sich und Anastasia kam mit blassem Gesicht herein. Ich konnte ihr ansehen, dass irgendetwas nicht stimmte. Während mich die Vergangenheit beschäftigte, gab es in der Gegenwart genug Grund zur Sorge. Mein Traum hatte mich zu sehr in Beschlag genommen, um zu bemerken, dass ihr Bett leer war. Sie trug noch ihren Morgenrock und das Haar stand ihr zerzaust vom Kopf ab.

»Sie belagern wieder den Palast«, teilte sie mir leise mit.

Sie.

Die Nihilisten.

Wobei das längst nicht mehr stimmte. Das Volk war so verzweifelt, dass es sich nicht erst einer Gruppe anschließen musste, um zu demonstrieren.

»Wird Papa sie dieses Mal empfangen?« Furchtsam dachte ich an den Blutsonntag: die vielen Toten, all das Blut. Ich erwartete nicht von meiner Schwester, dass sie darauf eine Antwort wusste.

Aber zu meinem Erstaunen reagierte sie trotzdem. »Dafür ist es zu spät. Sie wollen nicht mehr reden, sondern seine Abdankung.« Etwas Endgültiges lag in ihrer Stimme, als gäbe es keinen anderen Ausweg mehr.

»Vielleicht kann er sie besänftigen, wenn er ihnen entgegenkommt«, versuchte ich, ihr etwas Hoffnung zu schenken. »Er könnte Notunterkünfte beheizen lassen und jeden Tag eine warme Mahlzeit…«

Noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte, schüttelte sie den Kopf. »Du hast die Menschen nicht gesehen. Sie sind wütend und bewaffnet, anders als letztes Mal. Sie werden sich nicht noch einmal von der Armee niederschießen lassen. Dieses Mal eröffnen sie das Feuer.« Ihre Stimme brach und ihre Unterlippe begann zu zittern. »Ich habe Angst, Mariya.«

Ich schlüpfte aus meinem Bett, eilte an ihre Seite und schloss sie in meine Arme. »Dazu wird es nicht kommen«, behauptete ich. »Die Goldene Armee ist hier, um uns zu beschützen.«

»Aber das sind nur ein paar Hunderte. Da draußen sammeln sich Tausende und es werden immer mehr«, widersprach Anastasia mir.

Die Situation war heikel und meine Schwester zu klug, um sich von mir beruhigen zu lassen. Sie war mit ihren fünfzehn Jahren alt genug, um den Tatsachen ins Auge zu blicken. Wenn ich versuchte, ihr etwas einzureden, so wie es unsere Eltern immer taten, würde sie sich von mir nicht ernst genommen fühlen.

Ich drückte ihre Hand. »Wir sollten uns ankleiden oder willst du den Nihilisten in deinem Nachtgewand entgegentreten?«

Es war sicher nicht die richtige Zeit für Späße, aber Anastasias Mundwinkel hoben sich dennoch. Sonst war sie diejenige, die für Witze in den unpassendsten Gelegenheiten zuständig war.

 

 

Nach dem Blutsonntag hatte ich geglaubt, auf den Anblick, der mich vor den Palasttoren erwartete, vorbereitet zu sein. Aber die Ansammlung von Menschen übertraf meine schlimmste Vorstellung. Es war weniger die Menge, die mir Sorgen machte, als ihre Gewaltbereitschaft. Gewiss hatte ihre Verzweiflung sie hierhergetrieben, aber das vorherrschende Gefühl war Zorn. Das Volk verachtete jeden, der sich hinter den Mauern des Winterpalastes verbarg. Dort gab es Nahrung. Dort war es warm. Dort gab es alles, worauf sie seit Wochen, teils sogar Monaten, verzichten mussten.

Die Lage war besorgniserregend. Das sah ich auch meinen Schwestern, Lexi und Mama an. Zusammen mit Doktor Botkin und Ella hatten wir uns in das Gemeinschaftszimmer zurückgezogen. Die Fenster gingen zur Flussseite hinaus, sodass wir auf den Korridor treten mussten, um das Geschehen im Palasthof beobachten zu können. Der Krawall war jedoch so laut, dass wir ihn nicht ausblenden konnten. Immer wieder fielen Schüsse – unklar auf welcher Seite. Sämtliche Soldaten und Offiziere waren im Einsatz. Auch Koray musste sich unter ihnen befinden.

Noch hatte Papa keinen Befehl erteilt, aber das sollte sich nun ändern. In Rücksprache mit seinen Beratern hatte er eine Entscheidung gefällt und trat nun auf den Balkon, um zu den versammelten Soldaten zu sprechen.

Mama öffnete die Tür zu unserem Zimmer und wir blieben alle auf der Schwelle stehen, um kein Wort von ihm zu verpassen.

»Treue Söhne Winters«, sprach er zu der Armee. »Das Wohlergehen des Reiches kann nicht vom Wohlergehen des Winterkönigs getrennt werden.« Seine Stimme war laut und kraftvoll, sodass sie bis in die hintersten Reihen zu hören war. Auch die Demonstranten vernahmen Fetzen seiner Ansprache und reagierten darauf mit heftigem Protest, aber davon ließ er sich nicht beirren. »Eine Gefahr für den Herrscher bedroht das ganze Volk. Erinnert Euch an Eure Pflicht, dem Reich zu dienen und es zu beschützen, komme was wolle. Lasst uns gemeinsam diesen furchtbaren Aufstand beenden und die Ruhe wiederherstellen.«

Die Streitmacht applaudierte ihm, während ich mich mit einem unguten Gefühl im Bauch in den Gemeinschaftsraum zurückzog. Papa hatte ihnen den Befehl zum Angriff erteilt. In dieser Situation blieb ihm wohl kaum noch etwas anderes übrig, aber ich hätte mir dennoch eine andere Reaktion von ihm gewünscht.

