Love Songs in London – All I (don't) want for Christmas - Tonia Krüger - E-Book
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Love Songs in London – All I (don't) want for Christmas E-Book

Tonia Krüger

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Beschreibung

Was, wenn aus Fake ernst wird? Ungleicher als die junge Studentin Febe mit dem Shakespeare-Faible und der aufstrebende Spieleentwickler Liam kann man kaum sein. Doch weil Febe Weihnachten sonst nur mit ihrem Hund feiern würde und eine Prise Bares gut gebrauchen kann, willigt sie in ein ungewöhnliches Vorhaben ein: Sie begleitet Liam als Fake-Freundin zum alljährlichen Familienweihnachtsfest im noblen South Kensington. Das Ziel: Liams Exfreundin Charlotte eifersüchtig zu machen, die inzwischen mit seinem Bruder verlobt ist. Der Plan scheint aufzugehen, denn je mehr die Funken zwischen Liam und Febe sprühen, desto mehr scheint es Charlotte wieder zu ihm zu ziehen. Doch je näher Febe Liam kennenlernt, desto weniger will sie ihn wieder hergeben …

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Tonia Krüger

Love Songs in London

All I (don’t) want for Christmas

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Kapitel 1

Warum renne ich überhaupt noch? Der schützende Hauseingang ist unendlich weit weg. Der stürmische Wind peitscht mir den Novemberregen in Böen entgegen. Das Wasser rauscht über Dächer und parkende Fahrzeuge, fließt über Regenrinnen und breitet sich in Seen über den überquellenden Gullys aus. Mit einer Hand halte ich meine Kapuze fest, mit der anderen umklammere ich Hamlets Leine. Eigentlich bin ich nicht getrocknet, seit ich heute Morgen das Haus verlassen habe. Und Hamlet, der mit seinen schlaksigen Bewegungen voranhechtet, hat es mindestens so eilig wie ich, nach drinnen zu gelangen. Verdammt! Hamlet und ich mögen eine ganz und gar unfreiwillige Schicksalsgemeinschaft eingegangen sein, aber eins haben wir gemeinsam: Wir hassen das englische Wetter.

Mit eingezogenem Kopf sprinte ich hinter Hamlet in den Hauseingang. Dort pralle ich gegen einen Widerstand, der nicht die feste Tür ist, mit der ich gerechnet habe. In einem Gewirr aus nach Halt suchenden Armen und Beinen taumele ich in den Flur. Hamlet, der ungebremst weiterstürmt, reißt mir mit seiner Leine fast den Arm aus, als mein Körper schlagartig gebremst wird. Hamlet kommt zum Stehen, fesselt mich aber mit der gespannten Leine an einen Typen, der zwischen mir und dem Treppengeländer eingeklemmt wird. Er stöhnt auf. Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihn unter meiner Kapuze hervor anzusehen, und mir stockt der Atem. Ich blicke in seine Augen und kann nichts mehr denken. Himmel, so was ist mir noch nie passiert! Aber das Grün seiner Iris ist faszinierend wie ein Kaleidoskop – durchzogen mit silbrigen Schlieren wie von Sonnenlicht, das mich direkt ins Herz trifft.

»Kannst du nicht aufpassen?« Seine ärgerliche Stimme reißt mich aus dem Moment.

»Entschuldige.« Ich zerre an Hamlets Leine, weiche zurück und taxiere ihn kurz. Vielleicht ist er etwas älter als ich. Spontan schätze ich ihn auf Mitte zwanzig. Mit zwei harmonischen Linien bilden seine Brauen den Rahmen für sein glattes Gesicht mit gerader Nase und sanft geschwungenen Lippen. Einzig seine blonden Haare verraten, dass er keinem Werbeplakat für den neuesten Herrenrasierer entsprungen ist. Sie stehen ihm ziemlich zerzaust vom Kopf ab. Er zieht seine petrolfarbene Jacke im Biker-Stil zurecht.

»Mach doch die Augen auf, verdammt.«

Da hat aber jemand schlechte Laune!

»Verdammt ist jede Schuld schon vor der Tat.« Ich beiße mir auf die Lippe. Shakespeare hat mich mein Leben lang begleitet und mein Gehirn wirft bei jeder Gelegenheit ungefragt mit Zitaten um sich.

