London Black - Jack Lutz - E-Book

London Black E-Book

Jack Lutz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein terroristischer Anschlag, ein Nervengift und kein Gegenmittel

Terroristische Anschläge mit dem Nervengift London Black haben die Menschen in Angst versetzt. 90% der Bevölkerung hat zwar überlebt. Für die anderen 10%, die »Vulnerablen«, beginnt jedoch ein qualvolles Ringen mit dem Tod. Zwei Jahre später wird der Forscher Flinders Cox, der offenbar an einem Heilmittel gearbeitet hat, ermordet. DI Lucy Stone nimmt sich des Falles an. Sie selbst ist eine der Vulnerablen und von den Ereignissen stark traumatisiert. Könnte ein Mitglied der dubiosen Sekte Hand Gottes Cox ermordet haben, um die Fertigstellung des Gegenmittels zu verhindern? Und was führt Cox' CEO Geoffrey Hurst im Schilde? Lucy und ihrem neuen Kollegen King rennt die Zeit davon: Sie muss sich beeilen, nicht nur ihr eigenes Leben zu retten, sondern das unzähliger Menschen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 561

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen


Ähnliche


Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Danksagung

Über das Buch

Ein terroristischer Anschlag, ein Nervengift und kein Gegenmittel

Terroristische Anschläge mit dem Nervengift London Black haben die Menschen in Angst versetzt. 90% der Bevölkerung hat zwar überlebt. Für die anderen 10%, die »Vulnerablen«, beginnt jedoch ein qualvolles Ringen mit dem Tod. Zwei Jahre später wird der Forscher Flinders Cox, der offenbar an einem Heilmittel gearbeitet hat, ermordet. DI Lucy Stone nimmt sich des Falles an. Sie selbst ist eine der Vulnerablen und von den Ereignissen stark traumatisiert. Könnte ein Mitglied der dubiosen Sekte Hand Gottes Cox ermordet haben, um die Fertigstellung des Gegenmittels zu verhindern? Und was führt Cox' CEO Geoffrey Hurst im Schilde? Lucy und ihrem neuen Kollegen King rennt die Zeit davon: Sie muss sich beeilen, nicht nur ihr eigenes Leben zu retten, sondern das unzähliger Menschen …

Über den Autor

Jack Lutz lebt mit Frau und Tochter in London. Seine Heimatstadt fasziniert ihn, und er liebt es, über sie zu lesen und sie zu erkunden. Die Idee zu London Black hatte er beim Umsteigen in einem U-Bahnhof. London Black ist sein Debutroman.

JACK LUTZ

LONDON BLACK

WIRST DU ÜBERLEBEN?

THRILLER

Aus dem Englischem von Holger Hanowell

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe: Copyright © 2022 by Jack Lutz Titel der englischen Originalausgabe: »London in Black« Originalverlag: Pushkin Vertigo Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Titelillustration: © MT-R/shutterstock Covergestaltung: Massimo Peter-Bille E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4248-1

Sie finden uns im Internet unter luebbe.deBitte beachten Sie auch: lesejury.de

Meiner Frau, meiner Tochter und meiner Mutter

1. Kapitel

London, 2029

Ich habe gerade einen verdammten Stuhl durch Wilkes’ Fenster geworfen.

Lucy blickte auf ihre zitternden Hände. Die roten Schlieren lösten sich allmählich auf. Atme. Sie schaute wieder auf, sah sich im Einsatzraum um. Noch sechs weitere Polizisten, nur Männer: billige Anzüge, Dreitagebärte. Alle starrten sie an. Sie sah sechs, wusste aber, dass da noch mehr waren, verborgen in den dunklen Rändern ihres Tunnelblicks.

Ihre Gedanken entluden sich einzeln.

Ich hab gerade, was? Einen scheiß Stuhl? Durch Wilkes’ Fenster geworfen?

Ja, hatte sie. Sie konnte den Stuhl sehen. Dort lag er, verdreht im Flur, überzogen von Splittern aus Milchglas. Schwarze Buchstaben hoben sich von dem Fußbodenbelag ab, und für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, das zu reparieren, alles wieder zusammenzukleben wie ein riesiges Puzzle. Zuerst die Großbuchstaben: LONDONMETROPOLITANPOLICE – MORDDEZERNAT – MIT19, das Murder Investigation Team. Danach die kleinen Buchstaben: Diensthabender Officer, Detective Chief Inspector Marie Wilkes.

Wilkes.

Wilkes’ nagelneues Fenster.

Ach du Scheiße.

Sie versuchte nachzudenken, nachzuvollziehen, was sie getan hatte. Warum? Warum sollte ich …

Hinter ihr ein Rascheln. Sie wirbelte herum, sah Detective Sergeant Andy Sykes.

Oh.

Sykes.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was er getan hatte, welchen Knopf er gedrückt hatte. Hat er mich am Bauch berührt? Nein. Mich in die Enge getrieben? Wohl kaum. Es war weg, war verschwunden in all dem Rot. Aber er hatte irgendetwas gemacht, um einen ihrer Anfälle zu provozieren. Es konnte nicht anders sein. Sykes wusste, wie man sie triggerte. Tat zwar so, als wüsste er das nicht, aber er wusste es, verdammt. Und jetzt stand er da, achselzuckend, tat erschrocken. Spielte das Opfer.

Der Bastard.

Ein junger Deputy Constable streckte die Hand nach ihr aus – ist schon okay, Lucy –, aber Lucy war zu schnell. Sie schlug die Hand fort, floh. Raus aus dem Raum, der ihr wie eine Arrestzelle vorkam, fort von all den Blicken, hinaus auf den Flur. Sie schlug die Metalltür hinter sich zu.

Detective Inspector Lucy Stone, jüngster Detective des Morddezernats der Met, stand in Flammen.

Ihre Hände zitterten, als sie den Korridor hinunterlief. Sie stopfte die Hände in die Taschen ihres weiten Kapuzenpullis und konzentrierte sich auf die Atmung.

Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen.

Scheiße, verdammte.

Lucy hatte das Ende des Korridors erreicht, bog um die Ecke. Jetzt konnte sie die glänzende Lobby von New Scotland Yard sehen. Es war spät, schon seit Stunden dunkel, aber in der Lobby war noch was los. Zwei uniformierte Beamte schlenderten in der Halle in ihre Richtung. Sie rannte einfach weiter, stieß beide zur Seite, sodass Kaffeebecher flogen.

Konzentrier dich. Atmen.

Nur ein Anfall. Es ist jetzt. Jetzt, nicht damals, bleib im Jetzt …

Bildfetzen von vor zwei Jahren flammten in ihrem Kopf auf, rasend schnell. Leichenberge, verbrannte Haut, die sich in Streifen löste. Grüne Schutzanzüge. Ein schreiendes Kind, das nackt umherlief. Drohnen.

Die Geißel.

Und dann sah sie – es.

Das, was damals geschehen war.

Sie unterdrückte einen Schrei und zwang sich, weiterzulaufen, in Richtung des Ausgangs.

Einatmen, ausatmen.

Lucy wischte eine Träne fort, als sie in die Nacht hinausschoss.

Draußen fühlte sich die kühle Novemberluft angenehm im Gesicht an.

Die Panikattacke ließ nach, als Lucy am Schild von New Scotland Yard vorbeilief und in Richtung Embankment abbog. In einiger Entfernung ragte Big Ben auf, eine riesige Injektionsspritze, die in den Nachthimmel stach. Im Gehen zog sie eine Hand aus der Tasche ihres Hoodies. Schon besser. Sie zitterte zwar noch, aber immerhin konnte sie die Buchstaben wieder lesen, die an der Innenseite ihres rechten Handgelenks eintätowiert waren: JACK. Sie rieb darüber und dachte an ihren älteren Bruder.

Oh, Jack, hilf mir. Ich hab’s versaut.

Würde Wilkes das persönlich nehmen? Konnte kaum anders sein. Fünfundzwanzig Jahre im Dienst, keine Kinder, das ganze Leben dem Job verschrieben. Letzten Endes bis zum DCI hochgearbeitet, endlich ihr Name auf dem Milchglasfenster im Flur. Ihr Fenster. Und dann, von jetzt auf gleich: klirr.

Lucys Magen krampfte sich zusammen.

Das wollte ich nicht, Ma’am. Wirklich nicht.

Es war nur so, Sykes hat was gemacht, hat mich getriggert, mich provoziert, ein Anfall. Der verfluchte Sykes …

Der Eingang zur U-Bahn kam in Sichtweite, daneben die gelben Lampen des Carpenter’s Arms: Stammkneipe des MIT19. Lucy verlangsamte die Schritte, atmete tief durch. Schaute auf ihr Handy. Elf. Eine Stunde noch. Gut so. Zeit genug, noch schnell einen zu heben. Sie zwängte sich an den Gästen vorbei, die auf dem Gehweg rauchten, und schlüpfte durch die Tür.

Das Carpenter’s war eigentlich ein scheiß Pub. Düster, verschlissene Teppiche. Muffig. Einige Touristen in roten Anoraks standen dicht am Eingang. Sie wühlte sich durch die Gruppe, kräftige Arme, trainiert vom Boxen. Vorbei an den blinkenden Spielautomaten, direkt in den leeren hinteren Bereich der Bar. Sie setzte sich auf einen Hocker.

Harry, der Barkeeper, sprach sie an.

»Wie immer, Lady?«

Sie sagte nichts, atmete noch einmal tief aus.

»Okay.« Er zapfte ein Glas Coca-Cola, hantierte an der Kaffeemaschine herum und gab noch zwei Schuss Espresso ins Glas. Schob es rüber zu Lucy. »Also wie immer.«

Sie nahm das Glas, ohne aufzuschauen.

