Love Letters to the Dead - Ava Dellaira - E-Book + Hörbuch

Love Letters to the Dead E-Book

Ava Dellaira

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Beschreibung

Eine Geschichte voller Liebe und Weisheit: Das beeindruckendste Jugendbuch des Jahres

Es beginnt mit einem Brief. Laurel soll für ihren Englischunterricht an eine verstorbene Persönlichkeit schreiben. Sie wählt Kurt Cobain, den Lieblingssänger ihrer Schwester May, die ebenfalls viel zu früh starb. Aus dem ersten Brief wird eine lange Unterhaltung mit toten Berühmtheiten wie Janis Joplin, Amy Winehouse und Heath Ledger. Denn die Toten verstehen Laurel besser als die Lebenden. Laurel erzählt ihnen von der neuen Schule, ihren neuen Freunden und Sky, ihrer großen Liebe. Doch erst, als sie die Wahrheit über sich und ihre Schwester May offenbart, findet sie den Weg zurück ins Leben und kann einen letzten Brief an May schreiben …

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Seitenzahl: 476

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Aus dem Englischen

von Katarina Ganslandt

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Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt Lektorat: Anja Galic Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung des Originalcovers von Andrew Arnold Umschlagillustration: Mädchen: © Ilya Bushuev/iStock Himmel: © John Lund/Getty Images he · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-15648-0 V003
www.cbt-buecher.de

Für meine Mutter Mary Michael Carnes.

»Ich trage dein Herz in meinem.«

Lieber Kurt Cobain,

wir haben gerade Englisch und sollen einen Brief an eine berühmte Persönlichkeit schreiben, die schon verstorben ist. Als würde es im Himmel so etwas wie einen Geister-Postboten geben. Wahrscheinlich hat unsere Lehrerin Mrs Buster dabei eher an einen früheren Präsidenten gedacht als an dich, aber ich brauche jemanden, mit dem ich richtig reden kann. Mit einem toten Präsidenten geht das nicht. Mit dir schon.

Ich wünschte, du könntest mir sagen, wo du jetzt bist und warum du nicht mehr leben wolltest. Du warst der Lieblingssänger meiner Schwester May. Seit sie nicht mehr da ist, fällt es mir irgendwie schwer, ich selbst zu sein, weil ich nicht mehr genau weiß, wer ich eigentlich bin. Dabei wäre es wichtig für mich, das möglichst schnell rauszufinden. Ich bin nämlich erst seit ein paar Tagen auf der Highschool und habe das Gefühl, dass man hier ganz leicht untergeht, wenn man es nicht weiß.

May wäre die Einzige gewesen, die mir Tipps für den Schulwechsel hätte geben können. Zum Beispiel, was ich am ersten Tag anziehen soll. Ich erinnere mich noch genau daran, was sie an ihrem ersten Tag angehabt hat, also bin ich in ihr Zimmer und habe die Sachen rausgesucht – den kurzen karierten Faltenrock und ihren pinken Pulli mit dem abgeschnittenen Kragen und dem Nirvana-Smiley, den sie drangesteckt hatte. Aber eins habe ich dabei nicht bedacht: May war auf eine Art schön, die sich einem für immer ins Gedächtnis brennt. Sie hatte lange seidige Haare und bewegte sich so anmutig, als würde sie eigentlich in eine ganz andere, eine bessere Welt gehören, weshalb das Outfit an ihr genau richtig aussah. Ich habe ihren Rock und den Pulli angezogen, in den Spiegel geschaut und versucht, mich so zu fühlen, als würde ich auch in eine Welt gehören – in irgendeine –, aber ich sah einfach nur verkleidet aus. Zum Schluss hatte ich dann doch die Sachen an, in denen ich mich an der Middleschool immer am wohlsten gefühlt habe. Die Jeanslatzhose mit dem langärmligen Shirt und dazu die Kreolen. Aber schon in dem Moment, in dem ich in die Eingangshalle der West Mesa High kam, habe ich gespürt, dass das ein Fehler gewesen war.

Inzwischen habe ich ein paar Dinge dazugelernt. Zum Beispiel weiß ich jetzt, dass sich an der Highschool keiner Essen von zu Hause mitbringt. Entweder kauft man sich in der Cafeteria ein Stück Pizza oder eine Packung Nutter-Butter-Erdnusskekse oder man isst gar nichts. Meine Tante Amy, bei der ich jede zweite Woche wohne, macht mir morgens immer ein Sandwich mit viel Mayonnaise und Eisbergsalat, wie May und ich es früher so gern gegessen haben. Früher, als wir noch eine normale Familie waren. Vielleicht keine wie aus dem Bilderbuch, aber immerhin eine, die aus Vater, Mutter und zwei Kindern bestand. May und mir. Es kommt mir vor, als wäre das schon sehr lange her. Ich möchte Tante Amy nicht sagen, dass ihre Sandwiches nicht das Richtige für die Highschool sind, weil sie sich solche Mühe gibt und sich freut, mir etwas Gutes tun zu können. Deswegen schließe ich mich in der Pause im Mädchenklo ein und schlinge sie dort heimlich herunter.

Obwohl ich jetzt schon eine Woche hier bin, kenne ich noch niemanden. Alle aus meinem Abschlussjahrgang an der Middleschool sind an die Sandia High gewechselt – das ist die Schule, an der auch May war. Aber ich wollte nicht bemitleidet werden und Fragen beantworten müssen, auf die ich keine Antwort geben kann, deswegen habe ich mich für die West Mesa High entschieden, die in dem Schulbezirk liegt, in dem Tante Amy wohnt. Wahrscheinlich habe ich mir vorgestellt, das könnte so eine Art Neuanfang werden.

Die Mittagspause dauert dreiundvierzig Minuten. Weil ich nicht die ganze Zeit auf der Toilette verbringen will, gehe ich in den Hof hinaus, sobald ich mein Sandwich gegessen habe, setze mich auf eine der Bänke am Zaun, wo ich praktisch unsichtbar bin, und beobachte die anderen Schüler. Es regnet schon die ersten Blätter von den Bäumen, aber die Luft ist immer noch so sonnenwarm, dass es sich anfühlt, als würde man hindurchschwimmen. Ich beobachte vor allem einen Jungen. Ich glaube, er heißt Sky. Er trägt immer eine Lederjacke, obwohl der Sommer noch nicht wirklich vorbei ist. Sky steht zwar meistens ziemlich weit weg auf der anderen Seite des Hofs, aber ich bilde mir ein, sehen zu können, wie sich sein Brustkorb mit jedem Atemzug hebt und senkt. Das erinnert mich daran, dass Luft nicht nur etwas ist, das einfach so um uns herum ist, sondern etwas, das wir einatmen.

Irgendwie finde ich den Gedanken tröstlich, dass dieser Junge inmitten all der fremden Menschen dieselbe Luft atmet wie ich. Dieselbe Luft, die du mal geatmet hast, Kurt, und auch May.

Wenn ich deine Musik höre, denke ich manchmal, dass sich vielleicht einfach zu viel in dir angestaut hatte. Vielleicht hast ja nicht einmal du es geschafft, alles rauszulassen. Und vielleicht bist du daran gestorben. Weil dich das, was in dir war, von innen heraus zerrissen hat.

Dieser Brief ist wahrscheinlich nicht so geworden, wie Mrs Buster ihn sich vorgestellt hat. Ich glaube, ich versuche es später noch mal.

Laurel

Lieber Kurt Cobain,

am Ende der Stunde wollte Mrs Buster, dass wir die Briefe gleich abgeben. Ich habe mir dann noch einmal kurz angeschaut, was ich an dich geschrieben habe, und gemerkt, dass ich nicht will, dass es jemand anderes liest. Also hab ich das Heft schnell eingesteckt und bin nach dem Gong einfach gegangen. Es gibt Dinge, die ich nur Leuten erzählen kann, die nicht mehr hier sind.

Als May mir das erste Mal einen deiner Songs vorgespielt hat, war ich in der achten Klasse. Sie war schon in der Zehnten. Seit sie auf die Highschool ging, kam es mir vor, als hätte sie sich immer weiter von mir entfernt. Ohne sie und die Welten, die wir uns immer ausgedacht hatten, fühlte ich mich ziemlich verloren. Aber an diesem Abend im Auto gab es wieder nur uns zwei. Sie spielte mir »Heart-Shaped Box« vor, und deine Musik war ganz anders als alles, was ich bis dahin gehört hatte.

