Love in the Big City - Sang Young Park - E-Book

Love in the Big City E-Book

Sang Young Park

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Beschreibung

Young flippert zwischen Bude, Hörsaal und den Betten seiner letzten Tinder-Matches hin und her. Er studiert in Seoul, zusammen mit Jaehee, seiner BFF und Mitbewohnerin, zieht er durch die glitzernden Bars und queeren Clubs der Stadt. Mit noch einem Glas Soju in der Hand und eisgekühlten Marlboro Reds zwischen den Lippen beschwören sie die Euphorie, jede Nacht. Gegen die Ängste, gegen die Liebe, gegen die Ansprüche der Familie und die Not mit dem Geld. Doch als auch Jaehee endlich ankommen will, bleibt Young allein zurück im Partymodus. Mit seiner altgewordenen Mutter, mit dutzenden Liebhabern, von denen kaum einer seinen Namen kennt, mit der Leidenschaft fürs Schreiben und einer Frage: Ist in diesem Land für einen wie mich überhaupt eine Zukunft vorgesehen? Kann ich sie erreichen?

Love in the Big City ist eine Heldengeschichte von gewaltiger Zärtlichkeit und Lässigkeit. Sang Young Park erzählt von Chaos, Freude, Leichtigkeit des Jungseins, und seinen schmerzhaften Grenzen, in einer Gesellschaft, deren Vergangenheit trotz allem Blitzen, Blinken, Träumen seltsam mächtig bleibt … Das Kultbuch aus Südkorea, Porträt einer Generation, Psychogramm eines faszinierenden Landes.

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Seitenzahl: 306

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Titel

Sang Young Park

Love in the Big City

Roman

Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel 대도시의 사랑법 (Daedosiui Sarangbeop) by Changbi Publishers, Seoul. Die Veröffentlichung dieses Buches wurde unterstützt vom Literature Translation Institute of Korea (LTI Korea).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5228.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Copyright © 2019 by Sang Young ParkPublished by arrangement with Changbi Publishers, Inc. through Grove Atlantic, Inc., New York, NY, USA.Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlagfoto: Ciaran O'Brien / Unsplash

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

eISBN 978-3-518-77267-6

www.suhrkamp.de

Love in the Big City

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

ERSTER TEIL. Jaehee

1

2

3

4

5

ZWEITER TEIL. Ein Stück Felsenbarsch und der Geschmack des Universums

1

2

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DRITTER TEIL. Love in the Big City

1

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4

VIERTER TEIL. Urlaub am Ende der Regenzeit

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3

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

ERSTER TEIL

Jaehee

1

Ich betrat die »Emerald Hall« im zweiten Stock des Hotels. Hatte Jaehee nicht etwas von vierhundert Gästen gesagt? Es schienen mir deutlich mehr zu sein. Ich setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz an einen Tisch in der Nähe des Podiums und blickte in die Runde. Die Romanistik-Kommilitonen von damals, alle in unterschiedlichem Tempo gealtert. Ganz schönes Gedränge. Das hatte Jaehee nun davon, dass sie jeder Einladung zu irgendwelchen Alumni-Veranstaltungen und Ehemaligen-Treffen immer brav gefolgt war. In solchen Momenten fand ich ihre soziale Kompetenz ziemlich ätzend. Es folgten Begrüßungen von Leuten, mit denen ich fünf oder zehn Jahre nichts zu tun gehabt hatte. »Ich hab gehört, du schreibst jetzt Bücher. Glückwunsch!« »Könntest öfter mal was von dir hören lassen!« »Was denn, du hier? Es kursierten schon Gerüchte über deinen Tod!« »Äh, kann man deine Bücher eigentlich irgendwo lesen? Im Internet hab ich nichts gefunden …« »Schreiben ist ganz schön anstrengend, was? Hast ja ordentlich zugenommen!« »Sag mal, säufst du immer noch so viel wie früher?«

Ich trinke längst nicht mehr so viel, jetzt wo bald mein neues Buch rauskommt. Außerdem, in Sachen »alt und fett geworden« könnt ihr locker mithalten, und wenn ihr mir weiter mit euren dummen Sprüchen kommt, besauf ich mich gleich wieder wie in meinen besten Tagen – hätte ich eigentlich auf Lager gehabt, besann mich dann aber als zivilisierter Mittdreißiger auf meine Manieren und beließ es bei einem unverfänglichen Lachen. Falls irgendjemand sagte, dass er was von mir gelesen habe, würde ich ihm erklären, dass meine Geschichten natürlich alle frei erfunden seien. Wie ich so dabei war, mir Antworten auf Fragen zurechtzulegen, die ohnehin niemand stellen würde, kam ich mir albern vor. Übertriebene Selbstbezogenheit ist schließlich auch eine Art Krankheit …

»Werte Gäste, wir bitten Sie nun, Ihre Plätze einzunehmen. Die Zeremonie wird in Kürze beginnen.«

Der Typ, der die Hochzeitsfeier moderierte, war ein guter Freund von Jaehees künftigem Ehemann. Spitzes Kinn, fettig glänzende Haut, nicht mein Fall, dazu noch dieser Gyeongsangdo-Dialekt, und als Moderator war er auch nur so lala. Der sollte beim Fernsehen arbeiten? Das hier hätte ich jedenfalls eindeutig besser hingekriegt. Was sollte diese blöde Tradition, dass der beste Freund des Bräutigams bei der Hochzeitsfeier immer die Rolle des Ansagers übernehmen muss? Unmut stieg in mir auf.

Auf der großen Leinwand neben der Bühne sah man Fotos von Jaehee und ihrem künftigen Mann. Während die verpixtelten Pärchen-Bilder vorüberzogen, leerte ich mein Glas Rotwein. Da stieß mich Cheolgu, der neben mir saß und von dem ich gehört hatte, dass er seit kurzem bei der Industrial Bank arbeitete, unsanft in die Rippen.

