Lord Byron - Der Roman einer leidenschaftlichen Jugend - Alfred Schirokauer - E-Book

Lord Byron - Der Roman einer leidenschaftlichen Jugend E-Book

Alfred Schirokauer

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Beschreibung

Dieses eBook: Lord Byron - Der Roman einer leidenschaftlichen Jugend" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Selten hat ein Dichter so heftigen und breiten Einfluss ausgeübt wie Lord Byron. Der englische Adlige wurde Anfang 19. Jahrhundert verehrt, verachtet - und auf allen Ebenen nachgeahmt. Von Byron stammt der Ausspruch: "Ich erwachte eines Morgens und fand mich berühmt." Im März 1812 erschien Childe Harold's Pilgrimage, mit dem sein literarischer und gesellschaftlicher Ruhm begann. Er wurde dem damaligen Prinzregenten George vorgestellt und hatte Aussicht, Poet Laureate zu werden. Die Aussicht auf diese Ehre versetzte ihn bei seiner freiheitlichen Denkart in Schrecken, und er äußerte zu Lord Holland: "Bedenken Sie! Das Geld, den Wein und - die Schande!" Seine Gegner sahen darin eine Lästerung des Vaterlands, welches sie ihm von nun an zur Hölle machten, so dass er England schließlich für immer verließ.

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Alfred Schirokauer

Lord Byron - Der Roman einer leidenschaftlichen Jugend

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-0577-9

Inhaltsverzeichnis

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.

Lord Byron

I.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Vor dem Laden des angesehenen Kupferstechers Ackermann am Strand zu London wogte eine hitzig erregte Menge. Wie ein Lauffeuer hatte sich durch die Straßen der City die verdutzende Kunde verbreitet, daß in Ackermanns Laden ein »Licht ohne Docht« brenne. Von allen Seiten strömten sie herbei, dieses Unglaubliche zu schauen: würdige Geschäftsleute von der London Bridge, flanierende Dandies aus Bondstreet, das lichtscheue Gesindel von St. Giles.

Sie standen, starrten und staunten. By Joe, es war wahr! Da brannte das »Licht ohne Docht«, zwei Lichter sogar, nein, drei. An der Decke des Schaufensters lief eine dicke runde Eisenröhre, von der wieder drei runde Eisenröhren rechtwinklig nach unten hingen. An jedes dieser senkrechten Rohre stieß ein eiserner Querstab mit einem Mundstück, wie bei einer Pfeife. Und aus diesem Trio von Metallipppen atmete prustend eine helle gelbblaue Flamme, die sich nach oben zu ausbreitete wie Schmetterlingsflügel. By Joe, da brannten die »Lichter ohne Docht«!

Allmählich wich die erste wortlose Verblüffung, und die Kritik setzte ein.

»Es ist Teufelswerk«, rief ein schlampiges Höckerweib von Farrington Market und prägte damit das erlösende Wort.

»Jawohl,« echote alles ringsum mit gruseligem Erschauern, »Teufelswerk, das ist es«.

»Eine Gemeinheit ist es«, fluchte ein fetter Ölhändler, »wenn das Zeug da einreißt, bin ich ruiniert.«

»Ich auch«, jammerte ein kleiner geleckter Mann, »mein ganzes Vermögen steckt in der Grönländischen Walfischerei.«

»Jack!« rief ein Riesenkerl mit wüster Totschlägervisage und stieß seinem Nebenmann die Ellenbogen freundlich in die Weichteile, »was sagst du dazu?« Er deutete mit dem Kinn nach dem surrenden Lichte hinüber, »he?«

»Wir können einpacken, wenn sie anfangen, mit dem Zeugs die Straßen zu illuminieren«, brummte der, »dann adieu, liebes Handwerk der Dunkelheit.«

In aller Munde knurrte jetzt die Gewißheit, daß es »verdammtes Teufelswerk« war.

»Nicht doch«, suchte ein schmalbrüstiger Herr mit Perücke und unförmlicher Hornbrille seine Nachbarn zu beruhigen, »es ist das neue Licht, das Gas, das der Schotte Murdoch erfunden hat.«

»Halt dein Maul«, drohte der feiste Ölhändler, »Teufelswerk ist es, sag’ ich.«

»Aber nein, ereiferte sich der Gelehrte, »es ist eine herrliche –«

Da trat der Totschläger dicht an ihn heran.

»Stille bist, du verfluchte Perücke!«

»Nein«, erwiderte mutig der kleine Herr, »mein Amt ist zu belehren. Es ist eine herrliche –«

»Hau ihm eins aufs Dach«, schlug der Genosse des Mordgesellen gelassen vor, »dann wird seine Mühle still stehen.«

Unheildrohend ballte sich ein Greis um den braven Gelehrten.

»Wagen Sie noch einmal zu sagen, daß es etwas Gutes ist?« fragte jetzt der Verbrechertypus. Es war ein Ultimatum.

»Ja,« entgegnete unerschrocken der Engbrüstige.

Der Totschläger hob die erfahrene Faust.

Da stand plötzlich ein junger Mensch an der Seite des Gelehrten, große wilde braune Augen funkelten dem ungeschlachten Kerl entgegen.

»Wagen Sie es, den Mann anzurühren«, knirschte er. »Wagen Sie es nur!« In wohlgeübter Boxerstellung bot er kampfbereit die Fäuste.

Einen Augenblick stutzte der Riese. Die Menge johlte: »ha, ein Boxkampf, ein regelrechter Boxmatch!« Und im Nu wurden Wetten abgeschlossen. Der Verbrecher war allgemeiner Favorit.

»Häng ihn an seinem langen Schlips an die nächste Lampenkette«, riet der Genosse des Mordbuben und zeigte auf die wehenden Schleifen des jungen Kämpen.

Der Strolch maß den Gegner mit verächtlichem Blick.

»Jetzt paß mal auf, du lahmer Hund«, er trat nach dem Klumpfuß des jungen Menschen, »gleich wirst du zur Hölle humpeln.« Und er hob die schwarze Faust.

Da riß ein helltönendes Klingen die Aufmerksamkeit aller dem Laden zu. Ein Steinhagel hatte die Schaufensterscheiben zertrümmert. Jubelgeschrei schrillte durch die Luft. Plötzlich lag die Straße im dämmrigen Dunkel des Londoner Abends. Ackermann war dem Volksgericht gewichen. Das erste Gaslicht in den Gassen Londons war erloschen.

Das Auseinanderströmen der befriedigten Menge trennte die beiden Gegner. Der junge Mann suchte in dem schattenhaften Gleiten ringsum, doch weder sein gelehrter Schützling noch der kampfbrünstige Riese waren in dem unsicheren Lichte der fernen Öllampen zu finden. Der Schwall hatte beide verschlungen. Da schritt er gelassen seines Weges. Ein fahle Dunkelheit hatte sich eingenistet zwischen den engen hohen Straßen der City mit ihren steifen Giebeln, den phantastisch in das abendliche Grau des Himmels ragenden gewundenen Schornsteinen, den weitvorspringenden Innungszeichen, die der trübe zuckende Schein der mattflackernden Öllampen zu grotesken Seltsamkeiten verhexte.

Doch das Leben der Stadt mit ihrer knappen Million Einwohner pulste weiter, verstärkt und verdichtet durch das rasch fallende Dunkel der Nacht. Die Zeitungsverkäufer bliesen grell ihre Trompeten, die Käufer anzulocken, die Schuhputzer, die hundert fliegenden Händler brüllten in allen Tonarten ihr aufdringliches Handelslied. Die Bettler drängten an allen Ecken heran und stöhnten ihr grausiges Elend vag ins Leere; abgezehrte Weiber mit skrophulösen Kindern, zerlumpte Greise, ausgehöhlte Kranke, in deren aufgerissenen Augen der Tod flackerte, hoben dem Fußgänger die hungerzernagten Glieder entgegen. Und die Gentlemen hasteten dahin, zu den Theatern, Cafés, Klubs und dem späten Geschäfte. Wagen waren kaum zu sehen. Nur einmal rasselte mit lautem Hörnerjubel und Peitschenknall die Postkutsche aus dem Norden des Landes durch die engen Gassen dem »Weißen Bären«, der Endstation in Piccadilly, zu. Und in dem Strom der Menschen trieben die zahllosen Taschendiebe, denen keine Polizei drohte, ihr fingerfertiges Wesen.

An einer Straßenecke unter der Öllaterne staute sich der Menschenstrom. Dort hatten sie einen Langfinger gefaßt und übten Volksjustiz unter der Straßenpumpe. Unbekümmert schritt der junge Mann durch dieses altgewohnte Getümmel, in tiefes Sinnen versunken. Das Gaslicht und der Geist seiner Landsleute gaben ihm zu denken. Dann bog er ein nach Paternoster Row, der Straße der Literatur. Hier war Buchladen an Buchladen. Vor jedem blieb der junge Mann stehen und suchte eifrig nach einem breiten weißen Bande. Ja, dort lag er. Etwas unscheinbar, halb bedeckt von einem mächtigen Quarto. Er laß den Titel, als sähe er ihn zum ersten Male, mit verliebten Blicken: »Stunden der Muße. Gedichte von Lord Byron. Einem Minderjährigen.« Ja, dort lag er.

Da pochte ihm jemand auf die Schulter. Aufgescheucht wandte er sich um.