Als May den Kopf drehte und fragte: »Und? Wie findest du’s?«, war das, als würde sie mir die Tür zu dieser neuen Welt öffnen, in der sie jetzt lebte, und mich hereinbitten. Ich nickte bloß stumm, weil es eine Welt voller Gefühle war, für die ich noch keine Worte hatte.

In letzter Zeit höre ich deine Musik wieder. Ich schließe die Zimmertür und die Augen und lasse In Utero laufen. Noch mal. Und noch mal. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber wenn ich so dasitze und deine Stimme um mich ist, habe ich manchmal das Gefühl, dass ich anfange, mich selbst zu verstehen.

Nach Mays Tod im April war es erst einmal so, als hätte sich mein Kopf einfach abgeschaltet. Weil ich nicht wusste, wie ich die Fragen meiner Eltern beantworten sollte, hörte ich irgendwann fast ganz auf zu reden. Wir alle hörten auf zu reden – jedenfalls darüber. Dass trauernde Menschen näher zusammenrücken, ist ein Mythos. Bei uns hat sich jeder auf seiner eigenen kleinen Insel verkrochen. Dad blieb zu Hause, Mom blieb in dem Apartment, in das sie schon ein paar Jahre vorher gezogen war, und ich pendelte zwischen den beiden hin und her, zu betäubt, um die letzten Monate an der Middleschool hinter mich zu bringen.

Nach einer Weile stellte Dad den Ton seiner Baseballspiele lauter und fing wieder an, für Rhodes Construction zu arbeiten, die Baufirma, bei der er angestellt ist. Zwei Monate später zog Mom dann auf eine Ranch in Kalifornien. Vielleicht ist sie ja wütend auf mich, weil ich ihr nicht erzählen konnte, was genau passiert ist. Dabei gibt es niemanden, dem ich das erzählen kann.

Während des langen Sommers, in dem ich nichts zu tun hatte, saß ich oft am Computer und suchte im Internet nach Artikeln oder Fotos oder einfach nach einer Geschichte, um den Film zu ersetzen, der in Dauerschleife in meinem Kopfkino lief. Da war der Nachruf, in dem stand, dass May eine bildhübsche junge Frau und hervorragende Schülerin gewesen ist, die von ihrer Familie über alles geliebt wurde. Und dann der kurze Artikel aus unserer Lokalzeitung mit der Überschrift »Schülerin der örtlichen Highschool findet tragischen Tod«. Auf dem Foto sieht man die Eisenbahnbrücke mit den Blumen, Kerzen und Briefen, die ein paar von Mays alten Mitschülern kurz danach dort niedergelegt hatten. Außerdem war ihr Foto aus dem Jahrbuch abgedruckt. Ihre Haare glänzten und sie lächelte und schaute mir direkt in die Augen.

Vielleicht kannst du mir ja helfen, eine Tür zu einer neuen Welt zu finden, Kurt.

Ich bin jetzt schon anderthalb Wochen an der West Mesa High und habe immer noch niemanden wirklich kennengelernt. Aber daran bin ich wahrscheinlich selbst schuld. Ich gebe kaum ein Wort von mir, außer »Hier!« zu rufen, wenn die Anwesenheit geprüft wird, oder im Sekretariat nach dem Weg zu irgendwelchen Unterrichtsräumen zu fragen. In meinem Englischkurs ist ein Mädchen, das Natalie heißt und sich Bilder auf den Arm malt. Keine Herzchen oder so was, sondern richtige Gemälde. Blumenwiesen mit Fabelwesen und Mädchen und Bäumen, die aussehen, als wären sie lebendig. Ihre schwarzen Haare sind zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden, die ihr fast bis zur Taille reichen, und ihre dunkle Haut ist absolut makellos. Außerdem hat sie verschiedenfarbige Augen, das eine ist beinahe schwarz, das andere teichgrün. Gestern hat sie mir einen Zettel mit einem kleinen Smiley zugesteckt. Ich habe mir überlegt, dass ich sie ja vielleicht bald mal fragen könnte, ob sie Lust hat, mit mir mittags in die Cafeteria zu gehen.

Wenn in der Pause alle vor der Essensausgabe anstehen, sehen sie aus, als würden sie zusammengehören. Ich würde mich so gern dazustellen, aber ich habe kein Geld. Dad will ich nicht darum bitten, weil ich das Gefühl habe, dass ihn das Thema stresst, und Tante Amy kann ich nicht fragen, weil sie nicht denken soll, ich würde ihre Sandwiches nicht mögen. Aber wenn man die Augen aufhält, findet man immer mal wieder Münzen am Boden oder Wechselgeld, das im Getränkeautomat vergessen wurde. Gestern hab ich mir fünfzig Cent genommen, die bei Tante Amy auf einer Kommode lagen. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber das Geld reichte für eine Packung Nutter Butters.

Es war ein gutes Gefühl, zusammen mit den anderen in der Schlange zu stehen. In dem Moment war ich richtig glücklich. Ich mochte die roten Locken des Mädchens vor mir, die sie sich eindeutig mit dem Lockenstab gedreht hatte. Ich mochte das feine Knistern, als ich die Verpackung aufriss, und wie die Kekse knirschend zerbrachen, wenn ich hineinbiss.

Und dann – ich knabberte gerade einen Keks und schaute durch den Blätterregen zu Sky rüber – bemerkte er mich. Er hatte sich umgedreht, um jemandem etwas zu sagen, und bewegte sich wie in Zeitlupe. Dabei kreuzten sich unsere Blicke und verfingen sich ziemlich lange ineinander, bis ich schließlich als Erste wegschaute. Es fühlte sich an, als würden unter meiner Haut lauter Glühwürmchen aufleuchten. Als ich kurz darauf noch mal zu ihm rübersah, guckte Sky immer noch. Sein Blick hat auf mich die gleiche Wirkung wie deine Stimme. Er kommt mir vor wie ein Schlüssel zu etwas, das in meinem Inneren eingesperrt ist und explodieren könnte.

Laurel

Liebe Judy Garland,

ich bin auf die Idee gekommen, an dich zu schreiben, weil Der Zauberer von Oz auch heute noch mein Lieblingsfilm ist. Wenn ich früher krank war und nicht in die Schule konnte, hat Mom immer die DVD eingelegt und mir Essen ans Bett gebracht. Ich habe Ginger Ale mit pinken Plastikeiswürfeln getrunken und Zimttoast gegessen und du hast dazu »Somewhere over the Rainbow« gesungen.

Alle kennen dich als die kleine Dorothy mit Zöpfen, blauem Kleid und roten Schuhen. Alle kennen deine Stimme. Aber die wenigsten wissen, wer du warst, wenn du nicht in diesem Film gespielt hast.

Ich stelle mir vor, wie du in der Vorweihnachtszeit mit gerade mal zweieinhalb Jahren im Filmtheater deines Vaters in den Vorstellungspausen aufgetreten und mit klackernden Absätzen über die Bühne gesteppt bist. Wie du immer wieder »Jingle Bells« gesungen hast und gar nicht mehr aufhören wolltest. Du hast früh gelernt, dass sich Applaus ganz ähnlich anfühlt wie Liebe.

Ich stelle mir vor, wie an den Sommerabenden alle in das kleine Kino strömten, um der drückenden Hitze zu entgehen. In dem klimatisierten Saal standest du auf der Bühne und hast die Leute einen Moment lang vergessen lassen, dass es Dinge gab, vor denen man Angst haben musste. Deine Mutter und dein Vater schauten dir lächelnd zu. Solange du gesungen hast, sahen sie immer glücklich aus.

Danach wurde es dunkel im Kino und während ein verschwommener Schwarz-Weiß-Film über die Leinwand ruckelte, wurdest du schläfrig. Ich stelle mir vor, wie dein Daddy dich hochhob und auf den Armen hinaustrug, weil es Zeit war, in seinem großen Wagen nach Hause zu fahren, der wie ein Ozeandampfer übers dunkle Asphaltmeer glitt.

Du wolltest nie, dass jemand traurig ist, deswegen hast du ständig gesungen. Wenn deine Eltern sich abends stritten, hast du dich in den Schlaf gesungen, und tagsüber hast du gesungen, damit sie sich nicht stritten.

Ich stelle mir vor, dass du deine Stimme wie eine Art Kitt eingesetzt hast, um deine Familie zusammenzuhalten. Und später dann, um dich selbst davor zu bewahren, zu zerbrechen.

