Lösbare und unlösbare Aufgaben in der Paarberatung (Leben Lernen, Bd. 297) - Martin Koschorke - E-Book

Lösbare und unlösbare Aufgaben in der Paarberatung (Leben Lernen, Bd. 297) E-Book

Martin Koschorke

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Beschreibung

Dies ist das erste Buch, das sich speziell der Supervision und Selbstsupervision in Paarberatung und -therapie widmet. Es zeigt, wie der Paarberater, die Paarberaterin Überblick und Souveränität zurückgewinnen – zum Vorteil des »schwierigen« Paares wie zum eigenen Wohl. Heftige Gefühlsausbrüche, eisiges Schweigen, riesige Erwartungen sind das täglich Brot des Paarberaters und der Paartherapeutin. Nicht selten werden sie so in die Dynamik des Paares hineingezogen – die professionelle Distanz kommt abhanden. Hier kann gute Supervision Abhilfe schaffen.   Das erste Supervisionskonzept, das die speziellen Schwierigkeiten in der Paarberatung und -therapie ins Auge fasst, geht auf typische Probleme ein wie zum Beispiel: - unlösbare Aufträge zu erkennen, - die eigene Beziehungslandkarte von der des Paares zu unterscheiden oder - wieder Abstand von der Paar-Dynamik zu gewinnen.   Anschaulich und an Beispielen werden die einzelnen Schritte einer effektiven Supervision erklärt. Auch zur Selbstsupervision finden sich Techniken und interessante Herangehensweisen, denn nicht immer ist in kritischen Situationen Supervision notwendig oder verfügbar. Dieses Buch richtet sich an: - PaarberaterInnen - PaartherapeutInnen - SupervisorInnen in der Paartherapie

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Seitenzahl: 170

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Martin Koschorke

Lösbare und unlösbare Aufgaben in der Paarberatung

Die Paar-Dynamik in Supervision und Selbstsupervision

Zu diesem Buch

Heftige Gefühlsausbrüche, eisiges Schweigen, riesige Erwartungen sind das »täglich Brot« des Paarberaters oder der Paartherapeutin. Nicht selten werden sie so in die Dynamik des Paares hineingezogen – die professionelle Distanz kommt abhanden. Hier kann gute Supervision Abhilfe schaffen. Das erste, speziell auf die Bedürfnisse des Paarberaters bezogene, Supervisionsbuch geht auf alle typischen Probleme anhand konkreter Beispiele und Praxiserfahrungen ein. Ebenso finden sich hilfreiche Anleitungen zur Selbstsupervision, die in kritischen Situationen wieder zur Übersicht verhelfen.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 297

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Marco/Adobe Stock

Gesetzt aus der Documenta von Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89200-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10989-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20359-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Teil 1Supervision von Paarberatung

Kapitel 1Eins zu null. Zwei zu null

Kapitel 2Territorien im Leben des Paares

Energieaufwand

Kapitel 3Territorien in der Beratung

Kapitel 4»Mein Gefühl ist nicht mein Gefühl«

»Positive« und »negative« Gefühle

Kapitel 5Kleine Auswege: Selbstsupervision

1. Besinnungszeit nach der ersten Stunde mit dem Paar

2. Hinter die Stühle des Paares treten

3. Kenntnis Ihrer Stärken

Kapitel 6Mögliche Schritte der Supervision

Kapitel 7Probleme lösen oder Problemlösungen anschauen?