In seiner Rede verließ er sich darauf, dass die Soldaten ihm bedingungslos folgten, weil es sein Geburtsrecht war, über Winter zu herrschen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der das Volk sein Väterchen geliebt hatte, aber diese war vorbei. Wenn Frieden herrschte und es allen gut ging, war es leicht, jemandem Verehrung entgegenzubringen. Es waren die Krisen, in denen der Winterkönig unter Beweis stellen musste, dass ihm sämtliche Wertschätzung zurecht zu Teil wurde. Großmutter Theodora hatte gesagt, dass der Winterkönig seinem Volk diente, aber Papa erwartete Loyalität, ohne etwas dafür im Gegenzug zu bieten.

Mama versuchte, den Lärm auszuschließen, indem sie die Zimmertür verriegelte. Es war unmöglich. Jeder Schuss ging mir durch Mark und Bein. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass bald mehr Blut als Schnee die Pflastersteine bedecken würde.

 

 

Nach einer Weile, es können nur Minuten oder auch eine ganze Stunde sein, kam Papa mit seinen Beratern in den Familientrakt. Er wirkte unendlich müde, völlig ausgebrannt und von einem Seelenschmerz gebeutelt, der nun schon Jahre überdauerte. Kraftlos ließ er sich in seinen Sessel sinken und zündete sich eine Zigarre an, um den Ausgang des Gefechts abzuwarten.

Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich nie das Gefühl gehabt, dass Papa gerne Winterkönig war. Es war seine Pflicht, die er nicht in Frage stellte, sowie auch unsere Vorfahrin Sofia die Verantwortung angenommen hatte. Aber ich hatte ihn nie mit Begeisterung regieren gesehen. Es gab Bäcker, die pfiffen vergnügt, wenn sie ihren Teig kneteten. Einer unserer Lehrer hatte immer stolz gelächelt, wenn es ihm gelungen war, uns etwas Neues beizubringen. In meiner Kindheit hatte es eine alte Kammerzofe gegeben, die sang, während sie die Gläser polierte. Es waren Kleinigkeiten, die davon zeugten, dass die Menschen mochten, was sie taten. Leidenschaft machte aus einer Arbeit eine Berufung. Ich glaubte, für Papa war die Herrschaft immer eine Last gewesen.

Keiner sagte etwas. Alle saßen wie erstarrt da und harrten der Dinge aus, die kommen mochten. Das Ticken der großen Standuhr kam mir lauter denn je vor.

Ein Bote klopfte an die Tür und eilte an Papas Seite. Obwohl er leise sprach, konnte ich jedes Wort verstehen. »Die Aufständischen haben die Barrikade auf der Rückseite des Palastes durchbrochen. Es mussten Einheiten von den Toren abgezogen werden, um die Lage zu sichern.«

Papa nickte diese Information nur teilnahmslos ab und bedeutete dem jungen Mann, auf seinen Posten zurückzukehren.

Die Berater machten hilflose Gesichter.

Es war schließlich Gorim, der trotz seiner geringen Körpergröße den Mut aufbrachte, die unangenehme Wahrheit auszusprechen. »Majestät, Sie können diesen Kampf nicht gewinnen«, stellte er entschieden fest. »Unzählige Soldaten ließen bereits ihr Leben, während die Schar der Belagerer sich nicht lichtet. Unsere Männer stolpern über Leichen, die sich am Boden türmen.« Er suchte nachdrücklich den Blick meines Vaters. »Ich bitte Sie inständig, Majestät, verhindern Sie noch mehr Tote und kommen Sie den Rebellen entgegen. Danken Sie ab, zum Wohl des Volkes!«

In einer Mischung aus Schock und Anerkennung starrte ich den ersten Berater an. Mein Vater hatte ihm diesen Posten verliehen, weil er seine Aufrichtigkeit schätzte. Der Zwerg hatte nie zu jenen gehört, die dem Winterkönig nach dem Mund redeten und immer sagten, was sie dachten, dass er hören wolle. Auch jetzt bewies Gorim Rückgrat.

Verzweifelt schaute Papa seinen Berater an. Die Wahrheit schmerzte ihn. »Ist es möglich, dass ich dreiundzwanzig Jahre lang versucht habe, mein Bestes zu geben, und dreiundzwanzig Jahre lang alles falsch gemacht habe?«

Die anderen Berater widersprachen ihm augenblicklich und versicherten ihm, dass er ein hervorragender Winterkönig sei, aber Gorim blieb still.

Die anderen waren Papa gleichgültig. Auf sie kam es nicht an.

Zu meinem großen Erstaunen war es Mama, die ihre Hand auf Papas Schulter legte und meinte: »Du bist mein Mann, Nicolaj. Das ist alles, was für mich zählt. Nicht deine Krone.«

Er schaute von seinem Sessel zu ihr auf und wirkte dabei seltsamerweise nicht länger traurig, sondern eher erleichtert. »Ich wollte diese Bürde nie tragen«, gestand er. »Wenn es mein Schicksal ist, ohne Titel zu leben, dann nehme ich es an. Ich werde nicht mehr über Winter herrschen.«

Die Entscheidung war gefallen, aber so ganz schien sie keiner von uns begreifen zu können. Mit seinem Verzicht auf den Thron gingen dreihundert Jahre Herrschaft der Familie Wintera zu Ende. Von nun an war mein Vater nicht mehr der mächtigste Mann der Welt, meine Mutter an seiner Seite nicht mehr die Königin, mein Bruder nicht mehr sein Thronfolger und meine Schwestern und ich nicht länger Eisprinzessinnen.