Meine Mutter hat mir und meiner Schwester May früher immer ein Schlaflied gesungen. Ich habe ihre sanfte Stimme heute noch im Ohr. »Train whistle blowing, makes a sleepy noise, underneath their blankets go all the boys and girls …« Sie streichelte mir über den Kopf, bis ich eingeschlafen war. Und wenn ich nicht einschlafen konnte, sagte sie, ich solle mir vorstellen, in einer Seifenblase zu sitzen und über das Meer zu schweben. Ich machte die Augen zu, lauschte dem Wellenrauschen und schaute auf das schimmernde Wasser hinunter. Und wenn die Blase platzte, formte ihre Stimme eine neue, um mich aufzufangen.

Wenn ich jetzt versuche, mir vorzustellen, ich würde in der Seifenblase übers Meer schweben, platzt sie jedes Mal sofort, und ich muss schnell die Augen aufreißen, damit ich nicht abstürze. Meine Mutter ist selbst viel zu traurig, um mich auffangen zu können. Sie und Dad haben sich getrennt, bevor meine Schwester auf die Highschool kam, und zwei Jahre später, einige Zeit nach Mays Tod, ist sie dann ganz weggezogen. Nach Kalifornien.

Jetzt, wo nur noch Dad und ich in unserem Haus wohnen, ist es voller Echos. In meiner Erinnerung kehre ich in die Zeit zurück, als wir alle noch zusammenlebten. Ich rieche das Hackfleisch, das Mom fürs Abendessen anbrät. Höre das Brutzeln. Fast bilde ich mir ein, durchs Fenster May und mich in der Dunkelheit draußen über den Rasen schleichen zu sehen, wo wir die Zutaten für unsere Feen-Zauber sammeln.

Statt jede zweite Woche bei Mom zu wohnen, wie May und ich es nach der Scheidung getan haben, bin ich jetzt immer abwechselnd bei Dad und bei Tante Amy. Ihr Haus ist auf eine andere Art leer. Ohne Geister. Es ist sehr still dort und in den Regalen bewahrt sie Geschirr mit Rosenmuster auf und Porzellanpuppen und Rosenseife, mit der sich Traurigkeit wegwaschen lässt. Aber die ist wohl für einen Moment reserviert, in dem sie wirklich gebraucht wird – im Bad neben dem Waschbecken liegt jedenfalls ganz normale Ivory-Seife. Jetzt schaue ich unter der mit Rosen bedruckten Steppdecke zum Fenster hinaus und suche den ersten Stern am Himmel.

Ich wünschte, du könntest mir sagen, wo du jetzt bist. Natürlich weiß ich, dass du tot bist, aber ich stelle mir vor, dass es in jedem Menschen etwas geben muss, das nicht einfach so verschwindet. Draußen ist es dunkel. Irgendwo da draußen bist du.Ich würde dich gern reinholen.

Laurel

Liebe Elizabeth Bishop,

heute sind in Englisch zwei Sachen passiert, die ich Ihnen gern erzählen würde. Wir haben ein Gedicht von Ihnen gelesen und ich habe mich im Unterricht zum ersten Mal gemeldet und etwas gesagt. Obwohl ich schon seit zwei Wochen an der Highschool bin, habe ich bis jetzt hauptsächlich aus dem Fenster geschaut und beobachtet, wie die Vögel zwischen den Telefonleitungen und den Pappeln mit ihren flirrenden Blättern hin- und herfliegen. Ich dachte gerade an einen Jungen, der Sky heißt, und fragte mich, was er wohl sieht, wenn er die Augen zumacht, als mich unsere Lehrerin aufrief. Ich schaute hoch und in meiner Brust begannen Vögel mit den Flügeln zu schlagen.

»Laurel?« Mrs Buster sah mich an. »Liest du vor?«

Ich wusste nicht einmal, was ich lesen sollte, und spürte, wie mein Kopf ganz leer wurde. Aber dann beugte sich meine Sitznachbarin Natalie vor und schlug für mich die richtige Seite in dem kopierten Skript auf. Das Gedicht begann so:

Die Kunst, was zu verlier’n, ist nicht schwer

und vieles scheint nur dazu auf der Welt,

dass man’s verliert. Verlust ist kein Malheur.

Meine Stimme zitterte, weil ich so nervös war, aber während ich las, begann ich mir selbst zuzuhören und die Worte zu verstehen.

Verlier was jeden Tag und klag nachher nicht drum,

sein’s Schlüssel, Stunden oder Geld.

Die Kunst, was zu verlier’n, ist nicht schwer.

Dann üb dich, schneller zu verlier’n und mehr.

Wie Namen, Orte, wo dein Eilzug hält.

Und nichts von alledem ist ein Malheur.

Schau, ich verlor schon Mutters Uhr,

und wer sein Haus verlor, schläft unterm Himmelszelt.

Die Kunst, was zu verlier’n, ist nicht schwer.

Verlor zwei Städte schon, die mocht’ ich sehr,

drei Reiche, Flüsse zwei, die halbe Welt.

Das schmerzt mich zwar, doch ist es kein Malheur.

Selbst wenn ich dich, dein Lachen einst verlör,

und alles, was mir so an dir gefällt …

Die Kunst, was zu verlier’n, ist gar nicht schwer,

erscheint es uns auch (schreib’s hin!) als Malheur.

Wahrscheinlich hat meine Stimme so sehr gezittert, dass es sich anhörte, als hätte das Gedicht mich innerlich total aufgewühlt. Als ich fertig war, ist es im Klassenzimmer mucksmäuschenstill gewesen und alle haben mich angeschaut.

Mrs Buster machte das, was sie immer macht, nämlich mit weit aufgerissenen Augen in die Runde zu blicken und zu fragen: »Und? Irgendwelche Gedanken dazu?«

Natalie sah mich an. Ich glaube, ich tat ihr leid, weil alle zu mir schauten und nicht zu Mrs Buster. Sie hob dann nämlich die Hand und sagte: »Das ist natürlich gelogen. Es ist überhaupt nicht leicht, etwas zu verlieren.« Danach hörten alle auf, mich anzustarren, und starrten stattdessen Natalie an.

»Warum fällt es uns bei einigen Dingen leichter, uns damit abzufinden, sie verloren zu haben, als bei anderen?«

Man merkte Natalie an, wie dämlich sie die Frage fand, als sie antwortete: »Na ja, wegen der Liebe natürlich. Etwas zu verlieren, was man liebt, trifft einen härter.«

Noch bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich schon die Hand gehoben. »Ich glaube, wenn man etwas verliert, das einem wirklich viel bedeutet, ist das so, als würde man ein Stück von sich selbst verlieren. Das weiß sie. Deswegen muss sie sich in der letzten Strophe richtig zwingen, hinzuschreiben, dass es kein Malheur ist. Weil ihr bewusst ist, dass sie wahrscheinlich nicht mal mehr wüsste, wer sie selbst ist, wenn sie diesen Menschen verlieren würde.«

Jetzt waren alle Augen wieder auf mich gerichtet, aber zum Glück gongte es ein paar Sekunden später.

Während ich, so schnell ich konnte, meine Sachen zusammenpackte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Natalie neben mir stehen geblieben war, als würde sie auf mich warten. Vielleicht wollte sie mich ja fragen, ob ich mit ihr in die Cafeteria komme, dann hätte ich mich nicht auf die Bank am Zaun setzen müssen.

Aber plötzlich sagte Mrs Buster: »Laurel, kann ich kurz mit dir sprechen?« In diesem Moment habe ich sie richtig gehasst. Natalie ging aus dem Zimmer und ich bin nach vorne zum Pult gegangen. »Wie geht es dir?«, fragte Mrs Buster. »Hast du dich schon ein bisschen bei uns einleben können?«

Meine Hände waren noch ganz kalt und feucht, weil ich vor der Klasse geredet hatte, und ich brachte nur ein gestammeltes »Äh … ja« heraus.

»Mir ist aufgefallen, dass du den Brief, den ihr letzte Woche schreiben solltet, nicht abgegeben hast.«

Ich starrte auf die Lichtreflexe auf dem Linoleumboden und murmelte: »Ach ja, stimmt. Tut mir leid. Ich bin noch nicht ganz fertig damit.«

»In Ordnung. Dann gebe ich dir ausnahmsweise eine Verlängerung. Aber bis Ende nächster Woche würde ich den Brief gerne haben.«

Ich nickte.

