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Katharina Jurka

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Beschreibung

NIEDRIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Wir hatten etwas gemeinsam, und das hasste ich**  An der elitären Crawford University wird eine Studentin als vermisst gemeldet – und für Maddie ist nichts mehr, wie es war. Denn auch wenn die beiden Studentinnen sich kaum kannten, hat die verschwundene Amelia ausgerechnet Maddie eine Reihe an Hinweisen hinterlassen. Auf der Suche nach Antworten muss die Eisprinzessin der Crawford University mit Adrian zusammenarbeiten, Amelias bestem Freund und Maddies größtem Rivalen. Während die beiden ein Netz aus Intrigen offenlegen, die mehr mit Maddie zu tun haben, als ihr lieb ist, fällt es ihnen immer schwerer, sich zu hassen. Doch kann Maddie Adrian vertrauen, wenn jeder auf dem Campus etwas mit Amelias Verschwinden zu tun haben könnte?  Ein mysteriöser Cold Case, eine verschwundene Studentin, zwei Rivalen, die ein düsteres Geheimnis aufdecken müssen – willkommen an der Crawford University.  //»Lost Girls Never Lie« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.// 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katharina Jurka

Lost Girls Never Lie

Wir hatten etwas gemeinsam, und das hasste ich.

An der elitären Crawford University wird eine Studentin als vermisst gemeldet – und für Maddie ist nichts mehr, wie es war. Denn auch wenn die beiden Studentinnen sich kaum kannten, hat die verschwundene Amelia ausgerechnet Maddie eine Reihe an Hinweisen hinterlassen. Auf der Suche nach Antworten muss die Eisprinzessin der Crawford University mit Adrian zusammenarbeiten, Amelias bestem Freund und Maddies größtem Rivalen. Während die beiden ein Netz aus Intrigen offenlegen, die mehr mit Maddie zu tun haben, als ihr lieb ist, fällt es ihnen immer schwerer, sich zu hassen. Doch kann Maddie Adrian vertrauen, wenn jeder auf dem Campus etwas mit Amelias Verschwinden zu tun haben könnte?

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Danksagung

© Helene Jurka

Katharina Jurka, geboren 2001, liebt schon seit ihrer Kindheit Bücher jeglicher Art. Ihr Herz schlägt für Literatur, Sprache und alles, was damit zusammenhängt. Wenn sie durch das Schreiben nicht gerade in andere Welten abtaucht, lebt sie in der Nähe von München, arbeitet im Gesundheitswesen und lässt sich bei jeder Gelegenheit zu neuen Geschichten inspirieren. Auf Instagram tauscht sie sich unter worttraeumerin mit anderen Buchliebhaber*innen aus.

Für Helene, weil du gesagt hast, dass es nicht geht, dass dieses Buch keine Widmung hat.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell sensible Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Inhaltswarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Katharina und das Cove Story-Team

Kapitel1Maddie

Amelia Clayton ist verschwunden.

Es war nur ein einziger Satz, aber er drang aus jeder Ecke des Crawford Colleges an meine Ohren. Die Gesprächsfetzen türmten sich wie eine Wand vor mir auf, die drohte, jede Sekunde einzustürzen und mich unter sich zu begraben. Die Studierenden standen in Grüppchen eng aneinandergedrängt und steckten die Köpfe zusammen. Manche flüsterten, manche sprachen lauter, überall hörte ich ihren Namen. Ein kalter Schauder rieselte über meinen Rücken und die Kälte kroch unter meine dünne Seidenbluse, bis meine Arme von einer feinen Gänsehaut überzogen waren.

Alle redeten darüber, dass gerade zwei Officer Amelias Wohnheimzimmer durchsuchten, weil seit zwei Tagen niemand etwas von ihr gesehen oder gehört hatte. Ich hatte die beiden uniformierten Männer in der Ferne gesehen, zwei Fremdkörper auf dem Campus.

Das Gerede ebbte erst ab, als ich den Raum erreichte, in dem mein Toxikologie-II-Seminar stattfand. Bis auf das Rascheln von Papier war es herrlich still, was mir ein erleichtertes Seufzen entlockte. Durch die Fenster schien die Sonne, sodass Staubkörner wild durch die Luft tanzten und der dunkle Parkettboden zwei Nuancen heller wirkte. Der Raum, der Platz für knapp zwanzig Studierende bot, war gefüllt mit Reihen an Einzeltischen und Stühlen. Ganz vorne gab es ein Rednerpult und ein großes Whiteboard, moderne Technik, die im Kontrast zum alten Gebäude stand.

Alles wie immer.

Professor van Doren nickte mir freundlich zu, während ich an ihm vorbei- und zu meinem gewohnten Platz in der zweiten Reihe lief. Die Anspannung löste sich aus meinen Schultern, als ich mich auf den Stuhl setzte und meine Unterlagen aus der Tasche holte. Zeitgleich drehte sich die junge Frau an dem Tisch vor mir um.

Leonora Reyes, beneidenswert hübsch mit ihrer bronzefarbenen Haut und den dunklen, glänzenden Locken, lächelte mich mit ihren vollen Lippen an. »Hey, Maddie. Verrückter Tag, was?«

»Ja. Es ist …« Ich verstummte, weil mir die passenden Worte fehlten.

Leonora nickte verständnisvoll. »Hoffentlich geht es Amelia gut. Erinnerst du dich an letztes Jahr, als sie ein paar Tage alle Kurse geschwänzt hat? Das Ganze erinnert mich ein bisschen daran, aber es ist schon seltsam, dass wirklich niemand weiß, wo sie abgeblieben ist …«

Der Rest ihrer Worte ging im Rauschen meiner Gedanken unter. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf Professor van Doren, in der Hoffnung, er würde mit seinem Vortrag beginnen. Ich wollte nicht über Amelia reden, es reichte ja schon, dass mich das Gerede auf dem Campus zu erdrücken schien.

»Maddie?« Leonora sah mich aus großen Augen an, als hätte sie mich etwas gefragt.

»Entschuldige.« Ich strich mir eine blonde Strähne hinters Ohr und konzentrierte mich wieder auf sie. »Was hast du gefragt?«

»Ob du eine Vermutung hast, wo sie steckt.«

»Keine Ahnung.« Ich presste die Lippen zusammen. »Aber warum fragst du mich das? Nur, weil Amelia auch bei den Swords ist, heißt das doch nicht, dass ich immer weiß, wo sie sich gerade rumtreibt.«

Der letzte Satz kam schärfer rüber als beabsichtigt und bewirkte, dass Leonora den Kopf einzog und mich ängstlich ansah. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. Angst, vor mir? Das war Blödsinn. Die Menschen fürchteten sich nur vor der Person, von der sie dachten, dass ich sie wäre. Die kühle Milliarden-Erbin und die Eisprinzessin der Crawford University, ein Spitzname, den ich den Daggers zu verdanken hatte. Was vollkommener Blödsinn war, denn Eisprinzessin suggerierte, dass ich nichts fühlte. Aber das Gegenteil war der Fall.

Seufzend kniff ich mir mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und atmete tief durch, ehe ich zu Leonora sah. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht anblaffen. Das Ganze nimmt mich ein bisschen mit.«

»Ist nicht schlimm, ich verstehe das.« Jetzt lächelte sie wieder.

Ich wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick bat Professor van Doren um Ruhe, woraufhin unser Gespräch versiegte. Leonora rutschte zurück an ihren Tisch, um dem Vortrag unseres Dozenten aufmerksam zuzuhören. Mir fiel es deutlich schwerer als sonst, ihm zu folgen, weil meine Gedanken stetig um Amelias Verschwinden kreisten. Das taten sie auch noch, als ich nach Ende des Seminars den Kursraum verließ.

»Miss Winslow?«

Überrascht hielt ich inne und musterte den Officer, der mit seinem Kollegen im Flur auf mich zukam. »Ja?«

»Mein Name ist Officer Garcia und das ist mein Kollege Officer Warren. Wir untersuchen das Verschwinden von Miss Clayton und würden gern kurz mit Ihnen sprechen«, sagte er ernst.