Irritationen und Konflikte

Kapitel 8Beziehungslandkarten des Paares

Traditionelle oder zeitgemäße Muster

Verliebtes oder erwachsenes Verhalten

Kapitel 9Beziehungslandkarten der Berater

Die verständliche Sehnsucht nach Überschaubarkeit

Die verständliche Furcht vor Streit

Kapitel 10Einseitigkeit meiden

Kapitel 11Unlösbare Aufträge erkennen

Verliebt – oder erwachsen

Geheimaufträge

Kapitel 12Unausgesprochene Aufträge überprüfen

Kapitel 13Über den Arbeitsauftrag verhandeln

Kapitel 14Die Pflege der Liebesbeziehung im Auge behalten

Wenn das Herz zuschlägt

Auch die Entwicklung der Paarbeziehung braucht Pflege

Kapitel 15Zukunft gestalten, Neues lernen

Kapitel 16Bewegen durch Konfrontieren

Kapitel 17Vorstellungen von Sex und Leidenschaft

Kapitel 18Zureden oder hinhören: Die Ohren des Beraters

Alternative Vorgehensweisen in der Supervision

Kapitel 19Die Opferposition und andere Waffen der Paare

Die kuschelige Ecke des Selbstbemitleidens verlassen

Kapitel 20Durchhängen in der Mittelphase

Beraterische Erfolge erfolgreich sabotieren

Kapitel 21Einzelarbeit in der Paarberatung

Kapitel 22Aufträge von außen

Unausgesprochenes liegt in der Luft

Wenn die Institution Schatten wirft

Kapitel 23Wenn Beraterin oder Berater persönlich getroffen ist

Eine andere Blickrichtung

Kapitel 24Supervision: Grenzen, Verantwortung, aufmerksame Präsenz

Gewaltlos

Kapitel 25Als Supervisor gut für sich sorgen

Wie sorge ich für mich bei meiner Arbeit?

Wie gut sorge ich für mich – auch außerhalb meiner Arbeit?

Teil 2Übersichten, Tafeln, Fragen, Hinweise

Kapitel 26Stufen von Supervision

Stufe A: Lehr-/Ausbildungssupervision

Stufe B: Fall-/Arbeitssupervision

Stufe C: Supervision zur Klärung/Bearbeitung persönlicher Fragen

Kapitel 27Mögliche Themen der Supervision in der Eröffnungsphase der Paarberatung

Kapitel 28Mögliche Themen der Supervision in der Mittelphase der Paarberatung

Im Blick auf Diagnostik:

Im Blick auf Methodik:

Im Blick auf die Beziehung von Paar und Berater:

Kapitel 29Meine Rollen als Supervisor

Kapitel 30Was für eine Art von Supervision mache ich?

Kapitel 31Was für eine Art von Paarberatung mache ich, der Supervisor?

Kapitel 32Nützliche Schritte und Tugenden

Tugenden in der Supervision

Kapitel 33Die Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Diagnostik

Wie menschliche Beziehungen funktionieren

Kapitel 34Eine gute Supervision für Paarberatungen finden

Literatur

Dank

Teil 1

Supervision von Paarberatung

Und wie Paarberater sich in vielen Fällen selber helfen können

Kapitel 1

Eins zu null. Zwei zu null

Wenn ein Paarberater oder Paartherapeut nicht mehr weiterweiß, wenn sie oder er zunehmend den Eindruck gewinnt: »Ich brauche eine Supervision«, dann steht es 1:0 für das Paar. Fragen und Probleme des Paares bleiben ungelöst; das Paar fühlt sich überfordert oder hilflos; Ärger oder Resignation der Partner gewinnen die Oberhand und bestimmen bis ins Beratungszimmer die Atmosphäre: Nicht nur das Paar ist diesen Empfindungen ausgesetzt – auch die Beraterin oder der Berater ist in diese Atmosphäre eingetaucht.

In der Supervisionsstunde wird Beraterin oder Berater (= B) versuchen, sich von den Empfindungen und Gefühlen zu befreien, mit denen das Paar sie oder ihn »kolonisiert« hat. B wird ganz viel von dem Paar berichten, von seinen Problemen, Konflikten und Lösungsversuchen in der Hoffnung, diese hinter sich zu lassen. Bisweilen ist B kaum zu stoppen, das Leben des Paares hat von ihm Besitz ergriffen. Je mehr B dem Supervisor vom Paar erzählt, desto mehr dominiert das Paar nicht nur die Paarberatung, sondern auch die Supervision. Es steht 2 :0 für das Paar.