Gorim nahm seinen schwarzen Zylinder ab, den er sonst immer trug, um größer zu erscheinen, und enthüllte sein blankes Haupt, als er sich demutsvoll vor Papa verneigte. Es war eine Geste seines unerschütterlichen Respekts. Die anderen Berater machten es ihm nach.

Mein Vater hatte als Winterkönig viele schlechte Entscheidungen getroffen, aber diese, seine letzte, zeigte seine Liebe, die er für unser Reich hegte. Er hätte die Menschen bis zum bitteren Ende kämpfen lassen können, aber stattdessen dankte er ab, um noch mehr Blutvergießen zu verhindern.

Er erhob sich von seinem Platz, küsste Mama auf die Stirn und wandte sich dann zum Gehen – eine letzte Amtshandlung hatte er noch zu erbringen, bevor er sein Schicksal, unser aller Zukunft, in die Hände anderer legte.

Ein drückendes Schweigen blieb zurück. Es war ungewiss, was nun mit uns geschehen würde. Die Kapitulation meines Vaters sollte die Nihilisten milde stimmen. Würden sie uns ins Exil nach Januar schicken, so wie Papa es mit vielen Verbrechern getan hatte? Oder würden sie uns aus unserer eigenen Heimat verbannen?

»Warum will Papa nicht mehr Winterkönig sein?«, fragte Lexi schließlich verstört.

Mama setzte sich neben ihn auf die Couch und legte einen Arm um seine schmächtigen Schultern. »Papa ist sehr müde und hat in letzter Zeit viele Schwierigkeiten gehabt.«

»Ach ja, er braucht eine Pause«, meinte mein kleiner Bruder und dachte kurz über ihre Worte nach. »Aber wenn es ihm besser geht, wird er wieder Winterkönig sein, oder?«

Unsere Mutter rang mit sich. Sie wollte Lexi nicht belügen, aber sie schaffte es auch nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Es war Odessa, die sich vor ihm hinkniete und ihm behutsam erklärte, dass Papa nicht mehr Winterkönig sein konnte, wenn er einmal abge-dankt hatte.

»Aber wer wird dann Winterkönig?«, wollte Lexi verständnislos von ihr wissen.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Vielleicht im Augenblick niemand.«

Lexi runzelte die Stirn. »Aber was soll aus Winter werden, wenn es niemanden gibt, der das Reich regiert?« Seine Stimme wurde zittrig und er kämpfte mit den Tränen, so sehr er auch versuchte, sich tapfer zu halten und nicht hinterfragte, was aus ihm und seinen Ansprüchen auf den Thron werden würde. Nach dem Gesetz würde er zum Winterkönig, wenn Papa auf den Thron verzichtete. Dafür bedurfte es allerdings erst einer Krönung, zu der es wohl kaum in nächster Zeit kommen würde. Das schien auch Lexi zu begreifen.

Odessa drehte sich hilflos zu uns herum. In ihrem Gesicht las ich dieselbe schmerzende Wehmut und Bitterkeit, die ich selbst empfand. Es war, als würden wir den Boden unter den Füßen verlieren. Von diesem Moment an würde unser Leben nie wieder so werden, wie wir es gekannt hatten.

Nur eines blieb: die Familie. Selbst wenn wir unser Zuhause, unseren Reichtum, unsere Titel und alles verloren, was wir an materiellen Dingen besaßen, konnte niemand uns unseren Zusammenhalt nehmen. Wir rückten dicht zueinander, scharrten uns um Lexi und hüllten ihn wie in einen Kokon ein. Gemeinsam harrten wir allem aus, was kommen würde.

 

 

Unsere Niederlage war der Triumph der Nihilisten. Nach der offiziellen Abdankung des Winterkönigs wurden die Kämpfe eingestellt. Sämtliche Soldaten und Offiziere unterstanden nicht länger Papas Befehl. Sie waren dem Reich und nicht ihm persönlich verpflichtet. Die Anführer der Rebellion betraten den Winterpalast und ihre rote Fahne mit den gekreuzten Hämmern wurde gehisst.

Wir erwarteten Walerian, der in Begleitung seiner beiden Leibwächter und Molotow kam, im Malachitsaal. Papa saß nicht auf dem Eisigen Thron, sondern trat dem Anführer aufrecht entgegen.

»Ich bin froh, dass du zur Einsicht gekommen bist«, richtete Walerian das Wort an unseren Vater. Ein gewisser Hohn war nicht zu überhören. Außerdem war seine direkte Sprechweise ungewohnt. Sie wirkte wie ein Mangel an Respekt, auch wenn ich wusste, dass die Nihilisten auf die förmliche Ansprache generell verzichteten. »Du kannst dich darauf verlassen, dass deine Sicherheit und die deiner Familie oberste Priorität für uns hat. Aber es gibt ein paar Einschränkungen, an die ihr euch halten müsst.«

Er ließ den Blick von meinem Vater über die restlichen Mitglieder meiner Familie schweifen und schritt auf seinen Gehstock gestützt an uns vorbei. Mir war bewusst, dass ich mich nicht vor ihm verstecken konnte, deshalb versuchte ich es gar nicht erst, auch wenn ich seine Reaktion fürchtete. Aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er mich ansah. War es möglich, dass unsere kurze Begegnung für ihn so bedeutungslos war, dass er sich nicht einmal an mich erinnerte?

Vor dem Eisigen Thron hielt er inne. Er bewunderte den geschliffenen Onyx, der schwarz wie die Nacht glänzte. Opale säumten die Ränder, so funkelnd wie frisch gefallener Schnee. Es schien, als müsse er sich kurz sammeln, bevor er den Mut fand, Platz zu nehmen.