»Hallo«, rief er. »Dallas, Sie?«

»Ja, ich«, lachte der andere, »Sie bewundern Ihr Buch, wie, Mylord?«

Byron errötete.

»Ich kam gerade hier vorbei«, versuchte er eine Entschuldigung.

Dallas machte eine gewährende Geste. »Lassen Sie doch, Mylord, haben wir alle einmal durchgemacht, wir Federvieh. Jeder von uns ist einmal nach Paternoster Row gelaufen, sein erstes Buch ausliegen zu sehen.«

Und seinen Arm bevatternd unter den Ärmel des jungen Lords schiebend, lächelte er: »Ihr Buch geht übrigens gut. Als Ihr Verwandter«, er machte mit der flachen Hand eine devote Bewegung durch die Luft, »wenn auch nur entfernter, habe ich Interesse an Ihrem Wohlergehen. Ich habe mich erkundigt.«

Sie schritten nebeneinander durch den seinen, nässenden Nebel. Byron zog den schönen Mund stolz empor.

»Ja, mein Buch geht gut. Unter den Käufern war der Herzog von York, die Marquise von Headfort, die Herzogin von Gordon und viele andere. Crosby, mein hiesiger Buchhändler hat auch schon vier Serien abgesetzt.«

»Sieh mal einer an!« bewunderte Dallas, »Hab’s mir gleich gedacht, an den Gedichten ist was. Nur der Verleger! Wie können Sie ein Buch bei Ridge in Newark erscheinen lassen und noch dazu auf Ihre Kosten! In London verlegt man bei Murray. Der ist jetzt Mode.«

»Ich weiß«, nickte Byron, »jetzt weiß ich es. Voriges Jahr, als ich das Buch herausgab, wußte ich es nicht. Und dann –« der großartige Zug kam wieder in das zarte mädchenhafte Gesicht – »ich will ja kein Dichter werden. Mein hoher Rang weist mir andere Wege.«

Dallas verbiß ein überlegenes Lächeln. »Lassen Sie nur erst den Erfolg kommen, Mylord, dann werden Sie anders sprechen. Nur eins müssen Sie tun, hören Sie auf den Rat eines erfahrenen Skribenten: Sie halten sich zu sehr abseits vom Bau. Sie leben zu fern dem Literaturgetriebe.« Byron machte eine heftige Bewegung. Doch Dallas fuhr fort: »Sie haben gute Kritiken gehabt, gewiß. Aber vorläufig doch nur in kleinen unbedeutenden Blättern. Die großen, und vor allen Dingen die allein entscheidende in der Edinburgh Review stehen doch noch aus.«

»Allerdings«, gab Byron klein bei. »Wie ich gehört habe, soll in dem Januarheft der Edinburgh Review etwas über mich stehen. Das Heft muß täglich in London eintreffen.«

»So, so«, machte der ältere Dichter, »nun, hoffen wir das Beste.

Die Hauptsache ist aber, daß Sie einen Führer durch das Labyrinth der Wege zum Erfolg haben. Zu Anfang. Wenn Sie erst oben stehen, pfeifen Sie auf alle. Ich bin gern bereit, Ihnen, Mylord, dieser Führer zu sein.«

Da wandte Byron sich voll seinem Begleiter zu.

Das gelbe Licht einer Öllampe, unter der sie just hinschritten, vergoldete seine freudehellen Augen. Er ergriff beide Hände des erfahrenen Mannes, preßte sie überschwänglich und sprudelte mit dem Ungestüm seiner zwanzig Jahre hervor: »Ich danke Ihnen, Herr Dallas, ich danke Ihnen sehr herzlich. Sie haben recht, vielleicht, wenn der Ruhm kommt, vielleicht schreibe ich doch wieder. Ich danke Ihnen für Ihre Freundschaft und Uneigennützigkeit.«

»Aber, aber, lieber junger Freund!« dämmte Herr Dallas, »wozu so viele Worte! Das ist doch selbstverständlich bei einem Verwandten und Kollegen. Sie werden etwas erreichen, glauben Sie mir. Ich habe für so was Instinkt. Kommen Sie hier ins Chapter Coffeehouse, gleich nebenan, Nr. 50 Paternoster Row. Das ist Londons Literatur-Café. Da können wir es stipulieren. Ich bin für Ordnung in allen Dingen.«

Ohne Byrons Einwilligung abzuwarten, öffnete er die Tür des Cafés, schob den jungen Freund hinein und folgte.

Es war ein fast feierlich vornehmer Raum, sanft erhellt durch Laternen, die von der getäfelten Decke niederglänzten, und Lichtern, die auf jedem Tische brannten. In die Wände hinein rundeten sich dunkle Mahagoninischen, in denen spiegelblanke Mahagonitische und Stühle zum Sitzen und Plaudern luden. Die linke Seite des Raumes bildete eine Glaswand, hinter der ein Lesezimmer seine ruhige Behaglichkeit breitete. Dort war nachmittags der Sammelplatz der Verleger und Autoren, dort öffnete sich jungen Talenten der dornige Pfad zur Unsterblichkeit.

Jetzt, es mochte gegen 5 Uhr sein, war das Lesezimmer nur von einigen Zeitungsmardern besetzt. Doch in den Nischen summte eifriges Plaudern und heftige Debatte über die Probleme der modernen Literatur.

Dallas schob den schüchternen jungen Poeten vor sich her, gerade auf eine freie Nische zu, nahm ihm den Hut vom Kopfe und ermunterte: »Legen Sie nur ab, Mylord, und machen Sie es sich bequem. Hier werden Sie noch einmal einer der Größten sein.«

Byron lächelte und entledigte sich seines schweren Wintermantels. Dann zupfte er seine koketten Schlipsenden zurecht, prüfte den Sitz seines breiten, leinenen Umlegekragens, fuhr mit den Händen durch das braune lockige weiche Haar und nahm neben Dallas Platz, der eben bei dem herbeieilenden Kellner zwei Whiskys mit Soda bestellte.

»So«, sagte der Ältere befriedigt und streckte die langen Beine vor sich unter den Tisch, »nun wollen wir zuerst das Geschäftliche erledigen.«

Er entnahm seiner geräumigen Brieftasche einen zierlichen Rabenfederkiel, Papierhalter und Tinte standen auf dem Tisch. »Ich werde folgendes aufsetzen«, sann er, die Lippen reibend, die bartlos waren, wie bei jedem Gentleman der Zeit: »Ich verpflichte mich, Ihr literarischer Agent zu sein, das heißt, Ihnen die besten und modernsten Verleger zu verschaffen, für Sie die erforderliche Reklame zu machen –«

»Reklame?«

»Ja, natürlich, das ist die Hauptsache. Ohne Reklame wird kein Buch heutzutage bekannt. Lassen Sie mich nur machen – kurz, ich nehme Ihnen alles Geschäftliche ab.«

»Sie sind viel zu liebenswürdig, Herr Dallas. Wie soll ich Ihnen das danken?«

»Aber gehen Sie doch, Mylord! Als Ihr Verwandter ist das doch selbstverständlich. Als Entschädigung für meine Auslagen – denn Reklame und das alles kostet natürlich –«

Byrons hohe Stirn umdüsterte sich.

»Viel darf es nicht kosten, Herr Dallas«, flüsterte er. »Sie wissen, meine pekuniäre Lage ist sehr schlecht. Mein Gut Newstaed bringt wenig und über mein Gut in Lancashire schwebt ein langwieriger Prozeß, der mich schon 14 000 Pfund Sterling gekostet hat. Meine Schulden sind schon recht groß.«

»Aber, Mylord«, entrüstete sich Herr Dallas, »wie können Sie glauben, daß ich mir von Ihnen etwas werde bezahlen lassen! Unter keiner Bedingung!«

»Ihre Liebenswürdigkeit bedrückt mich«, raunte Byron beschämt.

»I wo!« lachte Dallas generös, »zur Deckung meiner Unkosten können Sie mir ja die Einkünfte aus Ihren Büchern verschreiben.«

»Gern«, willigte Byron sofort ein, »ich würde nie einen Penny für meine Dichtungen annehmen. Das scheint mir gegen die Standesehre zu gehen! Sie können alles haben. Ich fürchte nur, das wird nicht viel sein.«

»Macht nichts«, beruhigte der andere. »Ich werde also schreiben, daß Eure Lordschaft mir für alle Zeiten sämtliche, aus Ihren sämtlichen Werken fließenden Einkünfte verschreiben.« Und hastig setzte er den Vertrag auf. Gierig kratzte die Rabenfeder über das Papier.

»So«, seufzte er, als er des jungen Lords Unterschrift am Busen barg, »das wäre getan. Nun wollen wir uns ein wenig umschauen.«

Er musterte die gegenüberliegenden Nischen. »Hm«, frohlockte er, »Sie haben es gut getroffen, Mylord, Englands größte Dichter sind anwesend.« Und sich zu Byrons Ohr neigend, flüsterte er: »Dort links in der Nische finden Sie ein berühmtes Trio. Der Herr dort mit dieser ernsten, würdigen Miene, der wie ein Methodistenprediger aussieht –«

»Der mit den übereinandergeschlagenen Beinen, dessen nackte Knöchel über den Socken hervorsehen?«

»Ja der, er ermüdet seine Zuhörer gerade mit seiner monotonen Stimme und arbeitet dabei wie ein Walfisch. Das ist Wordsworth.«

»Ah«, Byron richtete sich auf, » das ist Wordsworth? Ich dachte, er wohnt an den Seen in Nordengland.«

»Wohnt er auch. Und seine beiden Nachbarn desgleichen. Sie müssen zu Besuch in London sein.«

»Das ist Wordsworth!« wiederholte Byron, den Mann mit seinen feurigen Augen verschlingend. »Oh, er ist ein begeisterter Anhänger der Ideen der französischen Revolution.«

Dallas lachte höhnisch auf: » War er vielleicht einmal, Mylord, in jungen Tagen. Jetzt besingt er nur die Natur und das Landleben und lauter solche triviale Stoffe. Und behauptet, zwischen der Poesie und der Prosa bestehe kein Unterschied.«

»Nanu?« fuhr Byron herum.