Vielleicht beginnt B die Beratung mit dem Satz: »Was führt Sie her?« Das ist eine gute Eingangsfrage. B lädt das Paar ein, sich auszubreiten. Die Dynamik der Paarbeziehung erhält ihren Platz im Beratungsraum. Allerdings rutscht B in der Folge eines solchen Beratungsbeginns nicht selten in die Dynamik des Paares hinein – und wird dann von der Atmosphäre des Paares aufgesogen oder überwältigt. Das Paar mag B auch auf andere Weise überrennen mit der Fülle seiner Probleme, mit widersprüchlichen Lösungsvorschlägen, mit biographischen Details.

Nur, es nützt dem Paar nicht, wenn das Paar auch die Supervision beherrscht. Ebenso wenig nützt es der Beraterin oder dem Berater. Die Fragen des Paares haben ihren Platz in der Beratung. Die Zeit in der Supervision indessen sollte B gehören, seiner Sicht der Beziehungsdynamik des Paares, seinen methodischen und diagnostischen Fragen, den Vor- und Nachteilen seines Vorgehens, seines Stils. Das wird B nicht davon abhalten, sich auch in der Supervisionsstunde das Beziehungsfeld des Paares einmal ganz genau und in Ruhe anzuschauen: um das Ausmaß der Blockade, der Missverständnisse und der Enttäuschungen zwischen den Partnern zu erfassen. Oder um Fallen des Beziehungsgefüges zu erkennen. Bloß, allzu oft tauchen Berater in die Probleme der Leute ein und tauchen nicht mehr auf. Solange B nicht frei atmen kann, solange die Gefühle des Paares seine Empfindungen und seinen Körper gefangen halten, hat B gar nicht ausreichend Abstand zum Paar.

Supervisionsbeispiel A:

S:Was ist deine Stärke in der Paarberatung? Was gelingt dir gut?

B:Einfühlen, Verständnis haben, Verständnis zeigen.

S:Was ist die unvermeidliche Kehrseite dieser Stärke?

B:Ausfühlen. Ich sitze mitten zwischen den beiden. Ich muss zurück. (Das Aufatmen in der Stimme von B ist deutlich zu hören.) Ich muss wieder Abstand gewinnen. Ich bin denen viel zu nahe.

S:Was will das Paar dir damit sagen?

B:Wir brauchen ganz viel Nähe, ganz viel Verständnis. Der andere gibt mir kein Verständnis mehr. Niemand fühlt sich in mich ein usw.

S:Was müsste das Paar lernen?

B:Abstand gewinnen, dem anderen zuhören.

S:Kannst du dem Paar noch aufmerksam zuhören?

B:Nein! (Mit Ärger in der Stimme.)

S:Dann hast du das Paar ja gut verstanden. Was also will das Paar dir sagen?

B:Es gibt ganz viel Ärger zwischen uns, wir können einander nicht mehr zuhören.

S:Was müsste das Paar lernen?

B:Abstand gewinnen, sich nicht von Gefühlen überwältigen lassen. Dem anderen mal sagen: Lass mich in Ruhe.

(Denkt nach. Nach einer Weile:) Das ist schwer.

S:Für wen?

B:(Lacht.) Für das Paar, und für mich.

S:Wunderbar, dann verstehst du das Paar ja und kannst gut mit ihm arbeiten.

An drei Stellen findet B in diesem ersten Supervisionsbeispiel zu sich selbst zurück. Damit gewinnt B zugleich Abstand von der bedrängenden Dynamik des Paares:

Die Frage »Was ist deine Stärke? Was gelingt dir gut?« verankert B wieder bei dem, was B kann, ganz unabhängig von dem jeweiligen Paar. B tritt aus dem Feld der Empfindungen und Gefühle heraus, die ihm das Paar übergestülpt hat und die ihn im Gespräch mit diesem speziellen Paar lahmlegen. B findet zurück zu dem, was er gelernt und womit er in Paarberatungen bislang gute Erfahrungen gemacht hat – wo er sich normalerweise kompetent fühlt.

