Lore-Roman 88 - Katja von Seeberg - E-Book

Lore-Roman 88 E-Book

Katja von Seeberg

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Beschreibung

Der arme Student Claus Heller braucht dringend eine Arbeit für die Semesterferien, als er an diesem Tag das Reisebüro betritt. Als er es wenig später verlässt, kann er selbst noch nicht fassen, wie er da hineingeraten ist. Claus soll - ohne einen Brocken Französisch zu sprechen - eine Touristengruppe nach Paris begleiten.
Schon eine halbe Stunde später steigt er in den Reisebus, in dem die Gäste schon ungeduldig warten. Da fällt sein Blick auf das Gesicht eines jungen Mädchens, das ganz und gar von samtbraunen Haaren umrahmt ist. Es hat große, tiefdunkelblaue Augen, und es kommt Claus so vor, als ob in diesen Augen eine rätselhafte Traurigkeit schimmert.
Claus soll recht behalten. Eva von Brück ist durchaus traurig. Sie flieht aus ihrem Leben: vor ihrem tyrannischen Vater und dem steifen Verlobten, den sie nie gewollt hat.
Und diese Reise nach Paris soll für Eva und Claus ein unvergessliches Abenteuer werden ...


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Inhalt

Cover

Impressum

Den anderen hab ich nie gewollt

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Nejron Photo / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9 – 783 – 7517 – 0037 – 5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Den anderen hab ich nie gewollt

Mitreißender Roman um das Schicksal der kleinen Eva

Von Katja von Seeberg

Der arme Student Claus Heller braucht dringend eine Arbeit für die Semesterferien, als er an diesem Tag das Reisebüro betritt. Als er es wenig später verlässt, kann er selbst noch nicht fassen, wie er da hineingeraten ist. Claus soll – ohne einen Brocken Französisch zu sprechen – eine Touristengruppe nach Paris begleiten.

Schon eine halbe Stunde später steigt er in den Reisebus, in dem die Gäste bereits ungeduldig warten. Da fällt sein Blick auf das Gesicht eines jungen Mädchens, das ganz und gar von samtbraunen Haaren umrahmt ist. Es hat große, tiefdunkelblaue Augen, und es kommt Claus so vor, als ob in diesen Augen eine rätselhafte Traurigkeit schimmert.

Claus soll recht behalten. Eva von Brück ist durchaus traurig. Sie flieht aus ihrem Leben: vor ihrem tyrannischen Vater und dem steifen Verlobten, den sie nie gewollt hat.

Diese Reise nach Paris soll für Eva und Claus ein unvergessliches Abenteuer werden …

„Das ist mein Ruin“, murmelte der Direktor des Reisebüros. Er hielt den Telefonhörer umklammert, als müsse er ohne diesen Halt ertrinken. Im nächsten Moment überschlug sich seine Stimme: „Das ist ganz unmöglich …! Ihr Mann kann doch nicht einfach einen Autounfall haben und mich deshalb aufsitzen lassen! Verstehen Sie, liebe Frau … äh … mir platzt jetzt eine ganze Gesellschaftsreise, bloß weil ihr verehrter Gatte nicht zum Dienst erscheint …“

Jetzt wurden die Augen von Direktor Klose glasig: „Was? … Ist schon im Krankenhaus?“

Mit einer fahrigen Bewegung legte er den Hörer auf die Gabel.

„Aus“, murmelte er, „Skandal … Katastrophe …“ Zusammengesunken saß er da.