»Jetzt mal ehrlich. Du und Jaehee. Ist was dran an den Gerüchten von damals?«

Da ist was dran, aber – so leid es mir tut, mein lieber Cheolgu, dass Jaehee dich damals hat abblitzen lassen – nicht das, was du denkst.

*

Wir waren damals beide neunzehn Jahre alt und es war Sommer gewesen, als Jaehee und ich einander unerwarteterweise nähergekommen waren.

Es war die Zeit, als ich die Gewohnheit hatte, jeden Gefallen zu erfüllen, solange man mir einen ausgab, und so knutschte ich an jenem schicksalhaften Tag mit einem Mann unbekannten Alters auf dem Parkplatz des Hamilton Hotels in Itaewon. Vermutlich hatte er mir zuvor in irgendeinem Club im Souterrain sechs Tequila spendiert. Der Mond, die Straßenlaternen und die Neonreklamen der ganzen Welt schienen mir ihr Licht zu schenken und in meinen Ohren klang eine Electro-Pop-Nummer von Kylie Minogue. Mit wem ich da gerade zu tun hatte, war mir vollkommen egal. Entscheidend war, dass ich mit irgendjemandem dort, in den dunklen Straßen der Stadt, existierte, und so gab ich mein Bestes, um meine Zunge mit der des Unbekannten zu verknoten. Gerade als ich schon zu glauben begann, die ganze Welt werde gleich brodelnd überkochen, ganz allein für mich, da traf mich mit voller Wucht ein Schlag von hinten. Eine Hass-Attacke. Obwohl ich sturzbetrunken war, schoss mir dieser Gedanke sofort durch den Kopf, und schon malte ich mir in bester Drama-Queen-Manier das Allerschlimmste aus. Ich schaffte es, meine Lippen von dem fremden Mund zu lösen, ballte, auf einen heftigen Schlagabtausch gefasst, die Fäuste und drehte mich um. Vor mir stand Jaehee, wie immer eine lippenstiftverschmierte Marlboro Red in der Hand. Ihr Anblick brachte mich augenblicklich zur Ernüchterung. Als sie mein Gesicht sah, konnte sie sich kaum mehr halten vor Lachen. Dann rief sie in ihrer gewohnten Lautstärke: »Na los, vernasch ihn doch ganz!«

Noch ehe ich ganz begriffen hatte, was hier vor sich ging, brach auch ich in Gelächter aus. Der Mann von eben war inzwischen irgendwohin verschwunden, und heute weiß ich nicht einmal mehr, welcher es eigentlich war. Woran ich mich allerdings noch vage erinnere, ist das anschließende Gespräch zwischen Jaehee und mir auf dem Parkplatz.

»Könntest du das bitte vor den Leuten auf dem Campus verschweigen?«

»Klar doch. Ich hab zwar keine Kohle, aber jede Menge Anstand.«

»Sag mal, hat dich das nicht geschockt? Ich meine, dass ich mit Männern …«

»Nö.«

»Und seit wann weißt du das?«

»Seit ich dich das erste Mal gesehen hab.«

Eben das übliche Blabla.

Bis dahin wusste ich von Jaehee eigentlich nicht viel, kaum mehr, als dass sie immer in kurzen Hosen herumlief und nach dem Unterricht stets als Erste nach draußen stürmte, um eine zu rauchen. Ihr Ruf im Fachbereich war, gelinde gesagt, nicht der beste.

Ich selbst war in unserem Fachbereich nicht von vornherein ein Außenseiter gewesen, sondern wurde von den älteren Kommilitonen anfangs durchaus ab und an eingeladen, wohl vor allem deshalb, weil ich von der Körpergröße her ein wenig über dem Durchschnitt lag. Diese Treffen liefen immer ähnlich ab: Als Erstes ging es in die Billard- oder Computerspielhalle, dann in eines der vor allem auf Geschmacksverstärker spezialisierten Restaurants, wo man sich neben salzigem Essen reichlich Soju einverleibte, und schließlich versammelten sich alle bei einem der etwas ordentlicher wohnenden Kommilitonen in dessen Zimmer, um die ganze Nacht lang über Frauen zu reden, bis uns irgendwann die Augen zufielen. Wie es sich für Neunzehn- oder Zwanzigjährige gehört, wurde haarklein erörtert, wie unwahrscheinlich toll man selbst war, welch großartigen Sex man schon gehabt habe, welchen Frauen man in welchem Maße Befriedigung verschafft habe und welche Kommilitoninnen besonders leicht zu knacken seien. Auch von Jaehee war in diesem Zusammenhang wiederholt die Rede. Einmal, als ich mich nicht zum ersten Mal fragte, wieso ich es eigentlich bis zum College hatte bringen müssen, bloß um mir jetzt all diese (mindestens zur Hälfte erfundenen) Storys anzuhören, war es vorgekommen, dass ich im Vollrausch die Nerven verloren, den Tisch mit den Sojuflaschen umgeworfen und dabei gebrüllt hatte: »Ihr verdammten Wichser, ich hab die Schnauze voll von eurer gequirlten Scheiße!« – was zur Folge gehabt hatte, dass ich anschließend nie wieder eingeladen wurde. Wie es Gruppen naturgemäß an sich haben, sind in Ungnade gefallene Mitglieder beliebte Objekte übler Nachrede. Und da man auf minuziöse Testberichte über Erstsemestlerinnen mittlerweile keine Lust mehr hatte, begann man nun, sich auf mich einzuschießen. Ich sei bestimmt schwul und hinge dauernd irgendwo in Itaewon rum, um dort wer weiß was zu machen – Gerüchte, um die sich nur ein paar unschuldige Neunzehnjährige scheren würden und die übrigens zur Hälfte durchaus den Tatsachen entsprachen. (Die Fantasie bleibt grundsätzlich hinter der Realität zurück.) Als kaum ein Semester vorbei war und es wohl niemanden mehr im Fachbereich gab, der noch nicht von mir gehört hatte, kamen auch mir diese Gerüchte, die mich zum allgemeinen Gespött machten, schließlich zu Ohren. Hier im Fachbereich später nochmal Freunde zu finden, würde schwierig werden. Na, wenn schon. Auf diese Langweiler und mittelmäßigen Trinker konnte ich pfeifen. Und als ich so dabei war, die Sache unter rationalen Gesichtspunkten zu betrachten, um Ordnung in meinen wirren Seelenzustand zu bringen, war Jaehee in mein Leben getreten.