Harry ist ein guter Barkeeper. Hätte einen besseren Pub verdient.

Die Touristen weiter vorn lachten über irgendetwas. Lucy schaute auf und sah, dass die Leute die Schachtel mit den künstlichen Ansteckblumen entdeckt hatten. Direkt neben der Kasse stand der kleine Karton mit den Poppies aus schwarzem Papier, und die Touristen warfen nacheinander ein Pfund ein und hefteten sich die Mohnblumen an ihre Goretex-Jacken. Lucy schnappte einige Fetzen auf, als der Reiseleiter auf die Ansteckblumen Bezug nahm: »… zweiter Gedenktag … schlimmster Terrorangriff seit … Drohnen, und alle haben London Black freigesetzt. Ja, ja, genau, ein Nervengas, kein Gegenmittel …«

Einer der Touristen fischte sich ein schwarzes Gummiarmband aus der Schachtel.

Sie kniff die Augen zusammen. Auf einer Seite des Armbändchens stand in weißen Lettern London Strong, auf der anderen eine Zahl. Die Person stand zu weit von ihr entfernt, um die Ziffern zu erkennen, aber sie wusste trotzdem genau, was da stand: 32956. Jeder Londoner kannte diese Zahl.

Verflucht. Ein scheiß Armband mit der Zahl der Toten. Was für eine kranke Schei…

Ihr Handy begann zu vibrieren. Sie zog es aus der Tasche ihrer verwaschenen schwarzen Jeans und schaute auf das Display: Eingehender Anruf, DCI Marie Wilkes. Lucy drückte auf den roten Button und donnerte das Handy auf den Tresen. Bin jetzt nicht in der Stimmung, mir eine Standpauke anzuhören, Ma’am. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas. Kurz darauf kamen Textnachrichten rein.

Suspendiert.

Pause.

Inoffiziell.

Längere Pause.

Lucy … bitte. Für mich. Wende dich an den Counselor. Nur einmal.

Weitere SMS kamen rein, doch Lucy ignorierte sie. Sie steckte das Handy wieder in ihre Hosentasche und stützte sich mit dem Kopf auf dem Unterarm ab. Holte tief Luft. Verdammter Mist. Verdammt, verdammt! Suspendiert. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Das kann Wilkes nicht machen. Ich muss arbeiten. Sie weiß doch, dass ich arbeiten muss. Was bleibt mir sonst? Wenn ich nicht arbeiten kann, wenn ich kein Bulle bin, wie soll ich dann je die Schuld begleichen? Wie soll ich …

Ein knarzendes Geräusch, als sich jemand neben ihr auf einen Hocker setzte.

»Langen Tag gehabt?«

Die Stimme eines Mannes. Nicht vertraut. Sie machte sich nicht mal die Mühe aufzuschauen.

»Ist viel los im Moment«, sagte sie in die Armbeuge.

Seh ich so aus, als hätte ich Bock auf so was? Wirklich?

Er wartete einen Moment, versuchte es noch einmal.

»Hab vorhin gesehen, wie Sie reingekommen sind. Sind wir uns nicht schon einmal irgendwo begegnet?«

Verflucht. Ausgerechnet diese Masche. Also gut, Romeo, dann wollen wir mal sehen. Sie hob den Kopf, seufzte, sah dem Mann ins Gesicht. Kniff die Augen leicht zusammen. Spürte, wie die kleinen Rädchen zu arbeiten begannen. Ihr kleiner Partytrick wirkte.

Und … nein.

»Nein«, sagte sie. »Wir sind uns noch nicht begegnet.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Harry grinste. Moment. Harry weiß, dass ich ein Super Recognizer bin? Sie merkte sich das. Das sollte nicht nach außen dringen, so eine gottverdammte Krankheit. Aber irgendwer vom MIT19 hatte wohl etwas durchsickern lassen. Wahrscheinlich Sykes. Dieser Wichser.

»Oh«, machte der Mann. »Okay. Klar. Sorry.«

Sie merkte, dass er ihr Gesicht genauer betrachtete. Warenbestandsaufnahme, was? Lucy hatte eine breite Kieferpartie mit spitzem Kinn. Ein niedliches Kinn, wie ihr die Männer bescheinigten. Aber es ist ein kräftiges Kinn, verdammt. Ein Kinn, das einen Uppercut wegstecken kann. Haare, dunkel wie Espresso, kurz geschnitten. Große mandelförmige Augen, noch größere Schatten unter den Augen. Schmale Nase, ein Mund wie ein harter Strich. Neunundzwanzig Jahre alt. Gefällt dir, was du siehst, Kumpel? Zu dumm aber auch. Nicht im Angebot. Die Ware ist gerade nicht mehr im Lager.

Ein Leuchten kam in seine Augen.

»Oh, sorry … es ist nur, ich denke, ich weiß …«

Sie sah, auf was er hinauswollte. Verdammte Scheiße. Nicht wieder diese Schauspielerin.

»Ich meine«, fuhr er fort, »das ist komisch, ich weiß, aber Sie sind nicht zufäll…«

»Nein, bin ich nicht.«

Seit Jahren musste sie sich mindestens einmal pro Woche anhören, sie habe Ähnlichkeit mit dieser Schauspielerin. Jedes Mal ärgerte es sie mehr. Ja, schon schmeichelhaft, die Schauspielerin ist hübsch, ist sie wirklich. Aber wieso sehen die Leute nicht, dass wir ganz unterschiedlich aussehen? Äpfel und Orangen, Orangen und Äpfel. Und ich bin der verdammte wurmstichige Apfel.

Sie stand auf, trank die Cola aus, schob das leere Glas zurück in Harrys Richtung.

»Wenn Sie mich dann entschuldigen würden …«

»Warten Sie doch. Ich wollte nicht …« Er erhob sich von seinem Hocker, die Hände beschwichtigend ausgestreckt, aber Lucy war schon im Aufbruch. Sie zwängte sich an ihm vorbei. Versuchte, jeglichen Kontakt zu vermeiden, wollte sich wegducken wie bei einem Punch, aber seine Arme waren zu lang.

Sie spürte, wie seine Finger ihren Bauch streiften.

Oh, verdammt!

Nicht schon wieder.

Bilder stürmten auf sie ein.

Den Kopf eingezogen eilte sie zur Tür, zwängte sich energisch vorbei an den lächelnden Touristen mit ihren Ansteckblumen und den verdammten Armbändchen. Inzwischen regnete es. Die Sohlen ihrer schwarzen Sportschuhe quietschten, als sie über die Treppenstufen hinunter in die U-Bahn floh.

Sie hatte sich wieder beruhigt, als der Zug in die Barbican Station einfuhr.

Lucy fiel auf, dass die Station bereits für die London Strong Week hergerichtet war. Banner, Schilder, Plakate, auf denen ernst dreinblickende Londoner zu sehen waren, die einander an den Händen hielten. Ein durchchoreografiertes Event: die Gedenkfeier mit Kranz und Prozession, dann Schweigeminute in ganz London. Überall schwarze Mohnblumen. Während sie mit der Rolltreppe nach oben fuhr, sah sie ein Plakat mit einem hellroten Streifen im oberen Drittel: KANNSTDUMICHSEHEN? Sie konnte den Mann nicht sehen – denn sein Kopf war vollkommen entstellt. Irgendjemand hatte Dutzende von runden Stickern oben verteilt, auf denen jeweils ein großes Doppelkreuz abgebildet war. Unten konnte sie immer noch die Fußzeile des Plakats lesen: DIEVEREINIGUNGFÜRDIERECHTEDERSURVIVORUNTERSTÜTZTDIELONDONSTRONGWEEK.

Heiden. Auf der fahrenden Rolltreppe versuchte sie, einen der Sticker abzuknibbeln.

Oben angekommen, ging sie durch das Ticket-Drehkreuz und blieb am Cox-Torbogen stehen, um den London-Black-Scan über sich ergehen zu lassen. Ein bernsteinfarbener Lichtstreif wurde sichtbar. Die Detektoren für chemische Substanzen sirrten, während sie ihren Körper abtasteten.

Gott segne Flinders Cox.

Sie versuchte, sich an das letzte Attentat zu erinnern, ein Trittbrettfahrer. Sie glaubte, es sei oben in Harringay gewesen, vor einer Woche, aber vielleicht hatte sie auch einen Vorfall ausgelassen? Man kann nie wissen. Niemand kündigt sie an, kein Mensch bekennt sich dazu. Es waren nicht dieselben Terroristen wie bei der Geißel, bei dem schweren Attentat vor zwei Jahren. War ja auch nicht möglich, weil diese Kerle hinter Gittern saßen und in Belmarsh verrotteten. Aber was war mit den Nachahmern? Wer auch immer dahintersteckt, was auch immer sie erreichen wollen, die Attentate nehmen ihren Lauf, verdammt. Die Uhr am Bahnhof zeigte 23:40 an, und Lucy tippte ungeduldig mit der Fußspitze, bis der Scan zu Ende war. Ein klickendes Geräusch, dann grünes Licht. Die Türen des Cox-Torbogens schwangen auf. Sie ging hindurch und verließ die Station, verschmolz mit der Nacht.

Es regnete jetzt stärker. Dicke Tropfen fielen auf ihren Pulli. Lucy setzte die Kapuze auf. Die Straßengeräusche drangen gedämpft an ihre Ohren, ihr Blickfeld war eingeengt. Wie bei einem ihrer Anfälle. Aber keine roten Schlieren, Gott sei Dank, und sie konnte immer noch klar denken, konnte das neue Problem in Angriff nehmen. Aha. Suspendierung. Scheiße. Aber … inoffiziell. Das bedeutet … was, eigentlich?

