Lonely Hearts Club. Healing - Dr. med. Nasanin Kamani - E-Book

Lonely Hearts Club. Healing E-Book

Dr. med. Nasanin Kamani

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Beschreibung

Er kann sie nicht retten, doch er hilft ihr, sich selbst zu retten *Wie Feuer und Wasser: Opposite-Attract-Romance - so stürmisch wie das Meer *Mit opulentem Farbschnitt und Character Card in limitierter Erstauflage  Die talentierte Musikstudentin Clara fühlt oft eine bohrende Einsamkeit. Zusammen mit dem riesigen Erwartungsdruck droht sie, daran zu zerbrechen. In einer Klinik sucht sie therapeutische Hilfe – und findet dort im Lonely-Hearts-Club Gleichgesinnte, die sich gegenseitig Halt geben. Dann trifft sie Emilian, genannt Milly. Für sein letztes Schuljahr zieht er als Gastschüler in Claras Elternhaus an der rauen französischen Küste ein. Zwischen den beiden wächst eine Liebesbeziehung, so stürmisch und besonders wie der saphirblaue Ozean. Auch wenn sie so unterschiedlich sind wie Feuer und Wasser, verbindet beide eine Gemeinsamkeit: die schwierige Beziehung zu den Eltern. Doch während Milly es schafft, sich davon zu lösen und seinen eigenen Weg zu gehen, hat Clara zu kämpfen und rutscht immer wieder in emotionale Krisen. Je mehr Milly seine brennende Lebensfreude in Claras kühle und dunkle Welt mit den ungeahnten Tiefen bringt, umso mehr möchte sie heilen und glücklich sein. Doch während ihre Gefühle füreinander wachsen, holen Claras innere Dämonen sie ein – und Milly steht vor einer Entscheidung, die alles verändern könnte. Eine tiefgründige Geschichte über Liebe, Verlust und den mutigen Weg der Heilung. Book-Tropes: - Opposites Attract  - Fateful Encounter  - Grumpy meets Sunshine

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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IMPRESSUM

eBook: © 2025 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Grillparzerstraße 12, 81675 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

www.gu.de/kontakt | [email protected]

ISBN 978-3-8338-9710-8

1. Auflage 2025

GuU 8-9710 05_2025_01

DIE BÜCHERMENSCHEN HINTER NASANINS PROJEKT

Projektleitung: Ariane Hug

Lektorat: Leonie Ritz

Bildredaktion: Petra Ender, Simone Hoffmann

Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel, Anika Neudert

eBook-Herstellung: Liliana Hahn

BILDNACHWEIS

Coverabbildung: Stocksy

Illustrationen: Roberta Nunes; Kapitelaufmacher und Icons: Shutterstock

Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München, www.imageprofessionals.com

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WARUM UNS DAS BUCH BEGEISTERT

Weil jeder, der sich einsam fühlt, einen eigenen Milly haben sollte.

Eva Dotterweich, Verlagsleitung

Garantie

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

wie wunderbar, dass du dich für ein Buch von GU entschieden hast! In unserem Verlag dreht sich alles darum, dir mit gutem Rat dein Leben schöner, erfüllter und einfacher zu machen. Unsere Autorinnen und Autoren sind echte Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten, die ihr Wissen mit viel Leidenschaft mit dir teilen. Und unsere erfahrenen Redakteurinnen und Redakteure stecken viel Liebe und Sorgfalt in jedes Buch, um dir ein Leseerlebnis zu bieten, das wirklich besonders ist. Qualität steht bei uns schon seit jeher an erster Stelle – jedes Buch ist von Büchermenschen für Buchbegeisterte gemacht, mit dem Ziel, dein neues Lieblingsbuch zu werden. Deine Meinung ist uns wichtig, und wir freuen uns sehr über dein Feedback und deine Empfehlungen – sei es im Freundeskreis oder online. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken! P.S. Hier noch mehr GU-Bücher entdecken:

Nasanin Kamani

Was ich dir mit meinem Buch auf den Weg geben möchte

Themen wie Einsamkeit, Depressionen, familiäre Probleme und Ängste in Beziehungen betreffen viele junge Menschen – oft, ohne dass es auf den ersten Blick sichtbar ist, wie bei der Protagonistin Clara. Mit diesem Roman möchte ich nicht nur eine zarte Liebesgeschichte erzählen, sondern relevante Themen der mentalen Gesundheit aufgreifen und sie dir auf eine spannende sowie einfühlsame Weise näher bringen.

Viel Spaß beim Eintauchen in die Welt von Clara und Milly!

 

Besuche Nasanin auf: www.dr-kamani.de

 

Und folge ihr auf:

@dr_kamani_

»Warte«, sage ich und greife vorsichtig nach ihrem Handgelenk.

»Was denn?«

Ich will ehrlich mit ihr sein, auch wenn jeder Moment mit ihr so zerbrechlich scheint wie eine kristallklare Welt aus Glas, die einerseits grenzenlose Offenheit verspricht – und doch so fragil ist, dass man sie mit keiner Spitze belasten möchte.»Du hast nichts falsch gemacht.«

»Na, scheinbar ja schon.« Ihre Stimme klingt unsicher. Gedämpft.

»Das eben hat sich gut angefühlt«, versichere ich ihr. »Aber wenn wir jetzt zwischen Tür und Angel Dinge tun, für die ich lieber Zeit und ein wenig Privatsphäre mit dir hätte, dann werde ich das bereuen.«

Weil mir niemand diese vielen, kleinen ersten Male mit Clara zurückgeben wird. Ich nähere mich ihr. »Küss mich weiter.«

Es ist ungewohnt, Worte wie diese so sanft und ruhig auszusprechen. Sie lösen ein unerwartet starkes Gefühl von Verletzlichkeit aus, das ich für sie jedoch gern in Kauf nehme.

Playlist

Amy Winehouse – Back to Black

Supertramp – Goodbye Stranger

Eminem – Houdini

Antonio Vivaldi – Sommer (3. Satz)

Crazy Town – Butterfly

10cc – Not in Love

Teddy Swims – Lose Control

Frédéric Chopin – Regentropfen Prélude

Audrey Hepburn – Moon River

Sergej Rachmaninov – Elegie

Liebe Leser:innen,

es ist mir eine große Freude, dass ihr mein Buch in den Händen haltet. Ich hoffe, dass euch die Geschichte von Milly und Clara gefallen wird und ihr euch mit den beiden an die atlantische Smaragdküste und in das belebte Paris wegträumen könnt.

Ein wichtiger Hinweis vorab: Es ist möglich, dass mein Buch Aspekte enthält, die euch belasten könnten. Deshalb findet ihr auf > eine Info zu sensiblen Themen. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte. Die psychologischen Ratschläge, die meine Charaktere im Buch erhalten, habe ich sorgfältig gewählt. In meinem zweiten Leben arbeite ich als Ärztin in einer Klinik, in der psychische Erkrankungen behandelt werden. Es ist mir ein großes Anliegen – auch mit diesem Roman –, über psychische Gesundheit aufzuklären.

Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen – passt gut auf euch auf!

Eure Nasanin & euer GU-Team

TEIL 1

Intro

KAPITEL 1

Clara

»Mindestens vier Wochen«, hat die Ärztin gesagt. »Sonst ergibt eine Therapie wenig Sinn.« Und im Grunde ist es ja auch ganz okay hier: Der Sport, die Gruppengespräche, die Kunsttherapie, die Einzelsitzungen, das Entspannungstraining. Sogar das Zimmer ist in Ordnung und mit den anderen Patienten ist es nicht anders als »draußen« – es gibt nette und nervige, lustige und launische, es gibt heiße, hohle, hudelige. Das ganze Horrorzeug, das ich im Internet gelesen habe – verriegelte Türen, Ärzte in hochgeknöpften Kitteln, Notfallbetten mit Schnallen – bezog sich scheinbar nur auf geschlossene Stationen. Und das hier ist keine.

Frau Dr. Dupont sitzt mir schräg gegenüber an ihrem Schreibtisch und tippt ihre Notizen in den PC.

»Wann genau kommt es bei Ihnen denn zu Gefühlen wie Anspannung und Wut? Können Sie konkrete Beispiele nennen?« Sie dreht den Kopf in meine Richtung, ohne die Hände von der Tastatur zu nehmen.