»Ja, das behauptet er, und seine Dichtungen beweisen seine Theorie, das muß man ihm lassen. Aber weiter. Der Herr neben ihm mit dem großen runden Kopf, den tiefen hellblauen Augen und dem traurigen Blick ist Samuel Taylor Coleridge.«

»Ah«, machte Byron, »der Dichter von ›Christable‹ und dem ›alten Matrosen‹. Seine Sprache ist wunderbar melodiös.«

»Melodiös?« krähte Dallas entgeistert.

Doch Byron nahm den Dritten aufs Korn. »Dann ist der Dritte«, riet er, »am Ende gar Robert Southey.«

»Richtig«, lobte Dallas. »Der Schwager von Coleridge.«

Der junge Dichter starrte die drei berühmten Männer mit brennenden Augen an.

»Ich liebe Southeys ›Wat Tyler‹ und ›Jeanne d’Arc‹«, gestand er hingerissen.

»Alte Chosen«, meinte Dallas und verzog grinsend die Mundwinkel, »er hat sich seitdem tüchtig gehäutet. Jetzt ist er der patentierte Tugendapostel. Kennen Sie ›Talafa‹ und seinen neuesten Schund ›Madoc‹?«

Byron schüttelte den Kopf.

»Lesen Sie ihn, junger Mann. Ich werde es Ihnen borgen. Dann werden Sie diesen öden Schwätzer kennen lernen. Ich teile auch Ihre Bewunderung für Coleridge keineswegs. Er ist meiner Weinung nach gedunsen und schwülstig. Dort der Herr in der Nische ist übrigens Charles Lamb, der jüngere Bruder des Lord Melbourne. Am bekanntesten ist dieser vornehme Dichter durch seine Frau, die Lady Caroline. Von der haben Sie doch sicher gehört. Nicht? Schade. Eine der verdrehtesten Weiber in ganz London. Eine ganz exzentrische Person, die fortwährend die Gesellschaft mit ihren tollen Abenteuern amüsiert. Der Dicke mit den dünnen Beinen neben Lamb ist Lord Holland.«

Byron sah scharf hinüber. »Der Herr von Holland House?«

»Nein, der Herr von Holland House ist seine Frau. Ihr Palais ist der Mittelpunkt der sogenannten Londoner Gesellschaft. Wer was bedeuten will, reißt sich um den Eintritt. Ich war, gottlob, niemals dort. Warten Sie nur noch kurze Zeit, bis Sie berühmt sind, dann erhalten Sie auch Ihre Einladung von der hochmütigen Xantippe.«

»Wer ist jener schöne kleine Herr neben Lord Holland?« lenkte Byron ab.

»Das ist der Ire Thomas Moore.«

Da schnellte der junge Dichter jäh in die Höhe. Doch Dallas zog ihn am Rockschoß zurück auf den Stuhl. »Psch, psch«, dämpfte er, »hier muß man sich gemessen betragen, Mylord.«

»Das – das –« stammelte der junge Mann – »das ist Anakreon Moore, der Dichter der »Irischen Melodien«!? Ihn zu sehen, lebendig, diesen großen Sänger!«

Dallas lächelte mitleidig. »Ja, das ist der Catull der heutigen Jugend. Er reimt ja ganz nett. Aber lasterhaft ist er, ganz scheußlich lasterhaft. Auch in seinen Dichtungen. Mir gefällt solche Lüsternheit nicht.«

»Aber mir«, entgegnete Byron plötzlich scharf.

Dallas stutzte einen Augenblick. Dann lächelte er wieder mitleidig: »Sie werden auch noch anders urteilen lernen, Mylord, Sie sind noch sehr jung.« Da erhob sich Byron. »Ich bin alt genug, mein eigenes Urteil zu haben, Herr Dallas«, sagte er, die Brauen bedrohlich runzelnd. »Ich muß jetzt fort.«

Er rief den Kellner und bezahlte die beiden Whiskys mit Soda. Als der Mann das Geld einkassiert hatte, wehrte Dallas: »Aber bitte sehr, Mylord, Sie sind mein Gast.«

»Danke«, knurrte Byron, nahm den Hut, murmelte »Guten Abend« und schritt hinaus. Und spannte jede Muskel krampfhaft an, vor den Blicken all dieser berühmten Männer sein Hinken zu verbergen.

Draußen sprang er in eine Hackney-coach, rief dem Kutscher seine Adresse »Dorants Hotel« zu und warf sich zurück in die harten Polster des Wagens.

Langsam rumpelte der schwerfällige Kasten durch die engen, lärmerfüllten Straßen.

Doch Byron sah nichts von dem Treiben dort draußen. Er sann. »Ein unangenehmer, gehässiger Bursche, dieser Dallas«, dachte er. Dann sprangen seine hurtigen Gedanken. Das also waren die großen Männer der Literatur, zu denen er verehrend aufgeschaut hatte. Sie waren groß in ihrer Art, trotz der bissigen Bemerkungen dieses Menschen, der sie haßte in seiner eigenen Erfolglosigkeit. Gewiß. Aber – aber!

Er hatte sich große Männer so anders gedacht, er wußte selbst nicht recht, wie, doch ganz anders als diesen Wordsworth mit seinen nackten Knöcheln und Southey mit seiner vornehmen, selbstgefälligen Würde. Etwa so, wie er sich Napoleon, seinen Leibhelden, dachte. Ah, Napoleon! Ja, den einmal von Angesicht sehen! – Das war ein Held. Der Wagen beugte sich in einer Pfütze tief zur Seite, daß der Fahrgast unsanft an die Wand geschleudert wurde. Als er sich zornig aufgerafft hatte, hastete sein Grübeln weiter. Ja, ein Mann der Handlung, wie Napoleon, wollte er werden. Kein Dichter, kein Träumer, einer, der handelt, wollte er werden. Als Peer von England war er Mitglied des Oberhauses, er war geborener Gesetzgeber. Im Januar nächsten Jahres, wenn er mündig geworden war, wollte er seinen Sitz im Hause der Lords einnehmen und sich auf die Politik werfen. Der Teufel hole Dallas und die Dichterei. Die war kein Lebenszweck für einen Mann aus dem Geschlechte der Byrons, die mit Wilhelm dem Eroberer im Jahre 1066 nach England gekommen waren. Die war Lebensinhalt für Federfuchser wie Wordsworth und seinesgleichen. Nicht für George Gordon Byron.

Der Wagen hielt. Leichtfüßig sprang er hinaus, denn der Portier stand vor der Tür. Der sollte nicht glauben, daß ihm das Springen schwerfalle wegen dieses verdammten Fußes.

»War der Briefträger da?« fragte er und kniff die Augen hochmütig zusammen.

»Jawohl, Eure Lordschaft«, dienerte der Mann.

»Der blaue oder rote?« Der blaue, two-penny postman, brachte die Stadtbriefe, der rote (scharlachfarbene) die Post von außerhalb.

»Der rote, Eure Lordschaft. Die Briefe sind auf Eurer Lordschaft Zimmer. Ich habe das Porto bezahlt. Es macht 12 Schillings und 6 Pence.« Byron nickte dankend und stelzte die Treppen hinan zur ersten Etage, in der er zwei geräumige Gemächer innehatte.

Auf dem Tisch lagen drei Briefe und eine Drucksache. Hastig, noch in Hut und Mantel, griff er nach der Kreuzbandsendung. Er hatte sofort den bekannten Einband der Edinburgh Review erspäht. Mit gierigen Fingern riß er den Streifen herab und blätterte. Da – da stand die Kritik. Stehend las er, erbleichte, schwankte, griff nach dem Tisch, Halt suchend, und taumelte in einen Stuhl. Die Arme fielen kraftlos herab, das Heft glitt raschelnd zu Boden, die Augen hafteten stumpf an der Wand. So saß er lange Zeit. Dann bückte er sich, hob das Blatt empor und las noch einmal, langsam, zähneknirschend:

»Die Poesien des jungen Lords gehören zu jener Gattung, die, wie man so sagt, weder Götter noch Menschen gestatten. Als Milderungsgrund beruft der edle Verfasser sich mit besonderem Nachdruck auf seine Minderjährigkeit. Wir lesen es auf dem Titelblatt und sogar auf dem Einband, wir erfahren es durch die Vorrede, und wir finden unter jedem Poem das Datum seiner Entstehung. Nun scheint uns das Recht hinsichtlich der Minorennen völlig klar zu liegen. Wenn z. B. jemand gegen Lord Byron auf Lieferung eines gewissen Quantums Verse klagen wollte, so ist es höchst wahrscheinlich, daß der Kläger den Inhalt des vorliegenden Bandes nicht als Poesie anerkennen würde.