Es ist wie bei Münzen: Jeder Mensch, der eine Vorderseite hat, hat auch eine Rückseite. Qualitäten haben unweigerlich ihre Kehrseite: Wer schnell erfasst, ist manchmal zu schnell fertig mit seinem Urteil. Wer sich normalerweise viel Zeit lässt, wird bisweilen überfahren. Wer gewöhnlich auf seine Intuition vertrauen kann, muss seinen ersten Eindruck vielleicht noch einmal anhand faktischer Gegebenheiten überprüfen. Der Kontaktfreudige sollte darauf achten, dass er selber nicht zu lange oder zu viel redet. Wenn wir als Paarberater feststecken, dann hat das Paar nicht selten eine unserer Stärken wahrgenommen, oder genauer: es hat uns an einer Kehrseite dieser Stärke erwischt.

B weiß genau, was das Paar lernen müsste. Nur das nützt wenig, denn die Erkenntnis sitzt im Kopf. Die Frage »Kannst du dem Paar noch zuhören?« bringt die Blockade ans Licht: Blockade bei B und beim Paar. Solange B von den Empfindungen des Paares überwältigt wird, reagiert B nicht als Berater. B ist kein Gegenüber und nicht frei, das Paar auf neuen Wegen zu begleiten.

Erst nachdem B sein Gefühl geäußert hat, kann die nochmalige Frage »Was müsste das Paar lernen?« einen Schritt weiterführen: Die Erkenntnis, in welche Richtung sich das Paar entwickeln könnte, verbindet sich mit B’s Nachempfinden, wie mühevoll und langwierig dieser Weg möglicherweise ist. B ist emotional beim Paar eingetaucht, beginnt zugleich aber auch wieder aufzutauchen.

Aber erst die konfrontierende Frage »Für wen?« erlaubt B, Abstand vom gefühlsmäßigen Versinken in Empfindungen und Anliegen des Paares zu finden. B kommt wieder zu sich selber, begibt sich in sein eigenes Territorium. Aus seinem eigenen Bereich als Berater heraus kann B dem Paar ein – verständnisvolles – Gegenüber werden.

B hat auf diesem Weg auch sein Lachen wiedergefunden. Wer lachen kann, lacht immer irgendwie über sich selbst. Wenn wir lachen, hat das meistens mit einer menschlichen Kehrseite zu tun. Lachen schafft Raum, Abstand. Zugleich schafft Lachen Verbindung und sorgt für Wohlbefinden. Wenige Fähigkeiten sind so typisch menschlich wie das Lachen.

Kapitel 2

Territorien im Leben des Paares

Schauen wir uns die verschiedenen Territorien oder Bereiche im Leben eines Paares, in Beratung und Supervision noch einmal an. Beginnen wir mit dem Paar.

Nichts ist uns so nahe wie unser Körper. Unser Körper ist unser persönlichster Bereich, unser intimstes Territorium. Hier können wir unglaubliches Wohlempfinden und unbeschreibliche Beglückung erleben. Wir können jedoch auch zutiefst verletzt, blockiert, verstört oder zerstört werden oder selber verletzen, blockieren, verstören oder zerstören.

Verliebte öffnen sich ihre Herzen, d. h. ihre Empfindungen, und ihre Körper. Sie möchten den anderen spüren, erfahren, ihn kennenlernen und erkunden, von ihm erobert werden oder in ihn eindringen. Solange die Partner sich gut verstehen, wachsen dabei Vertrauen und Zuneigung zwischen ihnen. Auf diese Weise entwickelt sich nicht nur die Beziehung des Paares, sondern auch die Dynamik ihres Beziehungsfeldes. Das Paar – das sind nicht nur zwei unterschiedliche Personen, die nicht ganz zufällig zueinandergefunden haben. Das Paar – das ist vor allem ein Beziehungsfeld.