Die letzte Minute hatte Claus Heller respektvoll geschwiegen. Er hielt es für richtig, ein bedauerndes Lächeln aufzusetzen, obwohl ihm der Sinn des soeben mitgehörten Telefongespräches im Wesentlichen dunkel geblieben war. Nun beschloss Claus – 24 Jahre alt, aus gutem Hause, Student am Polytechnikum, mit dunklen Haaren, hellen Augen und glänzenden Manieren –, sein Anliegen noch einmal vorzubringen. Es wurde ihm leicht gemacht, denn gerade fauchte ihn der Direktor an: „Was stehen Sie da herum? Wer hat Sie überhaupt zu mir vorgelassen …?“

„Eben“, sagte Claus höflich. „Ich habe nämlich Semesterferien, und da wollte ich fragen, ob ich vielleicht in Ihrem Reisebüro eine Arbeit für die Zeit bekommen könnte …?“

Der Direktor schoss von seinem Stuhl in die Höhe wie ein Ball auf einer Wasserfontäne. Er war krebsrot im Gesicht, als hätte es nur eines an ihn gerichteten Wortes bedurft, um seinen Ärger endgültig zum Überlaufen zu bringen.

„Junger Mann …“, schrie er, „sehen Sie nicht, ich habe keine Zeit! Draußen steht einer meiner Reiseomnibusse, abfahrbereit, und im letzten Augenblick hat der Reiseleiter auf dem Weg hierher einen Autounfall. Und Sie, Sie stehen hier und haben Semesterferien! Stehlen Sie anderen Leuten die Zeit Scheren Sie sich zum Teufel …“ Er rannte schnaubend an Claus vorbei, hinaus in sein Sekretariat. „Um Gottes willen …“, waren die beiden letzten Worte, die Claus von ihm noch deutlich zu vernehmen glaubte.

Aber es sollten nicht die letzten Worte bleiben.

Flegel, dachte Claus und ging aus dem Direktionszimmer in die Schalterhalle und von dort durch die Glastür auf die Straße in einen strahlenden Sommermorgen Münchens. Auf dem Asphalt trockneten die letzten Wasserspuren eines Sprengwagens.

Der ganze Morgen sah frisch gewaschen aus. Der Himmel war richtig bayrisch weißblau. Und ein warmer föhniger Wind trieb nicht nur eine Schar Lämmerwölkchen, sondern auch die bunten Kleider der Mädchen vor sich her, so dass man viele hübsche Beine sehen konnte.

Claus war in einer Sekunde wieder vergnügt. Im Zeitalter der Vollbeschäftigung sollte es für einen Studenten, der in den Ferien die schmalen Monatswechsel aufbessern wollte, nicht schwierig sein, überall Arbeit zu finden. Und er freute sich, dass er an diesem schönen Morgen nicht die Probleme des dicken Direktors hatte.

Eine Minute später hatte er sie – und zwar in einem Umfang, den er noch gar nicht voraussehen konnte.

Plötzlich nämlich – er war die Straße noch nicht weit heruntergegangen – wurde er am Jackenärmel gepackt, und als sich Claus umdrehte, sah er wiederum dem Reisebüro-Direktor ins schwitzende Antlitz. Das Krebsrot seines Gesichts war noch dunkler geworden. Aber der Gesichtsausdruck war irgendwie wohlwollender geworden.

„Junger Mensch“, sagte Direktor Klose hastig und ziemlich atemlos, „Sie sagen, Sie sind doch Student … Sprechen Sie auch Französisch ..?“

„Qui, Monsieur“, erwiderte Claus verblüfft, denn es waren so ungefähr die beiden einzigen französischen Worte, die er kannte.

Der dicke Direktor rieb sich die dicken Hände.

„Das ist ja großartig“, schnaufte er, „und kennen Sie auch Paris?“

Es fing an, Claus Spaß zu machen, den aufgeregten Mann, der ihn ebenso schäbig hat abfahren lassen, auf den Arm zu nehmen. Er sah nur noch nicht ganz, worauf dies alles hinauslaufen sollte.

Hätte Claus Heller jetzt schon voraussehen können, welche Komplikationen auf ihn zukamen, dann hätte er sogar wahrscheinlich geleugnet, Paris zu kennen, selbst wenn er es gekannt hätte.

Aber obwohl Claus nie in Paris gewesen war, antwortet er: „Wie meine Hosentasche.“

Der Bauch des Direktors schien vor Vergnügen zu wackeln. Er wollte Claus auf die Schulter schlagen, aber er kam nicht so weit hinauf.