Nun, wo wir so unvorhergesehenerweise ein Geheimnis miteinander teilten, entwickelte sich unsere Beziehung dahingehend, dass wir uns jetzt regelmäßig über Männer unterhielten, da wir beide sonst niemanden hatten, aber dringend jemanden brauchten, mit dem dies möglich war.

Der Keuschheitsbegriff war sowohl bei mir als auch bei Jaehee eher schwach ausgeprägt beziehungsweise nicht einmal ansatzweise vorhanden, und in dieser Hinsicht hatten wir es beide in unseren jeweiligen Kreisen zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Jaehee war einen Meter siebenundsechzig groß und wog einundfünfzig Kilo, meine Maße waren eins siebenundsiebzig bei achtundsiebzig Kilo, wir waren also beide etwas größer als der Durchschnitt, ansonsten weder besonders attraktiv noch besonders hässlich, gerade so halt, dass man einem möglichen Partner nicht gleich peinlich sein musste. (Für meine »objektive Selbsteinschätzung« war ich damals von der Jury einhellig gelobt worden, als ich einen Literaturwettbewerb für Nachwuchsschriftsteller gewann.) Die Welt wartete darauf, von uns unvermögenden und unbekümmerten Neunzehnjährigen ausgiebig körperlich erkundet zu werden. So trafen wir ohne große Umschweife irgendwelche Männer, betranken uns nach Lust und Laune und fanden uns am nächsten Morgen bei einem von uns beiden zusammen, um uns Kosmetikmasken aufs geschwollene Gesicht zu packen und über unsere nächtlichen Bekanntschaften herzuziehen.

»Der meinte, er arbeitet in einer Firma für Bergsteigerausrüstungen. Kleiner Schwanz, aber beim Vorspiel ganz okay. Ich würd sagen fünfzig Punkte.«

»Angeblich hat er einen Abschluss in Statistik an der Yonsei University, schien mir aber gelogen zu sein. Gesichtsausdruck wie ein Auto und absolut nichts in der Birne. Hab mich jedes Mal halb totgelacht, wenn der den Mund aufgemacht hat.«

»Der wollte partout ein Video machen. Da hab ich ihm das Handy weggenommen und in die Ecke gedonnert. Er würde es ja niemandem zeigen. Wer’s glaubt.«

So ließen wir uns genüsslich über diverse Männer aus, bis uns irgendwann die Augen zufielen und wir, die angetrockneten Masken auf dem Gesicht, nebeneinander einschliefen. Von Natur aus Frühaufsteher, war ich meist als Erster wieder auf den Beinen, ließ Jaehee unter ihrer bis über den Kopf gezogenen Decke liegen, kochte eine Packung Fertig-Seelachssuppe oder Instantnudeln, und wenn Jaehee vom Geruch wach geworden und aufgestanden war, aßen wir das Ganze mit saurem Kimchi und kaltem Reis. So kam es, dass irgendwann ein Extra-Set von meinem Haarwachs und ein zusätzlicher Gillette-Rasierer in Jaehees Zimmer und einer von Jaehees Augenbrauenstiften sowie ein Mac-Powder-Compact-Puder-Set in meinem Zimmer Platz gefunden hatten. Wenn ich allein war, nahm ich manchmal heimlich Jaehees Augenbrauenstift oder ich benutzte – wenn auch eher halbherzig – einen oder zwei ihrer Wattebäusche, um mir ein wenig Puder auf Wange oder Stirn zu tupfen. Und jedes Mal fragte ich mich dann, ob Jaehee ihrerseits nicht vielleicht auch manchmal meinen Gillette-Rasierer zur Hand nahm, um sich Bein- oder Achselhaare zu entfernen.

Dass Jaehee den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte, war gewesen, als sie zwanzig Jahre alt war, im Frühling. Wir hatten beide kein besonders gutes Verhältnis zu unseren Eltern, was aber nicht bedeutete, dass unsere Eltern irgendwie schlechte Menschen gewesen wären. Sie waren halt gewöhnliche, konservative Mitglieder der Mittelschicht. Wie die meisten Eltern behelligten sie uns mit Belehrungen über ein anständiges Leben, während sie sich ihrerseits in außerehelichen Affären vergnügten und sich ansonsten für Dinge wie Kirchengemeinde, Aktienkurse und Pyramidenschemata begeisterten. Der Hass auf meine Eltern hielt mich allerdings nicht davon ab, ordentlich bei ihnen abzustauben (was möglicherweise die Spur von Hinterhältigkeit erklärt, die sich im Laufe der Zeit in mein Gesicht zu schleichen begann), so dass es mir, strategisch agierend, gelang, monatlich mehrere hunderttausend Won von ihrer Seite einzusacken. Jaehee dagegen hatte nach einem heftigen Krach mit ihren Eltern den Kontakt zu ihnen vollkommen abgebrochen und verweigerte seitdem auch jede finanzielle Unterstützung. Sie war in ihrer Art halt immer sehr geradlinig.

Ihre erste Arbeit hatte sie in einem Café namens »Destiné« gefunden. Sie verriet mir, dass sie sich diesen Job nicht deshalb ausgesucht habe, weil sie das über dem Café-Eingang prangende Schild als Zeichen des »Schicksals« gedeutet hätte, sondern, weil es eines der wenigen Cafés des Viertels war, in denen man rauchen durfte. Und wie sie da mit der Zigarette im Mund die Espressomaschinen bediente, verströmte sie den niedlichen Charme einer chaotischen Studentin Anfang zwanzig. Immer wenn ich einen neuen Freund hatte, brachte ich ihn hierher ins Destiné, um ihn von Jaehee begutachten zu lassen. Und jedes Mal bemerkte sie, dass ich wohl Männer bevorzugte, die allem Anschein nach außer Sex nicht viel im Sinn hätten und charakterlich ziemliche Arschlöcher seien. Und im Nachhinein muss ich sagen, dass sie recht hatte.