Abbildung 1: Wie die Außenwelt das Paar erlebt

Abbildung 2: Wie der Paarberater das Paar sieht: »Der Klient ist die Beziehung«

Im Alltag konkretisiert sich Beziehung und die Befriedigung gemeinsamer Bedürfnisse sowie der Bedürfnisse jedes Einzelnen in ganz praktischen Situationen: Finden beide genug Nähe? Haben beide genügend Abstand? Findet jeder das Maß an Nähe und Abstand, dessen er bedarf? Pflegen sie gemeinsame Zeit? Gestehen sie sich auch individuelle Zeiten zu? Können sie gut ertragen, dass jeder auch für sich allein ist? Hat jeder genug Raum, im räumlichen, aber auch im übertragenen Sinn? Hat jeder seinen Platz, sein Zimmer, seinen Raum, seinen Zufluchtsort, an dem er sich geschützt fühlt? Hat jeder seinen Bereich in der Beziehung, Zuständigkeiten oder Verantwortung, die der andere respektiert, die er zugesteht oder wünscht?

Körper enden nicht an den Grenzen der Haut. Man kann dem anderen zu nahe treten, ohne ihn zu berühren. Man kann ihn in die Enge treiben, ohne anwesend zu sein. Partner, die beschlossen haben zusammenzuleben, geben ein Stück Selbständigkeit und Unabhängigkeit auf. Ein kurzes Lachen oder Stöhnen meines Partners, der neben mir sitzt, ein Schweigen oder eine Bemerkung, die mich automatisch oder neugierig reagieren lässt, beweist das. Wenn nach der ersten Verliebtheit die Hormone nicht mehr Liebe und Begehren in gleicher Weise befeuern, stellt sich heraus, wie ausgewogen die Partner ihr Beziehungsfeld gestaltet haben. Versucht der eine den anderen zu beherrschen, zumindest in bestimmten Teilbereichen? Beherrscht der eine den anderen, indem er sich unterwirft? Bestimmen sie gegenseitig, was der andere zu empfinden und fühlen, zu denken, zu tun oder zu lassen hat?

Tritt uns ein fremder Mensch zu nahe, im Bus, in der Straßenbahn oder anderswo, dann reagiert unser Organismus sofort. Er fühlt sich bedroht. Die gewohnte Schutzhaut, der Mindestabstand, der uns vor ungewollter Annäherung schützt, wird nicht mehr respektiert. Vielleicht nehmen wir das nicht einmal bewusst wahr. Nur: Man kann nicht nicht räumlich reagieren. Überraschende Annäherungen oder gar Übergriffe haben augenblicklich körperliche Reaktionen zur Folge: Der Puls schlägt schneller, der Blutdruck steigt, eventuell bricht Schweiß aus, die Haut zeigt sich irritiert usw. – alles Anzeichen, mit denen unser Organismus dem Bewusstsein das Auftauchen von Angst anzeigt.

Energieaufwand

Heutzutage leben Partner, die sich füreinander entschieden haben, oft auf ziemlich engem Raum beisammen. Da geschieht es unweigerlich, dass der eine den Bereich des anderen tangiert oder in ihn eindringt. Das passiert meist ohne böse Absicht. Überwiegt das gegenseitige Wohlwollen, so übersteht das Paar solche Grenzberührungen oder -überschreitungen in der Regel relativ problemlos. Doch selbst wenn zwei sich sehr mögen, kann es kurzzeitig zu Irritationen kommen. Für das Empfinden körperlicher Unversehrtheit, für das Freihalten des Raumes, den wir zum Existieren und zum Dasein benötigen, sind archaische Teile unseres Gehirns zuständig. Deren Alarm ist vorbewusst. Sie reagieren in der Regel auch schneller als unser Bewusstsein. Angesichts existentieller Bedrohung stellen sie uns die bekannten drei Reaktionsweisen zur Verfügung, über die alle Primaten verfügen: Angreifen – fliehen – sich tot stellen bzw. sich unsichtbar machen.

Normalerweise hat jedes Individuum eine Reaktionsweise, die es in einem gegebenen Lebensbereich, in vergleichbaren Lebenslagen, bevorzugt. Der eine greift im Konfliktfall erst einmal an. Ein anderer zieht sich fast automatisch zurück, wenn er Bedrohung wittert. Ein Dritter wirkt so, als bemerke er heikle Situationen einfach nicht.