Das war falsch.

Der Eisige Thron stand ihm nicht zu. Er gehörte dort nicht hin. Hatten die Nihilisten nicht für ein Winter gekämpft, das nicht länger einem einzelnen Herrscher unterlag? Wäre es nicht Walerians Pflicht gewesen, das Symbol der jahrelangen Unterdrückung zu zerschlagen, anstatt seinen Hintern darauf niederzulassen?

»Jede Korrespondenz ist untersagt und euer gesamter Besitz wird beschlagnahmt«, teilte er uns hocherhobenen Hauptes mit. »Ihr erhaltet dieselben Essensrationen wie alle anderen. Zu eurem eigenen Schutz dürft ihr den Palast nicht verlassen.«

Als letzte Amtshandlung musste mein Vater Walerian noch die Eisige Krone überreichen. Es schien mir sinnbildlich, als er sich diese vom Kopf zog und sie dem neuen Herrscher überreichte, als würde er das gesamte Reich nun einem anderen in die Hände legen.

Nach dem Gesetz durfte ein Winterkönig, der freiwillig abdank-te, nicht hingerichtet werden. Aber es gab im Volk genug Stimmen, die nicht nur den Tod meines Vaters, sondern den unserer gesamten Familie forderten. Es war eine Ironie, dass ausgerechnet der Mann, der zuvor zum Sturz des Winterkönigs aufgerufen hat-te, nun für unsere Sicherheit verantwortlich war.

Zudem lag Mirons Exekution nur wenige Tage zurück. Offiziell war er ins Exil geschickt worden. Würde Walerian uns auch dann noch schützen, wenn er erfuhr, was seinem jüngeren Bruder wirklich zugestoßen war?

»Sind wir nun also Gefangene?«, wollte Papa von ihm wissen.

Die honigfarbenen Augen des Anführers der Nihilisten loderten vor Genugtuung auf. »Es hätte euch schlechter treffen können, nicht wahr?«

Unser Zuhause, der Winterpalast, wurde zu unserem Gefängnis und die Menschen, welche zuvor unseren Tod gefordert hatten, wurden zu unseren Wärtern. Unsere Welt stellte sich auf den Kopf.

 Anarchie

 

D

ie rote Fahne der Nihilisten hob sich vor dem grauen Himmel empor. Seit einer Woche wehte sie schon über dem Winterpalast. Sie erinnerte mich an das Blut, welches am Tag der Abdankung meines Vaters im Schnee vergossen worden war. Unsere Schmach war der Triumph des Volkes.

Nachdem sich die Kapitulation des Winterkönigs herumgesprochen hatte, brach in der ganzen Stadt Jubel aus. Das Grölen betrunkener Feiernder dröhnte über die Reiga. Desertierte Soldaten und Arbeiter marschierten zu den Gefängnissen und ließen die Insassen frei, ganz gleich, welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht hatten. Sie bewaffneten sich mit Gewehren und Munition aus den königlichen Arsenalen. Achtbar wirkende Männer wurden auf offener Straße erschossen. Banden plünderten Geschäfte und Privathäuser. Die Jagd wurde auf Angehörige des Adels eröffnet, sowie jeden, der im Dienst der einstigen Regierung gestanden hatte. Die Meute überfiel Milizreviere und Gerichtsgebäude. Es gab keine Ordnung mehr und die Rechtsprechung war außer Kraft gesetzt.

Seit dem Tag unserer Gefangennahme wurden meine Familie und ich jeden Tag in den Schlosshof geführt, damit die Menschen vor den Toren uns sehen und verspotten konnten. Ihre Beleidigungen waren derbe und vulgär. Die Nihilisten taten nichts, um diese Schmähungen zu unterbinden, stattdessen ermutigten sie die Menge sogar, indem sie an den Verhöhnungen teilnahmen. Sie wollten uns zeigen, wie sehr das Volk uns hasste. Für Tanaya waren diese Momente besonders schwer zu ertragen. Sie verließ den Palast nur noch mit einem Hut, den sie sich bis über die Ohren zog. Trotzdem konnte sie das feuchte Schimmern ihrer Augen nicht verbergen.

Odessa hingegen reagierte auf die Sticheleien mit Trotz. Mit gerecktem Kinn trat sie den Menschen entgegen und funkelte sie herausfordernd an, als wäre dies nur eine vorübergehende Krise. Vielleicht glaubte sie wirklich daran, denn auch Mama hielt sich an der Illusion fest, dass die Leute außerhalb Winterburgs ihrem ehemaligen Winterkönig noch immer wohlgesonnen wären. Sie setzte ihre Hoffnung darauf, dass die Nihilisten versagen würden und bald alle wieder auf unserer Seite wären. Eine heilige Fügung sollte alles so werden lassen wie früher.

Am meisten tat mir Lexi leid. »Ich verstehe das nicht«, klagte er unserem Vater gegenüber, als wir im Schlosshof standen und die Beschimpfungen über uns ergehen lassen mussten. »Früher haben die Menschen uns immer zugejubelt. Warum hassen sie uns auf einmal?«

Papa blieb ihm eine Antwort schuldig. Er nahm die Hand meines Bruders und hielt sie fest. Das war alles an Trost, was er ihm geben konnte.

Anastasia machte unsere Situation wütend. Zu Beginn hatte sie Angst gehabt, aber je länger unsere Gefangenschaft andauerte, umso ungerechter fand sie diese. Eines Nachmittags, als die Menge vor den Toren uns mit Schneebällen bewarf, stapfte sie auf einen der Nihilisten zu, der uns bewachte.