So arbeitete Jaehee tagsüber als Bedienung im Café und abends als Nachhilfelehrerin und bekam es darüber hinaus noch hin, sich bis in die frühen Morgenstunden zu betrinken. Dazu besuchte sie die Kurse an der Uni, schaffte es irgendwie, ihre Credit Points zu sammeln, doch während sie für gewöhnlich alles, was sie in Angriff nahm, überdurchschnittlich gut bewältigte, erstreckte sich dieses Talent nicht auf die Fähigkeit, einen vernünftigen Mann auszuwählen oder einem Mann zum angemessenen Zeitpunkt den Laufpass zu geben. Weshalb ich es war, der Jaehees Bekanntschaften des Öfteren per SMS die fälligen Absagen oder Abschiedsworte zukommen ließ. Denn dies war etwas, womit ich mich ausgesprochen gut auskannte, ich brauchte einfach nur all die Worte von mir zu geben, die ich mir selbst zuhauf von Männern hatte anhören müssen, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Zu jener Zeit war ich mir oft vorgekommen wie die Fußmatte eines Nudelrestaurants. Einmal kurz die Schuhe abtreten, weitergehen, fertig. (»Objektive Selbsteinschätzung«!)

Etwa zu der Zeit, als die Brown Eyed Girls die koreanische Halbinsel mit Abracadabra eroberten, bekam ich meinen Einberufungsbescheid. Weil ich von jemandem gehört hatte, der durch den Liebesbrief eines Freundes geoutet worden war und infolgedessen während seines gesamten Wehrdienstes eine unbeschreibliche Tortur erlitten hatte, schärfte ich meinem damaligen Freund K. ein, mir in Jaehees Namen zu schreiben. In solchen Situationen bot sie mir immer einen äußerst praktischen Deckmantel. Nicht nur K., auch Jaehee trug ich auf, mir reichlich unterhaltsame E-Mails zu schreiben, hegte allerdings diesbezüglich, weil ich schließlich wusste, wie lästig ihr so etwas für gewöhnlich war, keine besonderen Erwartungen.

Als ich in der zweiten Woche der Grundausbildung das erste Mal einen Brief bekam, schlug mir das Herz bis zum Hals. Im Gegensatz zu K., der sich vor meinem Wehrdienstantritt mir gegenüber immer aufgeführt hatte, als ob er sich für mich erforderlichenfalls Leber und Milz aus dem Leibe reißen würde, der nun aber gerade mal einen einzigen Brief an mich zustande gebracht hatte (welcher noch nicht einmal eine Seite lang war), hatte Jaehee mir entgegen allen Erwartungen sage und schreibe zwölf Briefe geschickt. Am Anfang waren es nur Plaudereien über ihren langweiligen Alltag (Ich war im »Kraken-Pool« am Trinken und bin voll vornüber auf den Tisch gekippt) oder Beschimpfungen diverser Kommilitonen aus dem Fachbereich (Cheolgu, das Arschloch, hat mich gefragt, ob ich mit ihm Sex haben will. Dabei weiß ich ganz genau, wie der hinter meinem Rücken über mich ablästert. Der ist genauso eklig, wie er aussieht …), aber nach einiger Zeit begann sie, über unsere gemeinsame Zeit zu schreiben und darüber, wie sehr sie mich vermisse. In ihrem letzten Brief hieß es sogar: Es gibt Dinge, deren Wert man erst erkennt, wenn man sie verloren hat. Genauso ist es auch mit dir. Und obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, wo sie das abgeschrieben haben mochte, und allein feststand, dass sie diese Zeilen nicht in nüchternem Zustand zu Papier gebracht haben konnte, war ich doch irgendwie gerührt. Und machte mich sogleich daran, auf einem Bogen des militäreigenen Papiers mit entschlossen aufgedrücktem Stift einen Antwortbrief zu verfassen, beginnend mit den Worten: An Jaehee, die hässlichste Frau der Welt.

Ungefähr zu der Zeit, als ich meine Grundausbildung abgeschlossen hatte und meinem Regiment zugeordnet wurde, erhielt ich von Jaehee die Nachricht, dass sie wieder Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen habe und mit deren Unterstützung nun als Austauschstudentin nach Australien gehen werde. Auch teilte sie mir mit, dass sich K. irgendwie auffällig verhalte, und riet mir, ihn doch bei Gelegenheit mal genauer zu fragen, was Sache sei. (Tatsächlich dauerte es nicht lange festzustellen, dass sie mit ihren Vermutungen recht hatte.) So war Jaehee während meiner Zeit beim Militär sechs Monate lang meine offizielle Freundin, bis ich schließlich einen Unfall erlitt, der dazu führte, dass ich aus medizinischen Gründen vom restlichen Wehrdienst befreit wurde.

Als ich in die Gesellschaft zurückgeworfen wurde, befand sich Jaehee bereits in Australien. Dies bedeutete, dass ich, bis sie zurückkehrte, ein halbes Jahr ohne sie auskommen musste. Ich hatte auf nichts und auf niemanden Lust und lag die ganze Zeit schlafend oder essend in meinem Zimmer auf dem Bett. Meine Mutter betrachtete diese Art von Müßiggang mit Missbilligung, und weil ich ihre ständige Nörgelei irgendwann satthatte, suchte ich mir nach drei Monaten ein eigenes Zimmer in der Nähe der Uni, wo ich schließlich allein wohnen konnte.