Allerdings können die meisten Menschen eingeschliffene Vorgehensweisen auch ändern. Wenn sich das, was als Bedrohung erlebt wird, zuspitzt, erfolgt nicht selten ein Umschlag ins Gegenteil. Dadurch werden die Betreffenden meist jedoch nicht beweglicher. Ein Beispiel:

Siemöchte etwas von ihrem Mann.

Erdagegen fühlt sich belästigt. Seine erste Reaktion: Er ignoriert, was sie will.

Siebleibt beharrlich.

Er(seine zweite Reaktion:) Er ist nicht zu greifen, zieht sich zurück.

Siebleibt beharrlich, setzt nach.

Irgendwann wird es ihm zu viel, er greift an. Vielleicht explodiert er oder wird auf die eine oder andere Weise gewalttätig.

Der Umschlag ins Gegenteil ist in der Regel mit hohem Energieaufwand verbunden. Er stellt ja eine Antwort auf eine als zugespitzt wahrgenommene Bedrohung dar. Infolgedessen ist die betreffende Person emotional hoch aufgeladen, bis zum Äußersten reaktionsbereit, wirkt zugleich jedoch rigide und in seinen Verhaltensmöglichkeiten eingeschränkt. Von Vernunft, Einsicht, Wohlwollen gegenüber dem Partner ist in diesem Moment nicht viel zu spüren. Die Bereitschaft und Fähigkeit, alternative Lösungen ins Auge zu fassen, besonders wenn sie den Betreffenden etwas kosten, sind abhandengekommen oder stark reduziert.

Tragischerweise schlägt sich das bei Paaren, die sich existentiell bedroht fühlen, auch im Stil der Auseinandersetzung nieder. Das Kommunikationsverhalten, die Fähigkeit, aufmerksam hinzuhören und angemessen zu antworten, wird ebenfalls von dieser Rigidität erfasst. Es kommt zu typischen, immer wiederkehrenden Kreisläufen.

Angriff → Flucht, Flucht → Angriff

komplementäre Gewalt

Angriff → Angriff

Streit, symmetrische Gewalt

Flucht → Flucht

Erstarren, Absterben der Bereitschaft, sich mitzuteilen

Flucht → Sich tot stellen

Scheinharmonie, Vermeiden, Schweigen.

Usf.

Je häufiger solche Muster wiederkehren, desto mehr verstärken sie sich. Es besteht die Tendenz, dass sie zur Gewohnheit werden und sich einschleifen.

Kapitel 3

Territorien in der Beratung

Auch im Beratungszimmer gibt es unterschiedliche Bereiche. Meist sind sie unsichtbar, aber doch vorhanden. Nicht immer sind die Grenzen, etwa zwischen dem Bereich von B und dem Bereich des Paares, klar zu erkennen. Doch spüren die Beteiligten deutlich, ob diese Bereiche respektiert, ob Abgrenzungen eingehalten werden oder ob Überfälle stattfinden bzw. die Beteiligten sich davonmachen.

Abbildung 3: Invasion eines Paares

Jede Beraterin, jeder Berater weiß auch: Mein Sitz ist der wichtigste Platz im Beratungszimmer. Wenn es mir nicht gut geht in meinem Bereich, kann ich nicht zugewandt und aufmerksam sein für das, was das Paar mir anvertrauen will. Wenn ich nicht auf mich achte, kann ich auch nicht gut auf das Paar achten und auf das, was es miteinander treibt. »Mein erster Klient bin ich selbst« (Fanita English, mündliche Mitteilung). Nur wenn ich mich selber wirksam schütze, kann ich auch die Partner wirksam schützen.