»Ist es nicht Ihre Aufgabe, uns zu beschützen?«, blaffte sie ihn an. »Warum unternehmen Sie nichts gegen diesen Angriff? In dem Schnee könnten Steine stecken, die uns verletzen.« Das war bereits vorgekommen. Odessas Zofe Ella war an der Schläfe getroffen worden, die nun eine Platzwunde zierte. Am meisten ärgerte Anastasia vermutlich, dass sie sich nicht wehren durfte. Für gewöhnlich war sie nämlich die Erste, die eine Schneeballschlacht begann.

Der Wachmann blickte unbeeindruckt auf sie hinab. »Du bist keine Eisprinzessin mehr. Ich nehme keine Befehle von dir an.«

Zorn ließ ihre Wangen erröten. »Ich bin immer noch ein Mensch und verdiene es, mit Respekt behandelt zu werden. Es ist nicht fair, dass wir jeden Tag diese Erniedrigungen über uns ergehen lassen müssen!«

Ihr Aufbegehren erregte den Groll des Nihilisten. »Ist es etwa fair, dass Tausende Menschen ihr Leben auf den Schlachtfeldern lassen mussten für einen Krieg, den keiner von ihnen begonnen hat? Ist es etwa fair, dass Kinder in den Straßen Winterburgs verhungert oder erfroren sind, während deinesgleichen Feste gefeiert hat?« Er spuckte ihr verächtlich vor die Füße. »Die einzige Aufgabe deines Vaters war es, für sein Volk zu sorgen, aber die Menschen waren ihm gleichgültig. Für dich gibt es keine Fairness mehr. Du und deine Familie habt das Reich des Winters zerstört!«

Sie starrte ihn mit großen Augen an. Ehe sie etwas erwidern konnte, zog ich sie schnell fort von ihm. Zu meinem Erstaunen blieb sie eine ganze Weile still. Erst, als wir zurück in den Palast gehen durften, fragte sie mich: »Wie erträgst du das alles nur?«

Ich wusste, was sie meinte. Während die anderen meiner Familie alle in irgendeiner Weise auf die Beschimpfungen reagierten, ließ ich sie einfach über mich ergehen. Die Wahrheit war, dass ich glaubte, sie zu verdienen.

Zwar hatte ich versucht, etwas zu unternehmen, damit es dem Volk besser ging, aber sobald meine Familie in Gefahr geriet, war für mich das Leben der Vielen zweitrangig geworden. Es war eine menschliche Entscheidung, aber keine, auf die ich stolz war.

Dazu begleitete mich die Angst, dass meine Familie doch noch von meiner Beteiligung bei den Nihilisten erfahren könnte, auch wenn Walerian und seine engsten Berater sich selten bei uns blicken ließen. Sie entschieden über uns und erteilten Anweisungen, die andere für sie ausführten. Unsere Wünsche oder Meinungen waren nicht von Belang.

Unser Zuhause, das früher aus vielen Korridoren und hunderten Räumen bestanden hatte, war für uns auf lediglich zwei Zimmer geschrumpft, die wir uns mit den wenigen Bediensteten teilen mussten, die uns noch geblieben waren. Es war allen freigestellt gewesen zu gehen und Papa hatte sie sogar dazu ermutigt, um ihrer eigenen Sicherheit willen. Nur Ella und Doktor Botkin ließen sich nicht vertreiben. Sie standen uns treu zur Seite, obwohl wir sie nicht einmal für ihre Arbeit entlohnen konnten.

Es war schwer, dabei zusehen zu müssen, wie alles, was uns lieb und teuer war, zerstört wurde. Obwohl die Vorratskammern des Palastes genug Nahrung hergaben, töteten die Nihilisten sämtliche Tiere unseres Bauernhofs. Diese Tat war nicht nur grausam, sondern auch dumm, denn sie hätten in der Zeit einer Nahrungsnot länger von der Milch und den Eiern profitieren können als von dem Fleisch. Auch den edlen Pferden unseres Reitstalls und den Lamas, welche wir auf unserer Kinderinsel hielten, erging es nicht anders. Die Schwäne, die in den warmen Monaten ihre Kreise über den See unseres Parks zogen, trieben sie aus ihren Winterquartieren und schossen sie in einer wilden Hetzjagd nieder. Nicht einmal vor den alten Elefanten machten sie halt.

Sie ließen ihren Aggressionen freien Lauf und schlachteten die Tiere ab, wie sie es wohl auch gern mit uns gemacht hätten. Es ging den Nihilisten einzig darum, uns alles zu nehmen, woran uns etwas lag.

Am schlimmsten war es in den Nächten, wenn der Alkohol in Strömen floss und jeglichen Anstand fortspülte. Während wir versuchten, Schlaf zu finden, hörten wir unsere Wärter in der Empfangshalle hetzerische Reden halten, Revolutionslieder singen und wild zu Melodien tanzen, die jemand auf unseren Flügel einhämmerte – voll schiefer Töne, aber das kümmerte keinen.

Die Prunktreppe war zu einem Schießstand geworden, auf dem die großen Porträts unserer Vorfahren als Zielscheiben dienten. Die Männer hatten ein Loch in den Mund von Adeline Wintera geschnitten und eine Zigarre hineingestopft. Meine geliebte Ahnen-Galerie gab es nicht mehr.

Durch ganz Winterburg zogen bewaffnete Männer von Anwesen zu Anwesen und forderten die Herausgabe von Gemälden der ehemaligen Königsfamilie, die sie in Stücke rissen und deren Rahmen sie zerschmetterten. Andere Bildnisse wurden verbrannt, als versuchten die Nihilisten, die Vergangenheit unseres Reiches auszulöschen. Vielleicht würde es ihnen sogar gelingen, denn irgendwann wäre niemand mehr da, der sich noch erinnerte.