Ich zwang ein freundliches Lächeln auf meine Lippen. »Über Amelia? Warum das? Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein«, erwiderte Garcia. »Wir sprechen mit allen Personen aus ihrem Umfeld, um uns einen Überblick über die Lage zu verschaffen.«

Ich nickte.

»Wenn Sie uns bitte folgen würden.« Officer Garcia und sein Kollege führten mich in ein kleines Büro im Erdgeschoss des Colleges, wo er mir bedeutete, mich auf einen Stuhl vor einem Schreibtisch zu setzen. Er selbst nahm mir gegenüber Platz. Kurz richtete ich meinen Blick an ihm vorbei und durch Bogenfenster mit den dunklen Holzrahmen nach draußen. Das Grün des Parks, der sich zwischen dem Crawford College und dem Stryker College befand, blitzte beruhigend hinter dem Glas hervor. Der strahlend blaue Himmel und das bunte Glühen der verfärbten Laubbäume luden dazu ein, über den Campus zu spazieren und den warmen Herbsttag zu genießen.

Ich rieb mir über die Arme, ein kläglicher Versuch, die Kälte zu vertreiben, die sich so hartnäckig in meinen Knochen festgebissen hatte, und sah Officer Garcia an.

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte ich.

»Wann haben Sie Miss Clayton das letzte Mal gesehen?«, erwiderte er mit einer Gegenfrage.

»Letzten Freitag«, erwiderte ich. »Ich war über das Wochenende nicht hier, sondern in Boston bei meiner Familie.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Nein.«

»Aber Sie sind wie Miss Clayton Mitglied in der Studierendenverbindung Feather and Sword?«

»Das ist richtig«, antwortete ich. »Trotzdem sind wir nicht befreundet.« Was nicht zuletzt auch daran lag, mit wem sie sich sonst so herumtrieb. »Wir sehen uns oft flüchtig in der Verbindung, doch das war’s eigentlich. Außer …«

Officer Garcia beugte sich interessiert vor. »Ja?«

»Sie hat mir am Wochenende geschrieben, dass sie dringend mit mir reden möchte. Das war ein bisschen untypisch, weil wir sonst nicht viel Kontakt haben.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vermutlich ging es nur um die Halloweenparty, die wir organisieren.«

»Hm«, machte Officer Garcia und notierte sich etwas auf einem Zettel, der vor ihm lag.

»Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht wirklich weiterhelfen kann.«

Der Officer schüttelte den Kopf. »Das macht nichts, Miss Winslow. Vielen Dank trotzdem für Ihre Zeit. Sollten wir noch mal etwas von Ihnen benötigen, kommen wir auf Sie zu.«

»Gut.« Ich erhob mich und verabschiedete mich von den beiden Polizisten, ehe ich das Büro verließ. Auf dem Flur blieb ich kurz stehen, um tief durchzuatmen, doch es half immer noch nicht gegen das flaue Gefühl, das sich in meinem Magen festgesetzt hatte.

***

Da für diesen Tag keine weiteren Kurse mehr anstanden, machte ich mich nach der Befragung direkt auf den Weg in die Bibliothek, um ein wenig an einem Essay zu arbeiten, und nach zwei Stunden weiter zum Wohnheim des Crawford Colleges. Mein Blick huschte über das Gelände, erfasste jedes Detail. Jetzt, zu Beginn des Wintersemesters, hatte der Indian Summer, für den Neuengland berühmt war, seinen Höhepunkt erreicht. Zwischen den bunten Farben wirkten der Naturstein, die vielen kleinen Türmchen und Erker und die dunkelgrauen Dächer der alten Universitätsgebäude düster und mysteriös. Eine salzige Brise wehte vom Meer herüber. Das war die Crawford University: eine kleine private Universität auf dem Cape Cod, eine Halbinsel an der Ostküste der USA. Eine exklusive Bildungseinrichtung, dazu bestimmt, die CEOs der Zukunft auszubilden.

Viele Studierende genossen die milden Temperaturen und tummelten sich auf einer Wiese rechts von mir. Unter ihnen war auch Adrian Raith mit seinen Freunden, die sich gegenseitig einen Football zuwarfen. Ihr Johlen war im gesamten Park zu hören und sie schienen vor allem ihre weiblichen Zuschauerinnen wie magisch anzuziehen. Als wäre er sich dessen nur allzu bewusst, strich sich Adrian mit einer lässigen Handbewegung die dunklen Haare aus dem Gesicht. Er lachte über einen seiner Freunde, der bei dem Versuch, den Football zu fangen, gestolpert und im Dreck gelandet war. Dabei blieb sein Blick an mir hängen, ein, zwei, drei Sekunden lang. Ein schiefes, herausforderndes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Ich verdrehte die Augen. Adrian war mit Amelia befreundet, doch er wirkte nicht, als würde er sich große Sorgen machen. Wusste er vielleicht, wo sie war? War er besonders gut darin, seine Sorgen zu verstecken? Oder kümmerte es ihn tatsächlich nicht?

Ich riss meinen Blick von ihm los und setzte meinen Weg zum Wohnheim des Crawford Colleges fort. Dort teilte ich mir eine Wohneinheit mit meiner Freundin Isabella Barnett, die mir von einem der beiden Loungesofas vor dem Kamin zuwinkte, sobald ich die Tür hinter mir zugedrückt hatte.

»Lass mich raten.« Sie setzte sich auf, sodass ihr die braunen Locken glänzend und schwer über die Schultern flossen. »Du warst in der Bibliothek, hast mit Mrs Humphries ihren geliebten Earl Grey getrunken und beim Plaudern die Zeit vergessen.«

»Tee? In der Crawford?« Ich lachte auf und setzte mich ihr gegenüber aufs Sofa. »Bist du wahnsinnig?«

»Ist die Idee so abwegig?«

»Nur jemand, der lebensmüde ist, würde auf so was kommen.«

Bella grinste spitzbübisch. »Wenn Mrs Humphries das jemandem verzeihen würde, dann dir.«

»Möglich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber weißt du, wie lang es gedauert hat, bis ich sie so weit hatte, dass sie mich mag? Es war die reinste Folter! Ich würde das bestimmt nicht aufs Spiel setzen, indem ich so leichtsinnig bin und Tee in der Bibliothek trinke.«

»Würde ich an deiner Stelle auch nicht«, gab Bella zu und schürzte die Lippen.

Ich ließ mich rückwärts in die weichen Polster des Sofas sinken, bis ich auf die dunkle Holzvertäfelung der Decke starrte. Unser Apartment bestand aus zwei Schlafzimmern, einem privaten Bad und dem Wohnbereich, in dem wir die meiste Zeit verbrachten und dem wir unsere persönliche Note verliehen hatten. Die Wände waren in einem Dunkelgrün gestrichen und auf der breiten Fensterbank hatten so viele von Bellas Pflanzen ein Zuhause gefunden, dass sie eine Gärtnerei eröffnen könnte, wäre sie nicht dazu bestimmt, nach ihrem Studium die erfolgreiche Anwaltskanzlei ihrer Mom weiterzuführen.

Ich lauschte dem leisen Prasseln des Feuers im Kamin. Es war ruhig und warm und ich musste nur nach unten in den Speisesaal gehen, um etwas zu essen.

Im Gegensatz zu Amelia war ich in Sicherheit.

Wie es ihr wohl gerade erging? Und wie es ihrer Familie ging?

Blöde Frage, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich geht es ihnen nicht gut, wenn sie nicht wissen, wo ihre älteste Tochter steckt.

Zumindest wäre es so mit meiner Familie, wäre ich an Amelias Stelle verschwunden. Allein bei dem Gedanken an die nackte Angst auf dem Gesicht meiner Schwester Lily, der Sorge in Moms und Dads Augen, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Frustriert kniff ich die Augen zusammen. »Das ist doch bescheuert«, entwich es mir.

»Was denn?«, kam es von Bella.

»Mir geht Amelia einfach nicht aus dem Kopf.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Wurdest du auch befragt?«

Bellas aufmerksamer Blick kribbelte auf meiner Haut. »Ja.«

»Sie sollte mir egal sein. Ist sie aber nicht.«

»Du hast eben ein großes Herz«, sagte Bella schließlich und ich hätte fast gelacht. Da war sie eine der wenigen auf dem Campus, die das dachten.