»Laurel«, sagte sie dann. »Falls du irgendwann mal das Bedürfnis haben solltest, mit jemandem zu sprechen …«

Ich reagierte nicht.

»Früher habe ich an der Sandia High unterrichtet, weißt du?« Sie machte eine Pause. »Als May in der neunten Klasse war, hatte ich sie in meinem Kurs.«

Mir wurde schwindelig. Ich war mir sicher gewesen, dass niemand an der Schule etwas davon wissen oder mich darauf ansprechen würde. Mrs Buster schaute mich an, als wartete sie auf die Enthüllung eines schrecklichen Geheimnisses. Ich brachte keinen Ton heraus.

»Sie war ein besonderes Mädchen«, versuchte sie es noch einmal.

Ich schluckte. »Ja.« Und dann drehte ich mich um und ging einfach hinaus.

Der Lärm im Flur schwoll zum Tosen des lautesten Flusses an, den ich je gehört habe. Und ich dachte, wenn ich die Augen schließe, könnten ich mich vielleicht einfach von dem Stimmengewirr davontragen lassen.

Laurel

Lieber River Phoenix,

das Zimmer von meiner Schwester May sieht noch genauso aus wie früher. Alles darin ist unverändert. Nur dass die Tür jetzt immer geschlossen ist und es dahinter totenstill ist. Manchmal wache ich nachts aus einem Traum auf und bilde mir ein, ihre Schritte zu hören, als wäre sie heimlich weg gewesen und würde sich jetzt ins Haus zurückschleichen. Dann schlägt mir das Herz bis zum Hals, und ich setze mich hastig im Bett auf, bis mir wieder alles einfällt.

Wenn ich danach nicht mehr einschlafen kann, gehe ich leise in den Flur hinaus und mache vorsichtig die Tür ihres Zimmers auf, damit sie nicht knarrt. Es sieht aus, als wäre sie noch da. Jede Einzelheit ist mir vertraut. Alles ist noch so wie an dem Abend, bevor wir zum Kino gefahren sind. Ich gehe zur Kommode, auf der die beiden Haarspangen liegen, schiebe sie mir in die Haare und lege sie danach exakt wieder so hin, dass sie ein Kreuz bilden, dessen Spitze auf ihr fast leeres »Sunflowers«-Parfum zeigt und auf den dunkelroten Lippenstift, den sie nie trug, wenn sie aus dem Haus ging, aber immer, wenn sie wiederkam. Auf dem Bücherregal ist ihre Sammlung von Herz-Sonnenbrillen aufgereiht, daneben halb abgebrannte Kerzen, Muscheln und graue Steinbrocken, in deren hohlem Inneren Quarzkristalle funkeln. Ich lege mich aufs Bett, sehe mir ihre Sachen an und versuche, mir vorzustellen, sie wäre da. Mein Blick wandert zur Pinnwand mit den getrockneten Blumen, den aus Zeitschriften herausgerissenen Horoskopen und Fotos. Eins zeigt uns beide als kleine Kinder in einem Leiterwagen sitzend, den Mom hinter sich herzieht. Ein anderes ist vor einem Schulball aufgenommen worden. Darauf hat sie ein langes Negligé aus Seide an, das sie in einem Vintage-Shop gefunden hatte, und trägt die Rose im Haar, die jetzt verdorrt an der Pinnwand hängt.

Ich stehe auf, öffne ihren Schrank und schaue mir ihre glitzernden, nietenbesetzten Tops an, die Miniröcke, die Sweatshirts mit den abgeschnittenen Krägen, die zerrissenen Jeans. Kleidungsstücke, die genau so mutig sind, wie sie es gewesen ist.

Über ihrem Bett hängt ein Nirvana-Poster und daneben ein Foto von dir aus Stand by Me. Du hast kurze babyblonde Haare, deine Wangenknochen sehen aus wie aus Marmor gemeißelt und in deinem Mundwinkel hängt eine Zigarette. Meine Schwester hat dich geliebt. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Stand by Me zum ersten Mal gesehen haben. Das war kurz bevor meine Eltern sich getrennt haben und May auf die Highschool kam. Es war schon ziemlich spät und wir lagen mit Mikrowellenpopcorn, das May uns gemacht hatte, unter einem Deckenberg vor dem Fernseher, als der Film kam. Wir hatten vorher noch nie etwas von dir gehört. Du warst so schön. Aber vor allem hatten wir das Gefühl, dich zu kennen. Im Film hast du auf Gordie aufgepasst, der seinen älteren Bruder verloren hat. Du warst sein Beschützer. Dabei hättest du vielleicht selbst einen gebraucht. Weil deine Familie so einen schlechten Ruf hatte, musstest du ständig gegen Vorurteile ankämpfen. An der Stelle, an der du sagst: »Ich wünschte, ich könnte irgendwo hingehen, wo keiner weiß, wer ich bin«, drehte sich May zu mir um und sagte: »Ich würde ihn am liebsten aus dem Fernseher in unser Wohnzimmer ziehen. Er gehört zu uns, findest du nicht?« Ich nickte.

May verkündete noch vor dem Ende des Films, sie hätte sich in dich verliebt. Weil sie unbedingt wissen wollte, was du jetzt machst, haben wir uns hinterher an Dads Computer gesetzt und nach dir gegoogelt. Im Internet gab es haufenweise Fotos von dir. Viele aus Stand by Me, aber auch andere, auf denen du schon älter warst. Auf allen hast du eine unglaubliche Verletzlichkeit ausgestrahlt, aber gleichzeitig wirktest du auch hart. Und dann lasen wir, dass du tot bist. Gestorben an einer Überdosis Drogen. Mit gerade mal dreiundzwanzig. Es war, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Eben warst du noch hier gewesen, fast so, als hättest du neben uns gestanden. Dabei warst du schon gar nicht mehr auf dieser Welt.

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte sich von diesem Abend an alles verändert. Wir hätten es damals vielleicht noch nicht in Worte fassen können, aber ich glaube, in dem Moment, in dem wir erfuhren, dass du gestorben warst, bekamen wir zum ersten Mal eine Ahnung davon, wie zerbrechlich so etwas wie Unschuld ist. Irgendwann machte May den Computer aus, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte fast trotzig, dass du für sie immer am Leben bleiben würdest.

Wenn wir danach Stand by Me guckten (wir holten uns die DVD und schauten den Film den ganzen Sommer über immer wieder an), schalteten wir den Fernseher jedes Mal stumm, wenn Gordie am Ende erzählt, dass Chris getötet wurde. Du solltest nicht tot sein. Du warst der wunderschöne Junge, auf dessen Haare die Sonne einen Heiligenschein aus Licht malte und der einmal zu einem richtigen Mann heranwachsen würde. Nur so wollten wir dich sehen – makellos und für die Ewigkeit gemacht.

Ich weiß, dass May tot ist. Ich meine, vom Kopf her weiß ich es, und trotzdem kommt es mir unwirklich vor. Für mich fühlt es sich an, als wäre sie noch da. Als würde sie eines Nachts wieder zum Fenster reinklettern und mir von ihren Abenteuern erzählen. Wenn ich lernen könnte, mehr wie sie zu sein, würde es mir vielleicht leichter fallen, ohne sie weiterzuleben.

Laurel

Liebe Amelia Earhart,

als ich in der Middleschool im Unterricht das erste Mal von Ihnen gehört habe, war ich richtig neidisch auf Sie. Ich weiß, dass das nicht die passende Empfindung ist, wenn jemand auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, aber ich habe Sie ja auch nicht um Ihren Tod beneidet, sondern um das Fliegen und vielleicht auch um das spurlose Verschwinden. Um den Blick, den Sie von dort oben auf die Erde hatten. Sie hatten keine Angst, vom Kurs abzukommen. Sie sind einfach drauflosgeflogen.