Je weiter sie dem Verlauf der Goswell Road in nördlicher Richtung folgte, desto trister wurde das Viertel. Wettbüros, Imbissbuden. Fensterläden aus Metall mit Graffiti drauf. Überwiegend Sprüher-Tags von Jugendlichen, aber einige Symbole waren von der Geißel übrig geblieben, wenn man wusste, wo man suchen musste. Ein paar rote »X«. Evakuierungspfeile. Und in silberfarbener Schrift an der Mauer eines Ladens an der Ecke: Wir JetzT aLLe tot, WeH, WeH.

Lucy zog an den Bändern ihrer Kapuze.

Schätze, es ist nur eine Warnung. Die ungeschriebenen Warnungen, die sind eine Sache für sich. Fühl mich immer noch ziemlich beschissen wegen des Vorfalls. Sorry, Ma’am. Aber … vielleicht ist’s nicht so schlimm, oder? Wenn ich noch arbeiten kann, die Schuld begleichen kann – das ist, was zählt.

Sie kam an einer Nische mit einem Geldautomaten vorbei. Dort hatte sich jemand unter einer roten Plane zum Schlafen hingelegt. Sein Pappschild war nass vom Regen, und der Schriftzug verlaufen, aber sie konnte die Worte trotzdem lesen:

ICHHABE † LONDONBLACKÜBERLEBT † GOTTSEIDANK

Sie blieb stehen, suchte in der Hosentasche nach Münzen, warf ein Pfund in den verbeulten Costa-Becher. Der Mann regte sich. Ein pfeifendes Atemgeräusch: »Gott segne Sie.« Er zog die Plane weg. Lucy wandte sich wieder ab, aber nicht schnell genug. Eine dünne Gazemaske bedeckte das Gesicht des Mannes, aber durch einen Schlitz konnte sie immer noch seine Augen sehen.

Schwarz.

Seine Augen waren vollkommen schwarz.

Sie ging weiter. Seufzte. Kam sich schlecht vor, weil sie weggeschaut hatte. Wusste, dass es unhöflich und grausam war. Aber wenn man in die Gesichter der Survivor sah, wurde das schlechte Gewissen umso schlimmer. Die Schuld erschien noch größer. Als wäre sie nicht schon groß genug.

Fünf Minuten später verließ Lucy die Goswell Road und erreichte ihr Zuhause, einen hässlichen Apartmentblock. Als Studentin hatte sie sich die Wohnung kaum leisten können; die Sorgen, die Miete nicht zusammenkratzen zu können, hatten erst aufgehört, als Simon bei ihr eingezogen war. Das war kurz bevor er ihr einen Antrag gemacht hatte. Sie schloss die Tür zur Lobby auf – obwohl, eigentlich konnte man das nicht als Lobby bezeichnen, denn es war nur ein verdammt enges Treppenhaus mit ein paar Postkästen. Sie ging die Treppe hinauf in den dritten Stock und betrat den Hausflur. Letzte Tür auf der linken Seite: verbeultes Metall, die kirschrote Farbe hatte Risse und blätterte ab.

Lucy stampfte dreimal mit den Schuhen auf der schmutzigen Fußmatte auf und trat ein.

Die Wohnung war klein. Spartanisch eingerichtet. Ein winziges Schlafzimmer, fast nichts drin. Sie hatte die Wände schwarz gestrichen. Die Decke auch. Ein abgewetzter Schreibtisch aus Holz an der gegenüberliegenden Wand war das einzige richtige Möbelstück. Es gab noch einen Schrank mit Spiegel. Auf dem Fußboden verteilt standen drei Lampen, und Lucy drehte die kleine Runde und knipste sie alle an. In einer Zimmerecke stand eine Klimmzugstange.

Ein Bett gab es nicht.

Sie entledigte sich der Turnschuhe, zog den Kapuzenpulli aus, unter dem ein schwarzes Unterhemd zum Vorschein kam. An einer der Stehlampen hing ein Kleiderbügel. Sie nahm ihn ab, hängte den Pulli daran auf, strich mit den Händen über den feuchten Stoff. Mit einem Finger zeichnete sie den eingestickten Namen »Jack« nach, der auf der linken Seite zu sehen war. Sie dachte an Jack. An Simon. Daran, wie seltsam es war, dass die beiden einander nie begegnet waren.

Ihr Wecker im Handy begann zu piepsen.

Mitternacht. Perfekt.

Lucy ging ins Bad. Es gab keine Tür. Sie hatte sie aus den Angeln gehoben und zu einem Müllcontainer hinter dem Wohnblock geschleift, wo sie jetzt vor sich hin rottete. Ihre erste Tat vor zwei Jahren, als alles vorüber war. Die Tür hatte sie noch vor dem Bett ausrangiert, bevor sie die Wände gestrichen hatte. Jetzt setzte sie sich auf den Klodeckel und zog sich das Unterhemd über den Kopf aus.

Ihr ganzer Bauch war überzogen von rötlich verfärbten Schwellungen.

Großflächige, hässliche dunkelrot verfärbte Blutergüsse. Es sah übel aus, als hätte sie einen ganzen Kampf lang harte Treffer kassiert, einen nach dem anderen. In der Mitte jeder Prellung: das kleine Mal einer Injektionsnadel. Links von ihrem Bauchnabel haftete eine kleine Scheibe aus Keramik auf ihrer Haut, mit dem Cox-Labs-Logo. Sie bewegte ihr Handy vor dieser Scheibe, und im Display erschien eine Zahl: 7,4.

Okay. Zeit fürs Boostern.

Auf dem Waschbecken stand eine weiße Schachtel, unter einem gesprungenen Spiegel. Lucy griff in die Box. Holte eine Spritze raus. Sie war riesig, die Kanüle hätte zu einem Pferd gepasst. Auf dem Etikett der Spritze stand: COXLABS – ELEMIDOX© – 30 ml. Sie drehte die Spritze mit den Fingern.

Gott segne Flinders Cox, dachte sie wieder.

Mechanisch schob sie den Gedanken hinterher: Ich bin dankbar für diesen Booster.

Sie fasste wieder in die Schachtel. Diesmal holte sie ein kleines weißes Tütchen hervor. Riss es mit den Zähnen auf, zog den mit Alkohol getränkten Tupfer heraus und rieb damit über die Bauchdecke. Die dunkelrot verfärbte Haut glänzte. Dann nahm sie die schwarze Verschlusskappe von der Spritze und steckte sie in ihre Jeanstasche. Sie bereitete die riesige Spritze vor. Holte tief Luft.

Jetzt denk dran.

Denk über das nach, was du getan hast.

Lucy jagte sich die Nadel direkt in einen der Blutergüsse.

Die Flüssigkeit war zäh; der Druckkolben der Spritze bewegte sich nur langsam. Ihre Hand zitterte, erst leicht, dann stärker. Scheiße. Das Zittern ging auf ihren Arm über. Sie starrte auf ihr gesprungenes Spiegelbild. Die Spritze war erst halb leer. Oh Gott, das tut verdammt weh. Während der Rest der Flüssigkeit in ihren Körper sickerte, sprach sie die drei Lucys an, die leicht versetzt im gesprungenen Spiegelglas zu sehen waren. Jedes Wort kam stoßweise:

»Du. Hast. Es. Nicht. Anders. Verdient.«

Du hast diesen Schmerz verdient.

Sie schloss die Augen und blieb einen Moment sitzen, der Arm zuckte noch. Sie zwang sich, sich in lebhaften Bildern vorzustellen, was damals passiert war, vor zwei Jahren. Was sie getan hatte. Alles, von Anfang bis zum Ende, bis zu der Sache. Eine Träne fiel auf die Fliesen. Dann stand sie wieder auf, atmete tief durch, warf die Kanüle in die gelbe Box und bewegte das Handy erneut vor dem Keramiksensor.

8,7.

Lucy zog die Stirn in Falten. Sie wiederholte die Bewegung. 8,7.

Nicht9? Seltsam.

Sie zuckte mit den Schultern – das muss ein Messfehler sein –, ehe sie zum Schreibtisch ging. Okay, es ist wieder so weit. Die Arbeit ruft. Ihr Laptop stand genau in der Mitte der Tischplatte. Lucy klappte den Rechner auf und setzte sich. Wilkes hat bestimmt nicht daran gedacht, den externen Zugang zu blockieren. Außerdem: inoffizielle Suspendierung, war’s nicht so? Okay. Das müsste funktionieren. Es muss einfach. Sie klickte auf das Login Icon, gab ihre ID bei der Met und das Passwort ein. Drückte die Entertaste. Kreuzte die Finger.

›Zugang verweigert‹ ploppte auf.

Diese verdammte Bitch! Und dieser scheiß Wichser!

»Wie blöd!«, sagte sie laut.

Sie versuchte es ein zweites Mal. Wieder nichts.

Lucy rückte mit dem Stuhl vom Schreibtisch ab, fuhr sich mit unlackierten Fingernägeln über das kurze Haar. Was mache ich jetzt bloß, verdammt? Wie begleiche ich jetzt die Schuld?

Die Schuld war furchtbar. Grässlich. Sie spürte sie ständig. Keine herkömmlichen Schulden, es ging nicht um Geld, sondern um ein pechschwarzes Schuldgefühl tief in ihrem Innern, das sie belastete, sie überwältigte, sie auszulöschen drohte. Die Schuld war wie eine drückende Last, die sie überall mit sich herumschleppte. Das tat sie seit zwei Jahren, seitdem die Sache passiert war und die Schuld das Licht der Welt erblickt hatte. Das Schlimmste an dieser Schuld war, dass Lucy nicht wusste, wie viel sie begleichen musste, bis das Schuldgefühl von ihr abfiel. Falls es von ihr abfiel. Arbeit half, so viel wusste sie. Jeder Mord, den sie aufklärte, fühlte sich wie eine kleine Ratenzahlung an. Aber keine Arbeit zu haben bedeutete, dass sie nichts zurückzahlen konnte. Und dann würde die Schuld größer werden, bis in den Himmel ragen, wie ein riesiger schwarzer Berg, der in sich zusammenfiel und sie plattmachte – ein für alle Mal.