Eisprinzessin.

»Tu nicht so, als wüsstest du das nicht, Maddie«, fuhr Bella fort. Ich sah zu ihr. Ihre braunen Augen funkelten entschlossen, der Schein des Kaminfeuers spiegelte sich in ihren Pupillen. In dieser Sekunde konnte ich sie mir gut vorstellen, wie sie als Anwältin in einem Gericht stand, bereit, ihren Mandanten zu verteidigen. »Es ist doch ganz natürlich, dass so ein Ereignis die Gedanken aufwühlt. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.«

Ich schluckte schwer. »Warum wühlt es dann Adrian Raith nicht auf?«

»Wie kommst du darauf, dass es ihn nicht aufwühlt?«

Das war eine verdammt gute Frage, auf die Weil er mit seinen Freunden Football gespielt hat eine verdammt schlechte Antwort wäre.

»Außerdem bist du nicht Adrian Raith.«

Ich nickte. »Du hast recht.«

»Natürlich habe ich recht.« Bella grinste, doch ihre Miene wurde nach kaum einer Sekunde wieder ernst. Kleine Falten bildeten sich auf ihrer Stirn. »Ich habe vorhin Hayden getroffen. Wenn Amelia bis morgen nicht aufgetaucht ist, will er, dass die Swords bei der Suche nach ihr helfen.«

»Das ist …« Eine gute Idee? Da war ich mir selbst nicht sicher.

Sowohl die Polizei als auch der Sicherheitsdienst des Campus suchten bereits nach Amelia. Was könnten wir da als Studentenverbindung schon bewirken? Klar, wir waren keine normale Studentenverbindung. Feather and Sword war genauso wie Heart and Dagger legendär – auf dem Campus und darüber hinaus. Mitglied zu werden bedeutete Kontakte zu knüpfen und ein eingeschworenes Team zu bilden, das sich auch später, im echten Leben, den Rücken freihielt.

Jeder, der auf dem Campus etwas von sich hielt, wollte Teil von einer der beiden rivalisierenden Verbindungen der Crawford University werden.

»Wir werden sehen, was wir tun können«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Bella, und hoffte, dass sich alles aufklären würde.

Kapitel2Adrian

Amelia, wo steckst du?

Ich saß im Sportzentrum der Crawford University am Rand der Fechtbahn, während mir die Frage nach meiner besten Freundin durch den Kopf kreiste. Den Tag über hatte ich die Gedanken an sie erfolgreich verdrängt, doch jetzt schaffte ich es kaum, mich auf den Trainingskampf der anderen zu konzentrieren. Ich verlagerte mein Gewicht und rutschte auf dem Hallenboden umher. Mein ganzer Körper stand unter Strom. Ich wollte einfach nur mit Amelia sprechen und mich bei ihr für unseren letzten Streit entschuldigen. War das zu viel verlangt?

Kurz schloss ich die Augen, ehe ich meinen Blick wieder auf die Fechtenden richtete. Das vertraute metallische Schaben, wann immer die Degen von Florence und Oliver aufeinandertrafen, erfüllte die Halle. Zwischendurch rief der Coach Anweisungen und bei Treffern ertönte das elektronische Surren der Trefferanzeige. Es roch nach Linoleum und Schweiß und das grelle Licht leuchtete jede Ecke der Halle aus.

Vorsichtig sah ich mich um. Ebenso wie Coach Hanson waren meine Teamkameraden auf den Kampf fixiert, also stand ich auf und lief schnell zum Rand, wo auf einer Holzbank meine Sporttasche stand. Ich öffnete den Reißverschluss und griff nach meiner Wasserflasche, nahm ein paar Schlucke. Dabei ließ ich meinen Blick erneut durch die Halle wandern. Die Luft war rein. Der Coach stand einige Meter weg und hatte mir den Rücken zugewandt. Wenn ich schnell war, würde er nicht sehen, wie ich gegen das Handyverbot verstieß. Ich war nicht scharf darauf, dass das ganze Team meinetwegen zu Strafrunden auf der Leichtathletikbahn verdonnert wurde. Davon abgesehen, dass mich die anderen umbringen würden.

Mit hämmerndem Herzen zog ich mein Handy aus einer der Seitentaschen. In der gleichen Sekunde stieß ich die angehaltene Luft aus.

Keine neuen Nachrichten.

Um sicherzugehen, öffnete ich den Chat mit Amelia. Doch auch hier verhöhnte mich Leere. Einzig die Nachrichten, die ich seit Samstagabend verschickt hatte, stachen mir ins Auge. Bei allen fehlten die Lesebestätigungen.

Ich: Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe. Du hast recht. Können wir reden?Ich: Ich hasse es, wenn wir streiten. Kannst du dich bitte melden?Ich: Scheiße, die Polizei ist auf dem Campus und sucht nach dir. Deine Eltern machen sich Sorgen! Wo steckst du?

Die letzte Frage las ich mehrmals. Dann schüttelte ich den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Amelia war durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Sie würde zurückkommen, wir würden reden und ich würde zugeben, dass ich mich wie ein Idiot aufgeführt hatte. Wir würden über unseren Streit lachen und die Sache hätte sich erledigt. Alles wäre wie immer. Punkt.

»Raith, du bist dran.«

Coach Hansons Stimme ließ mich zusammenzucken. Das Handy fiel mir aus der Hand in die Tasche, als hätte ich mich daran verbrannt, und ich verstaute demonstrativ meine Trinkflasche, ehe ich mich erhob. Die Halle drehte sich um mich herum, weil ich zu lang vor der Bank gekauert hatte und mein Kreislauf da nicht mitmachte. Scheiße.

»Worauf wartest du? Brauchst du eine Extraeinladung?«, fragte Coach Hanson streng.

»Sorry, Coach.«

»Du gegen Cabot. Los!« Er stellte sich mit verschränkten Armen an den Rand der Fechtbahn.

Ich drehte mich zu meinem Gegner um. Matt stand bereits auf der Matte, die Fechtmaske unter den linken Arm geklemmt, den Degen locker in der rechten Hand, und grinste mich herausfordernd an. Es wirkte wie das Zähnefletschen eines Raubtieres, das die Schwäche seines Gegenübers witterte. In diesem Fall wohl meine Schwäche, weil ich nicht ganz bei der Sache war. Wir hatten nicht über Amelias Verschwinden geredet, doch wir trainierten seit drei Jahren gemeinsam und er war ebenso wie ich bei den Daggers. Da wir so viel Zeit miteinander verbracht hatten, hatten wir gelernt, den anderen zu lesen. Er schien zu wissen, was – oder wer – mir durch den Kopf geisterte.

»Angst, Adrian?«, fragte Matt mit spöttischer Miene und fuhr sich durch die verschwitzten blonden Haare, die sich durch die Feuchtigkeit kräuselten.

Ich lachte auf. »Vor dir?«

»Solltest du besser.«

»Ach ja?«

Spielerisch wirbelte Matt seinen Degen umher. »Es wird Zeit, dass dich jemand von deinem hohen Ross holt.«

»Und diese Person sollst ausgerechnet du sein?« Ich grinste hämisch. »Träum weiter.«

Mit diesen Worten überprüfte ich ein letztes Mal den Sitz meiner weißen Schutzkleidung, ehe ich mir die Fechtmaske über den Kopf zog. Durch das Drahtgitter sah die Welt kleiner und leiser aus.

»En garde!«

Ich nahm meine Position an der Startlinie ein und fixierte Matt.

»Allez!«

Nachdem Coach Hanson das Startsignal gegeben hatte, zögerte Matt keine Sekunde. Er griff mit einer Kombination aus Kreuzschritten und einem Ausfall an, abgerundet mit einem geraden Klingenstoß, den ich nur mit viel Mühe abwehrte. Überrumpelt wich ich zurück. Er setzte nach und mein Körper übernahm die Kontrolle, verfiel in einen vertrauten Rhythmus aus Bewegungsabläufen. Ich drängte Matt zurück und kurz wogte der Kampf hin und her. Bis mein Blick etwas zu lang an meiner Tasche am Hallenrand hängen blieb und ich die Nachrichten an Amelia förmlich vor mir sah.