„Sie sind mein Mann“, erklärte Direktor Klose strahlend, „und ob ich Arbeit für Sie habe! Sie werden meinen Omnibus nach Paris begleiten. Vierzehn Tage lang. Als Reiseleiter …“ Er schnaufte wieder: „Mein Gott, da habe ich ja noch mal Dusel gehabt, so schnell einen neuen Reiseleiter zu finden. Und Sie auch, ein schönes Stück Geld können Sie dabei verdienen …“

Später sollte Direktor Klose über den ‚Dusel‘, den er mit Claus gehabt hatte, noch ziemlich anderer Meinung werden.

Aber Claus war zunächst sprachlos vor Verwirrung. Er kratzte sich verlegen in seinem vollen dunkelhaarigen Schopf. Das war denn vielleicht doch ein bisschen weit gegangen, ohne eine Ahnung von Paris, ohne einen Brocken französisch eine Touristengruppe durch Frankreichs Hauptstadt zu führen.

Er wollte dankend verzichten, aber der Reisebüro-Chef ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen Er hielt ihn am Arm, als wolle er ihn nie wieder loslassen, und zerrte ihn zu einem zufällig haltenden Taxi.

„Nehmen Sie sich den Wagen. Das Geld ersetze ich Ihnen. Fahren Sie nach Hause. Packen Sie Ihre Sachen, so schnell es geht. In einer halben Stunde melden Sie sich wieder in meinem Büro …“

„Ja, aber …“

„Mensch!“, der Direktor war schon wieder dem nächsten Wutausbruch nahe, „reden Sie nicht so viel! Der Bus wartet, die Leute sind ungeduldig. Um neun Uhr war Abfahrzeit. Jetzt ist es viertel nach.“

Claus Heller saß mit benommenem Kopf in dem Taxi. Er wusste nicht, ob er sich nun amüsieren oder ärgern sollte. Und außerdem pochte es seltsam in seinen Schläfen, das gespannte Vorgefühl auf ein unbekanntes Abenteuer.

Claus bewohnte eine spartanische Studentenbude als Untermieter. Es gab nicht viel zusammenzupacken. Hemden, Zahnbürste, Rasierapparat – alles flog in heillosem Durcheinander in den Koffer.

Plötzlich stand die Wirtin im Zimmer. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie hörte, wohin es gehen sollte.

„Paris! Du liebe Güte“, sagte sie, „kommen Sie man nur nicht unter die Räder!“

An diesen guten Ratschlag sollte sich Claus noch öfter erinnern. Minuten später hetzte er die Treppe wieder hinunter, und in letzter Sekunde fiel ihm die Buchhandlung gegenüber ein. Er stürzte in das Geschäft.

„Einen Baedecker oder irgendeinen anderen Führer durch Paris, bitte“, verlangte er kleinlaut, „und ein französisches Lehrbuch für Anfänger.“

Er ließ sich die Bücher gar nicht erst einpacken, sondern schob sie sofort in die Jackentaschen. Mit diesen beiden Rettungsankern fühlte er sich wenigstens ein bisschen sicherer.

Eine Viertelstunde später – wohlversehen mit einem Vorschuss, sämtlichen notwendigen Papieren, dem Reiseprogramm und einer Menge unbrauchbarer Ratschläge von Direktor Klose – zwängte er sich nach allen Seiten grüßend durch den Mittelgang des Reisebusses.

Wegen der Verspätung war die Stimmung ziemlich nahe am Gefrierpunkt. Aus vierzig Augenpaaren wurde Claus Heller neugierig, abschätzend, prüfend, unwirsch gemustert. Vierzig ungeduldige Touristen betrachteten ihren Reiseleiter, und Claus klopfte das Herz vor Nervosität bis zum Hals.