Ach, Scheiße.

Und dann war da das Problem mit der Zeit.

Sie warf einen Blick aufs Handy. Beinahe halb eins.

Was mache ich bloß in den nächsten Stunden?

Jede Nacht wurde in Lucys kleinem Apartment ein Boxkampf ausgetragen, über zehn Runden, bis zum K. o. In der einen Ecke Lucy Stone, Ladys und Gentlemen, in der gegenüberliegenden Ecke ihr Dauergegner: der Schlaf.

Sie hasste den Schlaf. Fürchtete sich davor. Schlaf brachte die Träume mit sich, die Schrei-Träume, bei denen sie aufwachte, zitternd, die Wangen feucht von Tränen. Die Arbeit half ihr, den Schlaf abzuwehren. Meistens hielt sie bis vier Uhr morgens durch, brütete über Fallakten, plante neue Maßnahmen. Gelegentliche Abstecher in die Küche, wo sie sich Drinks mixte: Sie machte eine Dose mit doppeltem Espresso auf und gab die schwarze Flüssigkeit in eine Flasche mit Cola. Ein Lucy Stone, so nannte Harry den Drink manchmal, wenn er ihn ihr im Carpenter’s mixte. Hier kommt der Lucy Stone. Manchmal trank sie drei oder vier in der Nacht. Es gab kein Bett, das sie hätte in Versuchung führen können – das hatte sie nämlich auch zum Müllcontainer gebracht, nur die Matratze und Stücke des Rahmens standen links neben dem Eingang zum Badezimmer. Daher arbeitete sie, bis sie an ihrem Schreibtisch einnickte.

Doch jetzt hatte sie keine Arbeit mehr.

Und Bücher, Filme, Fernsehprogramm – das waren alles Dinge für die alte Lucy. Nicht für sie, nicht bei der Schuld.

Also …

Sie warf einen Blick auf die freistehende Klimmzugstange.

Das Einzige, was übrig geblieben war.

Lucy legte das Handy beiseite und ging zu der Stange. Schaute hinauf.

Vor der Geißel hatte sie an Simons Stange nur einen einzigen Klimmzug geschafft. Jetzt schaffte sie hundert. Zweihundert vielleicht sogar. Sie hatte nicht mitgezählt. Konnte sie auch nicht. Denn es schmerzte einfach zu sehr. Sie zog die Klimmzüge also bloß durch, immer und immer wieder, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen und in ihrem Kopf die Erinnerung brannte an die Sache, die geschehen war. Letzten Endes ließ sie sich zu Boden sinken, keuchend und am ganzen Leib zitternd, aber irgendwie fühlte sie sich leichter. Denn auch die Klimmzüge beglichen einen Teil der Schuld.

Sie atmete tief ein, sprang hoch und packte die Stange.

Das Handy vibrierte auf dem Tisch.

Wilkes? Möglich. Also gut, okay, Ma’am. Zeit für Ihre Standpauke.

Lucy ließ die Stange los, ging zum Schreibtisch. Schaute aufs Display: Eingehender Anruf, nerviger Journalist Nr. 2. Also doch nicht Wilkes. Sie zog die Stirn in Falten. Drückte auf den grünen Button.

»DI Stone.«

»Und, suspendiert, Lucy?« Der Journalist sprach mit geschliffenem Akzent. Sie wunderte sich immer, warum im Ressort Verbrechen stets irgendwelche aufgeblasenen Schnösel auf die Berichterstattung angesetzt wurden. Irgendein Nervenkitzel, unten beim einfachen Volk? Ein paar von den Typen hatte sie in ihren Kontakten gespeichert, falls sie einmal einen Gefallen von der Presse benötigen sollte. Sie hatte sich keine Mühe gemacht, die Namen auswendig zu lernen. Es war sowieso immer wieder jemand anders.

»Ich bin nicht suspendier…«

»Da habe ich aber was anderes gehört.« Eine nervige Satzmelodie.

»Dann sind Sie falsch informiert.«

Sie hörte Geräusche im Hintergrund. Stimmengewirr. Eine Polizeisirene.

Worum geht es hier jetzt, verflucht?

»Okay«, sagte er. »Klar. Wenn Sie’s sagen. War ein bisschen überrascht, Sie hier nicht zu sehen. Hab daraufhin etwas rumgefragt. Die Gerüchte gehört. Dachte nur, Sie würden sich über ein paar Infos freuen. Aber wenn Sie das sowieso schon wissen, dann, hey …«

Sie wollen, dass ich Ihnen einen Gefallen schuldig bin. Aber worum geht es?

Was können Sie wissen, was ich nicht weiß?

»Warten Sie«, sagte sie. »Moment. Wo sind Sie?«

»Dann haben Sie also doch nicht davon gehört?«

Sie seufzte, war dieses Spielchen leid. »Was habe ich noch nicht gehört?« Jetzt spuck’s schon aus, Nigel oder Basil oder wie auch immer du heißt, verdammt.

»Tja …« Er zögerte, gab sich plötzlich scheu. »Bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt darüber sprechen darf …«

»Soll ich es für Sie sagen? Okay, Sie haben was gut bei mir. Jetzt heraus mit der Sprache!«

Schweigen am anderen Ende.

Dann unvermittelt:

»Flinders Cox ist heute Nacht ermordet worden.«

2. Kapitel

Lucy drückte ein drittes Mal auf den Klingelknopf.

Es schüttete. Kleine, harte Tropfen prasselten auf das Kopfsteinpflaster, sprangen hoch, fielen zu Boden. Lucy klebte das Haar am Kopf. Auf dem Weg von der Overground Station hatte sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Kapuze aufzusetzen. Hatte den Regen kaum wahrgenommen. Im Grunde hatte sie kaum etwas wahrgenommen, weder die Kälte noch die Dunkelheit, auch nicht die betrunkenen Typen, die ihr hinterherpfiffen. Sie hatte nur einen Gedanken: Ich brauche diesen verdammten Fall.

Brauche ihn mehr als alles andere. Und da kann ich nicht zulassen, dass Sie mir im Weg stehen, Ma’am.

Als sie gerade ein viertes Mal klingeln wollte, ging die Tür mit einem Klicken auf. Über der Sicherheitskette war der Kopf einer Frau zu erahnen. Ende vierzig, groß, gepflegtes Äußeres. Volles kastanienbraunes Haar, für die Nacht hochgesteckt. Eine hübsche Frau.

»Lucy?« DCI Marie Wilkes musterte ihren regennassen Schützling.

Lucy schwieg, hielt den Blicken ihrer Vorgesetzten stand. Ein Funkeln lag in ihren Augen. Wie konnten Sie nur? Okay, der Stuhl, die zerbrochene Scheibe, klar, verstehe. Die böse Lucy. Aber … Flinders Cox? Flinders Cox, verdammt? Ausgerechnet er, Ma’am? Flinders Cox ist ermordet worden, und Sie verwehren mir den Fall?

Wilkes setzte erneut an. »Lucy, was um alles in der Welt machen Sie hier mitten …«

»Flinders Cox, Ma’am.«

Schweigen, nur der prasselnde Regen.

Wie konnten Sie nur?

Ein leises Klirren, als Wilkes die Kette löste und die Tür weit öffnete.

»Okay, Sie kommen besser rein. Wir können uns ja wohl schlecht draußen unterhalten, oder?«

Lucy säuberte die Schuhsohlen auf der Fußmatte und trat ein.

Die Wohnung war elegant. Ein umgebautes Lagerhaus: klare Linien, hohe Decken. Wilkes’ seidenes Nachthemd glitt über die harten Holzdielen, als sie Lucy in den Eingangsbereich führte und bei einer Kommode stehen blieb. Aus einer Vase im Shabby Chic-Stil ragten pinke Nelken.

Sie wirkte verunsichert.

Was ist los, Ma’am? Haben Sie Angst, ich könnte wieder was kaputtschlagen? Dass ich Ihre schicke Bude auf links ziehe?

»Möchten Sie etwas trinken, Lucy? Einen Tee oder Kaffee?«

Lucy schüttelte den Kopf. Wasser tröpfelte von ihrer Kapuze. Allmählich bildete sich auf dem Dielenboden eine kleine Lache. Das Holz sah hochwertig aus – vermutlich Buche, aber Lucy war sich nicht sicher, hatte immer nur halb zugehört, wenn Wilkes wieder einmal über die Inneneinrichtung ihrer Wohnung sprach. Bitte geben Sie mir, was ich brauche, dann tropfe ich Ihnen auch nicht länger Ihren verdammten, auf alt gemachten Dielenboden voll.

Wilkes seufzte. »Ich wollte es Ihnen morgen früh erzählen«, sagte sie. »Ich hatte eigentlich gehofft, Sie würden schlafen.«

Oh, Ma’am. Bitte. Sie wissen doch, wie es bei mir ist.

»Der Anruf kam unmittelbar nach Ihrem kleinen Abgang«, sagte Wilkes. »Sie wissen ja, wie das ist. Wie im Irrenhaus. Alles geht drunter und drüber.« Sie fummelte an ihrer goldenen Armbanduhr. »Aber es tut ja sowieso nichts zur Sache. Sie sind suspendiert. Von Rechts wegen müssten Sie vor mir auf dem Bauch kriechen, um Ihren Job zu retten. Beschädigung von Eigentum der Met? Das könnte Sie den Job kosten. Fertig, aus. Wenn Sie also glauben, ich würde es mir noch einmal anders überlegen, nur weil es gerade einen aktuellen Fall gibt …«

Lucy funkelte sie an. Ein aktueller Fall? Es ist also nur so ein Fall?