Ich überlege. »Wenn sich jemand in meine Angelegenheiten einmischt.«

»Jemand?«

»Meine Mutter zum Beispiel.«

Die Psychiatrie-Ärztin trägt ein knielanges, beigefarbenes Kleid, dazu schwarze Ballerinas und ein dezentes Make-up. »Wann noch?«

»Wenn ich mal wieder feststelle, dass sich ein paar Leute kaum noch melden, seit wir zum Studieren auseinandergezogen sind. Oder abtauchen, sobald sie in einer Beziehung stecken – wie mein bester Unikumpel.«

»Wie fühlt sich diese Wut genau an?«, fragt sie hinter ihrem Schreibtisch. Während ich einen Moment darüber nachdenke, rollt sie mit ihrem Stuhl ein Stück zur Seite in mein Sichtfeld.

»Als wäre sie so groß, dass sie in meinem Körper keine Luft bekommt. Der Platz ist ihr zu eng, sie tritt und schlägt von innen auf mich ein. Und ich muss zusehen, wie ich sie loswerden kann. Ob ich schreien soll oder …«

»Oder?«

Oder eine Runde faste, bis die Wut sich in Hunger und Übelkeit verwandelt hat.

Oder so schnell und lange laufen gehe, bis die Seitenstiche auch die Wut abstechen.

Oder im klapprigen Peugeot meines Bruders mit hundertachtzig Sachen über die Autobahn heize und mir ausmale, wie die kleinste Handbewegung in einem tödlichen Crash enden könnte. Das jagt mir einen Riesenschreck ein und die Wut zum Teufel.

»Oder meine Gedanken dazu aufschreibe«, antworte ich brav.

Sie zieht die Brauen hoch und grinst ungläubig. »Sicher, dass Sie das tun?«

»Sicher!«, beteure ich und deute mit dem Finger auf das ausgedruckte Fotoposter, das über ihrem Schreibtisch an der Wand hängt. »Mögen Sie Ballett?«

Sie nickt mit einem förmlichen Lächeln. Auf dem Bild ist eine einzelne, weibliche Tänzerin in bläulichem Bühnenlicht zu sehen. Eine grazile Fee auf Zehenspitzen, bei deren Anblick man sich automatisch wie ein ungelenkiger Baumstamm fühlt.

»Haben Sie das selbst geschossen?«

Jetzt blickt sie doch ein bisschen verträumt zum Bild auf. »Ja, in Paris. Schwanensee, in der Opéra national.«

»Wussten Sie, dass Tschaikowski ein bisschen irre war?«

Dr. Dupont schaut irritiert. »Wie bitte?«

»Der Komponist von Schwanensee, er hatte einen Knall.«

Schweigen.

»Er hat eine Frau geheiratet und direkt danach angefangen, sie zu hassen. Er hat sogar überlegt, sich das Leben zu nehmen, um aus der Nummer wieder rauszukommen.«

Ihr Ton wird ernster. »Lernt man das an der Musikhochschule?«

Ich schüttle den Kopf. »Das wusste ich schon vorher.«

»Immerhin schlägt Ihr Spezialwissen eine gute Brücke zu unserem Ursprungsthema.«

»Selbstmord?«

»Nein. Wut und Spannungen. Oder spielen Sie mit dem Gedanken, sich etwas anzutun?«

»Nichts, das mich umbringen würde«, sage ich mit einem munteren Grinsen. Die Ärztin findet das nicht witzig.

»Was könnten Sie denn sonst noch tun, um Ihre Wut herauszulassen? Sie belegen im Hauptfach Klavier, richtig? Ist das etwas, das Ihnen hilft?«

Das Piano. Ein kompliziertes Thema. Eins, das über das Zusammenspiel von zehn Fingern auf achtundachtzig Tasten weit hinausgeht und alles andere als schwarz-weiß ist. Schon immer hat meine Mutter davon geträumt, dass ich ausverkaufte Klassikkonzerte gebe. Sollte das nicht funktionieren, meint sie, könne ich ja eine Karriere als Dozentin an der Pariser Musikhochschule einschlagen. Seit ich mein Studium begonnen habe, bin ich aber weder von Starpianistin-Plan A noch von Professorin-Plan B überzeugt. Das bedeutet nicht, dass ich die Entscheidung bereue, für die Musik zu leben und daran zu arbeiten, später auch von ihr leben zu können. Nur möchte ich auf dem Weg von diesem für ins von meine Mutter nicht enttäuschen, deren ganzes Herzblut in meinem Werdegang steckt. Ich habe das Gefühl, dass ich dieses Blut nicht aufsaugen darf wie ein Vampir, sondern es mit Sauerstoff anreichern und wieder zurückpumpen muss. Aber manchmal schaffe ich es einfach nicht, ihr das zu geben, was sie von mir erwartet, und dann geschehen Dinge, die mich wieder wütend machen. Also was soll ich der Ärztin jetzt antworten? Dass mir die Musik oft dabei hilft, den Druck abzubauen – sie genauso oft aber auch am Aufbau von Druck beteiligt ist? Ergibt das für irgendwen Sinn, der nicht mit mir unter einem Dach aufgewachsen ist?

Sie unterbricht das Schweigen: »Ich habe mir nach unserem letzten Gespräch Ihren Instagram-Account angeschaut. Beeindruckend, die ganzen Videos.«

Ich möchte glauben, dass sie tatsächlich Interesse an meiner Arbeit hat, weiß aber, dass Insta viele Gesichter haben kann: Für meinen Ex-Freund war mein Profil eine Stalking-Oase, mit der er die Dürrephase nach der Trennung überbrückt hat. Für die Profs, die über mein Unistipendium entschieden haben, war mein Profil eine Art Bonus-Bewerbungsmappe, in die sie anonym reinschnuppern konnten. Und für die Seelenklempnerin, die wieder fleißig am Tippen ist, könnte das Profil ein Utensil sein, um noch tiefer in mir zu graben.

»Musikmachen hilft schon weiter«, sage ich. »Aber halt nicht immer. Manchmal hilft gar nichts mehr.«

»Und dann sehen Sie rot?«

»Schon, ja.« Ich lasse meinen Blick durch das geräumige Behandlungszimmer schweifen, in dem der Geruch von zitronigem Putzmittel in der Luft liegt. Da gibt es die schwarz gepolsterte Patientenliege, das Waschbecken mit dem Desinfektionsspender, die Pinnwand mit den Postkarten. Ob sie von mir erwartet, dass ich auch eine zum Abschied schreibe?

»Grau sehe ich aber auch manchmal. Dann ist alles öde: verkochter, geschmacksneutraler Brei. Den will man dann auch nicht unbedingt schlucken.«

»Das heißt, Sie verlieren das Interesse an Ihrer Umgebung?«

Ich nicke.

»Geht das damit einher, dass Ihr Motor schlappmacht?«

»Heißt?«

»Sie Ihren Antrieb verlieren.«

»Ja, aber irgendwann lerne ich dann trotzdem wieder für die Uni, nehme ein neues Reel auf, übe fürs Semesterkonzert. Und dann geht es schon wieder. Fake-it-till-you-make-it-mäßig.«

»Grundsätzlich ist es ja gut, sich zu strukturieren und Routinen zu folgen. Es erfordert aber auch viel Kraft, sich da immer wieder allein rauszuziehen. So ganz ohne Unterstützung und ohne die Ursachen zu erforschen. Finden Sie nicht?«

Ich zucke mit den Schultern. »Anders kenne ich es nicht.«

»Dass Sie und Ihr Hausarzt sich für die stationäre Aufnahme entschieden haben, liegt aber daran, dass die fake-it-make-it-Strategie nicht mehr funktioniert hat, richtig?«

Darauf antworte ich nicht.

»Ihr Bruder lebt noch in Saint-Malo im Haus Ihrer Mutter, oder?«

»Ja, etwas über zwei Zugstunden von Paris.«

Die Ärztin steht auf und desinfiziert sich die Hände am Sterilliumspender neben der Tür. Dann läuft sie zur schwarzen Polsterliege und bezieht sie mit einer Papierrolle. »Gleich kommt ein Patient zur körperlichen Aufnahmeuntersuchung«, kündigt sie an. »Sollten Sie in den kommenden Tagen noch einmal Wut und Spannungen empfinden, beantworten Sie am besten ein paar Fragen.«

Ich nicke.

»Wollen Sie die Fragen mitschreiben?«

»Klar«, sage ich, zücke mein Handy und öffne die Notizen-App.

»Wen haben Sie als Letztes gesprochen oder gesehen? Woran haben Sie kurz vorher gedacht? Und könnte vor dem Auftreten der Anspannung vielleicht auch ein anderes Gefühl da gewesen sein?«

»Zum Beispiel?«

»Traurigkeit. Sorgen. Innere Leere. Unsicherheit. Gefühle, die Angst machen können oder schwer auszuhalten sind.«

Ich höre auf zu tippen. Ihre Worte treffen mich an einer Stelle, die mir durchaus bekannt ist – der ich mich aber nur ungern zuwende.