Heute ist mir klar geworden, dass ich wenigstens eine kleine Portion von dem Mut aufbringen muss, den Sie hatten. Ich bin jetzt schon seit drei Wochen auf der Highschool und sitze in den Pausen immer noch allein auf einer Bank am Zaun. So kann es nicht weitergehen. Und an meinem Kleidungsstil muss sich auch dringend was ändern. Deswegen war ich heute Morgen wieder am Schrank meiner Schwester May, die sich immer auffällig und mutig angezogen hat. So wie sie selbst auch war. Wenn sie sich morgens lässig ihren Rucksack über eine Schulter hängte und zur Tür rausging, war man sich sicher, dass die Welt sie mit ausgebreiteten Armen willkommen heißen würde. Ich habe noch mal das Outfit anprobiert, das sie an ihrem ersten Highschool-Tag anhatte: den pinken Pulli mit dem Nirvana-Smiley und dem abgeschnittenen Kragen und dazu den kurzen karierten Faltenrock. Diesmal habe ich danach nicht in den Spiegel geschaut, weil ich wusste, dass ich mich sonst nicht aus dem Haus trauen würde. Ich konzentrierte mich darauf, wie der Stoff bei jedem Schritt um meine nackten Beine schwang, und versuchte mir vorzustellen, wie May sich darin gefühlt hat.

Als Dad mich zur Schule fuhr, spürte ich seinen Blick auf mir. Nachdem er mich abgesetzt hatte, sagte er vorsichtig: »Du siehst heute sehr hübsch aus.«

Es war klar, dass er wusste, dass ich Mays Sachen anhatte. »Danke, Dad«, sagte ich, lächelte kurz und sprang dann aus dem Wagen.

In der Mittagspause ging ich durch die Cafeteria zu den Außentischen im Hof und beobachtete, wie die Schüler fröhlich durcheinanderliefen, sich ihre Plätze suchten und aussahen, als würden sie alle in demselben Film mitspielen. Ich entdeckte Natalie aus meinem Englischkurs, die sich gerademit einem anderen Mädchen, das flammend rote Haare hatte, an einen der Tische ganz in der Mitte setzte. Beide hatten sich bloß eine Capri Sonne geholt und nichts zu essen. Die Sonne ließ ihre Haare glänzen, als wäre sie ein Scheinwerfer, der nur für sie leuchtete. Natalie hatte wieder ihre beiden Zöpfe, ihre Unterarme waren bemalt und sie trug ein Batman-T-Shirt, das am Busen ziemlich eng saß. Die Rothaarige hatte ein schwarzes Ballerina-Trikot mit Tutu an und dazu einen leuchtend roten Schal, der perfekt zu ihrem Lippenstift passte. Sie waren viel außergewöhnlicher angezogen als die bei allen beliebten Mädchen, die immer so übertrieben perfekt aussehen, als wären sie irgendeiner Modezeitschrift entsprungen. Inmitten dieses Universums, in dem wir uns bewegten, wirkten sie, als würden sie eine eigene Sternenkonstellation bilden. Sie hatten einen unverwechselbaren Stil, und genau das gefiel mir an ihnen. Ich fand, dass sie der Typ Mädchen waren, mit denen May befreundet hätte sein können. Mit denen ich gern befreundet wäre. Ein paar Jungs aus dem Fußballteam schwärmten um die Rothaarige herum, aber die beiden verscheuchten sie wie lästige Fliegen.

Mein Wunsch, mich zu ihnen zu setzen, war so groß, dass es mir fast körperlich wehtat. In der Hoffnung, dass Natalie mich vielleicht bemerken würde, ging ich sogar ein paar Schritte auf sie zu, aber dann wurde ich unsicher, machte kehrt und setze mich doch auf die Bank am Zaun.

Mir fiel ein Satz ein, den Sie gesagt haben: Man muss sich im Leben auch mal selbst ans Steuer wagen, statt immer nur Passagier zu bleiben. Ich dachte daran, wie Sie durch die Wolken geflogen sind. Ich dachte daran, wie May morgens immer voller Schwung aus dem Haus gegangen ist. Und dann wischte ich mir die Hände am Rock ab, stand wieder auf und ging zu den beiden rüber. Ungefähr einen Meter vor ihrem Tisch blieb ich stehen. Sie tauschten gerade ihre Capri Sonnen aus, die unterschiedliche Geschmacksrichtungen hatten, als sie meinen Blick spürten und aufsahen. Natalie runzelte die Stirn – ich glaube, sie dachte erst, ich wäre einer der Jungs von vorhin –, dann erkannte sie mich und lächelte. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen könnte, aber mir fiel nichts ein. Der Lärm um mich herum verstärkte sich und mir wurde schwindelig.

»Hey«, hörte ich plötzlich Natalies Stimme. »Du bist doch bei mir in Englisch, oder?«

»Ja.« Ich nutzte die Gelegenheit und setzte mich ans Ende der Betonbank.

»Ich heiße Natalie. Und das ist Hannah.«

»Ich bin Laurel.«

Hannah sah von ihrer Capri Sonne auf. »Laurel? Das ist ein total schöner Name.«

Natalie begann über die »Langweiler« in unserem Kurs zu lästern, und ich versuchte, ihr zuzuhören, war aber so glücklich darüber, bei ihnen sitzen zu dürfen, dass ich kaum etwas mitbekam.

Am Ende der Mittagspause hatten sie mir gesagt, wie cool sie meinen Rock und meinen Style fanden, und mich gefragt, ob ich Lust hätte, nach der Schule noch mit auf die State Fair zu gehen. Ich konnte es kaum glauben. Vor der nächsten Stunde rief ich Dad von meinem neuen Handy aus an, das ich eigentlich nur in Notfällen benutzen darf (obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich das nicht durchhalten werde), und sagte ihm, ich würde nach dem Unterricht noch etwas mit zwei Mädchen aus der Schule unternehmen, dass es spät werden könnte und ich mit dem Bus nach Hause kommen würde. Ich redete so schnell, dass er gar keine Chance hatte, irgendetwas dagegen zu sagen. Und jetzt sitze ich in Algebra und warte darauf, dass es endlich gongt. Die Gleichungen an der Tafel haben keine Bedeutung für mich, weil ich zum allerersten Mal seit einer Ewigkeit mal wieder etwas vorhabe.

Laurel

Liebe Amelia Earhart,

als wir auf der State Fair ankamen, war alles so toll wie früher als Kind und genauso klebrig wie es sich für einen Jahrmarkt gehört. An den Ständen wurden Süßigkeiten und Cowboyhüte und Shirts mit Airbrush-Motiven verkauft und es duftete nach fettigem Essen. »Hunger!!!«, stöhnten Natalie und Hannah im Chor und lachten. Ich lachte mit, und es fiel mir ganz leicht, das Gefühl zu haben, dazuzugehören.

Als wir uns in die Schlange stellten, um Curly Fries zu kaufen, stand vor uns ein jüngerer Typ mit weißem Trägershirt und zurückgegelten Haaren, der Hannah mit Blicken verschlang und sofort anfing, mit ihr zu flirten. Hannah warf lächelnd ihre rote Mähne zurück und machte mit. Sie hat mir erzählt, dass ihre Haare von Natur aus glatt sind und sie sich die Locken jeden Morgen reindreht. Sie hat riesige staunende Kulleraugen, und um ihre Mundwinkel spielt immer so ein kleines Lächeln, als würde sie irgendetwas witzig finden, das außer ihr keiner mitbekommt.

Ich war ein bisschen nervös, weil ich ja kein Geld dabeihatte, und wartete auf eine gute Gelegenheit, um zu sagen, dass ich doch keinen so großen Hunger hätte. Aber bis wir dran waren, hatte Hannah den Typen schon so um den Finger gewickelt, dass er uns die Pommes spendierte. Ich fand ehrlich gesagt, dass er ein bisschen zu dicht an sie heranrückte, und war mir sicher, dass er gleich zudringlich werden würde, aber sobald wir unsere Pommes hatten, bedankte sie sich und ging so schnell davon, dass er ihr nur enttäuscht hinterherstarren konnte. Ich war total beindruckt, aber Natalie zog bloß eine Augenbraue hoch und meinte: »Bisschen sehr viel Haargel.«

Nachdem wir aufgegessen hatten, stellten wir uns hinter eine Bude an den Zaun, um eine zu rauchen. Ich hatte noch nie geraucht, May aber öfter dabei beobachtet, also versuchte ich es so zu machen wie sie. Anscheinend sah es trotzdem nicht richtig aus, weil Natalie vor Lachen fast einen Hustenanfall bekam. »Nein. So geht das«, sagte sie und zeigte mir, wie man den Rauch richtig einatmet und dann in der Lunge behält. Mir wurde davon schwindelig. Als wir fertiggeraucht hatten, war mir ein bisschen übel und ich hatte das Gefühl, im Zickzack zu laufen.