„Wird ja Zeit, dass es mal losgeht“, knurrte Emil. Emil Borchert war der Fahrer. Und mit einem zweiten Blick auf Claus sagte er: „Du siehst ja noch ziemlich grün aus …“

Studienrat Richter klagte mit tadelnder Stimme vom hintersten Sitz: „Und das muss ich alles von meinem Geld bezahlen …“

Aber die Sekretärin Renate Göppert stieß ihre Nachbarin in die Seite und sagte kichernd: „Der ist genau mein Typ!“

Während Emil den Motor anließ, stürmten von allen Seiten Fragen auf Claus ein. Der Kolonialwarenhändler Berger neben seiner üppigen Gattin sagte:

„Ist das in Ordnung gebracht, dass meine Frau und ich ein richtiges Doppelbett im Hotel bekommen werden … und nicht diese französischen …?“

Alles lachte.

Eine alte Frau griff Claus bei der Hand.

„Und Sie glauben, dass ich meinen Sohn ganz bestimmt treffen werde?“

„Aber natürlich werden Sie Ihren Sohn treffen“, erwiderte Claus ahnungslos.

Die Frau fasste Claus so fest am Handgelenk, dass es schmerzte.

„Er ist nämlich bei der Fremdenlegion“, sagte sie dabei leise, „und Sie müssen mir helfen …“

Den Rest verstand Claus nicht mehr. Der Schreck hatte ihm schon genügt.

Der Bus rollte aus der Stadt, und Emil, der Fahrer, deutete mit einer Kopfbewegung auf das Mikrofon.

„Willst du die Leute nicht endlich mal begrüßen?“, fragte er.

„Das auch noch?“

Claus machte ein betretenes Gesicht. Er hatte noch nie vor so vielen Menschen gesprochen. Er drehte sich um, nahm das Mikrofon, und die Gesichter seiner Schützlinge verschwammen vor ihm in dem schaukelnden Bus. Er kam sich albern und deplatziert vor, als er anfing.

„Meine Damen und Herren, es ist mir eine besondere Freude …“

Im nächsten Augenblick blieb er stecken. Er starrte völlig entgeistert auf einen Punkt, genauer gesagt, auf ein Gesicht eines jungen Mädchens, das ganz und gar von samtbraunen Haaren umrahmt war. Sie trug eine Baskenmütze.

Sie hatte große, tiefdunkelblaue Augen, und es kam Claus so vor, als ob in diesen Augen eine rätselhafte weiche Traurigkeit schimmerte. Er hatte noch nie solche Augen gesehen, noch nie ein solches Gesicht, und es verschlug ihm einfach die Luft. Er wiederholte den eben gesprochenen Satz noch einmal mit ganz leiser Stimme und dabei sah er sie an:

„Es ist mir eine besondere Freude, Sie begrüßen zu dürfen … ja, wirklich“, setzte er hinzu.

Aber das Mädchen schien ihn nicht zu beachten. Dafür fing er einen herausfordernden Blick von dem jungen Mann mit der auffallenden Krawatte auf, der neben ihr saß Claus fand ihn sofort unausstehlich Später blätterte er verstohlen in den Pässen, die er eingesammelt hatte Er las ihren Namen: Eva von Brück.

Lange besah er sich das Bild, und immer wieder drehte er sich heimlich nach ihr um. Irgendetwas kam ihm merkwürdig vor. Er konnte sich nur nicht genau erklären, was. Vielleicht, dass dieses ungewöhnliche Geschöpf mit dem vornehmen Namen gar nicht in so eine doch ziemlich durchschnittliche Reisegesellschaft passte …?

Auch die Sekretärin Renate Göppert hatte in diesem Augenblick den gleichen Gedanken. Sie drehte sich mehrmals nach Eva um. Dabei kniff sie die Augen zusammen, und plötzlich stieß sie ihre Nachbarin, eine Kollegin aus der gleichen Firma, heftig an.

„Du“, sagte die blonde Renate, „kennst du die da hinten …?“

Die andere schüttelte den Kopf.