»Je besser Sie Ihre Emotionen und deren Entstehung verstehen, desto leichter können Sie mit ihnen in Kontakt treten, sie beeinflussen und regulieren«, fährt sie fort.

»Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass ich traurig bin.«

»Aber?«

»Aber nicht so, dass ich drauflosheulen könnte und mich dann irgendwie erleichtert fühle. Es ist eher wie ein Gefühl, das zwar vorhanden ist, aber irgendwo in mir weiter weg liegt. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.«

»Eher wie ein dumpfes Hallen?«

»Ja.«

Sie läuft quer durch den Raum, reißt das Fenster auf und setzt sich wieder an ihren Schreibtisch. Dann zückt sie überraschend das Handy. »winterwind lautet Ihr Profilname, richtig?«

Wie es aussieht, ruft sie gerade meinen Insta-Account auf. Sie drückt die Lautertaste mit ihrem Daumen und hält sich das iPhone ans Ohr – eine ältere Generation mit unterirdischer Tonqualität. Dr. Dupont hat den ersten Track angeklickt, den ich an meiner Pinnwand fixiert habe.

»Sie mischen Pop und Klassik?«, fragt sie, ohne das iPhone wieder runterzunehmen.

»Electro und Klassik, ja.«

»Schöne Idee.«

»Danke.«

Es ist mir etwas unangenehm, dass mein Musikaccount plötzlich auf dem psychologischen Präsentierteller liegt.

»Also, nicht komplett neu, die Idee«, schiebt sie noch hinterher. »Aber man merkt, dass Sie da einen ganz eigenen Zugang gefunden haben. Und Klavier spielen Sie auch total toll.«

Ich setze ein Lächeln auf.

»Was bedeutet Ihr Benutzername winterwind?«

»Der Name ist angelehnt an ein Stück von …«, sie klickt ein weiteres Reel an, das jedoch nicht mit dem Klavierpart beginnt, sondern mit einem Beatintro, »… meinem Lieblingskomponisten.«

Dr. Dupont dreht den Ton glücklicherweise wieder leiser und legt das Handy auf ihrem Schreibtisch ab.

»Fünfzigtausend Follower«, sagt sie. »Ist das viel?«

»Es ist okay. Meine Follower sind loyal, das ist das Wichtigste. Wenn ich mal eine Zeit lang nichts poste …«

Sie nickt. »… dann springen die nicht gleich wieder ab, weil sie nachhaltiges Interesse an Ihren Inhalten haben?«

»Ja, das bringt es ziemlich gut auf den Punkt.«

Die Ärztin kneift die Augen zusammen und sagt auf eine Art und Weise »Ich verstehe«, als hätte sie gerade den Insta-Algorithmus geknackt.

»So!« Sie steht auf, ich erhebe mich ebenfalls. »Ende der Woche haben wir noch einen Kurzkontakt.«

Zwanzig Minuten in diesem Raum sind nicht kurz. Die Zeitangabe für ein Gespräch, in dem es ausschließlich um Gefühle und Probleme geht, sollte man im Kopf verdoppeln, um eine grobe Vorstellung davon zu bekommen, wie lang sich so ein Deep-Talk-Treff anfühlen kann.

Sie begleitet mich zur Tür. Ich verabschiede mich mit einem »Danke« und trete aus dem Zimmer. Im Flurbereich sitzt bereits der nächste Patient auf einem der Klappstühle.

Auf dem Weg ins Treppenhaus stecke ich mir kabellose Kopfhörer in die Ohren, öffne eine meiner Playlists und lasse mich von dem Song überraschen, den Spotify für mich auswählt. Manchmal fühlt es sich tatsächlich so an, als hätte Spoti eine Seele und wüsste besser als sonst wer, was ich gerade hören muss.

Die App entscheidet sich für Amy. Ich bin kein bekennender Fan, war nie auf einem Konzert und habe auch nicht den weichgespülten Film über ihr Leben gesehen. Und mit Sicherheit ist sie auch kein erheiterndes Beispiel dafür, dass man die Probleme in den Zwanzigern schon irgendwie gut über die Show- und Lebensbühne bringen wird. Aber sie hat aus dem Black, zu dem sie immer zurückgekehrt ist, und dem Rehab, von dem sie nichts wissen wollte, immerhin etwas erschaffen, das ihren toxischen Ex, ihren komischen Vater und all ihre Kritiker um Jahrzehnte überleben wird. Dass sie durch ihre Musik solch eine Mischung aus Macht und Magie entfalten konnte, ist tröstlich. Und es ist vorbildlich.

Ich ziehe den Tagesplan aus meiner Tasche; das Sportprogramm startet in knapp einer halben Stunde. Anfangs hieß es, ich solle mich nicht so viel bewegen, damit ich nicht noch weiter abnehme. Die Pflegekräfte haben mich bei der Aufnahme gewogen, gemessen und mir verkündet, dass ich mit fünfzig Kilo bei einem Meter achtundsechzig untergewichtig sei. Als Dr. Dupont mich bei unserem ersten Gespräch vor rund zehn Tagen fragte, ob ich mir schon einmal den Finger in den Hals gesteckt habe, konnte ich ihr glaubhaft versichern, dass ich den Anblick von Kotze deutlich schlimmer finde als den von Kilos auf der Waage. Das letzte Mal habe ich mich übergeben, als mein Bruder Léon für uns Mexikanisch gekocht hat: ein buntes, appetitlich aussehendes Gemisch aus knallrotem Chili, kleegrüner Guacamole und maisgelben Tortillas, dessen Schein getrogen und gelogen hat. Beim Hineinbeißen hatte ich nämlich etwas im Mund, das wie Erbrochenes schmeckte, und dass ich daraufhin selber brechen musste, hatte nun wirklich nichts mit Bulimie zu tun. Ich packe Leggins, Turnschuhe, ein Handtuch und zwei Energieriegel ein, die ich nach Absprache mit der Sporttherapeutin vor und nach dem Training essen werde.

***

Vorher geht es aber erst noch mal ins Raucherhäuschen im Klinikgarten, das mich stark an die Qualmhütte auf dem Schulhof vom Lycée Laplace erinnert – mein altes Gymnasium, an dem Léon nächstes Jahr sein deutsch-französisches Abi machen wird: ein offener, heller Holzkasten mit spitzem Dach und einem Edelstahl-Standaschenbecher, in dem es nach Kippenstummeln und Krebsrisiko riecht.

»Hey, Clara«, grüßt mich eine der älteren Mitpatientinnen.

»Hey, na?«

»Wie geht’s? Hast du Feuer?«

»Klar.«

Ich zünde ihre Zigarette an und beginne, mir selbst eine zu drehen.

»Wie lange bleibst du eigentlich noch?«, fragt sie.

»Geplant sind noch knapp drei Wochen.« Es graut mir schon davor, die Wut-Hausaufgaben von Dr. Dupont zu erledigen und die ganzen Bögen mit den tausend Fragen auszufüllen. Mir nach meinem Aufenthalt eine Diagnose aufdrücken zu lassen, die sich noch schwieriger beseitigen lässt als meine Tattoos. Meine Mutter hat mich eindrücklich davor gewarnt: Die Krankenakte sei wie das Internet. Was einmal drinstehe, werde nie mehr ganz verschwinden.

»Wenn du mit jemandem reden willst, dann rede doch mit mir. Ich bin deine Mutter. Ich höre dir zu. Ich kenne dich seit zwanzig Jahren. Ich möchte dein Bestes. Wie sollen wildfremde Menschen, die sich um Drogensüchtige und Schizophrene kümmern, dir weiterhelfen?« Wenn sie wüsste, dass ich mich dennoch für die Klinik entschieden habe, würde sie vermutlich selbst mit einer Zwangsjacke und einer Betäubungsspritze anrücken, um mich zu meinem eigenen Besten aus dem »Irrenhaus« zu befreien. Léon ist der Einzige, der davon weiß. Und der kann schweigen wie ein vergessenes Grab.

»Ich glaube, ich breche morgen ab«, sage ich aus dem Bauch heraus.

Die Mitpatientin macht die Augen klein, zieht an ihrer Zigarette und blickt zur Seite. »Und ich glaube, du bist noch nicht so weit, Kleine.«

Ihre Worte prallen an mir ab. Nicht, weil ich stark bin – aber die Mauer ist es, die ich hochgezogen habe. Den nächsten Zug zieht sie auf Lunge.