Hiergegen könnte der Verfasser den Einwand der Minderjährigkeit erheben. Da er aber die Ware freiwillig anbietet, kann er seinerseits nicht auf Auszahlung des guten, landesüblichen Lobes klagen. Dies ist meine Rechtsansicht, und so wird wohl auch entschieden werden. Vielleicht aber hat sein Gespreize mit seiner Jugend mehr die Absicht, unser Erstaunen zu erhöhen, als unseren Tadel zu mildern. Möglicherweise will er sagen: »Seht, was ein unmündiger Dichter kann! Dieses Gedicht ist wirklich das Werk eines jungen Menschen von achtzehn, jenes eines von sechzehn!« Leider aber erinnern wir uns alle noch genau der Verse, die Cowley mit zehn und Pope mit zwölf Jahren schrieben, und weit entfernt, uns irgendwie darüber zu wundern, daß diese jämmerlichen Verse zwischen Gymnasium und Universität verfaßt wurden, glauben wir vielmehr, daß dergleichen zu den allergewöhnlichsten Dingen gehört, daß von zehn englischen Gymnasiasten neun das nämliche und daß der zehnte bessere Verse macht als Lord Byron. Wir müssen ihm zu bedenken geben, daß der Umstand, daß sich die Endsilben reimen und die Versfüße richtig an den Fingern abgezählt sind, – was übrigens nicht einmal immer bei ihm der Fall ist – keineswegs der Inbegriff alles dessen ist, was man von einem Dichter verlangt.«

Dann folgten einige Zitate aus dem Buch mit bitterer Verhöhnung. Und zum Schluß hieß es: »Lord Byron teilt uns in der Vorrede mit, daß seine »Stellung und seine Bestrebungen es höchst unwahrscheinlich machen«, daß er sich jemals wieder zur Schriftstellerei herablassen würde. Nehmen wir also an, was wir kriegen und seien wir dankbar! Wie der brave Sancho wollen wir dem geschenkten Gaul nicht ins Maul sehen, sondern Gott bitten, den edlen Geber zu segnen.«

Mit dumpfem Wutgebrüll schleuderte Byron das Heft zu Boden, sprang empor und hinkte grimmig durch das weite Zimmer. Das ihm! Das! Dieser Hohn einem Byron! Das ihm, dem Lord George Gordon Byron! Er würde – ja, sofort mußte er diesen Hund Jeffrey, den Herausgeber der Zeitschrift, fordern, auf Säbel, auf Pistolen, diesen Bengel, der gewiß die Kritik geschrieben hatte. Morden wollte er diesen Lümmel, ihn niederstechen, ihn niederschießen wie einen räudigen Hund. Ihm zeigen, was es heißt, einen Peer von England zu schmähen in dieser hundsföttischen Art. Sofort wollte er ihm schreiben. Er stürzte zum Tisch. Er zögerte. Ja, war das eine Genugtuung? Ganz England lachte heute über ihn. War das eine Genugtuung, daß er den Menschen niederknallte, der ihn öffentlich vor dem vereinigten Königreiche mit Ruten geschlagen hatte. War das –? Nein, mit gleicher Waffe mußte er ihn treffen. Mit Ruten ihn schlagen, ihn öffentlich auspeitschen, wie man einen Verleumder am Schandpfahle auspeitschte auf offenem Markte. Das war Rache. Das war würdige Rache. Mit Geisteswaffen ihn treffen, die Schmach der Lächerlichkeit auf ihn häufen für Zeit und Ewigkeit.

Er warf den Kopf zurück, daß die weichen, braunen Locken flogen. Die Augen schleuderten Blitze. Wie eine bronzene Statue des jungen Mars stand er da in seinem wehrhaften Zorne. Er riß an der Leine der Klingel, daß die Glocke durchs Haus gellte. Dem herbeieilenden Kellner befahl er: »Bringen Sie mir eine Flasche Claret, nein, zwei, lieber drei.«

Der Mann ging ohne Staunen. Das Hotel kannte die jähen Launen des jungen Lords.

Byron lief wieder auf und nieder. Ja, das wollte er. Eine ätzende Satire schreiben auf diesen bläffenden Hund. Auf die ganze federfuchsende Bande. Auf alle. Sie auspeitschen, ehe er sich für immer von dieser unsauberen Sippschaft trennte. Ihnen zeigen, daß er sich ihrem Urteil nicht beugte, wie irgendein armseliger kleiner abgekanzelter Dichterling, der sich unter den Keulenschlägen der Kritik am Boden krümmte und verkroch. Seinen Trotz wollte er ihnen bieten, wie es einem Lord von England ziemte. Das sollte seine erste Tat sein, ehe er hinüberging in das Gefilde seiner Taten.

Plötzlich fiel ihm die Lehre ein, die sein Boxlehrer ihm einst gegeben, die er schon oft als nützlich erprobt hatte: »wer nicht für dich ist, der ist gegen dich, darum hau’ tapfer um dich, mein Junge, rechts und links.« Den Rat wollte er befolgen. Der Kellner brachte den Wein. Hastig stürzte der junge Mensch die erste Flasche hinunter. Der Trank beruhigte ihn und machte seine Sinne klar. Ja, eine blutige Satire schreiben auf alle diese Götzen der Literatur, denen England zu Füße: lag. Auf alle. Einer war wie der andere. Sie hielten zusammen, das ganze Pack, gegen die Jungen, die heraufdrängten.

Neidische Kliquenwirtschaft war es. Er aber wollte hineinhauen, daß sie vor Schmerzen winselten, alle, alle. Dallas hatte recht, tausendmal recht. Sie sollten den »edlen Lord« kennenlernen, über den sie heut’ alle die Mäuler verzerrten in grinsender Freude. Ein Gedicht wollte er hinausfeuern, das dauern sollte über alle Zeiten, und ihre Lächerlichkeit auf den Flügeln der Jahrhunderte hinübertragen in die Unsterblichkeit. Herr Jeffrey, warten Sie nur! Sie sollen jetzt den »Minderjährigen« kennen lernen. Und Sie, Herr Wordsworth, mit den nackten Knöcheln, Sie Simpel, Sie Prosa-und Versemischer. Warten Sie, Herr Coleridge, Sie Muster der Gedunsenheit und Schwulst. Horchen Sie auf, Herr Southey, Herr Lamb, Sie Pantoffelheld von Holland House, Herr Thomas Moore, Herr Walter Scott und all ihr kleineres Ungeziefer. Wartet, wartet, die Peitsche soll euch ums Haupt schwirren, ihr Federgelichter, daß euch der Angstschweiß den Lorbeerkranz zerweicht.«

Die zweite Flasche war geleert.

Da klopfte es. Herein trat Byrons Universitätsfreund Hobhouse. »Nanu«, stutzte er auf der Schwelle, »was ist dir? Hat dich einer gefordert?«

»Ja«, flammte Byron auf und reckte die schlanke Gestalt, »und ich habe die Forderung angenommen. Englands Literatur ruft mich in die Schranken. Morgen trete ich an gegen die Horde der englischen Barden und schottischen Rezensenten.«

II.

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Ein rot-goldener Herbsttag stand über Newstead Abbey. Durch die schmalen, efeuverschleierten gotischen Spitzbogenfenster drang gedämpft die sonnenwarme Helle in das kühle Schlafzimmer des jungen Lords. Er reckte sich, gähnte, sprang dann mit schnellem Entschlusse aus dem breiten Bette und huschte hinüber zu dem weit vorspringenden Erker. Suchend spähte er durch das rechte Fenster, hinein in die Ruine der alten Kapelle der Abtei. Dort atmete dämmrige Stille des Verfalls. Auf dem Fußboden der alten Sakristei, deren Dach vor Jahrhunderten schon unter der Last der Zeit niedergebrochen war, hatten mächtige Ulmen sich angesiedelt und bildeten jetzt inmitten der bleichen Ummauerung einen stillen grünen verwunschenen Hain.

»Es muß noch früh sein, die Krähen sind noch daheim«, dachte Byron und horchte durch das geöffnete Fenster auf das Schreien der Krähen, die diesen raunenden Ort zur Hausung erkoren hatten. Er stand und beobachtete, wie die schwarzen Vögel sich riefen und lockten, wie sie sich zögernd von den Zweigen erhoben, unruhig hin und her flatterten, langsam stiegen hinauf über die Wipfel der Bäume, sich kreischend und flügelschlagend zu einer Phalanx schlossen, einige Runden über dem grauen Gestein der Ruine zogen mit lautem Gekrächz und dann wie ein flimmernder Keil hineinstießen in die sonnengetränkte Klarheit des Himmels.

Byron eilte an das Mittelfenster und sah dem Schwärme nach, bis er silbern in den Horizont verglitt.

»Es ist gegen zehn,« dachte er, »meine Freunde sind ausgezogen.« Er stand und blickte verloren in die glitzernde Ferne. Die ahnungsvolle Traurigkeit, die ihn seit seinen Kindertagen verfolgte, hatte ihn jählings überfallen. »Diese schwarzen Vögel«, sann er bitter, »sind meine einzigen Freunde. Wenn sie morgens ausziehen zum Raubzug auf die Felder, bleibe ich einsam zurück, und wenn sie in der Dämmerung wiederkehren, gesättigt, müde, und behaglich schreiend zur Ruhe gehen, – dann bin ich noch einsamer.« Er sah mit feuchten Augen hinaus über die Bäume des Parkes und über die glatten grünen Rasenflächen mit ihren blinkenden Wasserläufen. Und fühlte sich einsam, unselig und verlassen.