Ich: Ich hasse es, wenn wir streiten.Ich: Wo steckst du?

Trrr.

Das schrille Geräusch der elektronischen Trefferanzeige erklang und zeigte an, dass mich Matt erwischt hatte. Ich spürte seinen Treffer durch die Schutzkleidung als dumpfes Ziehen an meinen Rippen.

»Ha!« Triumphierend reckte er seine Faust in die Luft. »Mehr hast du nicht drauf?«

»Den Treffer habe ich dir nur aus Mitleid gegönnt!«, rief ich zurück. »Damit dein Rumgeheule nachher nicht so erbärmlich ist.«

»Oder du bist einfach außer Form.«

Ich kniff die Augen zusammen. Wer’s glaubt. Meine Form war nie besser gewesen und Matt war heute nur in der Lage, mich zu schlagen, weil mir Amelia durch den Kopf geisterte. Ich umklammerte den Griff meines Degens fester, ging zur Startlinie zurück und atmete zweimal tief ein und aus. Konzentrierte mich auf das vertraute Gewicht des Degens. Sofort spürte ich, wie sich mein Puls verlangsamte und sich meine Gedanken klärten. Auch Matt nahm mir gegenüber die Ausgangsposition ein. Diesmal war ich bereit.

Blitzschnell wich ich seinem Angriff aus und attackierte ihn. Matt hatte gar nicht die Chance zu reagieren, da erklang die Trefferanzeige erneut, diesmal zu meinen Gunsten, woraufhin die Zeit gestoppt wurde.

Einige Minuten ging es so weiter. Mein Körper verfiel in einen vertrauten Trott. Bewegungsabläufe, die ich tausendmal geübt hatte und die mir in Fleisch und Blut übergegangen waren. Jeder Muskel jubelte und hinter der Fechtmaske grinste ich wie ein Irrer. Fühlte mich, als wäre ich allem gewachsen. Schweiß lief mir über die Stirn und in die Augen, als ich mich zu immer neuen Höchstleistungen anspornte. Fuck, nichts war besser als das.

Innerhalb kürzester Zeit erzielte ich vier weitere Treffer, sodass der Kampf vorzeitig beendet war, und riss mir mit einem breiten Grinsen die Fechtmaske vom Kopf. Matt nahm ebenfalls die Maske ab und musterte mich mit einem säuerlichen Ausdruck, den ich mit einem spöttischen Heben meiner Augenbrauen quittierte. Kurz bohrten sich unsere Blicke ineinander, dann verdrehte er die Augen und verließ die Bahn, um zu Florence am Rand der Halle zu gehen.

Coach Hanson räusperte sich. »Das reicht für heute. Ihr könnt euch umziehen gehen.« Als ich an ihm vorbeiging, hielt er mich auf. »Auf ein Wort, Raith.«

Ich blieb stehen, während der Rest des Teams die Halle verließ. Nur Florence sah mich fragend an, doch ich signalisierte ihr mit einem Nicken, dass sie schon einmal vorgehen sollten.

Ich klemmte mir die Fechtmaske unter den Arm. »Was gibt es?«

Unter seinem strengen Blick straffte ich die Schultern. Ich war nicht klein, doch Coach Hanson überragte mich um einige Zentimeter. Die ersten grauen Strähnen durchzogen seinen Bart, aber seine Ausstrahlung hatte nie an Schärfe verloren. »Denkst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du die Hälfte des Trainings am Handy gehangen hast?«

Shit. »Das …«

»Wenn du es leugnest, darfst du Strafrunden laufen«, unterbrach mich Hanson.

»Hatte ich nicht vor.« Ich presste die Lippen zusammen. »Tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Er musterte mich einige Sekunden, als wollte er mir vom Gesicht ablesen, ob ich die Entschuldigung ernst meinte. Schließlich nickte er. »Das ist noch nicht alles. Deine Leistung war heute nicht gut.«

»Ich habe meinen Trainingskampf gewonnen.«

»Stimmt. Aber du warst in Gedanken. Ist dir das nicht aufgefallen?«

Ich schluckte schwer. »Doch.«

»Und?«

»Und was?«, fragte ich gereizter als beabsichtigt.

»Was war los?«, wiederholte Coach Hanson, der sich etwas in meine Richtung vorbeugte. Für einen Sekundenbruchteil flog mein Blick zur Tasche, zu den ungelesenen Nachrichten an Amelia, die ich seit Sonntag verschickt hatte. »Das kannst du doch besser.«

»Natürlich kann ich es besser!« Aufgebracht funkelte ich Hanson an, bis mir wieder in den Sinn kam, mit wem ich hier sprach. Ich senkte meine Stimme. »Aber ich weiß nicht, was heute los war.«

Das war gelogen. Ich wusste, was mich beschäftigte: der Streit mit Amelia, bevor sie verschwand. Wie so oft war es ums Fechten und meine Zukunft gegangen. Amelia hatte nie verstanden, warum ich meine Karriere wegwarf, darüber hatten wir häufig gestritten. Auch diesmal.

Doch das sagte ich dem Coach nicht, weil es sowieso nichts gebracht hätte. Ich hatte mich vor langer Zeit gegen den Profisport entschieden und konnte diese Tatsache nicht mehr ändern.

Als Antwort bekam ich von ihm ein knappes Nicken und einen letzten nachdenklichen Blick. Damit war ich entlassen. Ich schnappte mir meine Tasche und verließ die Halle. Auf dem Weg checkte ich mein Handy. Nichts. Ich stöhnte frustriert auf und ging weiter in die Umkleide. Nur Matt saß noch auf der Holzbank in der Mitte des Raumes, ein Handtuch um den Nacken gelegt, und sah zu mir, als ich eintrat.

»Was war los? Der Coach sah aus, als würde er dir eine Standpauke halten wollen.«

Gut, dass ich ihm gerade den Rücken zudrehte, denn so sah er nicht, wie ich genervt die Augen verdrehte. Ich schlüpfte aus meinen Handschuhen und der Fechtjacke und hängte beides in meinen Spind.

»Er war unzufrieden mit meiner Leistung«, sagte ich.

»Hat er Angst, dass du uns gegen Yale blamierst?«

Der spöttische Unterton in seiner Stimme ließ Wut in mir hochbrodeln. Ruckartig drehte ich mich zu ihm um und musterte ihn finster, während ich die Klettverschlüsse an meiner Unterziehweste öffnete. Das Turnier, bei dem die Fechtteams der Crawford und Yale Universities gegeneinander antraten, war jeden Herbst eine große Sache. Es hatte als Freundschaftsturnier begonnen und war in das Hochschulsport-Event überhaupt ausgeartet. Die Feindschaft zwischen der CU und Yale war fast so legendär wie die der Daggers und Swords.

Ich liebte die Herausforderung, gegen die Fechter von Yale anzutreten, weil ich mich dabei so lebendig fühlte wie sonst nie. Es war auch immer etwas schmerzhaft, wenn ich daran dachte, dass ich die gleiche Karriere hätte anstreben können, aber das Turnier gab mir zumindest einen kurzen Einblick in dieses Leben, das ich in einem Paralleluniversum vielleicht hätte haben können. Matt wusste das alles und stocherte in der Wunde herum. Dieser arrogante Mistkerl.

Ich knirschte mit den Zähnen. »Wir wissen beide, dass das nicht passieren wird.«

»Stimmt. Du bist ja unser Goldjunge.«

»Lieber das, als wie du kaum in der Lage zu sein, einen Degen richtig zu halten.«

Matt kniff die Augen zusammen. Die Spannung, die sich in der Umkleide aufbaute, würde jeden Moment explodieren. Doch dann brach ein Lachen aus ihm heraus. »Es ist immer wieder schön, mit dir zu streiten.«

»Du bist so ein Arsch, Matt.«

»Ich weiß.« Er grinste. »Aber tu nicht so, als würden wir beide das nicht brauchen.«

Darauf erwiderte ich nichts mehr, sondern wechselte die restliche Fechtausrüstung gegen Jeans und Hoodie. Im Anschluss verließ ich mit Matt die Umkleide und stieß mit ihm zu Florence, die im Eingangsbereich des Sportzentrums auf uns wartete. Sie tippte auf ihrem Smartphone herum und sah erst auf, als wir vor ihr standen. Dann steckte sie ihr Handy weg und warf schwungvoll ihre schwarzen Braids über die Schulter.