Abbildung 4: Ausreichender Abstand zwischen B und dem Paar

Der Schutz für B sind die Regeln, die B in der Beratung vorgibt, der Rahmen, in dem B arbeitet, die ihm vertraute Vorgehensweisen, seine methodische, diagnostische und persönliche Erfahrung mit Paaren. Aber auch die Art und Weise, wie B sein Beratungszimmer einrichtet und die Sitze anordnet, wo B seinen Sitz und die Sitze der Klienten hinstellt, kann eine Rolle spielen. Das hängt von örtlichen Gegebenheiten oder Arbeitsbedingungen ab und kann ganz unterschiedlich sein. Jede Beraterin, jeder Berater entwickelt mit der Zeit einen eigenen Stil und bestimmte Vorlieben. Wenn B an seiner Stelle oder in seiner Praxis über ein eigenes Zimmer verfügt, wird B diesen Raum so einrichten, dass B sich dort wohlfühlt. Normalerweise hat B einen festen Platz. Diesen Platz kann B als Beraterstuhl markieren oder gegebenenfalls auch freundlich und bestimmt als seinen Sitz verteidigen. Manche Berater sitzen gerne näher an der Tür, damit sie, falls einer der Beratenen fluchtartig den Raum verlassen will, aufspringen können und etwa sagen: »Ich habe etwas nicht mitbekommen – können Sie mir helfen zu verstehen?« Andere Berater sitzen nicht gerne mit dem Rücken zur Wand, damit ihnen das Paar oder einer der Partner nicht zu sehr auf die Pelle rücken kann und B auf diese Weise bedrängt.

Abbildung 5: B eingeklemmt zwischen Wand und Paar

Manche Berater wiederum überlassen dem Paar die Auswahl der Sitze und nutzen das für diagnostische Überlegungen. Ein solches Vorgehen ist in Ordnung, sofern B sich auf jedem der verbleibenden Stühle gleich wohl fühlt. Denn sobald mich irgendetwas im Raum irritiert oder stört, besteht die Gefahr, dass ich abgelenkt bin und nicht voll präsent. Indem B schützend für sich sorgt, schützt B auch das Paar und das Verfahren Paarberatung.

Für das Paar ist der Beratungsraum das Zimmer von B. Die Partner kommen in der Regel mit gemischten Gefühlen in die Beratung. Sie bringen ihre Vorbehalte, Hoffnungen, Ängste, Ärger und Vorwürfe mit. Eine kürzere oder längere Zeit von Spannungen liegt hinter ihnen. Die Partner haben alles versucht, was in ihrer Macht steht, um ihre Beziehungskrise abzuwenden. Jeder hat sein Möglichstes getan. Doch das war nicht ausreichend oder offensichtlich genau das Falsche. Es hat die Krise nur verschlimmert. Die Partner verstehen nicht, warum der andere sie nicht versteht oder nicht verstehen will. Zugleich tun sie so, als ob sie immer noch hoffen, der andere werde sie – endlich – doch noch verstehen. Sie sind einmal angetreten, um miteinander und durch den anderen glücklich zu sein. »Früher hast du mich doch verstanden, warum jetzt nicht mehr? Früher warst du die Quelle meines Glücks, jetzt bis du die Quelle meines Unglücks. Was ist mit dir los?«

Abbildung 6: Anfangs und später

Auch wenn beide Partner im Beratungsraum anwesend sind, können sie ganz unterschiedlich motiviert sein. Vielleicht möchten beide tatsächlich in ihrer Paarbeziehung und individuellen Entwicklung weiterkommen. Oder sie haben eine Auflage zu erfüllen, des Jugendamtes, des Scheidungsrichters, und wären am liebsten ganz woanders. Oder sie haben den Eindruck voneinander, unterschiedlich motiviert zu sein. Oder sie tun so, als ob sie unterschiedlich motiviert seien. Häufig sieht es so aus, als sei der eine viel mehr zum Gespräch bereit als der andere. Dann kann sich ganz schnell eine bestimmte Dynamik entwickeln: Je weniger der eine sich gesprächsbereit zeigt, desto stärker betont der andere seine Gesprächsbereitschaft (was er ja auch gefahrlos tun kann, weil der andere seinen Anteil mangelnder Motivation offen zur Schau trägt). B sitzt also möglicherweise vor unterschiedlichen »Motivationsterritorien« und ist verwirrt.

Abbildung 7: Motivationsterritorien

Angesichts dieser Situation kann B auf seine berufliche Erfahrung zurückgreifen, nämlich: Menschen im Allgemeinen – und zerstrittene Lebenspartner im Besonderen – sind ambivalent