In einer Nacht wurden wir von einem fürchterlichen Geschrei geweckt. Die Fenster unserer beiden Zimmer gingen auf den Schlosshof hinaus, sodass wir täglich mit den Menschen konfrontiert wurden, die sich vor den Toren einfanden und unseren Tod verlangten. Ein großes Lagerfeuer brannte, dass seine Funken in den dunklen Himmel versprühte. Die betrunkenen Wachposten hatten einen Kreis um eine einzelne Person gebildet, die sie allesamt jedoch überragte: Madame Igor.

Die meisten Angehörigen der einstigen höheren Gesellschaft flohen aus Winterburg und verließen sogar das Reich, wenn es ihnen gelang. Aber die Chimäre musste irgendwie in die Hände der Nihilisten geraten sein. Diese verachteten nicht nur den Adel, sondern auch alle Geschöpfe der alten Zeit, alles Magische. Madame Igor war das ideale Opfer und die Nihilisten übten ihren Rachedurst an ihr aus, indem sie ihr sämtliche ihrer perlmuttschimmernden Federn ausrissen. Dazu lachten die Männer, als bereite ihnen der Schmerz eines anderen Lebewesens Vergnügen.

Ich konnte mir ihre Grausamkeit nicht länger mitansehen oder auch nur anhören und stürmte, ohne nachzudenken, aus dem Zimmer. Weit kam ich nicht, denn unmittelbar nach der Tür prallte ich gegen einen Wachmann. Ich taumelte rückwärts und sah nur seine schwarzen Stiefelspitzen, die in eine Uniform übergingen. Als ich den Kopf hob, schaute mir ein vertrautes Gesicht entgegen. Es verging keine Stunde, in der ich mich nicht nach ihm gesehnt hatte, aber dies war der Ort, an dem ich ihm am wenigsten hatte begegnen wollen.

Koray.

Er trug das Rot der Nihilisten.

»Du solltest in euer Zimmer zurückkehren«, wies er mich emotionslos an. War es ein Rat, eine Drohung oder ein Befehl? Ich konnte nicht mehr dazwischen unterscheiden und suchte in seinen Augen vergeblich nach einer Antwort.

 

 Ein Abschied für immer

 

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ie Nihilisten behaupteten zwar, alle Menschen wären gleich, aber sie kümmerten sich nicht darum, dass alle Menschen auch das Gleiche erhielten. Unter ihrer Herrschaft gab es weder Regeln noch Besitz. Jedem gehörte nun alles. Wenn einer etwas sah, das ihm gefiel, konnte er es sich einfach nehmen – unabhängig davon, ob bereits ein anderer es besaß. Demnach gab es auch keinen Diebstahl, weil niemand sich mehr für seine Taten verantworten musste. Die Starken überlebten und die Schwachen gingen unter.

Das galt natürlich nicht für meine Familie und mich. Wir waren der Willkür unserer Besetzer ausgeliefert. Es gab nichts, das wir tun konnten, um uns selbst aus unserer Lage zu befreien. Jeder noch so kleine Erfolg wandelte sich zu unserem Nachteil.

Zehn Tage waren seit unserer Gefangennahme vergangen, als ein Regiment vor den Toren des Palastes aufmarschierte. Sie trugen die Farbe des Winters: Weiß. Wir sahen sie von den Fenstern aus und schöpften Hoffnung bei ihrem Anblick. Es war, wie Mama beteuert hatte: Nicht das ganze Reich war gegen uns.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sich die Nachricht über die Abdankung des Winterkönigs bis an die Grenzen von Mai und April verbreitet hatte. Die Kämpfe wurden eingestellt und die Armee trat den Rückzug an. Tagelang waren sie durch tiefen Schnee und die Kälte geritten, in der Absicht, uns zu Hilfe zu kommen, doch es war zu spät.

An den Toren wiesen die Nihilisten sie ab und teilten ihnen mit, dass es keinen Winterkönig mehr gab, für den sie kämpfen konnten. Ausgelaugt von dem langen Marsch entdeckten sie uns hinter den Fensterscheiben. Es lag tiefes Bedauern in ihren Mienen, als sie wieder abzogen.

Dennoch erregte die Rückkehr der Weißen Armee das Unbehagen der Nihilisten, die eine Revolte gegen ihre Regierung befürchteten. Je mehr Kompanien Winterburg erreichten, umso heikler wurde die Situation.

Walerian sah sich zu einer Entscheidung gezwungen, bevor die Truppen versuchen würden, uns zu befreien. In all den vergangenen Tagen hatte er sich uns kein einziges Mal gezeigt, auch jetzt machte er sich nicht die Mühe, selbst vor uns zu treten, sondern schickte seinen Vertreter Molotow zu uns.

»Ich komme, um euch mitzuteilen, dass ihr morgen an einen anderen Ort gebracht werdet«, verkündete er ohne Umschweife.

Wir waren wie vor den Kopf gestoßen, denn mit dieser Wendung hatten wir nicht gerechnet. Waren wir nicht eine Trophäe, welche die Nihilisten stolz jedem Zweifler präsentieren konnten? Solange sie uns in ihrer Gewalt hatten, war ihre Macht unbestreitbar.

Papa erhob sich von seinem Sessel und stellte sich Molotow gegenüber, wobei er ihn um mindestens einen Kopf überragte. »Wohin schickt man uns?«

»Ich bin nicht befugt, diese Information preiszugeben«, entgegnete er abweisend. »Aber ich würde euch raten, warme Kleidung und Pelze einzupacken.« Lag da Hohn in seiner Stimme?