Langsam löste er sich vom Fenster und ging zu dem majestätischen Bette hinüber, dessen vier Pfosten vergoldete Kronen zierten.

Er legte sich wieder nieder, denn er pflegte bis zum Mittag zu ruhen. Doch bald trieb eine Unrast ihn wieder empor. Er setzte sich auf den Bettrand. Das Gefühl des Unbehagens, mit dem er aus dem Schlaf emporgefahren war, lag ihm noch immer lastend auf der Brust. Etwas anderes peinigte ihn, etwas Bestimmteres, als diese unbegrenzte Melancholie, die ihn kaum je verließ. Wie die Ahnung von etwas Unheilvollem, Widrigem war es. Er saß auf dem Bettrande und wühlte sich immer tiefer in dieses schwimmende vage Mißbehagen hinein. Doch im Unterbewußtsein kannte er seinen Grund sehr wohl. Es war die Einladung zum Diner bei seinen Nachbarn, den Chaworth, die er gestern erhalten und in der ersten Überraschung angenommen hatte.

So saß er mit schmerzlich umdüstertem Gesicht lange Zeit und koste sein Unglück.

»Ich bin ein verlorener Mensch«, dachte er gramzerwühlt und sah sich mit schmerzweiten Augen um in dem uralten Gemache mit seinen wuchtigen dunklen Eichenmöbeln, »ich bin ein unseliger verlorener Mensch. Mein Vater war ein Taugenichts, der meine Mutter gleich nach der Hochzeit im Elend verlassen hat. Meine Mutter ist ein Wutteufel, die meine Kindheit vergiftet und mich so erzogen hat, daß es nicht ihr Verdienst ist, wenn ich nicht auch ein Taugenichts werde. Ich bin ein Krüppel« – er stieß den kranken Fuß so heftig gegen den eichengetäfelten Boden, daß es schmerzte – »dem alles mißlingt. In der Schule zu Harrow haben sie mich gehaßt, auf der Universität zu Cambridge waren sie froh, mich los zu werden, meine Liebe ist elend gescheitert und mein Dichten zerschellt.«

Doch hier sprang er empor. Es war der alte tägliche Kreislauf seiner Gedanken. Und, wie immer, fand hier sein gewollt wehes Grübeln ein Ende. Er ballte die Fäuste und lachte ingrimmig in sich hinein. Dann kleidete er sich hastig an, um an den Schreibtisch zu gelangen. In seinem Arbeitszimmer harrte die blutige Satire »Englische Barden und schottische Rezensenten« ihrer Vollendung.

Doch bald schwangen seine Gedanken sich wieder hinüber über die Grenzen seines Gutes zu den Nachbarn.

»Nein«, entschied er, während er sich das Gesicht trocknete, »ich gehe nicht.« Wer gab ihnen das Recht, ihn einzuladen? War das ein neuer Hohn, den die Geliebte von einst ihm antun wollte? Wollte sie sich ihm zeigen in ihrem Glück und Glanze! Nein, er ging nicht.

Er klingelte. Murray sollte sofort hinüberreiten und melden, er wäre krank. Basta. Er warf das Handtuch auf den Halter. Hm, aber sah das nicht aus, als fürchte er ein Wiedersehen, noch heute nach fünf Jahren? Würde dieser rotbäckige Fuchsjäger nicht über den feigen Nebenbuhler von dazumal zynisch schmunzeln? Würde er nicht höhnen: »Siehst du, Mary, er traut sich nicht zu uns, der Schulbub’.«

Es klopfte. Der alte John Murray trat ein, das Urbild des Dieners aus der guten alten Zeit in seiner bezopften Flachsperücke, dem langen, blauen Rocke, der Büffellederweste, den schwarzseidenen Kniehosen, den weißen Strümpfen und Schnallenschuhen und den devot starren Zügen.

»Guten Morgen, Eure Lordschaft.«

»Morgen, Joe, ich – hm –« Byron suchte nach einem Auftrage, denn er war jetzt entschlossen, nach Annesley zu gehen – »ich – Post ist wohl nicht gekommen?«

»Doch, Eure Lordschaft, ich habe sie in das Studierzimmer gelegt.«

Der Diener stand noch an der Tür.

»Es ist gut«, wiederholte der junge Herr.

Der Alte rührte sich nicht.

»Hast du noch etwas?« fragte Byron erstaunt.

»Da Eure Lordschaft schon außer Bett sind,« begann er zögernd, »kann ich es wohl sagen. Mr. Fiddlestik aus Nottingham ist unten.«

»Der Teufel soll ihn holen«, zischte Byron zwischen den Zähnen.

»Er sagt, er muß das Geld haben«, entschuldigte Joe Murray.

»Ich muß auch Geld haben«, ergrimmte der junge Lord. »Sag dem Hallunken, er soll gefälligst warten. Ich kann nicht hexen.«

»Er sagt, Eure Lordschaft, er müsse klagen, wenn er heute das Geld nicht bekäme.« Joe Murray berichtete kalt, unpersönlich, ohne Billigung oder Mißbilligung. Er war das Ideal eines Dieners.

»Was will er?« schrie Byron. »Klagen?«

»Ja. Eure Lordschaft.«

»Und du hast den Schuft nicht in den Teich geschmissen?«

»Nein, Eure Lordschaft.«

»Vom Hofe mit ihm!« schrie der junge Herr bleich vor Zorn. »Sofort, wenn er nicht freiwillig geht, hetz Boatswain auf ihn oder die Dogge Rush. Oder laß den Wolf von der Kette oder den Bären. Da wird er wohl laufen. Daß der Hallunke fort ist, wenn ich hinunterkomme!«

»Er wird fort sein, Eure Lordschaft«, versicherte Joe Murray und ging. Doch als er durch die hallenden Galerien und Klostergänge mit ihren stämmigen Säulen und niedrigen Bogen dahinschritt und die breiten Stufen zum Erdgeschoß hinabstieg, schüttelte er immer wieder den gepuderten Kopf, daß der Zopf wie ein Taktstock der Entrüstung hin und her tupfte. Und leise murmelte er zwischen den zahnlosen Kiefern: »der ist ja noch schlimmer als der »böse Lord«, goddam, der ist viel schlimmer.«

In der Gesindehalle saß Mr. Fiddlestick in klagendem Geplauder mit Misses Nanny Smith, der Wirtschafterin, und der blutjungen, blitzsauberen Magd Lucy Garlett.

Da trat würdevoll Mr. Joe Murray herein.

»Nun?« der ehrenwerte Handelsmann aus Nottingham schoß wie ein Grashüpfer empor, »haben Sie ihn gesprochen, Mr. Murray?«

»Ich habe«, entgegnete Seine Hoheit, Mr. Joe.

»Nun, und?« drängte Mr. Fiddlestick, »wird er zahlen?«

»Er wird.«

»Jetzt? Gleich? Hat er Ihnen einen Scheck gegeben?«

»Nichts dergleichen!« Joe mißbilligte stark diese aufdringliche Neugier. »Seine Lordschaft meint, er könne doch wohl einigen Kredit beanspruchen.«

»Einigen Kredit!« Herr Fiddlestick riß torartig den Rachen auf. »Sagten Sie, einigen Kredit?«

Joe bestätigte die Frage.

»Einigen Kredit! Sehr gut. Ich habe ihm das ganze Haus neu eingerichtet. Ich habe ihm alle Möbel besorgt. Ich habe ihm alle Zimmer frisch tapeziert. Ich habe den Tischler, den Tapezierer, den Schlosser, den Baumeister, alle habe ich bezahlt und habe nun ein halbes Jahr gewartet. Ist das kein Kredit, meine Damen, sagen Sie, ist das kein Kredit?!«

Er hob beschwörend die Hände »den Damen« entgegen.

»Es ist Kredit«, bezeugte Nanny Smith und breitete ihre würdige Stattlichkeit in das blaue Kattunkleid.

»Sie sind ein wackerer Mann«, lobte die schmucke Lucy, »aber wer würde nicht den letzten Schilling hingeben für einen so schönen, traurigen jungen Lord?«

»Ich«, beantwortete Herr Fiddlestick prompt diese Frage und wollte eine handelstechnische Einwendung dahin erheben, das Schönheit und Traurigkeit keine merkantilen Sicherheiten böten. Doch Joe Murray fuhr gebieterisch dazwischen.

»Seine Lordschaft wird Ihnen zahlen, Mr. Fiddlestick – aber wenn es ihm paßt. Das Geld ist Ihnen doch wohl sicher?«

»Ich weiß nicht«, der Handelsmann schüttelte bedenklich das kurzgeschorene Haupt, »gerade das weiß ich eben nicht. Man munkelt in Nottingham, er habe über 5000 Pfund Sterling Schulden.« Er spreizte demonstrativ die anmutige Gesamtheit der Finger einer Hand. Nanny Smith schlug entgeistert die Hände über ihrem rosigen Haupte zusammen: »Aber 5000 Pfund Sterling! Wer hätte das vermutet –«

»– bei einem so schönen traurigen jungen Lord«, ergänzte Lucy und zirkelte ihre hübschen braunen Augen zu staunenden Kreisen. »Er soll ja wie ein Wilder gelebt haben«, berichtete Mr. Fiddlestick.