»Als ich dich letzte Woche bei deiner Ankunft gesehen habe, dachte ich: Mann, Mann, was für ein hübsches Mädel. Kastanienrotes Haar, feines Gesicht und die großen, braunen Mädchenaugen. Im selben Moment habe ich aber auch gedacht: Die wird nicht lange bleiben.«

Sie räuspert sich ein paarmal. Darauf folgt ein schleimiger Husten mit dem Sound of Sickness.

Ich stecke mir die gedrehte Zigarette in den Mund und blicke auf den weißen Gebäudekomplex, in dem sich die Patientenzimmer, der Essenssaal, die Therapie- und Sporträume befinden. »Die hat doch bestimmt eine ganze Fan-Horde, dachte ich. Mädels und Typen, die sich darum reißen, es ihr recht zu machen.«

Erstens: Schön wär’s. Zweitens: Ich fühle mich durch ihre Komplimente irgendwie beleidigt.

»Aber ganz ehrlich …«, sie klopft die Asche ab, »die Therapie abzubrechen, ist ein Luxus, den man sich nur leisten kann, wenn man noch nicht komplett am Arsch ist.« Ziehen. Qualmen. Räuspern. Husten. »Oder aber schon am Arsch ist und es nicht wahrhaben will. Das ist natürlich übel, weil man kostbare Zeit verliert, in der man sich helfen lassen könnte.«

Ihre letzte Aussage trifft mich unerwartet hart. Binnen Sekunden bildet sich ein Kloß in meinem Hals, der mir so eine Angst einjagt, dass ich sofort versuche, ihn mit einer Riesenportion Speichel runterzuschlucken.

»Wie läuft es denn bei dir so?«, frage ich, um von mir abzulenken.

Sie dreht mir das Gesicht zu, lächelt knapp und kurz. »Ganz gut. Wir sind grad beim Thema Eltern.«

»Ist doch ein überschaubares Thema«, witzle ich. »Kriegt man bestimmt schnell gelöst.« Dann drücke ich die halb aufgerauchte Zigarette aus und verabschiede mich mit einem knappen »Ciao«. Die Ältere hebt die Hand, ohne mich anzusehen. Ich stecke mir die In-Ear-Kopfhörer rein, lasse die Playlist weiterlaufen und erkläre Spotify kurzerhand zum Orakel: Der nächste Song soll darüber bestimmen, wie es weitergeht. Ob ich abhaue oder bleibe.

Komm schon, Spoti, spuck es aus.

It was an early morning yesterday

I was up before the dawn

And I really have enjoyed my stay

But I must be moving on

Supertramp dröhnt durch meine Ohren. Ich laufe ins Hauptgebäude, hoch in den ersten Stock, schließe mein Zimmer auf, ziehe den Reiserucksack aus dem Schrank und stopfe alles hinein, was herumliegt. Saubere Wäsche, schmutzige Wäsche, Lotions, Shampoo, Bürste, Schlafzeug, Sportsachen.

Ich weiß, dass etwas mit mir nicht stimmt. Und ich weiß, dass man dieses Etwas nicht einfach wie eine Zigarette anzünden und erwarten kann, dass es ein paar Giftstoffe abdrückt und sich dann für immer in Rauch und Asche auflöst.

Aber es gibt Situationen, in denen dieses Etwas zumindest für ein Weilchen den Rand hält und mich in Frieden lässt: Wenn ich ein Klavierstück nach monatelanger Arbeit so gut beherrsche, dass ich den Komponisten mit Herz und Händen fühlen kann. Wenn meine Follower einen neuen Remix abfeiern. Wenn ich mit Léon über Familienzeug spreche, das nur er verstehen kann, und mit ihm über Dinge lache, die zum Heulen sind – weil wir nicht nur eine Historie teilen, sondern auch einen Humor. Wenn ich am Strand ein paar bekannte Gesichter aus der Schule treffen, die den neusten Saint-Malo-Tratsch ausplaudern und mir das Gefühl geben, ich wäre nie weg gewesen. Als würde ich für immer dazugehören.

Das sind Dinge, die ich liebe, und ich glaube, sie lieben mich auch. Aber wie wir alle wissen, weil wir es überall hören: Liebe allein reicht manchmal nicht.

Goodbye stranger, it’s been nice.

Hope you find your paradise.

KAPITEL 2

Milly

»Manchmal denke ich an Nadja zurück. Nein, Nadine, meine ich. Genau. Sie hat sich Dine genannt.« Mein Bruder ordnet sich auf der linken Spur ein und folgt dem Schild in Richtung Hauptbahnhof. »Sie war schlau und attraktiv. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, warum wir nicht zusammengekommen sind.«

Ich schon. Er hat das Interesse an ihr verloren, weil er sich im Praktischen Jahr seines Medizinstudiums in eine Assistenzärztin verliebt hat. Die war zwar vergeben, hat ihn aber mit Geschäker und zufälligen Berührungen bei der Stange gehalten. Dass daraus nichts werden konnte, war ihm irgendwo klar, aber für so vage Geschichten mit unberechenbarem Verlauf hat Daniele eine Schwäche. Das passt ganz und gar nicht zu dem soliden Schwiegersohn-Image, das unser Vater ihm gern aufdrücken würde. Er ist ebenfalls Arzt, ein Kardiologe, was lustig ist, da er außerhalb seiner Praxis nicht allzu viel von Herzen versteht. Mein Bruder und er sind ziemlich verschieden, dennoch verbringt Daniele eine Menge Zeit mit ihm und tut einen Haufen Dinge, um ihn zufriedenzustellen. Vielleicht ist das so ein Erstgeborenen-Ding, von dem ich nichts verstehe – was ich auch nicht will. Ich bin neun Jahre jünger als mein Bruder und gehe ihm mit meinen eins dreiundachtzig bis knapp unter die Nase. Wir haben beide dunkelblondes Haar, nur, dass meins etwas länger ist und sich ein ganz klein bisschen wellt. Unser Papa hatte bereits in seinen Zwanzigern nur noch einen Kranz auf dem Kopf und da Daniele in seinem Alter schon deutlich weiter über den Berg ist, hoffe ich natürlich, dass die Glatzen-Gene nicht an mir hängen bleiben. Unsere Eltern sind beide Deutsche. Dennoch hat mein Bruder einen italienischen Vornamen und ich einen, der eher in Osteuropa verbreitet ist – was einfach nur daran liegt, dass die Namen ihnen gefallen haben. Mehr nicht.

»Was ist eigentlich mit dir?«, fragt er. »Hast du noch Kontakt zu dem Mädel aus deiner Stufe?«

»Anna. Ja. Aber wir sind jetzt wieder Freunde, das passt besser so.«

»Lief denn richtig was zwischen euch?«

Ich antworte nicht.

»Irgendwann musst du auch mal ins kalte Wasser springen und eine Runde schwimmen gehen.«

Benutzt er »schwimmen« gerade als Metapher für Sex? So wie die US-Daddys in alten Serien und Filmen übers Anschnallen beim Autofahren sprechen, damit kein »Unfall« entsteht? Daniele fällt definitiv eher in die Kategorie cooler großer Bruder, fühlt sich hin und wieder aber dazu verpflichtet, mir väterlich zur Seite zu stehen, was einfach nicht zu ihm passt und letztlich mit peinlichen Pointen und cringen Kommentaren endet.

»Ich fahre lieber Jetski«, sage ich und denke an das blaugrün schimmernde Meer, das mich in Saint-Malo erwartet – nicht nur für eine Woche oder einen Monat, sondern für mein gesamtes letztes Schuljahr. An meinem Gymnasium habe ich schon seit der Siebten Fächer auf Französisch, die mich aufs deutsch-französische AbiBac vorbereiten. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn die Postkartenkulisse zum Alltag wird und der Geruch von Algen und Sand jeden Morgen auf dem Weg zur Schule in meine Nase dringt. Dreihundertfünfundsechzig Tage an einem französischen Küstenort sind mit Sicherheit doppelt so schnell gezählt wie daheim in Nordrheinwestfalen.

Dass ich für Sprachen, Philo, Päda, Psychologie und so brenne und in Naturwissenschaften nur mit Ach und Krach auf meine Dreien komme, findet mein Vater als Vollblut-Mediziner irritierend. Zudem gefährdet das seine Vorstellung, dass auch ich Arzt werde und meinen Platz in seiner Herren-Hierarchie einnehme, in seinem Kittel-Klüngel. Richtig ins Gesicht hat er mir das noch nie gesagt. Er arbeitet da lieber mit: Mimik (enttäuschte Miene), Andeutungen (»Die jungen Sensibelchen studieren hippe Fächer, die keiner gebrauchen kann, und schaffen künstliche Probleme, weil sie keine echten haben«), Vergleichen (»Hör mal, der Sascha aus deiner Stufe, der will Jura studieren, haben seine Eltern erzählt, ist ja klasse!«) – und mein absoluter Favorit: pseudo-resignierte 180-Grad-Wendungen (»Wisst ihr was: Soll jeder machen, was er will, meinetwegen auch Straßenkünstler in Paris werden«).