*

Ein neues Jahr brach an und am Flughafen von Incheon sahen Jaehee und ich einander wieder. In dem Moment, als sie mich dort in der Ankunftshalle erblickte, ließ sie ihren Rollkoffer stehen, stürmte auf mich zu und fiel mir um den Hals. Doch erst als mir der Zigarettengeruch aus ihren Haaren entgegenströmte, begriff ich, dass wir tatsächlich wieder vereint waren.

Nur kurze Zeit nach ihrer Rückkehr suchte sie sich eine Einzimmerwohnung nicht weit vom Haupteingang der Uni und meldete sich in der Englisch-Sprachschule an, um ihr TOIEC-Level zu verbessern. Sie studierte jetzt nicht nur Wirtschaft im Nebenfach, sondern ging auch in die Lerngruppe »Marketing«, um Fallstudien zu betreiben, und begann bald auszusehen wie eine typische Undergraduate-Studentin, die sich auf ihr künftiges Arbeitsleben vorbereitet. In ihrer plötzlich erwachten Strebsamkeit kam mir Jaehee sehr fremd vor, aber als ich sah, dass sie nach wie vor sieben Mal pro Woche trinken ging, stellte ich mit Erleichterung fest, dass sie trotz allem offenbar die Alte geblieben war.

Jaehee wohnte noch nicht lange in ihrer neuen Wohnung, da berichtete sie mir von einer seltsamen Sache. Jeden Abend um zehn Uhr erschien ein Mann vor ihrem Gebäude, um zum Fenster ihrer Wohnung hinaufzustarren.

»Na ja, vielleicht ist er Immobilienhändler. Solche Mietwohnungen über Darlehen sind mittlerweile ja kaum noch zu bekommen«, versuchte ich die Sache beiseitezuwischen, hatte allerdings auch selbst ein mulmiges Gefühl. Jaehee sagte auch, einmal sei es vorgekommen, dass sie, nur in Unterwäsche gekleidet, dabei war, sich die Haare zu föhnen, als sich ihr Blick plötzlich mit dem des fremden Mannes gekreuzt habe. Und dann fügte sie hinzu, dass es sicher nicht schwer sei, über die Veranda in ihre Wohnung zu klettern, weil sie ja fast ganz unten, im ersten Obergeschoss wohne. So bot ich Jaehee an, dass ich, falls sie Angst habe, ein paar Tage bei ihr wohnen könne, da ich schließlich ein Mann sei. Daraufhin erwiderte sie, dass sie zwar keine besondere Angst habe, ihr nachts aber immer ziemlich langweilig sei und ich doch deshalb ruhig ein paar Tage zu Besuch kommen solle.

Also packte ich, als ob ich auf Klassenfahrt ginge, meine Unterwäsche, die kurze Hose und das ärmellose Shirt ein, die ich immer als Schlafsachen trug, und macht mich auf zu Jaehees Wohnung. Wir wärmten uns japanischen Curryreis auf, sahen eine Fernsehshow, in der Prominente idiotische Tipps in Sachen Liebe gaben, und ließen unserer Missbilligung freien Lauf. Ich legte mich aufs Bett und drückte auf meinem Handy herum, während Jaehee eine Dusche nahm. Als sie herauskam und sich die Haare trocknete, bemerkte ich einen Schatten hinter den Vorhängen. Während ich noch etwas gedankenverloren dort hinüberblickte, rannte Jaehee zum Fenster und riss die Vorhänge auf. Da kauerte neben dem Außengerät der Klimaanlage ein spindeldürrer Mann. Tatsächlich, konnte ich gerade noch denken, bevor Jaehee in einer schnellen Abfolge von Handgriffen die Verandatür öffnete und dem Mann, der gar nicht so rasch reagieren konnte, einen Tritt ins Gesicht versetzte, so dass er nach hinten kippte. Stöhnend hob er langsam den Kopf, er blutete aus Nase und Mund. Jaehee war in einem Umfeld aufgewachsen, wo man besonderen Wert darauf legte, dass den Kindern etwas beigebracht werde, so dass sie seit dem Kindergarten Klavier und Taekwondo gelernt und es bis zur fünften Klasse immerhin bis zum zweiten Dan gebracht hatte. (Da sage noch jemand etwas gegen die Früherziehung.) Ich stützte den Mann, der nicht wieder recht zu Sinnen kommen wollte, und rief Jaehee zu, sie solle den Polizei- und den Notruf wählen, wobei ich mir nur schwer das Lachen verkneifen konnte.

Vier Tage später packte ich all meine Sachen in einen Koffer und zog bei Jaehee ein.

Auf vertragliche Vereinbarungen konnten wir verzichten. Ich zahlte ihr dreihunderttausend Won Monatsmiete und beteiligte mich zur Hälfte an den Nebenkosten. Viele meiner Sachen befanden sich ohnehin schon in ihrer Wohnung, dreißig Quadratmeter waren für zwei Personen vollkommen ausreichend, und da niemand von uns beiden, inzwischen Mitte zwanzig, jemals einen festen Freund gehabt hatte, war unser Verhältnis zueinander so unkompliziert und vertrauensvoll, wie man es sich nur denken kann.

Jaehee war gut darin, Sesamblätter in süßer Sojasoße einzulegen, und ich hatte mein eigenes Rezept für scharfe Vongole-Pasta entwickelt. Ich war Experte für wasserfleckenfreies Geschirrspülen und Jaehee besaß Talent darin, Haare aus dem Abflussrohr der Dusche herauszuholen. Nachdem sie mich einmal beim Verzehr tiefgefrorener Blaubeeren erblickt hatte, brachte sie jedes Mal eine Riesenpackung amerikanischer Tiefkühlblaubeeren vom Einkaufen mit. Ich revanchierte mich meinerseits, indem ich ihr regelmäßig Marlboro Reds beschaffte, die ich fürsorglich neben der Blaubeerpackung im Gefrierfach deponierte. Und jedes Mal wenn sie eine Zigarette aus der neuen Schachtel nahm, schwärmte sie vom erfrischenden Gefühl an ihren Lippen.