»In Cambridge hat er sich Wagen und Pferde gehalten und in London hat er Unsummen im Spiel vergeudet, erzählt man. Man weiß schöne Geschichten von ihm in Nottingham. Und für die Weiber soll er –« »Was, was? Erzählen Sie!« drängte Nanny, und Lucys Augen drohten aus den Höhlen herauszupurzeln, gerade auf den roten, sauberen Backsteinestrich. Doch hier schob Joe Murray sein Ansehen dazwischen und Mr. Fiddlesticks sensationellen Enthüllungen einen Riegel vor. »Ich dulde nicht«, gebot er, »daß in dieser Halle Verleumdungen gegen den Herrn des Hauses laut werden. Seine Lordschaft befiehlt Ihnen, zu gehen. Ihr Geld werden Sie erhalten.«

»Wann?« terminierte Fiddlestick.

»Wann es Seiner Lordschaft beliebt.«

»Ja, hat er denn eigentlich Geld?« fragte der Handelsherr nervös.

»Nicht einen Farthing bis zu seiner nächsten Reise zu den Londoner Wucherern«, gab Joe bündig Bescheid.

»Die Schande!« seufzte Nanny entrüstet.

»Der arme schöne junge traurige Lord!« wehklagte Lucy gefühlvoll.

»Was tue ich denn da bloß?« verzweifelte Mr. Fiddlestick.

»Wenn ich mein Geld nicht bekomme – es sind beiläufig fünfhundert Pfund Sterling – dann bin ich ruiniert, dann kann ich mich aufhängen.«

»Um Gott!« schrien die beiden Damen.

»Bei Gott!« bestätigte der gebeugte Handelsmann.

»Sie brauchen den Kopf nicht gleich hängen zu lassen«, scherzte Joe. »Sie werden Ihr Geld bekommen, verlassen Sie sich auf meine Klugheit.«

»Aber wie?« Herr Fiddlestick dürstete nach Greifbarem.

»Er muß heiraten, Mr. Fiddlestick. Verlassen Sie sich auf mich. Manchmal, wenn er seinen Katzenjammer hat, spricht er sehr vertraulich mit mir. Da werde ich ihm die Idee schon schmackhaft machen, er muß eine reiche Lady heiraten. Wissen Sie, als der frühere Pächter, Lord Grey de Ruthen, im April von hier fortging und das Haus für Seine Lordschaft hergerichtet wurde, kam auch mal seine Mutter aus Southwell her, um sich alles anzusehen.«

»Mr. Joe,« entsetzte sich Nanny, »um alles in der Welt, sprechen Sie nicht von diesem Ungeheuer! Sonst träume ich am Ende von ihr!«

»Sie ist furchtbar.« Fiddlestick schüttelte sich wie im Fieber. »Sie war bei mir im Geschäft in Nottingham.«

»Das ist sie«, stellte Joe fest, »Aber eines Tages, als sie gerade bei Laune war, sagte sie zu mir: »Herr Murray,« sagte sie, »mein Junge muß heiraten, reich heiraten, sonst nimmt es mit ihm ein böses Ende. »Und das ist auch meine Meinung, obwohl ich sonst mit jener Dame nicht übereinstimme.«

Hiernach war eine nachdenkliche Pause, bis der Handelsmann aus tiefster Seele aufseufzte:

»Es ist eine böse Sorte, diese Byrons, meine Frau hat mich genug gewarnt, mit diesem da Geschäfte zu machen. Aber man will doch leben. Man denkt, ein Lord wird zahlen. Der »böse Lord« hat schließlich ja auch immer gezahlt.«

»Der »böse Lord«, mein alter Herr, Gott hab’ ihn selig,« Joe blickte scheu in die Ecke des weiten Raumes, in der ein alter Steinsarg sein gruseliges Dasein fristete, »war schlimm, aber dieser da,« er deutete mit dem Zopfe nach oben, indem er das Kinn zur Brust senkte – »der ist viel schlimmer.«

»Nein!« Mr. Fiddlestick erschrak.

»Der »böse Lord« soll doch ein Mörder gewesen sein,« flüsterte Lucy, und ihre braunen Lichter irrten durch die Halle.

»Dummer Snak,« tadelte Joe. »Er hat den Chaworth im Duell erstochen. Weiter nichts. Lassen wir das. Es ist eine böse Geschichte. Aber der Neffe, was unser jetziger Lord ist –«

Da glitt ein Schatten über das Fenster der Halle. Alle blickten scheu hinaus. Der junge Lord hinkte draußen vorüber. Ahnungsreich duckte der Handelsherr sich unter den Küchentisch.

»Bleiben Sie sitzen,« beruhigte Joe, »der geht jetzt in den Park baden. Hierher kommt er nie.«

»Wie schön und traurig!« flüsterte Lucy und drückte das Stumpfnäschen an den Scheiben noch stumpfer.

»So läuft er nu herum, ohne zu frühstücken.« Nanny schüttelte den Kopf. »Und um sechs Uhr ißt er einen Happen Gemüse, weiter nichts. Er ist wohl doch ein bißchen verdreht.«

»Der »böse Lord« hatte auch seine Mucken,« nickte Joe vor sich hin, »aber ich sage, der da ist schlimmer.«

»Ein bißchen verrückt sind sie ja wohl alle, diese Byrons,« bedachte Fiddlestick mit trauriger Sachlichkeit, »das ist oft so in diesen alten Familien. Aber zahlen sollten sie trotzdem, wenn sie kaufen – – –«

Der junge Lord schritt forsch durch die breiten Wege, die sich durch die Rasenflächen hindurchschlängelten. Hier und da ragten aus dem Grün der Lawns noch die dunklen Rundungen der Wurzelstümpfe mächtiger Baumriesen hervor. Byrons Auge blieb an solch einem kläglichen Eichentorso haften. Er ballte zornig die Fäuste. Ein grimmiges Mitleid mit diesem hingemordeten alten Walde packte ihn.

»Dieser Schurke,« grollte er in sich hinein, »dieser mörderische Schurke.« Sein Zorn zielte auf den Vorbesitzer des Gutes, seinen Großoheim, den »bösen Lord«.

Und da hatte sich der Schmerz über das eigene düstere Geschick in der Seele des jungen Menschen mit der Trauer um das tragische Los der Bäume verbunden. »Alles ist gegen mich,« klagte er vor sich hin, während er weiterschritt. »Alles. Da hat dieser Unhold gemeint, den Sohn zu treffen, mit dem er verfeindet war und hat Haus und Hof verkommen lassen, und den herrlichen Forst, den dieser Park einst bildete, heruntergeschlagen. Doch den Sohn hat er nicht getroffen; der ist vor ihm gestorben. Mich hat er getroffen, mich, wie alle mich treffen. Mein Haus ist verkommen, mein Wald vernichtet.« Er hinkte langsam dahin und tat sich schrecklich leid. Gramgebeugt trug er sein Weh hinein in den dunklen Ulmenhain, den allein des Oheims wahnwitzige Axt verschont hatte. In einer seltsamen Laune hatte er hier ringsum klassische Statuen von Nymphen und Faunen aufgestellt. Jetzt waren sie in Wind und Wetter längst verwittert und verbröckelt und starrten den neuen Herrn aus entstellten, verstümmelten Gesichtern an. Sinnend blieb Byron vor einer Dryade stehen, deren einstige Schönheit noch aus der Verwüstung hervorleuchtete.

»Welch sonderbarer Mensch,« grübelte er, ist dieser »böse Lord« gewesen. Alles hat er vernichtet. Aber hier hat er sich in widersinniger Marotte eine Insel der Schönheit gebaut. Welch ein Widerspruch in dieser wüsten Seele!« Doch plötzlich glitt ein verschönendes Lächeln um des jungen Mannes Mund. »So sind wir Byrons,« nickte er.

Und jäh stürmte er durch die Wege bis zur Steinterrasse, die den Park gegen die Felder begrenzte. Dort stand er, krallte die Nägel in das alte Gestein, daß es leise bröckelnd niederrieselte, und sah hinaus in das Tal von Newstead, das sich sonnenfroh vor ihm breitete. Inmitten der herbstlichen Wiesen stand eine Gruppe junger Birken mit silberglänzenden Stämmen und Blättern wie schweres Gold. Weit hinten umsäumten die sagenumwobenen Robin Hood Berge blau den Horizont, und die roten Dächer eines Dorfes malten warme Purpurflecke in den zartgrünen Himmel.