Bedauerlicherweise hat Daniele sich neulich von ihm vor den Karren spannen lassen und mir nach einer gemeinsamen Runde Sport ein paar getackerte Dokumente in den Rucksack gesteckt. »Lag in der Klinik herum«, sagte er beiläufig. »Berufsorientierung und so, das ist doch gerade Thema bei euch in der Schule.«

Daheim musste ich feststellen, dass es sich um Infos rund um den Eignungstest an einer Privatuni handelte, für die Eltern ein halbes Vermögen zahlen, damit auch Nachfahren ohne Eins-Komma-null-Schnitt zum Star in Weiß aufsteigen können. Wie es aussah, hatte er Daniele damit beauftragt, mir ein Leben zwischen Krankenhausgeruch, Blut und Schläuchen schmackhaft zu machen.

Ich sprang auf mein Rad, fuhr durch die halbe Stadt und klingelte bei meinem Bruder, der frisch geduscht in Jogger und T-Shirt die Tür öffnete. »Milly, alles okay?«

Ich trat in seine geräumige Wohnung und schlug die Tür hinter mir zu. »Du bist ein Verräter.«

Die Schuld stand ihm binnen Sekunden ins Gesicht geschrieben. »Kriegt Papa etwa Panik, weil ich mir von ihm nicht reinquatschen zu lassen? Weil ich mich am Lycée Laplace beworben habe, statt für das Ferienpraktikum an seiner Klinik?«

Aus Schuld wurde Scham. Ja, mein Bruder schämte sich und das war etwas, das ich mit meinen achtzehn Jahren vielleicht ein- oder zweimal live mitbekommen hatte. Aber ich war noch zu enttäuscht, um mich davon besänftigen zu lassen. »Dass du Papa nichts ausschlagen kannst – nicht einmal dann, wenn du mich damit verletzt –, ist so verdammt schwach.«

Er fasste sich ins nasse Haar, blickte schweigend zur Seite.

»Gönnst du es mir nicht, dass ich meinen eigenen Weg gehe? Nur weil deiner darin besteht, seine Fußspuren vom Boden abzulesen und ihnen hinterherzukriechen?« Okay, das ging unter die Gürtellinie. Zeit, wieder klarzukommen.

»Es waren doch nur ein paar Blätter«, sagte Daniele leise.

»Für mich sind das nicht nur Blätter, sondern Bomben, die Papa auf meine Pläne und meine Person abwirft.« Und dann etwas ruhiger: »Hilf ihm doch nicht dabei. Sonst jagt er irgendwann noch unsere Beziehung in die Luft. Auch, wenn das gar nicht sein Ziel war.«

Daniele drehte mir wieder das Gesicht zu. Seine Miene war wie versteinert, nur seine Augen waren etwas feucht und gerötet wie nach dem Schwimmen oder Zwiebelschneiden. »Sorry, Milly, ich bin ein Arsch.«

Ich ließ mich auf seine Couch fallen. »Ist gut. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das erste Semester Medizin überlebe. Muss man da nicht Redoxreaktionen, Genetik, Schaltkreise und so können? Einen Kurzschluss hätte ich zu bieten, viel mehr auch nicht.«

Er setzte sich neben mich, zückte sein Handy und öffnete eine Lieferdienst-App. »Willst du was essen?«

»Klar.«

»Cool.«

»Versprichst du mir, dass du mir nie wieder in den Rücken fällst?«, fragte ich, während appetitliche Pizza-Bilder auf seinem Bildschirm erschienen. Daniele packte mein Handgelenk, ohne mich anzusehen. »Ich verspreche es bei allem, was ich habe.«

Und ich glaubte ihm.

***

Mein Bruder stellt das Auto auf dem Bahnhofsvorplatz ab. Er hat angeboten, mich bis an die deutsch-französische Grenze zu fahren, damit wir noch ein wenig Zeit zu zweit haben. Es ist abgemacht, dass wir uns erst an Weihnachten wiedersehen.

Daniele steigt aus und läuft um das Auto herum. Ich folge ihm und lade mein Gepäck aus dem Kofferraum.

»Alles klar.« Er versucht zu lächeln, aber der Abschied lastet schwer auf seinen Mundwinkeln. »Das werden miese Joggingrunden ohne dich, Milly.«

Er legt mir eine Hand auf die Schulter, fährt mit der anderen seitlich durch mein Haar und berührt kurz mein Gesicht. »Ich finde es toll, dass du das machst. Viel Erfolg, kleiner Bruder.«

Ich gehe einen Schritt vor, drücke ihn kräftig und weiche zurück, als er mich gerade richtig in die Arme schließen will. Ein finales »Tschüss« verkneife ich mir, da ich nicht weiß, wie gefestigt meine Stimme sein würde. Dass mein Bruder mir bei diesem großen Schritt die Anerkennung schenkt, die mein Vater mir konsequent verweigert, erfüllt mich mit einer Dankbarkeit, die mich tiefer berührt als ich gedacht hätte.

Eine Viertelstunde später sitze ich schon im ICE in Richtung Paris, wo ich einen Zwischenstopp auf dem Weg nach Saint-Malo einlege.

»Hat alles gut geklappt«, schreibe ich meiner Mutter, die selbst als Französischlehrerin arbeitet und mich mehr oder weniger heimlich unterstützt hat: mit der Bürokratie, der Anerkennung meiner Leistungen, dem Aufnahmegespräch. Da ein Wechsel im letzten Schuljahr deutlich komplizierter ist als davor, bin ich ihr verdammt dankbar für ihre Hilfe. Meine Mama und Daniele haben die Gemeinsamkeit, dass sie beide hinter mir stehen wollen, ohne sich Papa dabei in den Weg zu stellen. Sie haben quasi den berüchtigten Platz zwischen den Stühlen. Und auch, wenn die Verführung groß ist, mich deshalb schuldig zu fühlen, weiß ich tief im Inneren, dass ich keine Verantwortung für ihre unbequeme Lage trage. Ich muss meinen Kopf nicht hinhalten, um das in Ordnung zu bringen. Freikriegen muss ich ihn, und bald auch mit Abizeug befüllen. Und manchmal auch abschalten, um Spaß zu haben – abends, an den Wochenenden, in den Ferien.

C’est tout.

KAPITEL 3

Clara

»Alles gut bei dir? Warte sehnsüchtig auf dein nächstes Video.«

»Und wo machst du Urlaub?«

»Steht dein Auftritt beim Festival Fauré noch?«

»Kannst du vielleicht mal erzählen, wie genau die Aufnahmeprüfungen an der Musikhochschule abgelaufen sind? Ich überlege nämlich auch, mich zu bewerben. Wäre super hilfreich, danke!«

Knapp zweihundert Kommentare stehen unter meinem letzten Insta-Beitrag mit Standort Paris: eine dreiteilige Fotoserie vor der Musikhochschule, bei Sonnenschein und blauem Himmel. Ich trage ein kurzes, schwarzes Kleid, dunkelroten Lippenstift, Sonnenbrille, Sneakers. Auf dem einen Foto stehe ich allein mit feierlich ausgestreckten Armen, auf dem nächsten mit Roman an meiner Seite, der im Hauptfach Geige studiert. Auf dem dritten sieht man das alte Backsteingebäude, in dem im Grunde nur die Leute von der Verwaltung sitzen. Zum Fotografieren ist es trotzdem besser geeignet als der Neubau mit den modernen Konzert- und Hörsälen. Die Bildunterschrift: »Alle Prüfungen durch! Semesterferien!«

Rund dreitausend Likes.

Ich beneide die Person in dem fünf Wochen alten Beitrag. Sie sieht glücklich und befreit aus. Wie eine Clara aus einem Paralleluniversum, das mit meinem aktuellen Leben wenig gemeinsam hat.