2

Als Jaehee sagte, dass sie heiraten werde, war das Erste, das mir über die Lippen kam: »Bist du schwanger?« Da kicherte sie und meinte, dass bisher ausnahmslos jeder so reagiert habe. Erstaunlicherweise war sie nicht schwanger und nach eigenen Angaben noch nicht einmal ansatzweise in den Bereich einer derartigen Möglichkeit geraten. Es habe sich halt einfach so ergeben. Und das Gesicht, das sie machte, als sie mir erklärte, dass es sich »halt einfach so ergeben« habe, ließ mich vermuten, dass es ihr diesmal offenbar ernst war.

Jaehee und Heiraten?

Das war schwer zu glauben. Da wäre es mir schon realistischer vorgekommen, wenn ich mir eine Ehefrau gesucht hätte. Dinge wie Stabilität und Sicherheit lagen Jaehee schließlich vollkommen fern.

*

Als wir beide Mitte zwanzig waren, erreichten Jaehees Alkoholkonsum und Männerverschleiß goldmedaillenverdächtiges Niveau, falls bei Olympia entsprechende Disziplinen ausgeschrieben worden wären. Auch ich, weil ich von Natur aus nicht gern den Kürzeren zog, beziehungsweise besser gesagt, weil mir einfach der Sinn danach stand, war jede Nacht betrunken und schlief jede Nacht mit anderen Männern. Und stellte, wenn ich mit zerzausten Haaren wieder einmal irgendein Motel im Viertel Jongno verließ, jeden Morgen fest, wie viele einsame Menschen es auf der Welt doch gab. Einige der Männer, mit denen ich zu tun hatte, wollten mehr als gemeinsames Trinken und Sex. Da sie trotz meiner wiederholten Weigerung nicht lockerließen, auf weiteren Treffen bestanden und sogar ankündigten, bei mir zu Hause aufzukreuzen, zog ich schließlich die Reißleine und behauptete, ich hätte einen Mitbewohner.

Einen Mitbewohner?

Nachdem Jaehee und ich eine Weile darüber diskutiert hatten, wie wir einem Partner die Existenz eines Mitbewohners am besten vermitteln könnten, einigten wir uns darauf, dass sie »Jaeho«, ein »Kommilitone aus dem Fachbereich«, sein solle und ich »Jieun«, eine »Freundin aus dem Heimatort«, um einander gegebenenfalls als Ausrede dienen zu können.

Beispielsweise, wenn Jaehee eine SMS von ihrem (zeitweiligen) Freund bekam:

He, Jaehee, warum war denn letzte Nacht dein Handy ausgeschaltet? Und meine SMS hast du auch nicht gelesen.

Hör bloß auf … Jieun ist gestern Nacht schlecht geworden und ich musste mit ihr zum Notarzt!« (Mit anderen Worten: Während Jieun zu Hause gemütlich vor sich hinschnarchte, war ich mit den Männern aus dem Fachbereich in der Kneipe und hab fünf Flaschen Soju geleert.)

Oder wenn ich eine Nachricht bekam:

Sag mal, hast du am Wochenende Zeit?

Tut mir leid, da bin ich mit Jaeho im Flusspark zum Biertrinken verabredet. (Im Klartext: Jaeho ist damit beschäftigt, andere Männer zu treffen, und auch ich werde vermutlich noch mit jemand anderem Sex haben, bevor ich mit dir Schluss mache.)

In diesem Stil halt.

Jaehees fünfter oder sechster Mann hatte seine Ausbildung zum Boilerinstallateur an der Technischen Hochschule aufgegeben und tingelte nun als DJ durch irgendwelche namenlosen Clubs. Mein achter oder neunter Freund war ebenfalls DJ in Itaewon gewesen. Es gab so viele DJs in Seoul, dass ich mich zu fragen begann, ob nicht vielleicht Bedarf bestand für eine offizielle DJ-Genossenschaft, die Arbeitslizenzen herausgab, um ein gewisses professionelles Niveau zu gewährleisten. Aber der Typ, mit dem ich damals zusammen war, hatte einen großen Schwanz und eine Menge Tattoos, legte immer gute Musik auf, wenn wir Sex hatten, und besaß ein gebührendes Maß an Beschränktheit, so dass wir prima miteinander klarkamen und eine ziemlich normale Beziehung führten, bis er nach zwei Monaten meinte, dass er mich zwar liebe, nicht aber, wenn ich betrunken sei (und laut auf der Straße singen und ihn küssen und beschimpfen und ein Riesentheater machen und am Ende immer in Tränen ausbrechen würde), und dass er mich daher nicht mehr sehen wolle, was dazu führte, dass ich seitdem DJs gegenüber grundsätzlich meine Vorbehalte hatte. Jaehee, die von meiner komplizierten Gemütslage nichts ahnte, sprach indes voller Überschwang und Begeisterung von ihrem neuen Freund.

»Er hat ganz lange Haare! Die hat er immer zu Zöpfen geflochten. Sieht aus wie ein Püppchen! Wenn wir Sex haben, ist das total lustig!«

Sie zeigte mir ein Foto. Er sah kein bisschen lustig aus. Sein stechender Blick ließ bei mir keine Zweifel darüber aufkommen, dass er ein ziemliches Arschloch sein musste. Er drängte Jaehee immer wieder, Jieun (also mich) doch mal in den Club mitzubringen und sie ihm vorzustellen, aber Jaehee würgte Vorschläge dieser Art stets gnadenlos ab.

»Die ist ganz, ganz schüchtern.«

Die ganz, ganz schüchterne Jieun hatte allerdings Vergnügen daran, andere Leute heimlich zu beobachten und zu belauschen, und saß deshalb gerne am Nachbartisch, wenn Jaehee und ihr Freund sich im Café trafen und miteinander redeten. Die Art, wie er redete, sein Gesichtsausdruck, einfach alles an ihm – der Typ machte auf mich keinen guten Eindruck.