»Flinders Cox«, sagte sie. Eine lange Pause. In eisigem Ton schob sie nach: »Ma’am.«

Wilkes machte eine fahrige Handbewegung.

»Lucy, es ist ein Uhr morgens, verdammt. Sie können nicht einfach vorbeikommen, mich aus dem Bett klingeln und dauernd ›Flinders Cox‹ zu mir sagen, als wären Sie nicht ganz richtig im Kopf.«

Also gut. Sprechen wir darüber. Lucy straffte die Schultern, reckte leicht das Kinn vor. Richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Eins fünfundsechzig. Ich bin bereit für den Kampf. »Ich muss an diesem Fall arbeiten«, sagte sie. »Wirklich, ich brauche das.«

»Tja, das hätten Sie sich früher überlegen sollen, ehe Sie mein Büro neu dekoriert haben.«

»Aber Sykes …«

Wilkes gab ein Schnauben von sich. »Ja, Sykes ist ein Arsch. Ich weiß es, das können Sie mir glauben. Bevor Sie bei uns einstiegen, hatte ich schon zehn Jahre mit ihm zu tun. Und wenn ich der Ansicht gewesen wäre, dass er wirklich begriffen hat, was er zu Ihnen sagte …«

Ein flüchtiger Gedanke: Er hat also etwas Bestimmtes gesagt?

»… und was es bedeutete, dann wäre auch er suspendiert worden. Offiziell. Aber es geht doch gar nicht um Sykes, nicht wahr?«

»Eigentlich doch, Ma’am, denn …«

»Nein. Und das wissen Sie. Es geht um mehr. Und es tut mir leid, aber die Antwort lautet Nein.«

Es tut Ihnen leid? Wirklich? Das ist es dann? Lucy runzelte die Stirn. Griff mit einer Hand in den linken Ärmel ihres Hoodies, holte eine Spritze aus der innen eingenähten Tasche: ihr Notfall-Booster. Sie legte die Spritze neben die Vase mit den Nelken, drehte sie so, dass das Etikett zu lesen war: Cox Labs. Sie schaute auf zu Wilkes.

»Ja«, meinte Wilkes. »Das weiß ich.«

Ist das etwa nicht genug?

Sie fasste unter ihr Unterhemd und ertastete den Überwachungssensor. Wie wäre es dann hiermit? Langsam zog sie ihn von der Haut, legte die Scheibe neben die Spritze. Kleine Blutstropfen glänzten an den drei Sensornadeln. Sie drehte die Scheibe so, dass das Logo von Cox Labs zu Wilkes zeigte. Verschränkte die Arme.

Ein Seufzen. »Ich weiß, Lucy. Ich war dabei, schon vergessen? Ich weiß das alles. Sie gehören zu den Vulnerablen. Sie sind eine der zweiundsechzig. Ohne die Booster von Cox wären Sie bereits seit zwei Jahren tot – oder ein Survivor. Glauben Sie mir, ich weiß, was das alles für Sie bedeutet.«

Nein. Nein, das wissen Sie nicht. Denn Sie wissen nicht, was ich getan habe. Niemand weiß das.

Zumindest niemand, der noch am Leben ist.

»Bitte, Ma’am. Ein Gefallen, um den ich Sie bitte.«

»Lucy …«

»Ma’am, ich …«

Wilkes erhob die Stimme. »Nein, Lucy, Sie hören mir jetzt zu …«

»Aber ich brauche das, wirklich, und Sie können nicht einfach …«

»DIStone, halten Sie den Mund!«

Schweigen. Die beiden Frauen starrten einander an.

»Hören Sie«, begann Wilkes erneut. Ihre Stimme klang streng. »Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze. Ich habe mich dreimal für Ihre Beförderung eingesetzt, richtig? Sie sind DI mit gerade einmal neunundzwanzig, das hat es so noch nicht gegeben. Sie haben Talent. Ein einzigartiges Talent.«

Lassen Sie den Partytrick außen vor.

»Und Sie haben noch mehr zu bieten. Sie sind clever. Haben den richtigen Riecher. Sie arbeiten hart – und damit meine ich nicht nur jetzt, sondern auch im Verlauf der beiden letzten Jahre, während Ihrer schweren Stunden. Sie waren immer präsent. Nicht wie Sykes und seinesgleichen, die sich sofort in den Pub verdrücken, wenn ich gerade mal nicht genau hinsehe.« Ein höhnischer Zug erschien um ihren Mund bei diesem Gedanken. »Ich habe das erkannt. Habe Ihnen geholfen. Das wissen Sie.«

Lucy schaute weg. Ihr Blick ruhte auf den Nelken. Erinnerungen blitzten auf, Momentaufnahmen einer Shopping-Tour: Marie Wilkes nimmt eine motivierte Constable Stone mit in Klamottenläden. Hochpreisige Sachen, die Art von Designerklamotten, um die Lucy immer einen weiten Bogen gemacht hat. Jigsaw, Hobbs, Max Mara. Spätabends noch Gespräche darüber, wie wichtig es ist, sich zu präsentieren, professionell zu wirken. Wie schwer das vielen fällt.

»Aber dieser Fall …« Wilkes seufzte. Ihre Stimme klang weicher. »Das ist zu wichtig. Sorry, aber das ist so. Alle gucken uns auf die Finger. Nicht nur die da oben. Die ganze Welt. Und ich kann das Risiko nicht eingehen.«

Das Risiko? Scheiß aufs Risiko. Wenn ich das hier aufkläre …

»Ma’am …«

»Sie sagen, Sie brauchen das, Lucy? Nein. Nein.« Eine Pause. »Sie wissen, was Sie wirklich brauchen.«

Lucy sagte dazu nichts. Starrte sie nur an.

Sagen Sie das jetzt nicht, Ma’am.

Sprechen Sie nicht von einer Therapie.

So etwas ist für Leute, die es verdient haben, dass es ihnen besser geht. Das ist nichts für mich, noch nicht. Ich muss erst noch eine Schuld begleichen.

»Sie sollten jetzt besser nach Hause gehen«, sagte Wilkes. »Und etwas schlafen.«

Und dann fingerte sie wieder an ihrer Uhr herum.

Lucy runzelte die Stirn.

Moment.

Das ist mir schon mal aufgefallen.

Eine Erinnerung: Simon, der an seinem Handy herumfummelt. Vor Jahren, ehe er ihr den Antrag machte. Er war bei ihr eingezogen, hielt aber noch seine alte Wohnung, in die er immer ging, wenn es abends bei der Arbeit zu spät wurde. Sie saßen beide auf Lucys Bett, aßen zu Abend, hatten es sich auf der großen flauschigen Tagesdecke bequem gemacht. Take-away-Curry, sein Lieblingsgericht. Aber er schenkte seinem vegetarischen Korma keine Beachtung, spielte stattdessen mit dem Handy, ließ es in der Handinnenfläche kreisen. Die Stirn in Falten gezogen, genau wie jetzt bei Wilkes. Lucy hatte da so eine Ahnung gehabt. Fragte ihn. Und er hatte es zugegeben. Beichtete es auf der Stelle. Melanie, seine Ex, sie hatten getrunken, es war nur einmal passiert. Wird nicht wieder vorkommen, Luce. Versprochen. Ich werde dich nicht wieder enttäuschen. Eher würde ich sterben. Das schwöre ich.

Und jetzt Wilkes, die auf die gleiche Weise an ihrer Uhr herumfummelte.

Schlechtes Gewissen.

Sie fühlt sich schuldig.

Lucy begann, die Punkte zu verbinden.

Fühlt sich schuldig, weil …? Die Uhr ist neu. Neue Uhr, neue Wohnung. Bonuszahlung. Aha, schlechtes Gewissen wegen der Beförderung. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie den Durchblick hatte. Schuldgefühle wegen der Beförderung, wegen mir. Weil meine Fälle ihr geholfen haben, weil sie als meine Vorgesetzte davon profitiert hat, die Lorbeeren geerntet hat.

Und …

Sie strich sich mit den Fingern durchs nasse Haar und dachte an die Broschüren. An all diese verdammten Broschüren, die Wilkes so auffällig unauffällig auf ihrem Schreibtisch herumliegen ließ. Titel wie PTBS: Anzeichen und Symptome und Sie sind nicht allein oder Reaktionen auf traumatische Erlebnisse verstehen. Jene Broschüren, die Lucy zerknüllte und wegwarf, weil die für andere Leute gedacht waren, nicht für sie, noch nicht jedenfalls.

Und sie denkt, sie müsste eigentlich mehr tun, als Broschüren liegen zu lassen. Sie hat Bedenken, zu sehr zu profitieren.

Sie fühlt sich schuldig.

Oh, Ma’am.

Sie starrte ihre Mentorin an. Das Licht der Strahler an der Decke betonte die Sorgenfalten in Wilkes’ Gesicht. Lucy überlegte, wog alles ab, traf eine Entscheidung.

Tut mir leid. Echt. Es ist unfair.

Aber ich brauche das.

Also …

»Eine schöne Uhr, die Sie da haben, Ma’am«, sagte sie betont langsam. »Welche Marke? Gucci?«

»Hm.« Wilkes schaute nicht auf. Versuchte, die Uhr unter dem Ärmel ihres Morgenmantels verschwinden zu lassen.

»Ist die neu?«

Ein Nicken.