Ich habe zwar keine Erfahrungen mit Antidepressiva, kann mir aber nicht vorstellen, dass die Pillen besser funktionieren als das Zeug, das mein Körper unmittelbar nach der Prüfungsphase ausgeschüttet hat: Meine Beine waren so leicht, dass ich bei der Semesterabschlussparty problemlos die Nacht durchtanzen konnte. In Stöckelschuhen und – wie ich morgens feststellen musste – mit zwei blutigen Blasen. Zudem fühlte sich mein Kopf so frei an, als hätte jemand alle nervigen Gedanken einfach ausgemistet und als »mentaler Müll« zur Abholung rausgeworfen. Gedanken darüber, ob ich bis zum Bachelorabschluss mein Niveau halten kann und mein Stipendium behalte. Ob ich am schwarzen Brett alle Wettbewerbsaushänge abfotografiert habe. Ob ich meinen Insta-Account löschen sollte, um mir in der traditionellen Klassikszene nichts zu verbauen.

Tagelang fühlte ich mich weder taub noch angespannt. Weder traurig noch wütend. Weder kraftlos noch sorgenvoll. Schlief weder zu viel noch zu wenig. Ich hatte sogar Bock auf Small Talk. Auf einen Big Mac. Habe freiwillig ein feuchtfröhliches Stück in C-Dur gespielt, irgendwas Spritziges von Mozart.

Aber die positiven Gefühle ließen nach und die Probleme kehrten zurück. Und sie fühlten sich doppelt so schwer an wie davor. Das regte mich schon wieder ordentlich auf, dass man für alles irgendwie bezahlen musste und es nichts umsonst gab. Nicht mal ein gottverdammtes Hoch nach den Prüfungen.

Eine Durchsage tönt durch die Zuglautsprecher: Noch zehn Minuten bis zu meinem Zielbahnhof in Paris. Ich ziehe meine Jacke zu. Draußen sind es knapp dreißig Grad, aber hier im Zug ist es so kühl, als wolle er keine Passagiere, sondern Leichname transportieren.

Dann schließe ich Insta und öffne den Chat der Lonely-Hearts-Club-Gruppe, die von den Teilnehmern meiner Gesprächsgruppe erstellt wurde. Sie wollen sich einmal im Monat treffen, um auch nach der Klinikzeit in Kontakt zu bleiben. Eigentlich eine nette Idee.

CLARA

Hey zusammen. Wie ihr mitbekommen habt, war ich heute nicht bei der Gesprächsgruppe. Ich habe meine Therapie vorzeitig beendet. Mir geht es gut, bitte macht euch keine Sorgen. Danke für euren Support, es war schön, euch alle kennenzulernen. Wir halten Kontakt

Im Anschluss öffne ich den Chat mit meiner Mutter. Das Letzte, was sie mir geschickt hat, war eine Klavieraufnahme von der Ocean-Etüde von Chopin.

MAMA

Was hältst du davon, die Etüde beim Weihnachtsfest in der Museumshalle zu spielen? Ich übernehme wieder die Orga, zusammen mit dem Team des Bürgermeisters.

CLARA

Das schaffe ich neben dem Uniprogramm für das kommende Semester leider nicht.

MAMA

Und was, wenn du die Etüde in das Uniprogramm einbaust? Du könntest sie in dein Solorepertoire aufnehmen und mit deinem Prof im Einzelunterricht durchgehen.

CLARA

Theoretisch ginge das, aber wir hatten uns für dieses Semester schon auf die Revolutionsetüde geeinigt. Sie handelt von Chopins Trauer und Wut über die damalige politische Lage in Polen. In der Zeit war er in Wien und Paris. Darüber könnte ich beim Weihnachtskonzert doch ein paar Takte erzählen.

MAMA

Hm, das ist natürlich eine interessante Geschichte, aber ich finde, die Ocean passt bildlich besser zu Saint-Malo. Wir könnten im Hintergrund ein Video vom Meeresspiel bei Ebbe und Flut laufen lassen, es kommen einige Gäste aus dem Landesinneren.

CLARA

Ich melde mich später.

Ich schiebe unseren Chat ins Archiv – und meine unangenehmen Gefühle am besten gleich hinterher, damit ich sie gar nicht erst richtig lesen und verstehen muss.

***

Den Weg durch den Pariser Bahnhof laufe ich, ohne nach rechts oder links oder jemandem ins Gesicht zu blicken. Dennoch fange ich versehentlich das Lächeln eines Kerls ein, um das ich nicht gebeten habe, und erwidere es, bevor ich den höflichen Automatismus stoppen kann. Ich denke wieder an die Clara vom letzten Insta-Beitrag. An ihr Lächeln, das ein Leben hatte.

Draußen steuere ich die Fahrräder an der Bikestation an und entsperre eins per App.

»Pardon«, sagt eine männliche Stimme. »Ich suche ein Café, das möglichst bahnhofsnah ist. Kannst du mir da weiterhelfen?«

Sehe ich aus wie ein City-Guide? Eine Bistro-Bloggerin? Jemand in Plauderstimmung? Ich hebe den Kopf. Ein großer, junger Kerl steht vor mir. Aschblondes Haar, Augenfarbe unklar, irgendein helles Gemisch, das von Grau durchzogen ist, dazu ein Reisekoffer. Er hält ein Handy in der Hand, auf dem Google Maps geöffnet ist, und sieht mich hilfesuchend an. Ich denke unwillkürlich über seine Frage nach und bin überrascht, dass mir keine Antwort einfällt. Dabei müsste ich mindestens zwei oder drei naheliegende Cafés beim Namen kennen.

»Sorry«, sage ich schulterzuckend.

Er winkt ab. »Pas de problème.«

Ja, für dich vielleicht nicht. Für mich ist es schon ein problème, wenn mein Gehirn den Geist aufgibt.

»Ich wollte nur die Umsteigezeit überbrücken.«

Ich ziehe wortlos meine Jacke aus und stopfe sie in den vorderen Fahrradkorb. Der Typ mustert die tätowierte Notenzeile auf meinem Arm.

»Wohin geht es denn?«, frage ich, als ich auf das Rad steige und mir die Kopfhörer in die Ohren stecke.

Er lächelt vorfreudig. »Ans Meer.«

»Gute Wahl.«

Ich trete in die Pedale. Die Sonne knallt mir ins Gesicht, aber der Fahrtwind mildert die Hitze.

Das müsste sich schön anfühlen.

Ich versuche mir vorzustellen, dass es sich schön anfühlt.

Ich wünsche mir, dass es sich schön anfühlt.

Aber es ist vor allem sehr hell und sehr laut und sehr warm. Ich zücke mein Handy und schalte die Ocean-Etüde von Chopin an. Von hinten drängeln immer mehr Radfahrer, obwohl ich gar nicht zu langsam bin. Sie rauschen links und rechts an mir vorbei, während der verstorbene Piano-Gott Pollini mir vorspielt, welche technische Arbeit demnächst auf mich zukommen könnte. Ich beschleunige mein Tempo. Wenn ich mit meinem Abgang schon die Ärztin enttäuscht habe und meine Mutter meint, ich hätte die falsche Etüde gewählt, dann kann ich es doch zumindest den Radfahrern recht machen. Die nächste Ampel springt gerade auf Rot, dennoch gebe ich ordentlich Gas. Wenn ich das will, dann kann alles ganz schnell gehen.

Es ist meine Entscheidung.

Gehupe. Gebrüll. Noch mehr Gehupe. Noch mehr Gebrüll. Einer der Drängler bremst hinter mir ab. Jetzt hat er es plötzlich nicht mehr so eilig. Mein Herz schlägt mir bis in die Kehle und ich fühle wieder diese körpereigene Droge, nur dass sie diesmal etwas anders ist als nach Semesterende. Als wäre sie gestreckt und aus billigem Stoff.

Alles rast in mir. Alles fliegt davon.

Der Radfahrer kommt näher. »Ça va?«

Ich bin abgestiegen, ohne richtig zu merken, wann und wie, bin ein paar Schritte zurückgegangen und stehe wieder halb auf dem Bürgersteig.

»Nein«, hauche ich. Er schaut besorgt. Das berührt mich. Ich will ihn fragen, ob er mich umarmen kann, will aber kein Freak sein. Stattdessen sage ich »Merci« und fahre weiter, die Ampel ist mittlerweile auf Grün umgeschlagen.

Schon wieder Gehupe. Diesmal kein warnendes. Kein mahnendes.

Diesmal schimpfen die Hupen.

***

Daheim stelle ich mich unter die Dusche, wasche mir mit heißem Wasser und einem intensiven Peeling die Klinik, die Zugfahrt und das Fahrraddrama vom Körper. Dabei fällt einiges von mir ab, Erleichterung und Erschöpfung machen sich in meinen Knochen breit. Dann lege ich mich in Leggins und Top auf die Couch in meiner Einzimmeraltbauwohnung und schalte auf Netflix eine Serie mit etlichen Staffeln an, die ich anfangs mal aufmerksam verfolgt habe. Irgendwann begann ich, die Folgen als Einschlaf-Begleitung zu nutzen. Mittlerweile lasse ich sie nur noch stumm im Hintergrund laufen, weil die vertrauten Gesichter und Orte dabei helfen, sich weniger einsam zu fühlen. Was genau die Figuren miteinander bequatschen, brauche ich gar nicht zu wissen.