„Merkwürdig“, fuhr Renate kopfschüttelnd fort, „wenn das nicht die Tochter vom Chef ist, fresse ich einen Besen …“

„Was?“, fragte die Nachbarin, jetzt auf einmal auch hellauf neugierig, „die Tochter von unserem Chef?“

„Genau“, sagte Renate, „einmal habe ich sie im Betrieb gesehen. Da hat sie ihren Vater besucht. Das ist sie, bestimmt, ich erkenne sie wieder.“

„Na ja“, meinte die andere, „warum soll sie’s nicht sein?“

„Die?“ Renate ließ nicht locker, „die fährt doch sonst nicht mit dem Bus, sondern im dicken Wagen mit Chauffeur. Und außerdem“, Renate tuschelte, „ist sie verlobt. Und der Kerl an ihrer Seite ist bestimmt nicht ihr Verlobter.“ Renate setzte sich steif zurecht.

„Hier stimmt etwas nicht“, sagte sie bedeutungsvoll.

***

Den gleichen Satz sprach Walter von Brück, Generaldirektor und Eigentümer einer großen Maschinenfabrik, als er zum Mittagessen in seiner Villa in München-Harlaching erschien. Missbilligend deutete er auf den leeren Platz seiner Tochter Eva am Esstisch im großen Speisezimmer.

„Wo ist Eva? Ich wünsche, dass sie sich endlich Pünktlichkeit angewöhnt.“

Pünktlichkeit, das war das zweite Wort des Hausherrn, der gewohnt war, dass alles im Betrieb, im Leben und zu Hause sich nach einer einzigen Uhr zu richten hatte, nämlich nach seiner eigenen.

Den zweiten missbilligenden Blick warf er seiner Schwester zu. Johanna von Brück war eine resolute Fünfzigerin, die ihrem Bruder den Haushalt führte und das zahlreiche Personal beaufsichtigte, seit er geschieden war.

Aber an diesem Mittag schien sie gar nicht so resolut wie sonst, sondern eigentlich sogar völlig geknickt. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und wechselte plötzlich die Farbe in tiefe Blässe.

„Nun, wo ist Eva?“, wiederholte Herr von Brück ungeduldig.

Da gab seine Schwester jede Hoffnung auf eine Galgenfrist auf.

„Sie ist … verschwunden.“

Auf dem vorspringenden kantigen Schädel des Fabrikherrn erschienen steile Falten.

„Was soll der Unsinn? Wo ist sie?“

„Walter, ich sage dir, sie ist verschwunden. Sie hat zwei Koffer mitgenommen und das meiste von ihren Sachen …“

Walter von Brück warf seiner Schwester einen einzigen vernichtenden Blick zu. Dann ging er mit großen Schritten aus dem Raum, die Treppe hinauf, in das Zimmer seiner Tochter.

In wenigen Sekunden war er wieder unten. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. Er würdigte seine Schwester keines Blickes. Mit den gleichen großen, entschlossenen Schritten ging er durch die Diele aus dem Entree auf den Einfahrtsweg zu den Garagen. Er öffnete die Garage, in der Evas kleiner Sportwagen zu stehen pflegte. Er war auch jetzt da. Walter von Brück verzog keine Miene. Er ging ins Haus zurück, zum Telefon.

Er wählte die Privattelefonnummer seines größten geschäftlichen Konkurrenten – seines zukünftigen Schwiegersohnes. Doch, das hatte Walter von Brück alles sehr gut eingefädelt, bis jetzt. Brück schlug einen jovialen, belanglosen Tonfall an.

„Sag mal, lieber Kurt, kann ich Eva eben mal sprechen …“

„Eva?“, fragte Kurt Hülsen betreten zurück, „wieso? Sie ist nicht bei mir.“

„So“, meinte Walter von Brück möglichst gleichgültig, „sie ist heute auch nicht bei dir gewesen? Es hätte ja sein können. Ihr seid doch schließlich verlobt …“ Es sollte scherzhaft klingen.