»Wirklich hübsch. Nun, ein Grund zum Feiern, oder? Glückwunsch noch einmal. Wohlverdient.« Trotz des Kompliments hatte ihre Stimme einen harten Klang. »Und dann diese Wohnung …« Sie schaute sich übertrieben interessiert um. Ihr Blick wanderte zu den hohen Decken, zum Dielenboden, wo die Lache bereits so groß wie ein Handabdruck war. »Sehr geschmackvoll. Wie in einem Ihrer Magazine.«

Wilkes sagte kein Wort. Trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Und Sie wollten ja sowieso schon lange nach Wapping ziehen, nicht wahr? Unten am Flussufer? Ich kann mich erinnern, dass Sie so was sagten. Wette, Sie haben einen tollen Blick auf den Fluss. Da ist wohl ein Traum für Sie in Erfüllung gegangen, was?« Lucy strich mit einem Finger über die Vase im Shabby-Chic-Stil. »Alles, was Sie immer schon haben wollten …«

Deshalb sind Sie mir was schuldig, Ma’am.

Wilkes seufzte vernehmlich. Bedachte sie mit einem Blick, in dem Enttäuschung lag.

Lucy hielt diesem Blick stand.

Sie schulden mir Flinders Cox.

Eine Pause. Dann: »Also gut, Lucy.«

Lucy schwieg, nickte nur.

Tut mir leid. Die Masche mit den Schuldgefühlen, das ist nicht fair, weiß ich. Aber es ging nicht anders.

»DI King wird das Sagen bei dem Fall Cox haben.«

»King?«

»Ist neu bei uns. Kommt aus Birmingham. Seinen Einstand haben Sie natürlich verpasst. Scheint ein netter Kerl zu sein.« Sie zögerte, ehe sie es aussprach: »Und sieht nebenbei auch ganz gut aus.«

»Verstehe.« Solange er keine schlechte Kopie von Sykes ist.

»Ich werde ihn benachrichtigen, ihn auf den neusten Stand bringen. Sie können an dem Fall arbeiten, aber Sie müssen mit ihm arbeiten.«

Bin ich jetzt ein Schatten? Okay. Wie auch immer. »Ja, Ma’am.«

»Nicht, dass ich das hinterher bereue, DI Stone.«

»Bestimmt nicht, Ma’am. Und danke.«

Ein leichtes Nicken.

Lucy erwiderte das Nicken, wandte sich von Wilkes ab und ging durch die Eingangshalle zur Tür. Öffnete sie.

»Lucy?«

Sie blieb stehen. Drehte sich um. Sah Wilkes in die Augen. Bemerkte, wie ihre Vorgesetzte ihren Blick über den Kapuzenpulli und die verwaschene Jeans wandern ließ, bis zu den abgewetzten, vollkommen durchnässten Sportschuhen.

»Ich musste gerade dran denken. Haben Sie es noch?« Wehmut schwang in ihren Worten mit. »Das Kostüm? Von Max Mara?«

»Nein«, antwortete Lucy leise. »Das habe ich verbrannt, Ma’am.«

3. Kapitel

Schicker Ort für einen Mord.

Lucy schaute hinauf zu der eindrucksvollen Stadtvilla von Flinders Cox in Mayfair. Der rote Teppich war noch ausgerollt, wie ihr auffiel, aber die Pförtner mit Zylindern waren fort. Es waren doch bestimmt Pförtner mit Zylindern, oder nicht? Großer Bahnhof, an so einem Ort wie diesem? Bestimmt … Stattdessen stand dort nur ein Polizeibeamter mit einer wasserdichten Warnweste. Der Mann gähnte, als sie die Stufen hinaufging.

»Ist gerade mal halb zwei«, sagte sie zu ihm.

Sie ging durch die Haustür und betrat die Eingangshalle. Es war umwerfend. Spiegel, Kronleuchter, Parkett. Im hinteren Bereich eine breite Treppe. Lucy blickte sich um, war beeindruckt. Verdammt. Das müsste sich Wilkes unbedingt ansehen. Würde ihr gefallen. In der Eingangshalle wimmelte es von Polizisten: die halbe Mannschaft vom MIT19, außerdem Forensiker, Fotografen, Pressesprecher der Abteilung. Zu ihrer Rechten schaute man durch eine zweiflüglige Tür in einen Ballsaal, in dem mehrere runde Tische standen. Sie warf kurz einen Blick hinein und erkannte, dass hier ein Empfang stattgefunden hatte. Reste von Drinks und Kanapees. Halb leere Champagnerflaschen. An einem Ende des Saals eine ganze Bar voller Gläser und Flaschen, am gegenüberliegenden Ende ein erhöhtes Vortragspult. Drei Forensiker wuselten durch den Raum und nahmen Proben. Keine Leiche, kein Absperrband. Dies ist nicht der Tatort.

Sie kehrte zurück in die Eingangshalle, schnappte sich einen Beamten, der an ihr vorbeiwollte.

»Wo ist der Tatort?«

Er zeigte die Treppe hinauf. Sie nickte und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Polizisten. Am Fuß der Treppe entdeckte sie Sykes. Er unterhielt sich gerade mit einem großen Mann in einer olivgrünen Regenjacke. Die beiden standen mit dem Rücken zu Lucy, aber Sykes war nicht zu übersehen mit seinem grauen Fedora. Er trug diesen Filzhut an jedem Tatort über seinem schütteren Haar, für den Fall, dass eine Journalistin vor Ort war. Als wäre er Humphrey Bogart. Was für ein Widerling. Sie genoss es, dass die Reporter ihn ignorierten.

Er deutete an, etwas zu werfen, während sie sich von hinten näherte.

»… die verrückte Schlampe«, beendete er den Satz.

»Ich kann Sie hören, Sykes.«

Er zuckte zusammen. Drehte sich um. »Stone.« Ein Hüsteln. »Also. Hab gehört, Wilkes hat Sie vom Haken gelassen. Typisch.«

Der große Mann rückte einen halben Schritt von Sykes ab. Er war bestimmt eins neunzig groß. Massig. Nicht dick, stämmig. Unter der Regenjacke spannte sich ein blaues Jackett über dem Brustkorb, und die Krawatte hing locker um den Stiernacken. Ein Schwergewichtler. Lucy betrachtete sein Gesicht. Kräftiges Kinn, Bartstoppeln. Breite flache Nase. Auffallend grüne Augen.

Oh. Sie. Ich erkenne Sie wieder.

»Ed King«, sagte der stämmige Mann. Er schenkte ihr ein Lächeln, streckte ihr eine Pranke hin. »Wir kennen uns, glaube ich, noch nicht.«

»Da irren Sie sich«, meinte Sykes. Er bedachte Lucy mit einem Anflug eines höhnischen Lächelns.

Sykes, hören Sie auf damit.

»Wie bitte?« King sah verdutzt aus.

»Ach, nichts«, sagte sie. Schüttelte ihm die Hand. »Stone, Lucy. Der Tatort ist also oben?« Sie machte einen Bogen um Sykes und ging die ersten Stufen hinauf. »Ich schaue mir das dann oben mal an …«

»Oh, nicht so bescheiden, Stone«, meinte Sykes. Zu King gewandt sagte er: »Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Als sie Sie eben angesehen hat? Sie hat Sie wiedererkannt. Das ist ihr kleines Talent. Stones … ›Besonderheit‹.«

Wie bei einem Freak, deutete sein Tonfall an.

Lucy blieb stehen. Warf Sykes einen bösen Blick zu. Er wusste, dass sie es hasste, wenn über diesen Partytrick gesprochen wurde, insbesondere im Beisein eines Menschen, den sie nicht näher kannte. Sie hatte es, ja. Ein Talent. Gut. Aber es war so unglaublich seltsam. Machte alle paranoid. Außerdem bin ich mehr als dieser Partytrick. Ich bin ein verdammt guter Bulle, Sykes. Und du bist ein saufauler Scheißkerl.

King sah von Lucy zu Sykes. »Ich verstehe nicht richtig …«

Sykes redete einfach weiter. »Stone hier ist das, was man einen ›Super Recognizer‹ nennt. Die Met rekrutiert diese Leute seit einigen Jahren, nachdem irgendein Schnösel aus Oxford herausgefunden hat, dass es solche Leute gibt.«

»Okay …«, machte King.

»Hat mit dem Gehirn dieser Leute zu tun. Nicht normal.«

»Der Gyrus fusiformis, der Teil des Gehirns, den man für die Gesichtserkennung braucht und …«, ergänzte Lucy. »Ach, vergessen Sie’s. Es gibt jetzt Wichtigeres.« Sehr viel Wichtigeres. Komm schon, Ed. Packen wir’s an.

Doch Sykes genoss, dass ihr die Sache unangenehm war. »Es ist so«, fuhr er fort. »Ein Normalo erinnert sich an vielleicht fünf Prozent der Gesichter, die er gesehen hat. Und ein guter Bulle, der das trainiert? Vielleicht an mehr. Aber eine wie sie hier?« Er rümpfte die Nase, während er das sagte. »Achtzig Prozent. Und Stone ist die Königin dieser Disziplin. Sie erinnert sich … wie lautete gleich noch die Zahl, Stone?«

»Das wissen Sie genau.«

»An dreiundneunzig Prozent. Dreiundneunzig Prozent der Gesichter, die sie je gesehen hat. Egal wann.«

King starrte sie an. Es war aber kein unangenehmer Blick, fand sie. Weder neidisch noch einschüchternd. Einfach nur fasziniert.

Er sieht fast ein bisschen wie Jack aus.

»Wir sind uns also schon mal begegnet? Ist das wahr?«

Sie nickte.