Als Nächstes wollten Natalie und Hannah unbedingt so eine Art Bungee-Sprung machen, wo man in ein Geschirr geschnallt und dann an einem Turm hochgezogen wird, der höher ist als alle Gebäude der Stadt und sich dreht, sodass man über das ganze Gelände fliegt. Ich sagte, ich hätte mein Geld vergessen, aber Hannah meinte, sie hätte genug und würde mich einladen. Sie jobbt an ein paar Abenden die Woche in einem Restaurant, das Japanese Kitchen heißt.

»Eigentlich dürften die sie gar nicht beschäftigen, weil sie erst fünfzehn ist«, erzählte Natalie. »Aber sie ist so hübsch, dass die sie trotzdem genommen haben.«

»So ein Blödsinn«, widersprach Hannah. »Die haben gleich gemerkt, was für eine super Arbeitskraft ich bin!«

Als sie ihr Geld zählte, stellte sie fest, dass es nicht ganz reichen würde, war sich aber sicher, dass der Mann an der Kasse ein Auge zudrücken würde, wenn sie ein bisschen mit ihm flirtete. Je näher wir in der Schlange nach vorne rückten, desto stärker wurde mein Herzklopfen. Der Turm war wirklich extrem hoch, und ich hoffte fast, der Kassierer würde auf den vollen Fahrpreis bestehen. Aber Hannah schenkte ihm ihr schönstes Lächeln und er gab uns die Tickets tatsächlich billiger. Um mir Mut zu machen, stellte ich mir Sie in Ihrem Flugzeug vor, Mrs Earhart, und dachte daran, wie Sie allen anderen um Sie herum immer Mut gemacht hatten. Im nächsten Moment wurden wir auch schon festgeschnallt und bis ganz nach oben gezogen. Während ich darauf wartete, fallen gelassen zu werden, sah ich zu den winzigen Menschen unter uns hinunter, die aussahen wie eine Ansammlung von kleinen Inseln, und darüber vergaß ich meine Angst. Ich dachte daran, dass es auf jeder dieser Inseln dunkle versteckte Wälder gab, in die niemand je hineingesehen hat.

Und dann wurden wir auf einmal ohne Vorwarnung fallen gelassen und flogen. Es war ein unglaublich tolles Gefühl. Wir segelten in der Nachmittagssonne über die Inseln hinweg durch die nach gegrilltem Mais und Curly Fries und fettig-süßem Funnel Cake duftende Luft und drehten uns so schnell, dass mir der Atem stockte. Und neben mir flogen die beiden Mädchen, die vielleicht meine neuen Freundinnen werden würden.

Ich dachte daran, wie Sie von Ihrem Flugzeug auf die sich verändernde Welt hinuntergeschaut hatten. Auf die hohen, sich im Wind wiegenden Gräser, die Flüsse, die sich wie lange Finger durch die Landschaft gruben, und den Nebel über dem Meer, der die Küste verschluckt. Und dann dachte ich, dass Sie in dem Moment, in dem Sie abstürzten und verschwanden, ein Teil von alledem geworden sind.

Laurel

Lieber Kurt Cobain,

das Wochenende über hatte ich ein bisschen Angst, Natalie und Hannah würden mich am Montag in der Schule vielleicht nicht mehr beachten. Aber vorhin hat Natalie mir in Englisch einen Zettel zugesteckt, auf dem Laaaangweiler! stand und daneben ein Pfeil, der auf den Jungen neben mir zeigte. Als ich rüberguckte, sah ich, dass er nackte Busen in sein Gedicht-Skript zeichnete. Ich warf Natalie einen Blick zu und verdrehte die Augen. In der Mittagspause winkten Natalie und Hannah mich an ihren Tisch, sobald sie mich kommen sahen. Mein Herz machte einen Sprung und ich warf schnell mein Sandwich in den Mülleimer und setzte mich zu ihnen. Hannah leckte sich oranges Käsepulver von den Fingern und bot mir ihre Tüte Doritos an.

Obwohl ich versuchte, nicht zu Sky rüberzuschauen, hielt ich es irgendwann nicht mehr aus. Als ich sah, dass er mich mit meinen neuen Freundinnen bemerkte hatte, fragte ich mich, ob die Sonne mich auch in so ein perfektes Licht tauchte wie sie und ob ich jetzt heller strahlte als vorher. Deswegen schaute ich wahrscheinlich ein bisschen zu lang zu ihm rüber.

»Wen starrst du denn da so an?«, wollte Hannah sofort wissen.

»Niemanden«, murmelte ich und spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen.

Sie ließ nicht locker. »Na los, sag schon! Wer ist es?«

Weil ich nicht wollte, dass sie mich zickig findet, sagte ich: »Ach, bloß so ein Typ. Ich glaube, er heißt Sky.«

Hannah reckte den Kopf. »Ooookay. Sky. Ja, verstehe. Der Mystery-Man.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Achseln. »Das ist einer dieser Typen, den keiner kennt, obwohl alle ihn kennen. Jeder findet ihn cool, aber niemand ist mit ihm befreundet. Jedenfalls noch nicht. Er ist in der Elften und erst seit diesem Jahr bei uns an der Schule. Ein echtes Sahneschnittchen. Den würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.«

Natalie knuffte sie in die Seite. »Hey!« »Was denn?«, kicherte Hannah. »Ich hab ja nicht gesagt, dass ich vorhabe, ihn mir zu krallen. Er gehört Laurel.«

Ich wurde wieder rot und sagte, dass ich ihn ja noch nicht einmal kennen würde.

Hannah warf einen Blick über ihre Schulter. »Keine Sorge, das können wir ändern. Er beobachtet dich übrigens gerade.«

Ich hob den Kopf und er schaute immer noch.

In dem Moment bekam ich eine Ahnung von der Laurel, die ich vielleicht sein könnte. Mays Top schimmerte silbrig-weiß in der Sonne, und ich spürte den warmen Beton durch die Jeans-Shorts, die ich heute Morgen so kurz abgeschnitten habe, wie es laut Schulordnung eben noch erlaubt ist.

Es war, als hätte plötzlich im Hintergrund eine unsichtbare Band angefangen, den Soundtrack zu einem neuen Leben zu spielen. Ich hörte dich singen, Kurt. Ob May sich so gefühlt hat, als sie auf der Highschool war? Bestimmt, es war ja ihre Musik. All die Songs, die sie mir vorgespielt hat, auf einmal. Die Welt, in der sie damals verschwunden ist, war hier und ich saß mittendrin. Sky schaute mich immer noch an. Ich drehte mich zu Natalie und Hannah und dann lachte ich, von dem geheimnisvollen neuen Ich erfüllt, das ich werden könnte. Hallo, hallo.

Laurel

Lieber Kurt,

vielleicht hat Mays Kleiderschrank magische Kräfte. Seit ich angefangen habe, ihre Sachen anzuziehen, klappt auf einmal alles wie von selbst. Heute ist Freitag und die ganze Woche ist super gelaufen. Mittags sitze ich jetzt immer bei Natalie und Hannah. Und heute in der Zwischenpause bin ich zum Biosaal und habe versucht, nur auf den Linien aus Sonnenlicht entlangzugehen, das durch die Fenster in den Gang fiel, als ich plötzlich beinahe mit jemandem zusammengestoßen wäre. Mit ihm. Mit Sky. Ich hätte die Hand nach ihm ausstrecken können, so dicht stand er vor mir.

»Hey«, sagte er. »Was geht ab?« Seine Stimme klang wie Kies, der zu Zuckerkristallen zerrieben wird.

Ich zögerte. Ich weiß schon, dass das bloß so ein Spruch ist, trotzdem ist es sehr schwierig, etwas darauf zu antworten. Die meisten Leute sagen »Nicht viel«, das wollte ich aber nicht, weil es gelogen gewesen wäre. Bei mir geht gerade ganz schön viel ab.

Stattdessen sagte ich: »Du bist mir schon aufgefallen.« Jedes Wort fühlte sich an wie ein schwerer Stein, der in einen See plumpst.

Er nickte und legte den Kopf leicht schräg, als würde er versuchen, sich ein Bild von mir zu machen.

»Ich bin Laurel«, sagte ich.

»Sky.« Er lächelte.