»Sag mal, Jaehee, warum triffst du dich mit dem?«

»Vielleicht, weil er mich gut behandelt?«

»Könnte es nicht doch eher mit der Schwanzgröße zusammenhängen?«

Jaehee machte ein Gesicht wie Moses, der den brennenden Busch anstarrt, und fragte mich erstaunt, wie ich da bloß drauf gekommen sei. Ich setzte eine Unschuldsmiene auf und erwiderte:

»Gottgegebene Intuition.«

Als Jaehee bekannte, dass es ihr tatsächlich allein um die Größe des Geschlechtsteils gegangen sei, mahnte ich, dass der unheilvolle Anblick jenes Mannes für ihren weiteren Lebensweg durchaus nichts Gutes verheiße, und gebot ihr, deshalb tunlichst auf die rechte Bahn zurückzukehren, woraufhin sie mir gelobte, ihre Bekanntschaften fürderhin zunächst meinem Urteil zu unterziehen, und meine Hand ergriff, als sei sie soeben zum wahren Glauben bekehrt worden. Ich bedachte Jaehee mit einem gütigen Nicken und schloss ihre arme Seele ganz fest in mein Herz.

Und unglücklicherweise sollte sich meine gottgegebene Intuition einmal mehr als unfehlbar erweisen.

Als ich eines Tages vom Unterricht nach Hause kam, stand mir Jaehee mit kreideweißem Gesicht gegenüber. In der Hand hielt sie einen Schwangerschaftstest. Ohne die Tasche abzustellen, sah ich auf die beiden Streifen auf dem Anzeigefenster. Mir klappte die Kinnlade herunter.

»Oh Mann, kannst du nicht einfach mal eines nach dem anderen machen?«

»Jetzt ist alles aus, oder?«

»Was soll das heißen, alles aus? Nimm deine Tasche, wir gehen zum Arzt.«

»Ja, sicher, aber es gibt da ein Problem …«

»Wieso?«

»Ich hab kein Geld. Ich bin vollkommen blank.«

»Hast du das Kind allein zustandegebracht, oder was? Das kann der Typ bezahlen.«

»Das ist ja das eigentliche Problem.«

»Was denn? Jetzt red endlich Klartext.«

»Ich weiß nicht, wer von beiden das bezahlen soll.«

Es stellte sich heraus, dass der idiotische DJ, mit dem sie sich eingelassen hatte, zwar ein passabler Sexpartner, aber insbesondere in betrunkenem Zustand ein Dreckskerl war, so dass in Jaehee schließlich der Entschluss gereift war, ihn abzuservieren. Just zur gleichen Zeit hatte ihr ein Mitarbeiter in der Nachhilfeschule einen gleichaltrigen Kunststudenten vorgestellt, der allerdings, wie sich herausstellte, sein Studium schon vor langem geschmissen hatte und nun als Tattoo Artist arbeitete. Ausgerechnet an dem Abend, als Jaehee ihr erstes Blind Date mit ihm hatte, übernachtete ich gerade irgendwo anders, so dass ihr quasi keine andere Wahl (?) blieb, als ihn mit nach Hause zu schleppen und sich mit ihm auszutoben. Ohne Kondom. Es liegt ja in der menschlichen Natur, beim ersten Mal noch Skrupel zu haben und später, wenn erstmal ein Anfang gemacht ist, alle Bedenken über Bord zu werfen, und so hatte Jaehee in der Folge nun mehrfach ungeschützten Verkehr, mit beiden Männern.

»Der DJ kann’s besser, aber der Tattoo-Typ sieht besser aus. Da musste ich echt überlegen.«

Man hätte annehmen wollen, dass sie das mit dem Überlegen einigermaßen zügig hinbekommt, aber Jaehee hing ganze drei Monate in Grübelschleife und ermüdendem Partner-Pingpong zwischen beiden Männern fest. Ich sagte ihr, wenn sie mit dem »Überlegen« so weitermache, hätte sie nach zwei weiteren Malen genug Kinder zusammen, um ein Waisenhaus aufzumachen, eine Bemerkung, auf die sie nicht näher einging. Unvermittelt zeigte sie mir ein Foto auf ihrem Smartphone. Das sei der Tattookünstler. Der Mann auf dem Bild, so dürr wie eine Trockensardelle, die nicht einmal mehr als Brüheinlage zu gebrauchen wäre, sah dem DJ, abgesehen von der unterschiedlichen Haarlänge, verblüffend ähnlich.

»Die sehen doch beide genau gleich aus. Wenn du das Kind zur Welt bringst, könntest du einfach behaupten, dass einer von beiden der Vater ist – wer von beiden, würde gar keine Rolle spielen.«

Jaehee war offenbar zu niedergeschlagen, um meinen Scherz noch mit einem Lachen zu quittieren. Dann begann sie, Dinge vor sich hin zu murmeln wie »Hätte weniger trinken sollen … Nicht mal was zu essen kann ich mir leisten … Und meine Mutter kann ich auch nicht um Geld bitten … Was soll ich bloß tun …« Ihr weinerliches Gebrabbel ging mir so sehr auf die Nerven, dass ich schließlich sagte:

»Schluss jetzt. Ich geb dir das Geld.«

»Na hör mal … Das geht ja nun beim besten Willen nicht …«

»Keine Sorge, ist nicht geschenkt. Ich krieg das später von dir zurück, mit Zinsen. Aber bring die Sache jetzt gefälligst hinter dich, klar?«

»Wirklich? Meinst du das ernst? Du bist echt großartig. Danke.«

Jaehee wechselte ihre Jeans gegen einen Rock mit elastischem Bund und begann sich zu schminken. Ihr Lippenstift hatte eine Farbe, die ich bei ihr bis dahin noch nicht gesehen hatte. »Wo hast du den denn her?«, fragte ich. »Den hab ich mir vor ein paar Tagen im Hyundai-Kaufhaus besorgt«, war ihre Antwort. »Und woher nimmst du die Muße, dich in dieser Situation mit einem Dior-Lippenstift zu schminken?«, rutschte es mir heraus. Als ob ich in meinem Leben jemals etwas für sie getan hätte. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, wobei sie mit dem Hacken auf den Schaft trat. Ich stand hinter ihr und sagte: »Wieso bin ich eigentlich so nervös? Der Eingriff wird doch bei dir gemacht.« »Kein Ding. Stell dir einfach vor, dass da ein Pickel ausgedrückt wird«, erwiderte sie. »Meinst du wirklich, das ist das Gleiche?«, gab ich etwas bissig zurück, aber im Grunde war ich erleichtert. Wenn es für sie in Ordnung war, dann musste ich die Sache ja nicht unnötig dramatisieren. Ihre draufgängerische, um nicht zu sagen teils etwas unsensible Art war mir in diesem Fall ganz recht.