»Matt und ich gehen noch ins Heartwell House«, meinte sie zu mir. »Kommst du mit?«

Der Gedanke, in das Verbindungshaus der Daggers zu gehen, war verlockend, doch ich schüttelte den Kopf. »Ich muss noch ein paar Sachen für die Uni erledigen.«

»Streber«, hüstelte Matt.

Ich schnaubte. »Nur, weil sich dein Vater nicht für deine Noten interessiert, heißt das nicht, dass es bei allen so ist.«

Gespielt verletzt griff er sich an die Brust. »Aua. Musst du auch noch Salz in die Wunde streuen, die mir mein ständig abwesender Vater zugefügt hat?«

»Das ist die Rache für vorhin.«

Er grinste schief. »Fair genug.«

Ich verabschiedete mich vor dem Sportzentrum von den beiden und machte mich auf den Weg zum Wohnheim des Berkshire Colleges. Dunkelheit hatte sich über den Campus gelegt und erstickte den Trubel des Tages. Vorm Sportzentrum führte ein kleiner Weg zwischen zwei Parks hindurch bis zum Wohnheim, doch als ich vor dem Gebäude stand, dessen Türmchen in der Dunkelheit aufragten, brachte ich es nicht über mich, hineinzugehen.

Die kühle Nachtluft klärte meine um Amelia kreisenden Gedanken auf eine Art und Weise, wie es der Sport nicht geschafft hatte, weswegen ich beschloss, am Meer zu spazieren. Der private Strand des Campus befand sich zwei Gehminuten vom Crawford College entfernt. Im Sommer wurden dort zwischen Dünen und blumenüberzogenen Wiesen Partys gefeiert, Surfen und Segeln stand an der Tagesordnung. Ich verband viele schöne Momente mit dem Strand, Momente, in denen ich mich zwischen der Universität, dem alten Leuchtturm und der rauen Natur unendlich fühlte.

Ich lief zu einem meiner Lieblingsplätze hoch oben auf einer der Dünen, wo der Wind durch das Gras strich, es zum Rascheln brachte und im Sommer so viele Büsche Meersenf wuchsen, dass die winzigen weißen Blüten wie Schnee auf dem Sand wirkten. Ich ließ meine Tasche fallen und setzte mich, ignorierte die Kälte des Bodens, die durch den Stoff meiner Jeans drang. Der wolkenlose Himmel gab den Blick auf die Sterne und einen halbrunden Mond frei, dessen silbriger Schein auf der glatten Oberfläche des Atlantiks mystisch glänzte.

Hier, im Schutz der Einsamkeit, zog ich mein Smartphone heraus. Ich schwor mir, dass es das letzte Mal heute war, und wusste bereits, dass ich dieses Versprechen nicht einlösen würde. Minutenlang starrte ich auf den Chatverlauf, ehe ich mir endlich einen Ruck gab und Amelias Nummer wählte. Es war dumm, schließlich hatte sie bisher auf keine meiner Nachrichten geantwortet. Warum sollte sie nun an ihr Telefon gehen?

Wie erwartet landete ich auf der Mailbox.

»Hey, hier ist Amelia. Gerade bin ich offenbar mit superwichtigem Zeug beschäftigt und kann nicht ans Telefon gehen. Hinterlass eine Nachricht, dann rufe ich zurück.«

Das Freizeichen ertönte.

Ich schluckte hart, unsicher, was ich sagen sollte. »Ich bin’s«, sagte ich zögerlich. »Ich weiß, ich habe dir schon tausende Nachrichten geschrieben, aber … es tut mir leid, was ich gesagt habe. Bitte melde dich einfach.«

Mit einem tiefen Seufzen legte ich auf und wünschte mir, ich könnte mit jemandem über meine Angst um sie sprechen. Stattdessen war ich allein und fühlte mich wie der einzige Mensch auf dem ganzen verfluchten Planeten.

Kapitel3Maddie

Im Gemeinschaftsraum der Rosery Hall herrschte absolute Ausnahmestimmung. Es war Dienstagabend und die Swords hatten sich versammelt, um zu besprechen, wie wir bei der Suche nach Amelia helfen konnten.

Gemeinsam mit Bella und Malik Salman, einem Biochemie-Studenten, saß ich an meinem üblichen Platz auf einer der breiten Fensterbänke, die mit Kissen und Decken zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert worden waren. Malik hatte sich neben mich gequetscht, während es sich Bella auf einem großen Lehnsessel vor der Fensterbank gemütlich gemacht hatte. Sie hielt eine Tasse Früchtetee in beiden Händen, deren süßer Duft mir in die Nase stieg. Das Licht des Kaminfeuers flackerte über Wände und Bücherregale und sperrte die Dunkelheit vor den Fenstern aus.

Die Rosery Hall war eine alte Villa im Zentrum des Campus, die ihren Namen aufgrund der vielen Rosenranken an ihrer Steinfassade erhalten hatte. Die Mitglieder von Feather and Sword kamen oft in das Verbindungshaus, obwohl niemand von uns hier lebte. Dennoch bot die Rosery Hall viele Vorzüge wie eine private Bibliothek mit angrenzenden Studierzimmern, Räumlichkeiten für Dinnerpartys oder dem Gemeinschaftsraum, in dem sich an diesem Abend die fast dreißig Mitglieder der Verbindung versammelt hatten.

Schweigend beobachtete ich das Geschehen.

Mein Blick huschte zu Hayden Watts, dem Vorstehenden der Verbindung, der die hitzige Diskussion leitete. Mit seinen über eins neunzig, der dunklen Haut, athletischen Figur und markanten Kieferpartie sah er nicht nur gut aus. Er war auch einer der nettesten Menschen auf dem Campus. Echte Sorge um Amelia stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Außerdem war Bella total verschossen in ihn.

Ich musterte meine Freundin von der Seite, das Leuchten in ihren Augen und ihre geröteten Wangen. Sie hing förmlich an seinen Lippen und auch sein Blick wanderte sehr oft zu ihr.

Ich strich mir über die Arme und zog die Knie an die Brust, weil mir trotz der Wärme, die das Kaminfeuer den alten Mauern spendete, kalt war. Die Luft im Raum war schwer und stickig. Ich wollte nicht hier sein, doch ich musste es. Als Mitglied der Swords war ich dazu verpflichtet, Amelia zu helfen. Obwohl wir nie miteinander warm geworden waren. Obwohl der verfluchte Adrian Raith ihr bester Freund war und ich sie manchmal dafür hassen wollte. Ich knirschte mit den Zähnen. Allein der Gedanke an den Fechter ließ Wut siedend heiß in mir hochsteigen. Er war es, der mir den Spitznamen Eisprinzessin verpasst hatte und miese Gerüchte über mich auf dem Campus verbreitete. Ich wusste zwar, dass es unfair war, Amelia in meine Feindschaft zu ihm hineinzuziehen und ich sie getrennt von ihm betrachten sollte, aber es gelang mir einfach nicht.

Malik drehte den Kopf zu mir. »Alles okay?«, wisperte er leise genug, damit nur ich ihn hörte.

Ich nickte grimmig und richtete stur meinen Blick auf Hayden. Maliks fragender Blick lastete noch einige Momente auf mir, bevor er sich wieder der Diskussion widmete, die in den letzten Zügen war. Als sich die Versammlung in Grüppchen auflöste, lockerte sich die Atmosphäre im Gemeinschaftsraum innerhalb von Sekunden. Für ein paar Augenblicke blieben Bella, Malik und ich ruhig sitzen und sprachen kein Wort.

»Meint ihr, sie finden Amelia?«, fragte Bella schließlich. Ein Schatten lag in ihren braunen Augen. »Oder …«

Sie sprach es nicht aus, doch ich konnte mir vorstellen, was ihr durch den Kopf ging: Mit jedem weiteren Tag, der ohne ein Lebenszeichen von Amelia verstrich, wurde die Chance, sie zu finden, geringer.