Um ein Haar wäre mir ein »Ich weiß« herausgerutscht, aber ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Als ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, merkte ich, dass er ein Nirvana-T-Shirt anhatte. »Hey«, sagte ich, weil das so ein perfekter Zufall war. »Ich liebe Kurt Cobain.«

»Echt? Welches Nirvana-Album gefällt dir am besten?«

»In Utero.«

»Finde ich gut. Normalerweise sagen alle immer Nevermind. Also alle, die nicht richtig zuhören.«

Ich lächelte und suchte nach einer geeigneten Antwort, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. »Ja. Ich finde Kurts Stimme wahnsinnig toll … Er klingt irgendwie so, als … als würde er innerlich explodieren.« Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich das gerade gesagt hatte.

Aber Sky nickte, als wüsste er genau, wovon ich rede. Und sein Blick veränderte sich, sodass ich dachte, er würde mich jetzt vielleicht gerne anfassen. Ich zupfte an Mays engem orangem T-Shirt. Meine Haut brannte. Ich musste schnell weg, bevor ich in Flammen aufging.

»Ich hab jetzt Bio.«

»’kay«, sagte Sky. »Man sieht sich.«

Ich nickte und ging mit klopfendem Herzen weiter. Ich sagte mir, dass ich mich auf keinen Fall umdrehen durfte, tat es aber trotzdem. Er schaute mir hinterher. Ich spürte ein Funkeln – vielleicht war es das unbegreifliche Etwas, das er in mir sieht, wenn er mich anschaut.

Während Mr Smith über kovalente Bindungen redete, spielte ich im Kopf immer wieder unsere Begegnung durch, und jedes Mal fielen mir neue Details auf. Dass der eine Ärmel seines T-Shirts etwas hochgerutscht gewesen war. Die feinen Härchen auf seinem Oberarm. Die eine Sommersprosse auf seinem Augenlid. Ich dachte an das, was Hannah gesagt hat. Dass er neu an der Schule ist. Ich würde gern wissen, auf welcher Schule er vorher gewesen ist und ob er schon mal richtig verliebt war.

Laurel

Liebe Amy Winehouse,

ich weiß noch, wie May einmal nachts nach einem ihrer heimlichen Ausflüge zurückkam und sich zu mir ans Bett setzte. »Hier, das musst du dir anhören!«, flüsterte sie und hielt mir ihre Kopfhörer hin. Sie steckte mir die Stöpsel ins Ohr, ließ sich aufs Kissen fallen und ich hörte dich zum ersten Mal »I Go Back To Black« singen. Die Melodie hat einen beschwingten, fast schon fröhlichen Rhythmus, aber es kam mir trotzdem so vor, als würde der honigwarme Klang deiner Stimme nur einen tief liegenden Schmerz verdecken. Oder nein, das klingt viel zu einfach. Mit deinem Gesang konntest du eine ganze Bandbreite unterschiedlichster Gefühle gleichzeitig ausdrücken. Jedenfalls spürte ich, dass die Worte, die du gesungen hast, direkt aus deinem Inneren kamen. Dass sie wahr waren.

Meine neue Freundin Hannah liebt dich genauso sehr wie ich. Wir haben in der achten Stunde Sport zusammen, aber sie bringt fast nie Sportzeug mit. Seit ich vor zwei Wochen mit ihr und Natalie auf der State Fair war, habe ich auch schon ein paarmal behauptet, ich hätte meine Sachen vergessen. Statt mit den anderen Kickball oder Badminton spielen zu müssen, können wir dann gemütlich die Laufstrecke im Stadion entlangschlendern und reden. Hannah würde später gern Sängerin werden und singt mir manchmal Songs von dir vor. Am liebsten mag sie »Stronger Than Me«, »You Know I’m No Good« und natürlich »Rehab«. Wenn sie »No, no, no« schreit, schleudert sie ihre roten Locken wild von einer Seite zu anderen. Du hast es nicht ertragen, wenn andere über dich bestimmen wollten. Hannah ist genauso.

Nach außen hin tut sie, als hätte sie vor nichts Angst, aber irgendetwas ist da. Das spüre ich.

Die Jungs verlieben sich reihenweise in sie, obwohl sie keinen auf niedliches, kleines Mädchen macht. Sie hat immer mindestens einen Freund, manchmal sogar zwei gleichzeitig. Irgendwie denke ich, dass sie vielleicht nicht so gern mit sich allein ist.

Hannah hat mir erzählt, dass ihre Eltern gestorben sind, als sie noch ein Baby war. Danach wohnte sie mit ihrem älteren Bruder erst einmal bei einer Tante in Arizona. Aber dann bekam ihr Bruder Ärger in der Schule, weil er sich ständig geprügelt hat, und die Tante schickte die beiden hierher zu ihren Großeltern.

Hannah war damals in der siebten Klasse und kam ziemlich schnell mit einem der begehrtesten Jungen an der Middleschool zusammen, der in der Achten war und im Fußballteam. Ihr nächster Freund war wieder ein Fußballspieler und der danach auch. Als sie selbst in der Achten war, hatte sie dann was mit einem Typen, der schon auf die Highschool ging. Sie hat mir gesagt, dass sie mit allen – auch den Mädchen – gut klargekommen wäre, aber als Freundin hätte sie sich Natalie ausgesucht, weil sie gleich gemerkt hätte, dass sie es »checkt«.

»Was meinst du damit?«, habe ich gefragt.

Hannah zuckte mit den Schultern. »Na ja, sie versteht, wie das ist, anders zu sein, auch wenn man nicht will, dass jeder es sofort mitbekommt. Ich hab gleich gespürt, dass Natalie kein Problem damit hat, dass ich mein Pferd mehr liebe als jeden anderen, oder dass ich bei meinen tauben, alten Großeltern wohne und einen Bruder habe, der ein Arschloch ist.«

Hannah hat mir erzählt, dass sie gerade ein bisschen was mit einem Typen »am Laufen« hätte, der Kasey heißt. Sie hat ihn beim Arbeiten kennengelernt, als er dort mit ein paar Freunden Geburtstag feierte. (Im Japanese Kitchenfeiern viele Leute Geburtstag, weil die Köche das Essen auf einer heißen Platte direkt am Tisch zubereiten und dazu Feuertricks vorführen.) Kasey geht schon aufs College. Ehrlich gesagt, finde ich es ein bisschen komisch, dass er sich für ein Mädchen interessiert, das so viel jünger ist. Vielleicht finde ich es ja auch nur deswegen nicht gut, weil May auch etwas mit einem älteren Typen hatte. Paul. Als ich Hannah fragte, warum sie mit jemandem zusammen ist, der schon studiert, lachte sie und sagte: »Ich bin eben frühreif.«

Vielleicht ist Kasey ja wirklich richtig in Hannah verliebt, er schickt ihr nämlich öfter Blumensträuße. Rote Tulpen, die mag sie am liebsten. Sie lässt sie sich ins Sekretariat unserer Schule liefern, um damit anzugeben. Unsere Schulleiterin Mrs Weiner hat ihr gesagt, dass das nicht geht, aber Hannah behauptet, die Blumen wären von ihrem Onkel für ihre kranke Großmutter. Als Mrs Weiner wissen wollte, warum der Onkel sie dann nicht direkt zu ihnen nach Hause schicken würde, hat Hannah geantwortet, ihre Großeltern würden die Türklingel nicht hören. Mrs Weiner weiß zwar genau, dass das gelogen ist, kann aber nicht viel tun, weil Hannahs Großmutter tatsächlich bettlägerig ist und ihr Großvater so schwerhörig, dass es keinen Sinn hätte, mit ihm zu telefonieren. Wahrscheinlich ist er auch zu alt und zu müde, um sich überhaupt darum zu kümmern, was Hannah macht. Deswegen holt Hannah Kaseys Blumensträuße morgens immer im Sekretariat ab, schleppt sie von einem Kurs zum nächsten und stellt sie vor sich auf den Tisch. So kann sie sich dahinter verstecken und mit Natalie quatschen, ohne dass die Lehrer es mitkriegen.

Natalie tut immer so, als würde sie es kitschig finden, Blumen zu verschenken. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. In ihrem Kunstkurs hat sie nämlich angefangen, ein Gemälde mit einer roten Tulpe für Hannah zu malen. Sie hat es mir gestern nach dem Unterricht gezeigt, aber ich darf Hannah nichts verraten, weil es eine Überraschung werden soll. Natalie ist eine richtige Künstlerin. Jedes einzelne Blütenblatt hat so viele unterschiedliche Rotschattierungen, dass es total realistisch aussieht.