Eine E-Mail von Dr. Morel ploppt auf meinem Handybildschirm auf. Ein Hausarzt kurz vor der Rente, der mich nach meinem Umzug von Saint-Malo nach Paris als Patientin aufgenommen hat.

Liebe Clara,

ich erhielt heute von Frau Dr. Dupont die Mitteilung, dass Sie sich gegen ärztlichen Rat aus der Klinik entlassen haben. Das ist sehr schade. Ich war mir sicher, die ländliche Umgebung, die Tagesstruktur und die Gesellschaft von Mitpatienten mit ähnlichen Problemen würden Ihnen guttun. Wie Sie wissen, sind die Wartezeiten für offene Stationen mit Sport-, Musik- und Kunstprogrammen nicht gerade kurz, weshalb hier ein besonderer Dank an meine geschätzte Kollegin und Schwägerin Fr. Dr. Dupont gilt, die Ihre spontane Aufnahme ermöglicht hat. Falls Sie noch keinen Psychiater oder Psychologen kontaktiert haben, können Sie sich weiterhin für Krisengespräche in meiner Praxis melden. Kopf hoch!

Herzlich Dr. med. K. Morel

Ich muss mich bei ihm entschuldigen. Er hat sich für mich starkgemacht und soll bloß nicht denken, ich wäre undankbar oder unzuverlässig.

Aber das kläre ich lieber später, gerade bin ich nicht in der richtigen Verfassung, um einen überzeugenden Text zu formulieren, der knackig auf den Punkt ist.

Ich schließe die E-Mail-App und öffne den Chat mit meinem Kommilitonen und Kumpel Roman. Seit er die südkoreanische Studentin aus dem Austauschprogramm datet, ist er für Verabredungen außerhalb der Uni kaum noch zu haben. Es fing damit an, dass er plötzlich nur noch ein bis zwei Stunden Zeit hatte, wenn ich etwas mit ihm unternehmen wollte. Dann antwortete er auf Vorschläge für Treffen mit zunehmender Verzögerung, manchmal auch gar nicht und lenkte ein paar Tage später mit einem Musikvideo von meiner Frage ab. Als ich ihn kurz nach Semesterende per Facetime anrief und etwas am Thema vorbei fragte, ob seine neue Freundin ein Problem mit anderen Frauen habe, antwortete er etwas angespannt: »Nicht mit anderen Frauen. Nur mit unseren Treffen zu zweit. Sie kennt das nicht so eng zwischen Jungs und Mädels. Dass wir zusammen auf deinem Insta-Account zu sehen sind, hat sie auch irritiert.«

»Glaubt sie, ich stehe auf dich?«, fragte ich mit einem giftigen Lacher.

»Was ist daran so witzig?« Er schien ein wenig verletzt. »Sie sagt, dass man die romantischen Gefühle durch ständiges Zusammenhängen ja nicht provozieren muss.«

»Ständiges Zusammenhängen? So nennt ihr unsere Freundschaft also, wenn ihr zu zweit mit euren rot getönten Sechziger-Sonnenbrillen in eurem albernen Pärchenlook über den Campus walkt? Du weißt schon, dass du dabei aussiehst, als würdest du nicht nur unter dem Pantoffel stehen, sondern ihren Pantoffel ablecken?«

Ihm fiel alles aus dem Gesicht, und das war eine Menge: sein freundlicher Blick, sein höfliches Lächeln, der glamouröse Geiger-Glow.

Ein paar Wochen später hat er mich tatsächlich mit »Hallo, hier ist der Pantoffel-Feinschmecker« angeschrieben, was ich ihm hoch anrechnete. Wir kamen ins Chatten, aber ich verlor kein Wort darüber, dass ich zu diesem Zeitpunkt in einer Psycho-Klinik war. Zu groß war meine Sorge, er könnte es seiner Freundin stecken, die meine Probleme dann als Basis für ihre künftige Contra-Clara-Kampagne nutzt (»Sie ist instabil« / »Sie nutzt dich aus« / »Sie gönnt dir unser Beziehungsglück nicht, weil sie selbst keins hat«).

Ich schreibe Roman.

CLARA

Hey, na? Wie geht es dir? Was treibst du später noch? Bisous

Er antwortet kurze Zeit später: Ein Selfie mit seiner Freundin, darunter die Bildunterschrift

ROMAN

Sind in Seoul. Bin in zwei Wochen zurück. Dann Mittagssnack im QL?

Mittagssnack im Quartier Latin. Bedeutet übersetzt: vierzig Minuten mit einer Falafeltasche durch das volle Studentenviertel spazieren. So eine Verabredung, die er zur größten Not auch als Zufallsbegegnung verkaufen könnte.

Ich like seine Nachricht.

Kontaktende.

Schon seltsam. Obwohl ich im Grunde nichts anderes erwartet hatte, trifft mich sein unengagierter Vorschlag. Auch das Erwartbare kann wehtun.

Mein Blick fällt auf mein elektronisches Musikequipment, das auf dem Schreibtisch liegt: Das Keyboard mit seinen Beat Pads, daneben mein Macbook, das ich gebraucht auf dem Studi-Elektromarkt ergattert habe. Ich sollte endlich wieder ein neues Musikvideo posten. Vor der Klinikaufnahme habe ich an einem Trance-Remix von Beethovens Sinfonie Nr. 7 (2. Satz) gearbeitet. Die Audiospuren sind bereits mit diversen Samples bespielt. Über die Kopfhörer klingt der Remix noch etwas basslastig und die Übergänge könnten glatter sein. Das Stück ist etwas ganz Besonderes. Es wurde zum ersten Mal im Jahr 1813 aufgeführt: ein Benefizkonzert für die verwundeten Soldaten, die im Befreiungskrieg gegen die Herrschaft unseres guten, alten Napoleons gekämpft haben. Die melancholische Melodie ist weltberühmt. Einerseits ist das ideal für den Remix. Andererseits besteht das Risiko, es so richtig zu versauen und sich zum Gespött der Community zu machen. Mein Vorhaben, Beethoven in modernem Licht zu präsentieren, könnte damit enden, dass ich lediglich Napoleon heraufbeschwöre, der in die Schlacht gegen meine musikalische Existenz zieht.

Um das durchzuziehen, muss ich also richtig gut oder richtig irre sein. Irre gut wäre natürlich der Idealfall.

Mein Bruder ruft an. Videocall.

Ich setze mich auf, bringe meine Haare schnell in Form.

»Hey«, sage ich beim Abheben. »Na?«

»Salut, Clara. Wie geht es dir?«

Er sitzt im Leinenhemd auf der Terrasse, mit Kurzsichtbrille auf der Nase, die braunen Haare zur Seite gegelt.

»Es ist so dunkel bei dir«, sagt er, ohne zu erkennen, dass ich in meiner Wohnung auf dem Bett sitze, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. »Bist du gerade in der Klinik? Wie läuft es dort?«

Léons helle Augen leuchten einen an, ganz gleich, wie spät es ist, wie das Licht gerade fällt und in welcher Stimmung er sich befindet. Er könnte hundemüde und verkatert zu einem Bewerbungsgespräch torkeln – die Augen würden ihm schon irgendwie den Weg freileuchten.

»Ich bin bei mir in Paris«, gestehe ich.

Er steht auf und setzt sich um, vermutlich damit die Sonne ihn weniger blendet. »Ich dachte, dein Hausarzt hat dir einen Platz in dieser Top-Klinik organisiert?« Sein Ton klingt ernster.

»Hat er auch, aber das war nicht der richtige Ort für mich. Darum habe ich mich selbst entlassen.«

Er wirkt betroffen, müht sich dabei aber ein Lächeln ab. Léon weiß, dass er mir in solchen Fällen nicht reinreden sollte. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob mein Alleingang sich als Top oder Flop erweist.

»Der Austauschschüler kommt später an«, lenkt er vom Thema ab. »Mama hat deine restlichen Sachen aus dem Zimmer geräumt und in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut. Dann kann er sich da breitmachen.«

Die Vorstellung, dass sie mein Zimmer, das daheim auch mein Musikraum ist, einfach umfunktioniert hat, legt sich wie ein schwerer Stein auf meine Brust.