»Was soll das denn bedeuten?« Der schlecht gelaunte Typ mustert mich unter zusammengezogenen Brauen, scheint an einer Antwort aber nicht wirklich interessiert. »Du kannst doch nicht einfach reingestürmt kommen, als wärst du auf der Flucht.«

»War ich aber. Es regnet, falls dir das entgangen ist.« Wie auf sein Stichwort schüttelt Hamlet sich. Die kalten Tropfen werden aus seinem dichten Fell in alle Richtungen geschleudert. Hastig weichen wir beide zurück und stoßen erneut zusammen. Diesmal gehen wir schneller wieder auf Abstand. »Ich bin ja schon nass, bevor ich nur einen Fuß vor die Tür setzen kann«, beschwert er sich.

»Es tut mir leid. Ich hatte dich nicht gesehen.«

»Kein Wunder, mit der riesigen Kapuze.« Sein vernichtender Blick erinnert mich daran, dass ich ihn bisher nur aus der Deckung meiner wirklich ausladenden Kopfbedeckung betrachte. Ich streiche sie zurück und versuche, ihn mit einem entschuldigenden Lächeln zu besänftigen. Jetzt stockt er kurz. Das ärgerliche Blitzen in seinen grünen Augen wird sanfter. Sein Blick auf meinem Gesicht treibt mir Hitze in die Wangen.

»Spätestens vor der Tür wirst du dir genauso eine Kapuze wünschen«, sage ich ihm mit einem Schulterzucken voraus. Zur Antwort hebt er einen langen schwarzen Regenschirm mit glänzendem dunklem Holzgriff. Dieses schicke Accessoire will so gar nicht zu seiner sportlichen Jacke passen.

»In meinen kühnsten Träumen nicht.« Sein Blick streift noch einmal meine kribbelnden Wangen. Dann zieht er die Haustür auf und lässt seinen ausladenden Schirm aufschnappen. Dass er ihn anschließend mit einiger Mühe durch die Türöffnung zwängen muss, wirkt entlarvend. Als sei er das Handling eines solchen Schirms gar nicht gewohnt.

»Hunde sind in diesem Haus übrigens verboten.« Ohne mir noch einen Blick zuzuwerfen, verschwindet er draußen im strömenden Regen.

»Ein Hund sein lieber und den Mond anbellen als solch ein Idiot.« Shakespeares Vergleich lautet eigentlich auf Römer. So wie sich der Typ benommen hat, finde ich meine Abwandlung allerdings deutlich passender. Ich blicke auf den Hund, der seit Kurzem mein Hund ist. Von Hamlets Rute und aus seinen Schlappohren tropft Wasser. Sein sonst haselnussfarbenes Lockenfell hat den Ton von Kaffee angenommen. Vorwurfsvoll starrt er zu mir hoch. Er hat mindestens so schlechte Laune wie der Typ. Während wir die knarzenden Stufen zu Joss’ Apartment erklimmen, folgen meine Gedanken ihm in den Regen. Dieses Gefühl, das ich hatte, als ich ihm in die Augen gesehen habe … Ich will das wieder fühlen. Ärgerlich über mich selbst schüttele ich den Kopf. Er ist viel zu unfreundlich gewesen, als dass ich auch nur einen weiteren Gedanken an ihn verschwenden sollte. Außerdem bin ich wahrscheinlich nur zu oft alleine. Wenn es an Ablenkung fehlt, bauschen sich auch Kleinigkeiten zu großen Ereignissen auf. Trotz dieser Erkenntnis gelingt es mir erst, ihn aus meiner Erinnerung zu vertreiben, als Joss mir ihre Wohnungstür öffnet.