Diese Woche wohne ich wieder bei Dad. Dadurch dass er so lang arbeitet und mich nicht abholen kann, fahre ich normalerweise mit dem Stadtbus. Aber heute bin ich nach der Schule nicht gleich nach Hause, sondern war mit Natalie und Hannah noch bei Dairy Queen Eis essen. Auf dem Weg dorthin wollten die beiden unbedingt, dass wir Busenblitzer spielen. Erst habe ich mich nicht getraut, aber dann dachte ich daran, dass May mir beigebracht hat, wie man seine Angst herunterschluckt. Als uns jemand entgegenkam, habe ich schnell mein Top hochgezogen und bin dann weggerannt. Natalie und Hannah holten mich kreischend und kichernd erst ein paar Blocks weiter ein. Erleichtert darüber, dass das Schlimmste vorbei war, lachte ich mit, und es war ein tolles Gefühl, zu ihnen zu gehören.

Hannah hat bei Dairy Queen für uns bezahlt (ich glaube, es macht sie stolz, dass sie uns einladen kann). Danach musste sie los ins Japanese Kitchen, weil ihre Schicht anfing. In der Schule kommt sie ziemlich oft zu spät, aber im Job ist sie immer pünktlich. Bevor sie ging, hat sie mir noch erzählt, dass Natalie morgen bei ihr übernachtet, weil Freitag ist, und gefragt, ob ich auch kommen will. Ich habe mich total gefreut, denn das beweist, dass die beiden mich wirklich mögen.

Dad kam kurz nach mir nach Hause. Er arbeitet für eine Baufirma und repariert Risse in den Fundamenten und solche Sachen. Als Kinder stürzten May und ich immer auf ihn zu und umarmten ihn, sobald er abends durch die Haustür kam, und dann küsste er uns auf die Stirn. Ich mochte ihn so verschwitzt und verdreckt und stellte mir vor, er wäre auf Abenteuerfahrt gewesen. Mom stand in der Küche und der Duft nach gebratenem Hackfleisch und Chili zog durchs Haus. Dad hat früher immer gesagt, sie würde kochen wie eine Konditorin. Statt alles erst mal zusammenzuwerfen und hinterher abzuschmecken, misst sie die Zutaten vorher ganz sorgfältig ab.

Aber im Leben funktioniert das so nicht. Auch wenn man meint, alles richtig gemacht zu haben, kann man sich nie sicher sein, was am Ende rauskommt. Manchmal ist von einem Moment zum anderen nichts mehr wie vorher. Wenn Dad früher nach einem Tag auf der Baustelle nach Hause kam, bewunderte ich seine Muskeln und seine Stärke. Jetzt sieht er so müde aus, als wäre er von einem Bulldozer überrollt worden. In unserer Kindheit konnten May und ich auf ihm herumklettern. Jetzt habe ich fast schon Angst, ihn versehentlich anzustupsen, weil sonst vielleicht die ganze in ihm aufgestaute Traurigkeit herausschwappt.

Früher hat er uns ständig Streiche gespielt, indem er zum Beispiel Salz in den Zuckerstreuer füllte (und zwar so oft, dass wir uns angewöhnten, uns immer erst etwas davon auf die Handfläche zu streuen und daran zu lecken). Mom verdrehte nur die Augen, aber May und ich fanden es lustig. An den Wochenenden versteckte er oft seinen Wecker, und wenn er dann klingelte, mussten wir durchs Haus rennen und danach suchen. Manchmal bohrte er Löcher in die Äpfel im Kühlschrank und steckte Weingummiwürmer hinein. Für uns war es jedes Mal ein Fest, wenn wir so einen fanden. Heute macht er so etwas gar nicht mehr, aber er drückt mir immer noch jedes Mal einen Kuss auf die Stirn, wenn er nach Hause kommt. Danach fragt er mich, wie mein Tag war, und ich gebe mir Mühe, ihn glauben zu lassen, alles wäre gut.

Heute habe ich unser Lieblingsessen gemacht: Maccaroni & Cheese aus der Mikrowelle mit Mini Hot Dogs. Im Gefrierschrank steht immer noch das ganze Essen, das Nachbarn und Freunde uns vor fast einem halben Jahr gebracht haben, um uns in der Zeit nach Mays Tod zu unterstützen. Aber irgendwie habe ich nie Appetit darauf, und ich glaube, Dad geht es genauso.

»Hast du denn an der neuen Schule schon Freundinnen gefunden?«, fragte Dad und schob sich eine Gabel voll Nudeln in den Mund.

»Ja.« Ich lächelte. »Natalie und Hannah. Sie sind echt nett.«

»Das ist toll«, sagte er.

»Ich wollte es dir sowieso erzählen, weil Natalie Hannah und mich nämlich eingeladen hat, morgen bei ihr zu übernachten. Darf ich?«

Er zögerte einen Moment und ich drückte unter der Tischplatte die Daumen. »Sicher, Laurel«, sagte er dann. »Ich finde es gut, wenn du auch mal was unternimmst und nicht die ganze Zeit hier mit mir herumhocken musst.«

Dann schaltete er den Fernseher an, um sich ein Spiel mit den Chicago Cubs anzuschauen. Er ist in Iowa aufgewachsen und deswegen heute noch ein Fan von ihnen. Ich bin in mein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Früher hat Dad oft versucht, mir zu erklären, dass das Leben ein bisschen so wie ein Baseballspiel ist, aber in letzter Zeit macht er das nicht mehr. Vielleicht ist ihm ja klar geworden, dass im Leben Dinge passieren, die schlimmer sind als ein Strikeout bei voll besetzten Bases.

Laurel

Lieber Kurt,

gestern war ich zum ersten Mal in meinem Leben betrunken. Als ich bei Natalie ankam, habe ich nur kurz die Tasche mit meinen Schlafsachen abgestellt und wir sind zum Supermarkt. Die Klimaanlage dort war so hoch eingestellt, dass wir richtig gebibbert haben, als wir zum Gang mit den Spirituosen gingen, wo Natalie eine Flasche roten Aftershock mit Zimtgeschmack aus dem Regal nahm und unter ihr Hoodie schob, das sie lose über dem Arm hängen hatte. Danach sind wir damit zur Toilette und haben das Etikett mit dem Diebstahlschutz-Chip abgeknibbelt. Mein Herz hämmerte wie wild, aber ich versuchte, nicht darauf zu achten und so zu tun, als hätte ich schon öfter Sachen geklaut. Ich habe es sogar geschafft, zu ignorieren, dass durch den Zwischenraum zur angrenzenden Kabine die spießigen Turnschuhe einer Mutter und die Füße ihrer kleinen Tochter zu sehen waren. Als wir fertig waren, sind wir einfach rausmarschiert, ohne dass der Alarm losging.

Danach sind wir wieder zu Natalie und hatten das Haus für uns, weil ihre Mutter ein Date mit einem Mann hatte. Natalie sagte, dass sie sicher erst irgendwann morgens wiederkommen würde. Wir sind dann auf das Flachdach ihres Bungalows geklettert und haben uns dort hingesetzt. Am Boden der Flasche Aftershock schwebten Zuckerkristalle mit Zimtgeschmack, und als ich den ersten Schluck trank, brannte er in meinem Mund, als hätte jemand ein süßes Feuer darin angezündet. Ich schluckte schnell, ohne das Gesicht zu verziehen, und sagte nicht, dass es das erste Mal war, dass ich Alkohol trank. Ich dachte, wenn May trinken konnte, kann ich es auch. Was sollte schon passieren? Irgendwann spürte ich das Brennen gar nicht mehr, sondern nur noch ein warmes Prickeln in meinem Bauch, das mich zum Lachen brachte und meinen Körper so schwerelos machte, dass ich vergaß, Angst zu haben. Wir legten uns auf den Rücken, guckten zu den Flugzeugen hoch, die über uns hinwegflogen, und dachten uns einen Song dazu aus. An den Text kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass Hannahs Stimme klang wie die Zimtkristalle schmeckten, süß und feurig. Ich finde, sie hat echt Talent.

Keine Ahnung, wie es dann weiterging. Irgendwann waren wir jedenfalls wieder unten und Natalie und Hannah sind in den Garten, um eine Runde auf dem alten Trampolin herumzuspringen. Ich lag vor dem Haus in der Hängematte und über mir funkelten die Sterne.