Byron stand, die Brust gegen das Steingeländer gepreßt, blickte hinaus in die milde Landschaft und flüsterte vor sich hin: »Ja, so sind wir Byrons, zwiespältig und widersinnig.« Plötzlich streckte er die ausgebreiteten Arme in die Weite hinaus und sprach laut und leidenschaftlich in den stillen Frieden hinein: »Ich habe so große Sehnsucht nach dem Glück und nach dem Leben.«

Eine Glocke klang vom Dorf herüber. In Hucknall Torkard läutete man zu Mittag. Eine leichte segelnde Wolke glitt über die Sonne. Dem jungen Menschen sanken die Arme langsam herab auf die Balustrade. Die verwehten Klänge trugen ihm eine Ahnung zu von Trauer und Vergehen. Prophetisch durchzuckte ihn der Gedanke: »Das wird einst meine Totenglocke sein. In der kleinen verlassenen Dorfkirche dort drüben werde ich einst in die Ewigkeit hinüberstäuben.«

Da war alle Lebensbegeisterung und alle Sehnsucht nach Glück in ihm erloschen. »Ach, wäre es bald!« Er klammerte sich an den Todesgedanken, »läge ich doch bald dort drüben als wurmzernagtes Nichts!« Die Welt ringsum schien ihm wieder leer und öde, ohne Licht, ohne Freude, ohne Inhalt. Er wußte wieder nicht, weshalb er lebte und in dieser zermürbenden Einsamkeit hier hauste. Die Satire – nun ja. Ob sie geschrieben wurde oder nicht, was lag daran! Seiner Eitelkeit war sie wichtig. Aber im Grunde! Im Trubel und Ekel seines wilden Londoner Lebens hatte er geglaubt, die Einsamkeit würde ihn trösten, ihm Ruhe geben, sich zu sammeln, die lauteren Tiefen seiner Seele zu erleben. Nein, auch die Einsamkeit tröstete ihn nicht, gab ihm nicht Mildheit und Fassung, wies seinem verlorenen Leben kein Ziel. Nein, nein. So stand er bleich und verzweifelt, schaute hinaus in die Ferne, die wieder sanft im Sonnenglanz strahlte, und hütete die springenden Qualen seines Weltschmerzes wie ein treuer Schäfer die eigenwilligen schwarzen Böcke seiner Herde.

Schluchzend riß er sich endlich von dem Geländer und hinkte mühsam in den Park zurück, zu dem langgestreckten See, den die Mönche in der Blütezeit der Abtei einst als Fischteich angelegt hatten. Tief und verschwiegen lag er in der Hut alter Weiden. Auch sie hatte der »böse Lord« verschont, denn der See diente seinem tollen Geiste. Er war in jungen Jahren Seeoffizier gewesen. Und später, in der Einsamkeit, als sich nach dem gewaltsamen Ende des Gutsnachbarn jedermann von dem Wüterich zurückzog, raste sich seine junggebliebene Marineleidenschaft auf diesem stillen Weiher aus, dessen dunkle Fluten die hängenden Zweige der Weiden streichelten. Er baute Bastionen und Festungen am Ufer, ließ fernher über Land eine stattliche Fregatte herbeirollen, zum abergläubischen Staunen der braven Bauern der Grafschaft Nottingham, und führte mit diesem Kriegsschiff gewaltige Angriffe aus gegen die stolzen Landforts. Jetzt lagen sie da, in Trümmern, zerschunden und zerschossen, und genossen die wohlverdiente Ruhe ihres kriegerischen Unterganges. Doch auch die hochgetakelte Fregatte lag längst auf dem tiefen Boden des Sees. In einer grausigen Seeschlacht war sie in Grund gebohrt worden, als der »böse Lord« sie mit einer Schaluppe mutig angegriffen und mit einer kleinen Kanone in Stücke geschossen hatte.

Daran dachte Byron, während er die Kleider ablegte und auf den Mauerrest einer der massakrierten Bastionen niederwarf. »Hier hat der Irrsinn der Byrons gewütet,« sann er beklommen, »und geht mir nach auf allen Wegen.« Dann stand er in der Sonne und reckte den kräftigen Ephebenleib. Sorgfältig prüfte er jede Muskel ob sie fest sei und ohne Fettansatz. Denn er hatte Anlage zur Korpulenz. Nein, nicht die Spur von Beleibtheit war zu entdecken. Er lächelte kindlich zufrieden. Die Diät, die seine Eitelkeit ihm verschrieben hatte: so wenig Nahrung wie möglich und niemals Fleisch, schlug vortrefflich an. Wohlgefällig streckte er die Arme über den Kopf hinaus und schoß in kraftvollem Hechtsprung hinein in das herbstkühle klare Wasser.

Als er prustend aufgetaucht war, schwamm er in markigen Stößen dahin. Und jetzt war etwas Frisches, Junges an ihm. Übermütig warf er sich auf den Rücken, schlug mit den Beinen das Wasser und war plötzlich ein gesunder Bursche von zwanzig Jahren, der seine Jugend und seine Kraft in jeder Sehne fühlt.

Elastisch, arbeitsfrisch schritt er später dem Hause zu. Als er aus dem statuengeschmückten Hain heraustrat, lag das Gebäude der Abtei in seiner überraschenden romantischen Verzauberung vor ihm. Er blieb stehen und sog den Anblick in sich ein, den er so oft schon genossen hatte, der aber immer von neuem freudevoll an sein empfängliches Gemüt rührte.

»Ein herrlicher Ort,« nickte er, »und wie geschaffen für meinen großen Schmerz.«

Seine Blicke liebkosten die geborstene Vorderwand der alten Klosterkirche mit ihrem wundervollen Steinschnitzwerk und den hohen gotischen Bogen. Die Höhlen, in denen einst buntbemalte Fenster freudig-fromm in den Park hinausgeschaut hatten, starrten jetzt schwarz und tot wie erloschene Augen. Doch das graue, zerbröckelte Gestein mit seinen Verästelungen und Schnörkeln kündete die einstige Herrlichkeit. In der Mitte der Kirchwand, im Schutze einer Nische, thronte wohlerhalten eine liebliche Mutter Gottes. Rechts unmittelbar an die verfallene Kathedrale schloß sich das Schloß mit seinen kriegerischen Türmen und Söllern und Bastionen und erzählten von den ritterlichen Tagen, in denen die Byrons hier als Kriegsherren der Tudors und Stuarts gehaust hatten. »Ein prächtiger Bau,« frohlockte der junge Lord und warf stolz den Kopf zurück, denn er fühlte sich als Besitzer eines der wunderbarsten Werke gotischer Kunst auf englischer Erde.

Sein Blick blieb an den liebreichen Zügen der Muttergottes hängen. Und plötzlich schien es ihm, als gleiche sie der Geliebten seiner Jugend, Mary Chaworth. Ungestüm riß er sich los und schritt an dem phantastisch ausgemeißelten Brunnen vorbei, stieg die Steinstufen hinan und trat in die Kühle der niedrigen Halle, die mit ihren massigen Bogen an die Krypta eines Domes gemahnte. Vom Hintergrunde der Halle stiegen breite Steinstufen hinauf in das obere Geschoß. Links von der Treppe lag an einer eisernen Kette ein Wolf, rechts ein Bär. Byron koste den Wolf, der die spitze Schnauze zwischen den Vorderfüßen barg, hinter den Ohren und wollte dann dem braunen Burschen seine Reverenz erweisen. Doch Meister Petz war heut übler Laune, erhob sich auf den Hinterbeinen und machte Miene, den Herrn in seine unsanfte Umarmung zu nehmen. Unwirsch hieb der junge Mensch ihm einen Faustschlag gegen die Brust, sprang die Stufen hinauf, durchschritt die echolaute Galerie und trat in sein Arbeitszimmer. –

Es war ein kleines Gemach, dessen Spitzbogenfenster hinaus in den Garten blickten. Die Einrichtung bildete ein Gemisch von Altertümelei und neuestem Luxus. Ein eleganter moderner Schreibtisch beherrschte die Mitte des Zimmers, neue Teppiche wärmten die Steinfließen des Bodens. Mr. Fiddlestick aus Nottingham hatte sie geliefert. Zu den Bogenfenstern stimmten die uralten, hochlehnigen, grotesk geschnitzten Stühle mit ihrer verblichenen Handstickerei in den Lehnen. An der Wand breitete ein wuchtiger Schrank aus dunkler Eiche, den die Zeit mit schwarzglänzender Patina poliert hatte, seine anspruchsvolle Geräumigkeit. Ein großer Spiegel in antikem Rahmen hing über dem Kamin, den seltsame Figuren, in Hochrelief gearbeitet, schmückten. Wundersam fein war das Gesicht einer christlichen Dame, die von einer Nachbarnische aus durch einen wilden Sarazenen bewacht wurde.

Von der tiefroten Seidentapete der Wände hoben sich die schwarzen Rahmen der Bilder von Harrow und des Kollege in Cambridge, von Pferden und Hunden, sowie einiger stark gedunkelter Gemälde. Da war ein Kavalier im Van-Dyck-Kostüm, der vielleicht einmal hier gewohnt hatte, und eine Dame, die eine Samtmaske in der Hand hielt. Vielleicht hatte sie oftmals in dem Spiegel über dem Kamin ihre junge Schönheit bewundert. Aber dem Sofa hing ein alter Degen. Das Seltsamste in diesem Gemach aber waren zwei Totenschädel, die von schwarzen Postamenten her in die Bizarrheit der Stube hineingrinsten.

Byron trat an den Schreibtisch und überflog die Post. Da war ein Brief von Herrn Dallas mit vielen guten Ratschlägen und Anmaßungen. Der Mann begann ihm lästig zu werden. Dann war ein Schreiben von seinem Universitätsfreunde, dem lieben, milden Theologen Hodgson. Und hier grüßte die traute Handschrift seiner Stiefschwester Augusta. Er legte das Schreiben zurück als Freudenstück und griff zuerst zu dem mütterlichen Briefe aus Southwell. Behaglich setzte er sich in den neuen Schreibsessel und las mit mokantem Zucken der beredten Mundwinkel.