Tiefe Stille senkte sich über das Zimmer, als Molotow ging und die Tür hinter sich schloss. Wir wussten alle, was das zu bedeuten hatte: Exil.

»Papa?« Lexis helle Augen richteten sich auf unseren Vater. »Bringt man uns nach Januar?« Die Verzweiflung stand ihm in sein mageres Gesicht geschrieben.

Bestürzt kniete Papa sich vor ihn. »Wir haben keine Wahl, mein Liebling. Unser Schicksal liegt in den Händen der Menschen, die uns gefangen halten.«

»Aber ich will nicht weg von Zuhause«, protestierte Lexi kläglich. Ich verstand ihn, obwohl der Palast längst nicht mehr der Ort unserer Kindheit war. Trotzdem hüllte uns das Vertraute in die trügerische Annahme, dass alles wieder wie früher werden könnte. Unser Fortgang gab dem Ganzen etwas Endgültiges. Es war ungewiss, ob wir je zurückkehren könnten.

Mama legte eine Hand auf Papas Schulter und beugte sich ebenfalls zu Lexi hinab. »Solange wir als Familie zusammen sind, können wir überall Zuhause sein«, meinte sie und drehte sich zu uns Mädchen um. Irgendwie schaffte sie es, zu lächeln. In den letzten Monaten hatte ich ihre Entscheidungen oft in Frage gestellt, aber in diesem Augenblick gab sie mir alles, was ich mir zuvor von ihr gewünscht hatte: Zuversicht, Geborgenheit und Verständnis. Sie breitete ihre Arme für uns aus und wir schmiegten uns an sie, ungeachtet unseres Alters. Die Furcht machte uns wieder zu Kindern, die den Schutz ihrer Eltern bedurften.

Da wir nicht wussten, wann es losgehen würde, mussten wir jederzeit bereit für den Aufbruch sein. Die Nihilisten hatten uns ohnehin nicht viel gelassen, aber Mama war es gelungen, einige unserer wertvollsten Schmuckstücke zu verstecken. Diese nähten meine Schwestern und ich nun in Windeseile in unsere Korsetts und in Kissen ein. Dort würden die Nihilisten sie hoffentlich nicht finden. Sie waren eine Absicherung für den Fall, dass sich uns auf wundersame Weise die Chance zur Flucht bieten sollte. Wir könnten die Juwelen gegen Hilfe eintauschen.

Diese träumerische Aussicht minderte den Schmerz, der uns bei jedem Schritt durchfuhr. Für sorgfältiges Arbeiten war keine Zeit gewesen, deshalb piksten die feinen Nadeln, Spangen, Klammern und Verschlüsse in unsere Haut.

In der Nacht machten wir vor Aufregung kein Auge zu. Am nächsten Morgen war es dann soweit und die Nihilisten kamen, um uns zu holen. Sie wurden von Molotow angeführt, der pedantisch unser weniges Gepäck überprüfte. Wir durften nur das Nötigste mitnehmen. Für uns, die immer mehr besessen hatten, als wir brauchten, war es schwer einzuschätzen, welche Dinge wirklich unerlässlich waren. Manche Gegenstände sortierte Molotow aus reiner Willkür, wie es mir schien, aus. Der Kleidung, die wir am Körper trugen, schenkte er jedoch keine genauere Betrachtung.

Als er mit seiner Kontrolle fertig war, forderte er uns auf, ihm zu folgen. Wir hatten keine Wahl, denn wenn wir uns weigerten, würden die Männer, die ihn begleiteten, dafür sorgen, dass wir ihm nachkamen. Gehorsam verließen wir nacheinander das Zimmer. Doktor Botkin und Ella kamen als Letztes und Molotow stellte sich ihnen in den Weg.

»Ihr nicht«, entschied er. »Nur die Familie!«

»Aber wir wollen zusammenbleiben«, protestierte Ella und sah panisch zu Odessa, die genauso bestürzt über diese Änderung war. Sie hatten nicht damit gerechnet, Abschied voneinander nehmen zu müssen.

Molotow schnaubte abfällig. »Treu bis zum Schluss«, murmelte er.

Zum Schluss. Die Worte brannten sich in meinen Kopf.

Schluss.

Schluss.

Schluss.

War das unser Schluss? Wie konnte unsere Geschichte enden, wenn wir noch lebten?

Wie lange noch?, flüsterte eine leise Stimme in mir. Brachten sie uns weg, um uns zu töten? Warum sollten sie sich die Mühe machen? Oder war es nur ein Trick, wie meine Eltern ihn bei Miron angewandt hatten? Würden wir in Wahrheit niemals in Januar ankommen?

»Bitte«, flehte nun auch Mama, die ihre Arme um Lexi geschlungen hatte. »Wir brauchen Doktor Botkin für Alexander. Er leidet an einer Krankheit und stirbt ohne ärztlichen Beistand.«

Argwöhnisch hob Molotow die Augenbrauen und musterte meinen Bruder. Gewiss hörte er zum ersten Mal davon, denn unsere Eltern hatten darauf geachtet, dass niemand von dem Gesundheitszustand des Thronfolgers erfuhr. Aber warum hätten wir in dieser Situation lügen sollen?

»Ist das so?«, hakte Molotow an Papa gewandt nach. »Dein Sohn ist krank?«

Papa nickte. »Er leidet seit seiner Geburt an einer Blutgerinnungsstörung. Selbst ein unbedeutender Sturz könnte ihn umbringen.« Es war nicht mehr nötig, irgendetwas zu verheimlichen, denn Lexi würde ohnehin nicht mehr Winterkönig werden. Vielleicht setzte Papa auch auf Molotows Erbarmen.