Kurt Hülsen wurde nervös. „Ist etwas mit Eva …?“

Brück verzog den Mund. „Eine Gegenfrage. Habt ihr irgendeine kleine Auseinandersetzung gehabt?“

„Auseinandersetzung. Aber nein! Was ist denn los?“

„Ach, nichts Besonderes“, gab Walter von Brück zurück, er spielte gedankenlos mit der Telefonnummer, „vielleicht fühlt sie sich auch nur nicht gut. Kommt ja bei Mädchen gelegentlich vor …“

Er legte rasch auf. Er hatte nicht die Absicht, über Evas Verschwinden genauere Auskünfte zu geben. Tölpel, dachte er, wenn du wenigstens ein richtiger Kerl wärst.

Aber jetzt spielten seine Kiefermuskeln. Er dachte angestrengt nach. Ein Skandal musste jedenfalls vermieden werden.

Seine Schwester stand hinter ihm. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

„… und du erkundigst dich noch, mit wem Eva vielleicht einen Krach gehabt haben könnte?“, fragte sie ihren Bruder ironisch.

„Wieso nicht?“

„Na, meines Erachtens hat sie mit keinem anderen Menschen einen Krach gehabt als mit dir. Und das erst gestern.“

Walter von Brück musterte seine Schwester, als wäre sie sein unterster Angestellter.

„Wie, bitte?“

„Hast du ihr nicht gestern erst verboten, weiter zu studieren? Treibst du sie nicht in diese Ehe hinein, die ihr ein Gräuel ist? Hältst du sie nicht von ihrer Mutter fern …?“

„Hör auf!“, schrie Walter von Brück in plötzlicher, jäher Wut.

Seine harten Augen waren dunkel geworden. Niemand durfte, auch seine Schwester nicht, den Namen der Frau erwähnen, mit der er einmal verheiratet war.

Augenblicklich griff er wieder zum Telefonhörer. Er rief seinen Rechtsanwalt an, der gleichzeitig der Syndikus der Firma war.

„Hören Sie zu, Pechel“, erklärte er befehlsgewohnt, „meine Tochter ist verschwunden, und Sie werden sie wieder herbeischaffen … Ja, strengste Diskretion … Beauftragen Sie ein Detektivbüro … Sprechen Sie mit der Kriminalpolizei, Sie selbst, damit nichts herausrutscht, und dann lassen Sie eine Fahndung herausschreiben und die Grenzen sperren …“

„Walter“, sagte seine Schwester im Hintergrund, „du bist ein unglaublicher Tyrann.“

Walter von Brücks Kopf fuhr herum.

„Tyrann?“, fauchte er wütend. „Ich ein Tyrann? Ich sorge für Ordnung in meinem Haus … sonst nichts!“

***

Knapp vier Stunden später hämmerten die Fernschreiber den Namen Eva von Brück an alle großen Grenzübergänge.

Aber um diese Zeit fuhr der Autobus, in dem Eva als Gesellschaftsreisende und Claus Heller als Reiseleiter saßen, bereits durch Straßburg.

Emil Borchert, der Fahrer, blinzelte Claus von der Seite zu.

„Du musst den Leuten etwas erzählen“, flüsterte er.

Straßburg … überlegte Claus. Ja, darüber wusste er noch ein paar Kleinigkeiten aus der Schule. Er merkte, dass die Sekretärin Renate Göppert ihn fixierte. Aber das Mädchen mit den braunen Samthaaren und der Baskenmütze, Eva von Brück, wich seinem suchenden Blick beharrlich aus.

„Meine Damen und Herren“, begann er unsicher, „wir befinden uns mittlerweile in Straßburg …“

Dann erzählte er in aller Ausführlichkeit, was er über das Straßburger Münster wusste. Wann und von wem es gebaut worden war, warum der eine Turm keine Spitze hat, und dass Goethe als junger Student häufig auf den anderen Turm gestiegen war, um von einer kleinen Plattform aus in die gähnende Tiefe zu starren. So hoffte der junge Goethe, seine Anfälligkeit für Schwindelgefühle zu überwinden …