»Wo denn?«

Ein Seufzen. Also gut, wenn du’s tatsächlich wissen willst …

»In Bristol«, sagte sie. »Vor drei Jahren. Training. Anti-Diskriminierung war, glaube ich, das Thema.« Sie sah, wie sich seine Stirn in Falten legte, als er sich zu erinnern versuchte. »Bei der Aufteilung in verschiedene Gruppen. Sie standen zwei Leute vor mir in der Schlange beim Kaffeeautomaten. Von dort kenne ich Sie.«

»Großer Gott!« Er lachte kurz, zeigte gerade weiße Zähne. »Wirklich?«

»Jep.«

»Sie haben mich für zehn Sekunden gesehen, vor drei Jahren, und können sich noch an mich erinnern? Beeindruckend!«

»Abgefahren ist das, sonst nichts«, spöttelte Sykes. Er wirkte verärgert, dass King nicht angewidert war.

»Und Sie behalten diese Leute einfach im Gedächtnis? Sie vergessen sie nicht mit der Zeit?«

»Im Ernst? Bei einigen wünschte ich, ich könnte sie vergessen.« Sie starrte Sykes an. »Könnte ich dann jetzt loslegen?« Sie zupfte an den Schnüren ihres Hoodies. Genug von diesem Scheißmist. Ich hab einen Mord aufzuklären. »Hier rauf, ja?«

»Ich zeige es Ihnen«, bot sich King an. »Andy, Sie kümmern sich um die Tochter.« Er ging hinter ihr die Treppe hoch, bewegte sich trotz seiner massigen Erscheinung geschmeidig. »Er liegt in einem kleinen Zimmer gegenüber dem Herrenschlafzimmer. Eine Art Arbeitszimmer. Und Lucy … machen Sie sich auf was gefasst.«

Flinders Cox lag rücklings auf dem Boden seines Arbeitszimmers.

Blut aus einer klaffenden Wunde am Hals sammelte sich um seinen Kopf, verklebte das silbergraue Haar. Sein langer Bart war dunkelrot verschmiert. Ein Ausdruck der Überraschung beherrschte die starre Miene des Toten: offener Mund, Arme ausgebreitet.

In die rechte Augenhöhle hatte ihm jemand ein hölzernes Kruzifix gerammt.

»Du liebe Güte«, entfuhr es Lucy.

King stand neben ihr. »Dabei war das nicht einmal die Tatwaffe«, erklärte er.

Sie schaute zu ihm auf. »Ach, nein?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Forensiker haben einen ersten Durchgang gemacht. Der Mörder hat ein Messer benutzt. Ein Jagdmesser, vielleicht auch ein Nahkampfmesser. Da sind wir uns noch nicht ganz sicher. Aber eine richtige Klinge. Das da geschah danach.«

Sie beugte sich ein wenig über den Toten, starrte ihm in das offene linke Auge. Seufzte.

Ich wollte mich immer noch bei Ihnen bedanken, Mr Cox.

»Das Kreuz stammt übrigens von dort«, fuhr King fort. Er deutete auf einen Nagel an der gegenüberliegenden Wand. »Die einzige Dekoration im Zimmer.«

Lucy richtete sich wieder auf. Schaute sich um. Das kleine Zimmer wies kein Fenster auf und war so gut wie leer. Weißgekälkte Wände. Ein kleines Schreibpult, darauf dicke rote Bücher, obenauf ein Bilderrahmen. Gefliester Fußboden, Schachbrettmuster. Kein Teppich. An einer Wand stand ein unbequem aussehendes Feldbett.

»Merkwürdig, nicht wahr?«, fragte King. »Inmitten all des Luxus?« Er rümpfte verächtlich die Nase. »Bereitet mir ein mulmiges Gefühl, wenn ich ehrlich bin, eine Villa wie diese. Seine Frau hat ein Zimmer allein für ihre Schuhe, das größer ist als dieses hier. Und er verbringt seine Zeit hier drin.« Ein Kopfschütteln. »Wie in einer Klosterzelle.«

Sie nickte. Cox war ein gläubiger Mensch, wie sie wusste. Katholisch. Das wusste jeder. Hatte vor zwei Jahren drei Millionen für die Sanierung von Westminster Cathedral gespendet, nachdem die Kathedrale bei den Ausschreitungen wegen des Abtransports der Leichen beschädigt worden war. Lucy war selbst nicht religiös, kreuzte ›Church of England‹ auf offiziellen Formularen an und liebte Christmas Carols. Aber sie empfand Bewunderung für diese Geste. All das Gute, das er getan hat … Chemie, Philanthropie. Rechte der Survivor. Alles für das hier. Furchtbar, verdammt. Sie holte tief Atem. Ich muss das aufklären. Nicht nur für mich, Mr Cox. Nicht bloß wegen der Schuld. Für Sie.

»Also gut«, meinte sie. »Wie ist denn der Stand der Dinge?«

»Kurze Zusammenfassung gefällig?« King zog ein kleines blaues Notizbuch aus seiner Regenjacke und schlug es auf. »Was unten war, haben Sie schon gesehen? Kleines Beisammensein. Kommt vorbei und genehmigt euch ein paar, so ist es hier in Mayfair Sitte. Champagner, Kanapees. Cox sollte gegen Ende eine kleine Ansprache halten.« Ein Forensiker mit einer Kamera steckte den Kopf zur Tür rein; Lucy bedeutete ihm mit einer Hand, sich wieder zu verdrücken. »Ein paar Sätze zum Abschluss, so nehme ich jedenfalls an. Die Gäste bestens bewirtet, Flinders kommt herunter, äußert ein paar heitere Worte und entlässt die lächelnden Gäste hinaus in die Nacht.«

»So der Plan?«

»So der Plan. Hatte nur einen Haken, die ganze Sache.«

»Wie man sieht.« Lucy ging einmal langsam durch das Zimmer, überprüfte verschiedene Perspektiven, nahm den Tatort in sich auf. Womit haben wir es hier zu tun? Da muss es doch etwas geben. Sie zog an den Bändern ihrer Kapuze.

»Cox verbrachte den Abend oben, probte für seine Ansprache. Frau und Tochter machten sich auf den Weg, um die Gästeschar zu unterhalten. Offenbar machte Reden halten zu müssen ihn nervös.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich selbst hasse Pressekonferenzen. Komme mir dann wie ein Affe vor, der in die Kamera grinst.« Er sah quer durch das Zimmer zu Lucy herüber. »Und bei Ihnen?«

Gott, Pressekonferenzen. Eigentlich hatte sie etwas dafür übrig. Fühlte sich stark, hatte alles unter Kontrolle. War bereit für alle Fragen. Aber seit fast einem Jahr hatte Wilkes sie nicht mal mehr in die Nähe einer Pressekonferenz gelassen. Sie hatte Bedenken, Lucy könnte vor laufender Kamera unter die Decke gehen. Außerdem mache ich mich wohl im Fernsehen nicht so gut im Hoodie, oder, Ma’am?

»Ich gebe in letzter Zeit selten welche«, ließ sie ihn wissen.

»Glück für Sie. Egal, er kam nicht nach unten. Die Tochter ging rauf, um nach ihm zu schauen. Fand dieses Chaos hier vor, die arme Frau.«

Arme Frau? Oder eine Verdächtige? »Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«

Er schüttelte den Kopf. »Hab kurz reingeschaut, aber der Arzt meinte, sie sei noch nicht so weit. Der Schock. Sykes sagt uns dann Bescheid.«

Der verdammte Sykes. »Er betreut also die Angehörigen?«

King nickte. »Sie scheinen dicke miteinander zu sein, nebenbei bemerkt.«

Sie runzelte die Stirn. Sagte dazu nichts.

»Tja, denken Sie dran, ich bin der Neue. Begegne allen mit Wohlwollen. Absolut neutral. Die Schweiz sozusagen.« Ein Augenzwinkern. »Aber er ist schon ein kleiner Wichser, oder?«

Lucy musste lachen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Sah hinüber zu King, sein kräftiges Kinn, das breite Lächeln. Ich mag diesen Typen, dachte sie. Und dann: eine Welle aus Schuldgefühlen, wie ein Schlag in die Magengrube. Sie wandte sich ab. Schloss die Augen, hoffte, King bemerkte das nicht.

Tat er auch nicht. Denn er redete weiter. »Aber was Sie ja vermutlich wirklich wissen möchten: irgendwelche Spuren? Antwort: Kann man vergessen. Wir haben die Gästeliste. Ehefrau, Tochter. Zwei Dutzend Gäste, die meisten davon Angestellte aus Cox’ Labor. Geoffrey Hurst, der CEO. Ein paar Aktivisten für die Rechte der Survivor schauten kurz rein. Eine Hand voll Journalisten. Ein Dutzend Leute Cateringpersonal, alles Survivor.«

»Tatsächlich alle?«

»Jep. Ein Unternehmen von Survivorn geführt. Das war Cox’ Sache, oder nicht? Selbst die beiden Pförtner sind Survivor.«

»Hm.« Wusste ich doch, dass es Pförtner gab. Fünf Pfund, dass sie Zylinder trugen.

»Bei keiner Person Blutspuren, zumindest keine offensichtlichen. Die Forensiker müssen das noch bestätigen. Keine Waffe. Niemand kann sich erinnern, etwas gesehen zu haben. Und es gibt eine Hintertür. Es hätte also jemand einfach von der Straße reinspazieren können, soweit wir das bisher wissen.«

»Okay.« Sie ging auf die Knie, sah unter dem Feldbett nach. Nichts.

»Die Zeugenvernehmungen gibt’s morgen – gleich morgen früh. Drei DC stehen bereit, Hicks, Evens. Den Namen des dritten Constable habe ich vergessen.«

Sie ging zu dem Schreibpult, wobei sie achtgab, nicht in die Blutlache zu treten. »Müsste Salford sein. Ein bisschen eingebildet, aber er arbeitet hart.« Sie sah sich die Titel der Bücher an, das gerahmte Foto: ein lächelnder Mann, unter dreißig. Daneben ein Schreibblock von Cox Labs, vollgekritzelt. Drei billige Kugelschreiber, alle am Ende angenagt. Seltsam. Man sollte meinen, ein Milliardär könne sich einen anständigen Füller leisten.