»Und warum kommt er nicht ins Gästezimmer?«

Er zuckt mit den Schultern. »Sie sagt, das sei zu winzig und dass deins eh die meiste Zeit leer steht.«

»Aha.«

»Clara, du weißt doch, wie sie ist. Einerseits will sie, dass du in Paris erfolgreich dein Ding durchziehst. Andererseits kommt sie nicht ganz drauf klar, dass du nicht mehr bei uns bist.«

»Und deshalb muss sie den Austauschschüler bei mir reinsetzen, ohne das mit mir abzusprechen?«

»Ich glaube, sie freut sich einfach, dass bald wieder Leben in die Bude kommt.«

Er mag recht haben. Dennoch kann sie mein restliches Zeug nicht einfach auf den Dachboden verbannen, einschließlich der Erinnerungsstücke aus einer Zeit, in der wir noch eine richtige Familie waren – Mama, Papa, Léon und ich.

»Ist der Typ in deinem Jahrgang?«, frage ich und versuche, meinen Unmut zu unterdrücken.

»Ja, wir machen zusammen das AbiBac. Und da kommen wir auch schon zum nächsten Punkt.«

»Ja?«

»Ich habe vor, noch mal eine Party zu schmeißen, bevor das letzte Schuljahr losgeht. Und jetzt, da du doch nicht für zwei Monate in der Klinik bleibst …«

»Deine frisch aus der Psychiatrie entflohene Schwester soll Häppchen zubereiten und das Haus dekorieren, aus dem sie für einen Wildfremden aus Deutschland restlos eliminiert wurde?«

Irgendwie kann ich es doch nicht lassen.

Léon zieht seine Brille ab und nähert sein Gesicht der Kamera. »Die Party ist erst für das letzte Ferienwochenende geplant, ist also noch etwas hin. Und nein, um Essen und Deko kümmere ich mich schon. Aber du könntest doch für ein Stündchen deine Musik auflegen.« Seine Euphorie wächst. »Ich filme dich auch, dann hast du gleich ein paar Storys zum Hochladen.«

»Du willst mich mit Insta-Content bestechen?«

»Und mit der Liebe und Bewunderung eines kleinen Bruders.«

Ich muss schlucken. Léon ist zwar auf dem Papier über zwei Jahre jünger, wurde aber schon häufiger für den Älteren von uns gehalten. Er ist ein gutes Stück größer, hat eine tiefe, ruhige Stimme und die Ausstrahlung eines selbstzufriedenen Typs, der zu lässig für einen Nerd, zu besonnen für einen Draufgänger und zu attraktiv für den Nice Guy von nebenan ist. Am liebsten trägt er lang- oder kurzärmlige Leinenhemden in wechselnden Pastellfarben, dazu Stoff- oder Jeanshosen.

»Ich vermisse dich«, rutscht es mir heraus.

Sein Gesicht entfernt sich reflexartig von der Kamera.

»Bist du betrunken?«, fragt er mit einem überraschten Lächeln.

»Nein, nur ehrlich.« Tränen steigen mir in die Augen. Ich versuche, unauffällig den Kopf in den Nacken zu legen, damit sie wieder zurückfließen, wo auch immer sie hergekommen sind.

»Hey, Clara.« Seine Stimme wird sanfter. »Komm doch schon früher, wenn du in Paris nicht so viel zu tun hast.« Besorgter. »Du musst für die Party natürlich nichts machen, war nur so eine dumme Idee.«

»Ich kümmere mich gern um die Musik.« Ich höre mich die Worte sagen, ohne sie zu fühlen. Als würde die Verbindung zwischen mir, meiner Stimme und dem Gesagten fehlen.

»Nein«, widerspricht Léon. Und jeder Buchstabe in diesem Nein tut mir weh. Der erste, weil er seinen Wunsch zurückzieht, obwohl er mich ohnehin viel zu selten um etwas bittet. Der zweite, weil er glaubt, ich könne nicht selbst entscheiden, ob ich das packe oder nicht. Der dritte, weil der Fokus von der Party auf mich gerückt ist, was nicht im Geringsten meine Absicht war. Und der vierte, weil ich spüre, dass er mich nicht halb so sehr braucht wie ich ihn.

»Vor Ferienende schaffe ich es nicht«, sage ich, »aber die Party verpasse ich nicht. Und auflegen werde ich auch.«

Er stößt einen ratlosen Seufzer. »Na gut. Aber höchstens eine Stunde.«

»Alles klar, au revoir.«

»Clara.«

»Ja?«

»Ich vermisse dich auch.«

KAPITEL 4

Milly

Mein Gastbruder schickt mir einen Standort.

LÉON

Ich stehe auf einem leeren Parkplatz, rund zwei Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Die Anita-Conti-Straße runter und dann nach rechts. Geh mir auf den paar Metern bloß nicht verloren.

MILLY

Verticken Sie Drogen?

Ich kenne Léon bereits durch unsere Chats und Anrufe. Vor ein paar Wochen schickte er mir eine E-Mail, in der er sich als mein Gastbruder vorstellte. Wir tauschten Nummern, schrieben eine Weile hin und her und telefonierten zweimal. Er war so nett, mir ein paar Fragen zur Schule zu beantworten und mir einen virtuellen Rundgang durch das Haus und mein Gastzimmer zu geben.

Als ich das Ankunftsgleis verlasse und der Adresse auf meinem Handy folge, nehme ich ein leises Wellenrauschen wahr, das sich mit den entfernten Geräuschen der Stadt vermischt. Ein Kerl mit braunen Haaren, getönten Brillengläsern und einem kurzärmligen Hemd sitzt in einem Auto mit offenem Verdeck, das für seine Aufmachung definitiv zu schrottig aussieht. Léon hebt die Hand und winkt mir zu.

»Der Kofferraum ist offen.«

Ich lade mein Gepäck ein, setze mich auf den Beifahrersitz und fühle mich dabei, als würde ich nicht nur in das Auto, sondern in ein neues Leben steigen.

»Bonjour, Émilien.«

»Emilian.«

»Du bist jetzt in Frankreich, also Émilien.«

Ich nicke leicht irritiert und lasse die Namensänderung unkommentiert. Er tritt die Kupplung und legt den Rückwärtsgang ein.

»Genau so stelle ich mir irgendwie Franzosen vor, die am Meer wohnen«, meine ich und mustere ihn noch mal genauer.

»So wie mich?«

»Ja.«

»Sagte der deutsche Junge mit dem weißen T-Shirt und dem graublonden Haar.«

»Wir sagen dazu straßenköterblond.«

»Straßenköter? Also quasi hundeblond?«

»Ja.«

Er setzt ein amüsiertes »Ah ja«-Gesicht auf, schaltet das Radio lauter und fährt los. Der Fahrtwind mischt sich mit der kühlen Küstenbrise.

»Willst du dir die Altstadt ansehen?«, fragt Léon. »Und gleich einen Happen essen?«

»Gern, nach einer kalten Dusche.«

»Gut.«

Wenige Minuten später parkt er auf einer Straße, die parallel zur Strandpromenade verläuft, und öffnet das Handschuhfach. »Leg deine Wertsachen rein.«

Während ich, ohne zu fragen, Handy und Portemonnaie rauskrame, schnappt er sich seinen Rucksack von der Rückbank. Wir steigen aus, er zückt den Autoschlüssel, verriegelt die Klapperkiste mit einer lässigen Handbewegung und klemmt sich die Sonnenbrille hinter die Ohren. Zum ersten Mal kann ich ihm in die Augen blicken, und sie sehen aus, als hätte der liebe Gott sich bei ihrer Farbe von einer seiner früheren Kreationen inspirieren lassen: dem Smaragdmeer, auf das wir uns schnellen Schrittes zubewegen. Ich schaue mit steigender Vorfreude auf das türkisfarbene Wasser, in dem sich vereinzelte Schaumkronen kräuseln. Es leuchtet im intensiven Kontrast zum milderen Blau des Himmels. Der Horizont erscheint wie eine klar gezeichnete Linie auf einer Leinwand, die ein Bild festhält, das Fernweh in mir weckt – nur um es gleich darauf zu stillen.

Es ist wunderschön hier.

»Oh, sorry, ich will dich nicht hetzen!« Léon geht etwas langsamer, als er bemerkt, dass ich alles in Ruhe auf mich wirken lasse. »Clara beklagt sich auch immer über meinen Turboschritt.«

»Passt schon. Clara ist deine Schwester, richtig?«

»Ab jetzt auch deine Gastschwester.« Wir biegen rechts runter zum hellen, weiten Sandstrand.