»Du willst also, dass der Arzt euch begleitet?« Molotow deutete auf Doktor Botkin.

In der Vergangenheit hatten unsere Eltern Doktor Botkins Methoden nicht zu schätzen gewusst, sondern sich mehr auf Scargards Gebete verlassen. Aber seit der Wunderheiler tot war, blieb ihnen nur noch Doktor Botkin.

»Ja«, bestätigte ihm Papa.

Molotow reckte sein Kinn und schmunzelte. »Bitte mich darum!«

Als Winterkönig hatte Papa nie um irgendetwas bitten müssen, sondern Befehle erteilt. Sein Wort war Gesetz gewesen, trotzdem zögerte er nicht.

»Bitte«, sagte er nachdrücklich.

»Sag es noch einmal«, verlangte Molotow, der unsere Hilflosigkeit sichtlich genoss. Berauscht von seiner Macht, schien er um mehrere Zentimeter zu wachsen.

»Bitte.« Ich wusste nicht, ob mein Vater es als Demütigung empfand, Betteln zu müssen, aber er tat es für Lexi.

»Noch einmal.« Molotow grinste nun breit, sowie auch die übrigen Nihilisten. Es war ihnen eine Genugtuung, Nicolaj Wintera, einst der einflussreichste Mann der Welt, flehen zu hören.

»Bitte.«

»Noch einmal.«

Die Umstehenden lachten nun gehässig, während mein Herz schrie. Mein Vater hatte viele Fehler in seiner Regierung gemacht – folgenschwere Fehler. Aber er war niemals grausam gewesen! Er hatte keine Freude daran, andere Menschen zu erniedrigen. Er verdiente diese Behandlung nicht.

Sein Stolz war ihm jedoch nicht annähernd so wichtig wie sein Sohn. Zu meiner Fassungslosigkeit und der Belustigung unserer Wärter sank er nun vor Molotow auf die Knie. »Bitte.«

Dieser schwieg und genoss den Triumph der völligen Unterwerfung des einstigen Winterkönigs. Für einen schrecklichen Moment glaubte ich, dass er uns dennoch Doktor Botkins Begleitung verweigern würde, aber schließlich gab er nach und winkte den Arzt durch.

»Ich will kein Unmensch sein. Der Arzt soll sie begleiten, wenn es sein Wille ist.«

»Das ist es«, versicherte Doktor Botkin ihm. Er stand schon so lange im Dienst unserer Familie, dass er sich nicht nur verantwortlich für Lexi fühlte, sondern in ihm fast so etwas wie einen zweiten Sohn sah.

»Aber die Zofe bleibt hier«, verkündete Molotow mit einem verachtenden Blick auf Ella. In dieser Entscheidung würde auch kein Flehen und Betteln helfen.

Odessa drängte sich schluchzend an mir vorbei und schlang ihre Arme um Ella. Nicht einmal jetzt, in Anwesenheit unserer Eltern und Feinde, gestatteten sie sich einen Abschiedskuss. Nicht einmal jetzt, wo alles verloren schien, erlaubten sie sich, zu ihren Gefühlen zu stehen.

Während die anderen eine einstige Eisprinzessin sahen, die an ihrer langjährigen Zofe hing, wusste ich, dass in diesem Moment zwei Liebende auseinandergerissen wurden – vielleicht für immer.

Die beiden jungen Frauen hielten sich solange aneinander fest, bis einer der Nihilisten einschritt und sie voneinander trennte. Ihre Gesichter waren nass vor Tränen.

»Vergiss mich nicht«, rief Ella, während die Wachen sie von uns wegführten.

»Wenn das alles vorbei ist, werde ich dich finden«, schrie Odessa ihrerseits. Ihre Worte waren wie eine Ohrfeige an alle Nihilisten, denn sie machte ihnen deutlich, dass sie ihre Herrschaft nur für eine vorübergehende Phase hielt.

»Los jetzt«, knurrte Molotow ungeduldig und drängte uns durch den Korridor. Es war ein Wunder, dass er keine Peitsche benutzte, um uns wie Vieh anzutreiben.

In der Empfangshalle trafen wir auf Walerian, in Begleitung seiner beiden Leibwächter. Noch nie hatte ich ihn ohne die beiden bulligen Männer gesehen.

»Ich wünsche euch eine gute Reise« behauptete der Anführer und streckte Papa, zu meinem Erstaunen, die Hand hin. Es war eine Geste des Friedens.

Überrascht, aber versöhnlich schüttelte mein Vater ihm die Hand. »Danke. Wir möchten alle nur das Beste für Winter. Kümmern Sie sich besser um das Reich, als ich es getan habe.«

Mir entging nicht, wie Walerian eine Faust um den silbernen Knauf seines Gehstockes bildete – nur für eine Sekunde. Dann zwang er sich, die Finger zu lockern, und trat zurück.

Als ich an ihm vorbeiging, widerstand ich dem Drang, den Kopf zu senken, sondern sah ihm ins Gesicht. Unsere Blicke verhakten sich ineinander, und ich wusste auf Anhieb, dass er mich vom ersten Moment an erkannt hatte. Er wusste genau, wer ich war. Er hatte es immer gewusst. Warum bewahrte er mein Geheimnis?

Schlagartig wurde mir klar, dass dies ein Abschied war. Er ging nicht davon aus, dass wir uns je wiedersehen würden.

Stumm formte er mit seinen Lippen ein einziges Wort – einen Namen. »Miron.«

Mir wurde eiskalt, denn ich verstand, was das bedeutete. Walerian hatte rausgefunden, was mit seinem jüngeren Bruder wirklich geschehen war, was meine Eltern ihm angetan hatten.

---ENDE DER LESEPROBE---