»Salford. Das war der Name. Hat einen Scheißgeschmack, was die Krawatten betrifft, meinte Wilkes?«

Lucy quittierte das mit einem Achselzucken. Wie auch immer. Immer noch besser als der Fedora-Hut von Sykes. Ein kleiner Stapel pinkfarbener Karteikarten in einer Ecke des Pults. »Ed?« Sie zeigte auf die Karten. »Was ist das hier?«

»Notizen für die Ansprache. Ausschließlich seine Fingerabdrücke. Haben wir überprüft. Werfen Sie einen Blick drauf, wenn Sie mögen.«

Sie nahm die Karteikarten, schaute sich Vorder- und Rückseiten an. Cox’ Handschrift war grauenhaft.

»›Vor zwei Jahren‹«, las sie laut vor, »›regnete der Tod auf Londons Straßen. Die Geißel. Tage voller Entsetzen … haben sich für immer in unser Gedächtnis eingebrannt.‹«

»Wie ich sagte, ein paar Worte zur Erheiterung.« Ein uniformierter Beamter kam herein, reichte King ein Klemmbrett mit einem Dienstplan und ging wieder.

Lucy nahm sich die nächste Karte vor. Las laut: »›Überleben, genetisches Roulette. Für neun von zehn von uns hatte es keine Bewandtnis, London Black ausgesetzt zu sein. Ein bisschen Übelkeit. Augenjucken.‹« Ihre heisere Stimme hallte von den kargen Wänden wider. »›Aber für das eine Zehntel von uns, für die Vulnerablen … bedeutete es den Tod, mit dem Gas in Berührung zu kommen, sofern es keinen Booster gab, der sie schützte. Ein furchtbarer, ein schmerzvoller Tod. Aber auch – für einige wenige – ein neues Leben. Ein anderes Leben. Voller Herausforderungen, voller Schmerz. Die Survivor.‹«

Hingekritzelt: Die62erwähnen?

Ihr versagte die Stimme, sie hörte abrupt auf zu lesen.

Das bin ich. Die zweiundsechzig.

Flinders Cox dachte dabei an mich.

Sie atmete hörbar ein. War schon bei der nächsten Karte, las diesmal leise.

Aber der heutige Abend, meine Freunde, markiert einen Neuanfang. Eine neue Ära. Eine Zeit ohne Furcht.

Und dann, unten auf der Karte, eine Notiz:

Spritze von U zeigen.

Ein Prickeln lief Lucy über den Rücken.

»Ed?«

Er schaute von dem Dienstplan auf. »Hm?«

»Hat jemand überprüft, worum es in der Ansprache gehen sollte?«

»Klar. Hab ich selbst gemacht. Cox tat so, als wäre es ein großes Geheimnis, aber alle wussten es. Jedenfalls alle Angestellten von Cox Labs. Ein Booster der nächsten Generation. Die klinischen Tests waren in vollem Gange, alles sollte in einem Jahr einsatzbereit sein. Er nannte den Wirkstoff Elemidox Ultra.«

»Ultra? Mit einem U?«

»Was sonst?«

»Also nur ein aktueller Booster? Im Grunde wie die London-Black-Prophylaxe für die Vulnerablen? Einmal rund um die Uhr Schutz gegen Attacken von Trittbrettfahrern, ein Piks, ehe man der Substanz ausgesetzt ist?«

»Hörte sich jedenfalls so an. Die beiden Typen, mit denen ich gesprochen habe, waren ein bisschen aufgeblasen. Einer von ihnen sprach davon, man werde …«, er warf einen Blick in seine Notizen, »mit reduzierter Enzymaufnahme helfen.« Ein Schulterzucken. »Sollte wohl schmerzlos sein. Aber klar, im Grunde ging es wohl um einen etwas besseren Booster. Wieso fragen Sie?«

»Nun ja …« Sie ging auf ihn zu. Hielt ihm eine Karte hin, deutete auf die Notiz. »Was ist das für ein Buchstabe? Dieser dort. ›Soll ich Spritze zeigen von‹ … was?«

Er betrachtete die Notiz. »Sieht für mich nach einem kleinen a aus. Warum?«

»Also kein U?«

Langsames Kopfschütteln. »Ich meine … beschwören könnt ich’s nicht. Die Handschrift ist furchtbar. Aber der Kringel ist oben fast geschlossen. Würde sagen ein A.«

Lucy strich sich durchs Haar. Dachte an Cox. Erinnerte sich, dass sie seine Rede damals verfolgt hatte, kurz nach der Entwarnung nach dem letzten Attentat. Sie erinnerte sich, was er versprochen hatte. Gelobt hatte, wobei er in die Kameras schaute und einer Stadt unmittelbar ins Gesicht sah, die seit der größten Tragödie in Jahrhunderten ins Taumeln geraten war. Mit dem linken Daumen berührte sie ihr Tattoo. Bitte mach, dass es das ist. Das muss es sein. Es muss einfach.

Antidot!

A steht für Antidot.

»Ein Gegenmittel? Ich weiß nicht, Lucy«, sagte King.

Sie standen am oberen Treppenabsatz. Lucy blickte hinunter auf den Fußboden in der Eingangshalle. Ihr war schwindelig. Sie fühlte sich fast ein bisschen benommen, wie früher als kleines Mädchen, wenn Jack ihr auf dem Karussell auf dem Spielplatz Schwung gab. Dann ging es gefühlt über Stunden rund und rund, nur weil sie es liebte und er sie glücklich machen wollte. Und wenn er das nicht tat, wer dann, verdammt?

Sie atmete tief ein. Konzentrierte sich.

Ein Antidot.

Wenn es ein Antidot gibt, wenn Cox es tatsächlich geschafft haben sollte … und es gestohlen wurde, und ich es finde …

Es fühlte sich an wie eine Traumsequenz. Aus einem guten Traum, nicht die Schrei-Träume.

Wenn es mir gelingt, ein Antidot gegen London Black aufzutreiben, das wär’s. Schuld beglichen. Reingewaschen. Es muss klappen.

Was bedeutet, dass ich das hier mehr als alles andere brauche. Ich will es nicht nur.

Ich brauche es.

King musterte sie. Zog die Stirn in Falten. »Nur, dass niemand von einem Antidot gesprochen hat, richtig?« Er breitete seine prankenartigen Hände aus. »Niemand. Jedenfalls keiner der Typen aus den Cox Labs. Nicht einmal Hurst, und er ist der verdammte CEO.«

»Vielleicht versuchen sie, es vor den Medien geheim zu halten.«

»Aber wenn Cox im Begriff war, das Gegenmittel anzukündigen …?«

»Vielleicht ist es ein Geheimnis. Vielleicht wissen sie es nicht.« Sie runzelte die Stirn, dachte an den Tatort oben, an das kleine Zimmer. Also, warum das Kreuz? Wer würde so was machen? Und es ausgerechnet Flinders Cox antun? Der Mann ist praktisch ein Heiliger, verdammt. Trotzdem, es muss um ein Antidot gehen. Ich weiß es.

King gab sich ratlos. »Es erscheint unwahrscheinlich, mehr auch nicht. Ockhams Rasiermesser. Vermutlich nur ein U.«

Lucy sah ihn an. Er sah müde aus.

Ich brauche dich an Bord, Ed.

»Denken wir nach«, sagte sie. »Die Forensiker haben das Arbeitszimmer untersucht, ja? Und niemand hat eine Spritze gefunden? Kein Glasröhrchen, nichts in der Art?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur das Übliche. Brieftasche, Schlüssel. Handy.«

»Sicher?«

»Ich habe die Auflistung selbst unterschrieben. War dabei, als alles ins Labor ging.«

»Okay. Was ist dann mit der Karteikarte? Da steht ›Spritze zeigen‹. Es muss also irgendetwas gegeben haben, das er hochhalten wollte, richtig? Wo ist dieser Gegenstand dann geblieben?« Ein knappes Zupfen an den Schnüren ihrer Kapuze. »Niemand würde Cox töten, um etwas in die Hände zu bekommen, das sich schon in der klinischen Testphase befindet. Aber ein geheimes Gegenmittel …«

Wieder Achselzucken. »Vielleicht sollte ihm jemand eine Spritze mit dem Ultra-Zeug reichen, ehe er mit dem Vortrag fortfuhr? Wer weiß? Das können wir bei den Vernehmungen fragen. Eine ganze Liste mit Namen.« Er schob den Ärmel seiner Jacke ein wenig hoch, warf einen Blick auf seine Uhr. Eine billige Uhr, wie Lucy auffiel. Zerkratztes Glas, das Metall abgerieben. »Fast drei. Sollen wir dann Schluss machen? Und uns morgen wieder treffen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er die Treppe langsam nach unten. »Wir lassen die Forensiker noch mal antanzen«, sagte er über die Schulter. »Und fangen an, genau bei Cox nachzubohren. Gegner. Geschäftliches, Persönliches, die ganze Chose.«

Lucy schaute ihm einen Moment hinterher – bewegt sich geschmeidig, leichtfüßig für einen so massigen Kerl –, ehe sie ihm nachkam. Nach unten in die Eingangshalle, vorbei an der Flügeltür zum Ballsaal. Die Forensiker waren fort, aber auf den Tischen standen noch die halb vollen Gläser.

Sie holte ihn an der Eingangstür ein.

»Ed, ich muss mich darauf verlassen können, dass Sie diese Möglichkeit ernst nehmen.«

King blieb stehen. Seufzte. »Als ich mit Wilkes sprach …«

Oh, Mist. Weiß Gott, was sie ihm alles erzählt hat.

»Ja, zusammenarbeiten, richtig, ich weiß …«