Die Frau lebte in diesem Briefe. Er hob an mit bitteren Vorwürfen und Klagen darüber, daß der Sohn ihr verboten hatte, nach Newstead zu kommen. Nicht ihretwegen wollte sie bei ihm sein, ja nicht. Sie sei nur zu froh, wenn sie nichts von diesem ungeratenen Burschen sehe. Aber sie habe gehört, welches sündhafte Leben er in London geführt habe, und daß seine Schulden ins Maßlose stiegen. Deshalb wollte sie kommen und über ihn wachen. Denn er solle ja nicht glauben, daß er ihrer Zucht entwachsen wäre. Er sei ein törichter Knabe mit verbrecherischen Anlagen. Ja, er sei ein echter Byron, ein Schuft, wie sein Vater, der mit Recht der »wahnsinnige Jack Byron« genannt worden sei. O, sie wolle nicht an diesen Halunken denken, das schade ihrer ohnehin nicht allzufesten Gesundheit. Aber sie könne und könne nicht vergessen, daß er ihr ganzes Leben vernichtet habe, dieser Unhold, der zuerst die Marquise von Charmarthen ihrem Gatten entführt und zu Tode gequält und sich dann nach einem neuen Opfer umgesehen und sie, gerade sie, die unselige Miß Gordon aus dem Geschlecht der Stuarts dazu auserkoren habe. O, sie fluche der Stunde, in der sie seinen Lockungen gefolgt war. Nie werde sie ihm verzeihen, daß er in wenigen Wochen ihr ganzes Vermögen verpraßt habe und dann nach Frankreich davongelaufen sei und sie zurückgelassen habe, hilflos und verlassen mit diesem entsetzlichen Kinde unter dem Herzen, das er, George, geworden sei. Ja, er ähnele seinem Schurken von Vater. Aber, was an ihr sei, werde sie tun, diese ruchlosen Anlagen in ihm auszurotten. Sie werde ihre Pflicht erfüllen und nach Newstead kommen, ob er sie nun dort haben wolle oder nicht. Und plötzlich mußte die Schreiberin beim Abfassen des Briefes einen ihrer häufigen wirbeligen Wutanfälle gepackt haben. Denn plötzlich erging sie sich in den wildesten Verwünschungen und unflätigsten Schmähworten gegen ihren geliebten Sohn George und drohte, sie würde ihm die Augen auskratzen, wenn er sie nicht sofort zu sich riefe, dieser lahme Hund. Dann aber kam, wie stets bei ihr, ein rascher Umschwung, und sie überhäufte ihr »einziges geliebtes Kind« mit den süßesten Zärtlichkeiten.

»Das einzige geliebte Kind« schleuderte das Papier verächtlich auf den Teppich und setzte den lahmen Fuß darauf, als ob er etwas zertrete. Sie sollte wagen, zu kommen! Dieses Weib, das ihm mit ihren Launen und tobsüchtigen Narreteien die Kindheit vergiftet hatte! Er würde Rush, die Dogge, auf sie hetzen, Ha, und der Wolf und der Bär lagen auch nicht umsonst an der Treppe. Sie würde es wohl nicht wagen, zwischen ihnen hindurchzuschreiten. Er hatte genug unter ihr gelitten. Er dachte an den Abend in Southwell, an dem sie beide in die Apotheke gegangen waren, zu fragen, ob der andere Gift gekauft hätte, weil jeder einen Mordversuch des trauten Verwandten fürchtete. Er dachte an die tausend Schüsseln, Teller, Kohlenschaufeln, die ihm im Laufe ihrer »Erziehung« an den Kopf geflogen waren. Er dachte an die tausend Male, die sie ihn vor Zeugen »lahmer Hund« geschimpft hatte. Sie, die durch ihre Ungebärdigkeit in der Stunde seiner Geburt die Verkrüppelung seines Fußes verschuldet hatte! Nein, sie sollte bleiben, wo sie war. Er wollte für ihren Lebensunterhalt sorgen, weiter hatte er nichts mit ihr zu schaffen. Über seine Schwelle schritt sie nicht. – Er stieß mit der Fußspitze den Brief unter den Tisch und griff zu Augustas Brief. Er war herzlich, klug und großzügig wie die Schwester. Sie erzählte von ihrer jungen, glücklichen Ehe mit dem Oberst Leigh und suchte einen Hauch ihrer Seligkeiten auf den fanatisch geliebten Stiefbruder hinüberzuleiten. Er lächelte beglückt vor sich hin, seufzte tief auf und schlug das Manuskript seiner Satire auf. Heiter blätterte er in den Bogen.

Hm, er hatte das halbe Jahr fleißig gearbeitet, das seit jenem Abend in London verstrichen war, an dem er den Plan gefaßt hatte, sich an der gesamten Literatur Englands zu rächen. Er hatte die Werke der zeitgenössischen Dichter noch einmal gelesen und hatte erkannt, wie recht Dallas hatte mit seinem herben Urteil. Schund war es, nichts als Schund. Er blickte hinauf zu dem dritten Gemälde über der Tür, das den ersten Besitzer von Newstead Abbey darstellte, »Sir John Byron, den Kleinen mit dem großen Barte,« der von Heinrich dem Achten mit der säkularisierten Abtei belehnt worden war. Grimmig schaute der alte Degen aus brennenden wilden Byronaugen auf den späten Enkel nieder. »Wir sind ein kriegerisches Geschlecht geblieben,« grüßte der junge Lord hinauf, »und schlagen noch heute jeden nieder, der uns Schimpf tut.«

Er blätterte in dem Manuskripte und las hier eine Zeile und dort:

»Seht, dichtgedrängt in langer, bunter Reih’ Sich spreizend zieht die Schreiberzunft vorbei; Ein jeder spornt den lahmen Musengaul, Und Reim und Blankvers sind gleichmäßig faul. Sonette wimmeln, tausend Oden nah’n, Schaudergeschichten brechen wild sich Bahn, –«

Er blätterte weiter:

»O Southey! Southey! ende den Gesang; Man kann zu häufig singen, auch zu lang. Du bist ja mächtig, laß denn Gnade walten; Ein viertes Epos wär’ nicht auszuhalten.«

Er schlug das Blatt um:

Da naht dein Jünger, der stupid und still Der Dichtkunst Regeln blöd’ abschaffen will, Der simple Wordsworth, der ein Liedchen weiß, Lau wie ein Abend seines Lieblings-Mais. Er lehrt, und führt auch gleich die Probe bei, Daß Prosa Vers und Vers nur Prosa sei.«

Grimmig lächelnd las er eine andere Stelle:

»Grüßt Coleridge, nun den sanften Philosophen, Den Freund gedunsner Oden, schwülstger Strophen!«

Hui, sie bekamen ihre Hiebe, alle, auch jene, die der junge Satiriker im Grunde seines Herzens liebte und verehrte. Er wußte, daß er nicht gerecht war. Er wußte, daß er nicht objektiv Spreu vom Korn schied, doch er ballte die Fäuste und trotzte auf das Recht des Dichters, subjektiv zu sein. Und er geißelte den großen Schotten Walter Scott, den er schätzte, und den Iren Thomas Moore, den er liebte und doch mit dem unblutigen Duell verhöhnte, das er einst ausgesuchten hatte mit Jeffrey. Mit seinem Todfeinde Jeffrey, der jene Kritik in der Edinburgh Review verfaßt hatte. Man munkelte zwar, daß Brougham ihr Urheber sei. Was scherte das Byron! Er hieb blindwütig auf alle ein. Dabei traf er am zuverlässigsten auch den Schuldigen. Er nahm einen neuen Bogen und ging seinem Vormunde, dem Grafen Carlisle, zu Leibe, der einige üble Dramen verfaßt hatte. Jetzt wollte er Rache üben an diesem Mann, der sich um sein leibliches Wohl niemals gekümmert und sein Vermögen so verwaltet hatte, daß es den Verdacht erregte, er habe sich an dem Gute seines Mündels bereichert. Der Federkiel kratzte angriffslüstern über das Papier. Er schrieb:

»Und keine Muse lächelt Glück und Heil Dem gichtigen und winselnden Carlisle. Die Welt wird eines Knaben Reimereien, Wenn er zum Mann gereift ist, gern verzeihen. Doch einem Greise, der noch zirpt und girrt, Wird nie –«

Den Reim suchend, hob er den Kopf. Da bannte sein Auge der alte Degen über dem Sofa. Und plötzlich huschten seine Gedanken von der Arbeit hinüber zu der blutigen Geschichte dieses Säbels. Er erhob sich, nahm die Waffe von der Wand und zog den Stahl halb aus der Scheide. Einige dunkle braune Flecke trübten den blauen Glanz.

»Vielleicht ist es Blut,« dachte Byron, »vielleicht Rost.«

Sinnend wetzte er die Klinge hin und her.

»Wir Byrons haben jeden Schimpf gerächt,« lächelte er satanisch und dachte seines Oheims, des »bösen Lords«, der mit dieser Waffe dereinst seinen Gutsnachbarn Chaworth niedergestochen hatte. Da klirrte der Degen zu Boden. Von dem ermordeten Chaworth war des jungen Menschen Gedenken hinüber zu der geglitten, zu der einmal die heiligste Scheu seiner Knabenjahre gebetet hatte.