Ich zupfte am Ärmel meines grauen Kaschmir-Pullovers und wechselte einen Blick mit Malik. Auch seine Miene war finster.

»Ich hoffe es«, sagte ich leise und kaute auf meiner Unterlippe herum. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber … ich dachte immer, wir wären auf dem Campus sicher. Aber wenn jemand Amelia etwas angetan hat …«

»Du weißt doch gar nicht, ob ihr etwas passiert ist«, unterbrach mich Malik.

Doch, hätte ich fast gesagt. Denn ich habe schon vor Grandpas Tod gespürt, was ich jetzt spüre. Und auch damals hat mich mein Gefühl nicht betrogen. Aber diese kalte Gewissheit, dass etwas Schreckliches geschehen war oder geschehen würde, war nichts, was sich rational erklären ließe.

Ich presste die Lippen zusammen und erwiderte seinen Blick stoisch, während ich darum kämpfte, die Welle an Trauer zurückzudrängen, die sich in meinem Inneren auftürmte. Gefühle, die ich nicht spüren, und Ängste, die ich vergessen wollte. Für immer.

Eine dunkle Locke fiel Malik in die Stirn, als er sich zu mir beugte und mich eindringlich ansah. »Wir wissen alle, dass es die Möglichkeit gibt, dass Amelia etwas zugestoßen ist.« Seine Stimme war rau, als würde es ihm schwerfallen, die bittere Wahrheit auszusprechen. Und es stimmte – es tat weh. »Aber selbst wenn, warum sollte jemand vom Campus Amelia etwas Böses wollen?«

»Warum sollte überhaupt irgendjemand Amelia etwas Böses wollen?« Meine Stimme klang viel kälter als beabsichtigt. »Vielleicht war sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Und das kann jedem von uns passieren. Einfach so.«

War das nicht der Grund, warum ich mich seit ihrem Verschwinden so schlecht fühlte? Als würde in meinem Kopf ein Daueralarm schrillen, manchmal lauter, manchmal leiser, aber immer da? Weil es mich daran erinnerte, dass manchmal das Schicksal zuschlug und alles veränderte?

»Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.« Bella schürzte die Lippen. »Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, Maddie. Das ist okay, ehrlich. Du darfst dich nur nicht davon überwältigen lassen.«

Ich lehnte mich zurück, bis mein Rücken auf den hölzernen Fensterrahmen traf. An meinem Arm, der die Scheibe berührte, kroch die Kälte des Glases sogar durch die Wolle meines Pullovers hindurch. Heulend zog der Wind vom Atlantik her über Cape Cod und pfiff um Rosery Hall. Draußen wirbelte die nächste Böe das bunte Herbstlaub von den Bäumen herunter. Im Schein einer Laterne segelten zwei Blätter zu Boden und blieben dort liegen.

»Egal, was letztendlich passiert ist, wir dürfen alle etwas durcheinander sein.« Bella sah mich direkt an. »Das macht uns nicht schwach.«

Ich zwang mich zu nicken, während sich das Bild von Amelias Familie in meinen Kopf schlich. Sie hatte einen jüngeren Bruder und eine Schwester, ein Zwillingspaar. Ich hatte sie zuletzt im Sommer auf einer Gartenparty in Boston gesehen, wo die drei auf einer Wiese Fangen gespielt hatten. Amelia schien es gar nichts ausgemacht zu haben, dass sie und ihre Geschwister danach verschwitzt und mit zerzausten Haaren aus der Menge, die viel Wert auf ein tadelloses Äußeres legte, herausstachen wie schwarze Schafe.

»Lasst uns lieber über etwas Schönes reden«, meinte Malik und verschränkte die Arme. »Wir können jetzt sowieso nichts an der Situation ändern und weiter darüber nachzudenken, macht uns nur verrückt.«

»Absolut!« Bella klatschte in die Hände und sah zuerst mich, dann Malik an. Ich wünschte, ich könnte so schnell abschalten wie sie. »Wisst ihr schon, was ihr an Halloween anzieht?«

Überrumpelt blinzelnd sah ich sie an, weil die jährliche Halloweenparty der Swords ganz weit unten auf meiner Prioritätenliste stand. Auf Partys gab es zu viele falsch lächelnde Gesichter und oberflächliche Gespräche mit Fremden, die sich nur für meinen Namen interessierten. Und die Erinnerung an Adrian und mein erstes Halloween an der CU. Sein verwegenes Grinsen, sein Blick, der sich im Halbdunkeln in meinen bohrte. Der dunkle Klang seiner Stimme, während wir uns unterhielten. Mein Lachen, das an diesem Tag zum ersten Mal seit Wochen wieder echt gewesen war. Momente, die sich so … ehrlich angefühlt hatten.

Ein Nachhall der Gänsehaut von damals bildete sich auf meinen Armen. Letztendlich hatte er jedoch nur mit mir geflirtet, um mich von den Daggers abzulenken, die in die Rosery Hall einbrechen wollten, um den geheimen Whisky-Vorrat zu stehlen. Er hatte mich benutzt und ich war dumm genug gewesen, auf ihn hereinzufallen.

»Hast du gedacht, es wäre echt gewesen?«, hatte er gefragt. »Süße, ich würde eine Sword nicht einmal mit einer Greifzange anfassen. Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen? Mach dir nichts draus. So geht es vielen, wenn sie mich sehen.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten und atmete ein paar Mal tief durch, während mir das, was mir Adrian damals vor dem halben Campus an den Kopf geworfen hatte, durch den Kopf schwirrte. Und auch danach hatten die Lästereien kein Ende genommen, bis heute nicht.

»Das war ein krasser Themenwechsel«, bemerkte Malik und grinste Bella an.

»Also genau das, worum du gebeten hast, mein Lieber.« Bella zwinkert ihm zu.

»Worum hat er denn gebeten?«, ertönte es. Ich drehte mich zu Hayden um, der von einer anderen Gruppe Swords zu uns getreten war. Er fuhr sich mit einer Hand durch die raspelkurz geschnittenen schwarzen Haare und lächelte in die Runde, wobei sein Blick schließlich an Bella hängen blieb. Fast sah ich Funken zwischen den beiden hin und her springen.

»Um einen abrupten Themenwechsel«, erklärte ich, weil Bella viel zu sehr damit beschäftigt war, ihn anzustarren. Ich widerstand dem Drang, ihr einen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen.

Haydens Augen funkelten. »Und welches Thema habt ihr dazu auserkoren, um die Stimmung zu heben?«

»Unsere Halloweenparty«, sagte Malik. »Die hoffentlich besser wird als die von den Daggers.«

Bella erwachte abrupt aus ihrer Starre. Wütend funkelte sie ihn an. »Natürlich wird sie besser!«

»Du bist im Partykomitee«, gab er zurück. »Musst du das nicht sagen?«

Meine Freundin verengte die Augen und bedachte ihn mit einem tödlichen Blick, ehe sie sich zu Hayden drehte. »Kannst du ihn für so was aus der Verbindung schmeißen? Das grenzt doch an Hochverrat.«

Der Vorsitzende legte den Kopf schief und dachte ein paar Sekunden nach. »Ich glaube, das geht.«

»Woah, Leute.« Malik hob die Hände, wie um sich zu ergeben. »Chillt mal, das war doch nur ein Witz.«

»Besser ist es.« Bella verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich wieder zurück. »Als was wirst du dich verkleiden, Hayden?«

Er stützte sich mit einer Hand an der hohen Lehne ihres Sessels ab und sah zu meiner besten Freundin hinunter. Ihre Augen weiteten sich etwas. »Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht.«

»Bella will sich dieses Jahr als Herzkönigin verkleiden«, warf ich ein und lächelte scheinheilig. Ihre Kostüme waren an der CU legendär. »Aber da bräuchte sie einen Partner, der sich als verrückter Hutmacher verkleidet.«

Malik hüstelte, als müsste er ein Lachen unterdrücken. Bella hingegen wich innerhalb von Sekunden sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Mit großen Augen starrte sie mich an, ein stummes Was zur Hölle tust du da? stand in ihnen geschrieben. Ich grinste und signalisierte ihr ein Dank mir später.