Wenig später sitze ich meiner besten Freundin in ihrer gemütlichen Sesselgruppe im Wohnzimmer gegenüber, während der Regen an den Scheiben herabrinnt. Dicke Wollstrümpfe an den Füßen und ein großer Becher heißer Tee in den Händen, der mir ins Gesicht dampft, wärmen mich auf. Auch Hamlet stößt ein lang gezogenes Seufzen aus. Er hat sich an seinem Lieblingsplatz vor dem Heizkörper ausgestreckt. Beim durchdringenden Piepsen aus der Küche springt Joss auf, um die Scones zu holen, die sie gebacken hat. Sie ist wie der Sekundenzeiger auf einer Uhr, auf der alle anderen die Minuten und Stunden sind. Sie lebt auf der Überholspur – mit ihrer sprühenden Energie, ihrer Klugheit und ihrem Humor. Noch dazu zieht sie die Blicke auf sich, wohin sie auch geht – mit swimmingpoolblauen Augen, ihrer Mähne blonder Locken, ihren Glitzertops und goldenen Armreifen. Wie es ihre Art ist, kommt sie sofort zur Sache, sobald die Scones zwischen uns auf dem Tisch stehen und ihren köstlichen Duft verbreiten.

»Krisensitzung eröffnet: Was können wir tun, damit du das Geld doch noch zusammenbekommst?«

Ich ziehe die Füße an. Obwohl Joss sich die Wohnung derzeit sogar mit zwei Männern teilt, hat keiner von ihnen Spuren in diesem Zimmer hinterlassen. Ein dicker weißer Teppich bildet die Bühne für die Sesselgruppe. Eine Lampe mit auffälligen Glasperlen und jede Menge farbige Vasen, die den Raum dekorieren, tragen eindeutig Joss’ Handschrift. Nur bei genauerem Hinsehen entdeckt man zwischen ihren Psychologiehandbüchern in den Regalen einige Gesetzestexte. Die stammen von Damien – Joss’ Ehemann. Noch immer kann ich nicht glauben, dass sie es wirklich getan hat. Ausgerechnet die flippige Joss hat sich mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren und noch vor ihrem Abschluss einen Ring anstecken lassen – und das von einem nur wenig älteren Jura-Studenten. Manchmal glaube ich, auch diese Aktion hat Joss allein deswegen durchgezogen, um alle mit etwas zu schockieren, das man nie von ihr erwartet hätte. Die Feierlichkeiten waren jedenfalls bombastisch und typisch Joss. Obwohl es keinen Unterschied machen und ich mich einfach für sie freuen sollte, fühle ich mich seither irgendwie noch ein bisschen einsamer.

»Also die Fakten.« Joss setzt sich zurecht. »Du hast monatelang dein Geld für den Skiurlaub zurückgelegt. Und jetzt ist alles weg?«

»Alles«, bestätige ich und bin froh, dass Joss nicht erwähnt, wohin das Geld verschwunden ist. Nana war alt, aber ihr Tod hat mich erschüttert. Sie war die einzige Familie, die ich noch hatte. Und jetzt werde ich Weihnachten allein verbringen. Maximal Hamlet wird mir die Füße wärmen. Schaudernd ziehe ich die Schultern hoch. Gibt es etwas Traurigeres, als Weihnachten allein zu sein?

»Wir planen diesen Urlaub seit Ewigkeiten: Silvester in den Bergen. Du kannst jetzt nicht stornieren.«

»Ich weiß. Aber mein Konto ist einfach leer.«

Hamlet lässt ein Winseln hören, als fürchte er um sein Wohlergehen. Tatsächlich kann die Lage kaum dramatischer sein. Hamlets Futter und die Stromrechnung sind so ziemlich alles, was ich mir derzeit leiste.

»Im Ernst, Febe«, hakt Joss nach. »Es kann doch nicht sein, dass …« Sie stockt, spricht es dann aber doch aus. »… dass du finanziell ruiniert bist, weil deine Grandma gestorben ist.«

Ich tröste mich mit einem Schluck heißem Tee. »Nanas Ersparnisse waren lange aufgebraucht. Zuletzt hat sie einiges am Haus reparieren lassen.« Obwohl ich die Bestattung ohne jegliche Extras habe ablaufen lassen, musste ich Schulden machen. Denn das Stipendium reicht zwar, um meine Gehirnzellen am Leben zu erhalten, aber darüber hinaus kann ich mir nichts erlauben.