Wir machten uns auf zu einem Frauenarzt in der Nähe. Jaehee meinte, der Arzt sei unfreundlich und die Praxisausstattung veraltet, aber seit es dort vierzig Prozent Rabatt auf HPV-Impfungen gebe, sei sie immer dort hingegangen. Ob man dort einen solchen Eingriff vornehmen lassen könnte, war allerdings eine andere Frage. »Sollten wir nicht erstmal im Internet nachschauen, wo sie sowas machen?«, fragte ich, aber mir war klar, dass Jaehee nicht eine Millisekunde damit verschwenden würde, derartig nervige Recherchen anzustellen. Sie werde sich erstmal kurz untersuchen lassen, und wenn die das mit der Abtreibung nicht machen würden, könnten wir immer noch woanders hingehen. Darin, sich durch die wichtigen Probleme des Lebens zu lavieren, war sie wirklich unschlagbar.

Die Praxis wirkte, genauso wie Jaehee gesagt hatte, ziemlich heruntergekommen. Jaehee war die einzige Patientin, und so konnte sie sofort nach der Anmeldung ins Sprechzimmer. Ich setzte mich, um auf sie zu warten, auf ein altes, durchgesessenes Sofa. An der Wand hingen Poster, auf denen allerlei Bezeichnungen für bestimmte Viren, durch sie hervorgerufene Symptome und die entsprechenden vorbeugenden Impfstoffe zu lesen waren, sowie eine kleine schwarze Tafel mit sommerlichen Sonderangeboten für Botox, Filler und Haarentfernungs-Lasergeräte. Ich vertiefte mich in die Werbeanzeigen und grübelte darüber, wie sich mein unansehnliches Gesicht vielleicht ein wenig aufbessern ließe. Jaehees Beratung dauerte länger, als ich erwartet hatte. Die Arzthelferin an der Anmeldung gähnte. Die würden die Abtreibung doch nicht gleich heute machen? Wieso dauerte das so lang?

Ich nahm mir ein Bonbon mit Pflaumengeschmack aus der Schale vor mir, wickelte es aus der Folie und steckte es in den Mund. Dabei kam mir die Erinnerung an einen Besuch beim Urologen vor ein paar Monaten. Dort hatte eine ähnliche Atmosphäre geherrscht.

Am Anfang hatte ich beim Wasserlassen jedes Mal nur ein leichtes Brennen in der Harnröhre gespürt, aber nach einer Weile fühlte es sich so unangenehm an, als ob ich regelrecht ausgewrungen würde, weshalb ich schließlich beschloss, zum Arzt zu gehen. Und wo ich mich schon untersuchen ließ, bei einem Urologen in der Nähe der U-Bahn-Station der Uni, nahm ich auch gleich noch einen Freund mit, der Ingenieurswissenschaft studierte und damals mit mir zusammen war. Wir hatten ein paar Mal miteinander geschlafen, und so erschien es mir irgendwie angemessen, dass er mich begleitete. Eine naive Fehleinschätzung, für mich eigentlich völlig untypisch.

Nachdem ich in den kleinen Pappbecher gepinkelt hatte, ergab die Urinuntersuchung, dass ich lediglich an einer Harnröhrenentzündung infolge einer bakteriellen Infektion und nicht etwa an einer unheilbaren Geschlechtskrankheit litt. »Wusste gar nicht, dass man sich dort auch eine Entzündung holen kann«, murmelte ich, und der Arzt erklärte mir, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, mit verlegener Miene, dass es auch bei Frauen bisweilen vorkomme, dass Bakterien aus dem Darm die weiblichen Genitalien verunreinigten und auf diesem Wege auch in die Harnröhre gelangten. Ich hatte das blöde Gefühl, irgendwie ertappt worden zu sein, und schloss mit leicht errötetem Kopf die Tür des Sprechzimmers hinter mir. Als ich mich in den Injektionsraum begeben und mit halb heruntergelassener Hose auf die Liege gelegt hatte, immer noch leicht peinlich berührt, hörte ich zwei Arzthelfer auf der anderen Seite der Trennwand miteinander tuscheln.

»Hast du die gesehen? Klarer Fall, oder?«

»Aber hallo. Freunde des braunen Salons.«

»Echt eklig …«

Bei diesen Worten konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Der Technikstudent, der mitgekommen war, kam inzwischen herbei und meinte, bei ihm gebe es keine Spur einer Infektion. Als ich in lockerem Ton über das Gespräch witzelte, das ich im Injektionsraum mitbekommen hatte, schäumte er vor Wut und war entschlossen, sich die beiden Arschlöcher, die diesen Mist von sich gegeben hatten, unverzüglich vorzuknöpfen. Da erst wurde mir bewusst, dass auch ich im Grunde hätte wütend werden sollen, aber die Angewohnheit besaß, in Situationen, die eigentlich einen Wutausbruch erforderten, einfach laut zu lachen. Die Spritze, die ich an dem Tag bekommen hatte, war ziemlich schmerzhaft gewesen, und nachdem ich mich noch ein paar Mal mit dem Technikstudenten getroffen hatte, war ich seiner überdrüssig geworden und ich hatte mich nicht mehr bei ihm gemeldet.