Hayden hob überrascht die Augenbrauen. »Du suchst noch jemanden für ein Partnerkostüm?«

»Ich … ähm … ja?« Die Farbe schlich sich langsam zurück auf ihre Wangen.

»Ich wollte mich schon immer mal als verrückter Hutmacher verkleiden«, sagte Hayden betont beiläufig, doch in seinen Augen funkelte es aufgeregt. »Wenn du also …«

Die Frage schwebte unvollendet zwischen Bella und Hayden. Sie sahen sich an, sehr lang und intensiv, und es fühlte sich falsch an, danebenzusitzen und zuzusehen. »Ich lasse euch das mal untereinander ausmachen«, meinte ich und sprang von der Fensterbank auf.

»Genau«, stimmte Malik zu und folgte mir. »Ich wollte sowieso noch jemandem Hallo sagen.«

Schnell stahlen wir uns davon und kaum, dass wir außerhalb der Sichtweite von Bella und Hayden waren, hielt mir Malik seine Hand zum High Five hin. »Das war richtig gut. Kann man dich als Wing-Woman engagieren?«

Lachend schlug ich ein. »Kommt darauf an, wie viel du mir zahlst.«

»Sagt ausgerechnet die Person, die später Milliarden erben wird«, zog er mich auf und legte mir einen Arm um die Schultern.

»Haha. Sehr witzig.« Ich knuffte ihm mit meinem Ellenbogen in die Seite. »Hast du mir nicht im letzten Semester noch Vorträge darüber gehalten, dass man sich niemals unter seinem Wert verkaufen sollte?«

»Das war im Sommer. Menschen ändern sich.«

Wir waren dabei, den Gemeinschaftsraum zu verlassen, doch Malik drehte sich noch einmal um und betrachtete Bella und Hayden, die sich inzwischen angeregt unterhielten. Bei dem Anblick wurde mir ganz warm.

»Meinst du, wir können sie allein lassen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Sieht nicht danach aus, als bräuchte sie uns.«

»Ich freue mich für sie«, murmelte er und fuhr sich durch die schwarzen Locken. »Aber wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, sollte ich mich wohl auf den Weg ins Wohnheim machen. Ich muss bis übermorgen noch einen Essay fertigbekommen und habe noch nicht einmal einen Plan, was ich überhaupt schreiben will.«

Mitleidig verzog ich das Gesicht und verabschiedete mich von ihm. Auch ich hatte nicht vor, allzu lange in der Rosery Hall zu bleiben. Die Anstrengungen des Tages saßen mir in den Knochen. Mein ganzer Körper fühlte sich schwer an, sehnte sich nach meinem Bett und einer traumlosen ruhigen Nacht.

Bevor ich aber selbst ins Wohnheim zurückging, schleppte ich mich die Treppe in den ersten Stock des Verbindungshauses hoch. Die alten Holzstufen knarrten unter jedem meiner Schritte und in der Luft hing dieser Duft, der so typisch für alte Häuser mit Geschichte war. Holzig und etwas muffig, darunter eine leichte Rosennote. Die weißen Wände waren übersäht mit gerahmten Bildern von früheren Sword-Jahrgängen, manche so alt, dass die Fotografien noch schwarz-weiß waren. Ich hatte viele Stunden damit verbracht, die Fotos zu betrachten. Auf einigen von ihnen waren meine Eltern zu sehen, Margot und Albert Winslow, die ebenfalls an der Crawford University studiert hatten.

Oben angekommen huschte ich in eines der Studierzimmer. Mit einer Hand tastete ich nach dem Lichtschalter, bis die Glühbirne an der Decke flackernd aufleuchtete. Zielstrebig ging ich zu meinem Spind. Ein paar der Bücher, die ich für meine Kurse morgen benötigte, befanden sich dort. Ich öffnete die Tür – und erstarrte.

Ich verstaute meine Unterlagen stets ordentlich, achtete penibel genau darauf, dass alles an seinem Platz war. Ich wusste genau, wo sich welche Notiz, welches Buch befand. Ablenkungen konnte ich beim Denken nicht gebrauchen und deswegen genügte ein einziger Blick, um zu verstehen, dass etwas nicht stimmte. Auf meinen Unterlagen, die ich noch letzten Freitag ordentlich in den Schrank gestapelt hatte, lagen drei zerfledderte Notizbücher, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Der Einband mit den filigranen Blumenranken war an den Ecken abgegriffen, als wären sie oft in der Hand gehalten und durchblättert worden.

Meinen Spind schloss ich ausnahmslos ab. Niemand außer mir konnte ihn öffnen – es sei denn, man besaß einen Generalschlüssel.

Zögerlich nahm ich das oberste Notizbuch heraus, aus dem ein loser Zettel herausfiel, als ich es öffnete. Mit einem Ächzen bückte ich mich und drehte ihn so, dass ich lesen konnte, was jemand mit ordentlicher Handschrift darauf geschrieben hatte.

Meine Tagebücher sind bei dir sicherer als bei mir. Bitte sag niemandem, dass du sie hast. Ich werde dir alles erklären. A.

Mit offenem Mund starrte ich auf die Notiz, die immer mehr vor meinen Augen verschwamm, je länger ich draufstarrte. Meine Gedanken überschlugen sich. A. Amelia?

Ich las den Zettel noch einmal. Meine Finger schlossen sich so fest um das Papier, dass es zerknitterte. Amelia hatte ihre Tagebücher in meinen Spind gelegt? Hielt ich wirklich die Tagebücher der Studentin in der Hand, die seit drei Tagen spurlos verschwunden war?

Das konnte nicht sein.

Hi Maddie, hier ist Amelia Clayton. Die Frage kommt jetzt vermutlich sehr plötzlich, vor allem, weil du ja über das Wochenende in Boston bist. Aber können wir am Montag mal in Ruhe miteinander reden?

Diese Nachricht hatte ich am Samstagabend von ihr erhalten, nur Stunden vor ihrem Verschwinden. Hatte sie danach die Tagebücher für mich hinterlegt? Nur warum? Ein dumpfes Pochen bildete sich hinter meinen Schläfen, ich zerdrückte den Zettel endgültig. Gleichzeitig wurden auf dem Flur Stimmen laut. Zwei Frauen lachten, Schritte knarzten auf dem Parkett. Blitzschnell schob ich die Tagebücher zurück zwischen meine eigenen Unterlagen. Keine Sekunde zu früh.

»Hey, Maddie.« Eine Sword namens Octavia betrat das Studierzimmer.

»Hey«, presste ich hervor.

»Wir spielen unten noch eine Runde Tabu. Hast du Lust?« Sie lächelte und sah mich fragend an.

»Nein, danke.«

Octavias Lächeln wurde schmaler, sie nickte und ging zu ihrem Spind, aus dem sie das Spiel hervorholte. Dann verschwand sie ebenso schnell, wie sie gekommen war. Mit heftig pochendem Herzen sah ich ihr hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war. Meine Gedanken überschlugen sich, während ich an den vollen Gemeinschaftsraum dachte. Sollte ich jemandem von meiner Entdeckung erzählen? Ich fuhr mir durch die Haare. Das waren Amelia Claytons Tagebücher. Ihre Tagebücher! Sie hatte sie offensichtlich für mich hinterlegt. Waren diese Tagebücher der Grund, warum sie mit mir hatte sprechen wollen?

Bitte sag niemandem, dass du sie hast. Ich werde dir alles erklären.

Ich starrte die Bücher an. Hörte Amelias Stimme in meinem Kopf. Dann schaltete mein Körper auf Autopilot. Gemeinsam mit meinen Unterlagen packte ich die Tagebücher in meine Tasche. Schwer beladen lief ich nach unten, wo es noch immer vor Verbindungsmitgliedern wimmelte. Schnell schlüpfte ich im Flur in meine Schuhe und meinen dicken Wollmantel. Bevor mich jemand aufhalten konnte, öffnete ich die Tür und verschwand in die Dunkelheit. Wie eine Diebin, die von einem Tatort floh.

Kapitel4Maddie

Der Weg bis zum Wohnheim war viel zu lang. Egal wie viele Schritte ich tat, mein Ziel wollte nicht näher rücken. Die Zeit schien sich gegen mich verschworen zu haben. Hielt mich gefangen in diesem seltsamen Zustand aus Schock und Verwirrung.

Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht, während ich mich durch den Herbststurm über den Campus kämpfte. Wolkenfetzen wurden über den dunklen Himmel getrieben, jede Böe kroch unter meinen Mantel. In der Ferne donnerten die Wellen. Ich zitterte am ganzen Körper und konnte immer noch nicht verstehen, was gerade geschehen war. Was ich in meiner Tasche trug. Meine Gedanken überschlugen sich, waren genauso laut wie der Wind, der um die alten Gebäude der Universität pfiff. Das Bedürfnis, auf der Stelle umzudrehen, um jemandem von den Tagebüchern zu erzählen, war so groß, dass ich meine Schritte wie automatisch verlangsamte. Doch ich zwang mich weiter in Richtung Wohnheim. Du musst einen kühlen Kopf bewahren, redete ich mir gut zu. Du weißt noch nicht, womit du es zu tun hast. Jetzt voreilig zu handeln wäre ein Fehler.

Meinen Lippen entwich ein erleichtertes Seufzen, als die schwere Eingangstür hinter mir zufiel und die stürmische Herbstnacht ausschloss. In der Eingangshalle schien die Welt abseits des Windes und der Dunkelheit viel freundlicher. Der dunkle Parkettboden glänzte im gelb-orangenem Licht der alten Lampen. Zwei Sitzgarnituren standen jeweils rechts und links von der Eingangstür, doch zu dieser späten Stunde hielt sich hier niemand mehr auf.

Weniger als eine Minute später stand ich endlich im ersten Stock in meinem Zimmer. Ich ließ meine Tasche auf das Bett fallen und kreiste meine Schultern, um die Anspannung aus meinen Muskeln zu vertreiben. Mein Herz schlug noch immer ungesund schnell in meiner Brust. Mit zwei Fingern kniff ich mir in die Nasenwurzel, während mein Blick wie magisch zu dem Jutebeutel auf meinem Bett wanderte. Eines der Tagebücher lugte oben aus dem Beutel hervor. Wie eine Aufforderung des Schicksals, es in die Hand zu nehmen. Ich werde dir alles erklären. Je öfter ich Amelias Nachricht wiederholte, desto mysteriöser klang sie.

Über was hatte sie mit mir sprechen wollen? Und könnte es sogar mit ihrem Verschwinden zusammenhängen? Die Idee schien mir verrückt. Sicherlich handelte es sich bei alledem nur um eine banale Angelegenheit. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte es nichts mit ihrem Verschwinden zu tun und ich sah Verschwörungen, wo gar keine waren. Trotzdem …

Gab es nicht die Möglichkeit, dass es doch zusammenhing? So unwahrscheinlich es auch schien?

Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte den Blick von der zerfledderten Ecke des Tagebuchs ab. Trat an das Fenster meines Zimmers und blickte hinaus in die Nacht. Was konnte ich tun? Der logischste Schritt wäre, die Tagebücher zur Polizei zu bringen, doch Amelias Bitte stand dem entgegen. Es schien ihr wichtig gewesen zu sein, mit mir unter vier Augen zu sprechen. Aber jetzt war sie nicht hier und es gab nur eine Möglichkeit, mir Antworten zu holen: ihre Tagebücher.

Ich machte einen Schritt vom Fenster weg und setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett. Die Matratze gab unter meinem Gewicht nach. Kurz schwankte die ganze Welt. Wenn ich in Amelias Tagebüchern las, überschritt ich eine unsichtbare Grenze, doch sie hatte sie mir bestimmt aus einem guten Grund gegeben und ich musste wissen, was los war. Wenn ihr Inhalt relevant für ihr Verschwinden war, konnte ich immer noch die Polizei informieren.

Ich atmete tief durch, schlug das erste Tagebuch auf und begann zu lesen. Automatisch griff ich mit der anderen Hand nach der alten abgegriffenen Schachfigur, die auf meinem Nachttisch stand. Sie war ein Geschenk meines Großvaters gewesen und Teil meines ersten eigenen Schachsets. Wann immer meine Gedanken aufgewühlt waren, half mir das vertraute Gewicht der Figur, mich zu konzentrieren. Die Einträge der ersten beiden Tagebücher waren von ihrer Anfangszeit an der Crawford University, in denen sie in erster Linie von ihrem Alltag am College berichtete. Erst im dritten Tagebuch wurde es interessanter.

Amelias Familie hatte Geldprobleme gehabt.

Die Claytons waren Inhaber des Software-Unternehmens KeyTech, das Mitte der 2000er Jahre einen Boom erlebt und Erfolge mit ihren Sicherheitssystemen gefeiert hatte. Die Familie hatte sich erstaunlich schnell in unseren Kreisen eingelebt, die vor allem aus alteingesessenen Bostoner Familien bestand und es Neulingen nicht leicht machte. Ich erinnerte mich an die Gartenparty Mitte August in Beacon Hill. Laut Amelias Einträgen hatte sie zu dieser Zeit von den finanziellen Problemen ihrer Familie erfahren.

Mit gerunzelter Stirn las ich ihre Ausführungen. Ab diesem Punkt hatte sie ihre Sorgen fast täglich in dem dritten Tagebuch festgehalten. Die Angst um ihre Familie, um KeyTech. Um ihre beiden jüngeren Geschwister Emily und Noah, denen sie eine ebenso behütete Kindheit wünschte, wie Amelia sie erfahren hatte. Das Erbe der Claytons stand auf der Kippe – bis plötzlich ein Deal in Millionenhöhe in Aussicht stand, der dem Unternehmen helfen würde, wieder auf sicheren Füßen zu stehen. Nur traten Amelias Eltern kurzfristig von dem Vertrag zurück.

Sie haben den Auftrag der Stadtverwaltung abgelehnt und ich verstehe einfach nicht, warum. Es ist gutes, solides Geld, das uns helfen kann, die schwierige Zeit zu überstehen. Wir waren uns doch einig, dass wir den Auftrag annehmen! Woher kommt die Meinungsänderung in letzter Sekunde? Mom und Dad verhalten sich so seltsam in letzter Zeit …

Der Eintrag war von Ende August, also vor eineinhalb Monaten. Ich runzelte die Stirn. Ein Auftrag, die Bostoner Stadtverwaltung mit neuen Sicherheitssystemen auszustatten, war nichts, was man leichtfertig ablehnte. Vor allem nicht, wenn der Vertrag eigentlich schon unterschrieben war.

Mom sagt, es sei nichts, und ich solle mir keine Sorgen machen. Aber ich habe die Angst in ihren Augen gesehen. Nur Angst wovor? Ich hasse es, dass sie mich anlügt, obwohl ich doch nur verstehen möchte, was los ist! Ist es als KeyTech-Erbin nicht sogar mein Recht zu erfahren, wenn etwas nicht stimmt? Es macht mich wütend, dass sie mich ausschließen. So sehr, dass ich schreien könnte! Reden Mom und Dad nicht immer von Ehrlichkeit? Davon, dass wir zusammenhalten müssen? Es fühlt sich gerade an, als würden sie alles, wofür wir als Familie stehen, verraten, und ich fühle mich so verflucht allein damit. Ich weiß nicht, wie oft ich schon darüber nachgedacht habe, mit Adrian über die Sache zu sprechen. Er hat sich schon so oft mit seinen Eltern gestritten, aber ebenso oft den Familiensegen wieder geradegerückt. Vielleicht hat er Tipps für mich, wie mir das auch gelingen kann. Aber er hat schon so viel um die Ohren, da will ich ihm meine Sorgen nicht auch noch aufbürden.

Ausgerechnet Adrian Raith sollte Tipps für Amelia haben, wie man einen Streit aus der Welt schaffte? Ich schnaubte abfällig. Er wusste viel besser, wie man einen Streit aufrechterhielt.

Ich schloss die Hand fester um die Schachfigur, bis sich die Krone der weißen Königin in meine Handflächen bohrte. Jetzt war nicht die richtige Zeit, um mir Gedanken über Adrian zu machen, also las ich weiter. Amelia schien sich von der Abweisung ihrer Eltern nicht aufhalten zu lassen.