»Was hältst du davon, wenn ich dir den Urlaub zu Weihnachten schenke?«, schlägt Joss selbstlos vor und redet weiter, obwohl ich bereits den Kopf schüttele. »Damien und ich können es uns leisten und ich will dich dabeihaben! Pulverschnee, Mordsgaudi beim Après-Ski, Feuerwerk in sternenklarer Neujahrsnacht und ein paar heiße Skilehrer.«

Ich grinse sie spöttisch über den Rand meiner Tasse hinweg an. »Lass mich bloß mit deinen heißen Skilehrern in Ruhe. Du weißt doch, ich bin durch mit dem Thema.«

Joss verdreht die Augen. »Deine Grandma ist gestorben und hat dir ein Haus und einen Hund hinterlassen plus einen Berg Schulden. Und plötzlich führst du ihr Leben! Eine Weird-old-Cat-Lady – nur mit Hund.«

Das sitzt. Hastig trinke ich einen zu großen Schluck Tee, um mein verkrampftes Herz zu entspannen. Auch Joss wirkt plötzlich betreten. Vielleicht hat sie gemerkt, dass ihre Worte ziemlich harsch klangen. Sie spielt mit den Goldreifen um ihr Handgelenk. »Hör mal, das war nicht böse gemeint. Das kam doof rüber.«

»Ganz unrecht hast du ja nicht.« Ich hebe die Schultern. »Ohne Geld ist es halt schwierig auszugehen.« Joss weiß ja, wie es für mich ist: Ich kann nicht immer trocken danebensitzen, wenn sich die anderen in einer Bar treffen. Und wenn ich nie dabei bin, weil ich kein Geld für den Eintritt zum Klub habe oder den Zug ans Meer nicht bezahlen kann, dann wird man irgendwann nicht mehr eingeladen – und bleibt eben zu Hause.

»Deswegen lass mich bitte, bitte für dich bezahlen.« Flehend verschränkt Joss ihre Hände ineinander. »Es bricht mir ohnehin das Herz, dass du Weihnachten allein verbringst. Wäre ich nicht mit meiner Familie in diesem Wellness-Hotel eingebucht, würde ich dich zu uns einladen. Dass wir Silvester zusammen verbringen, ist ein Muss.«

»Ja, Silvester mit dir wäre toll, aber auf gar keinen Fall bezahlst du mir den Urlaub! Freundschaften und Finanzielles soll man nicht vermischen. Du als Psychologin hast immer betont, dass es ein No-Go sei.«

Joss seufzt frustriert. »Okay, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Du musst dir was dazuverdienen.«

Mein Lachen klingt ungläubig. »Über achthundert Pfund? In so kurzer Zeit? Mit welchem Job soll ich das denn hinkriegen?«

Joss wirft mir einen bezeichnenden Blick zu. »Ein reicher Mann könnte deine Rettung sein.«

»Nicht wieder dieses Thema.« Ich schleudere ein Kissen in ihre Richtung, das sie kichernd auffängt. »Ich habe jetzt schließlich Hamlet.«

»Ich sage dir was.« Joss sieht mich geradewegs an: »Shakespeare ist lange tot und Hamlet wird auch an Weihnachten nur ans Fressen denken. Das ist keine adäquate Gesellschaft für dich.«

Ich verdrehe die Augen. »Aber warum soll ich von einem Mann Geld annehmen?«

Joss hebt die Schultern. »Wenn du es als eine Bezahlung betrachtest …«

Ich reiße die Augen auf. »Das meinst du nicht im Ernst, oder?«

»Ach komm, ich meine nicht, was du denkst. Aber was spricht denn gegen Essen, gepflegte Konversation und ein bisschen Flirten? Es gibt genug Männer, die dafür ordentlich was springen lassen. Da kannst du an einem Abend ein paar Hundert Pfund verdienen.«

»Bist du irre?« Entschieden schüttele ich den Kopf und lehne mich vor, um mir Tee nachzuschenken. »Es gibt Grenzen.«

»Spiel doch nicht die feine Dame. In meinen Augen ist es die einzige Möglichkeit, in der kurzen Zeit das Geld zusammenzubekommen.« Ich vergesse die dampfende Tasse auf dem Weg zum Mund, als ich Joss’ Gesichtsausdruck bemerke. Ihre Lippen werden schmaler, ihre blauen Augen leuchten auf. »Du müsstest natürlich endlich etwas mehr aus dir machen.«

Mein Blick wandert an mir hinunter und mir wird unbehaglich zumute. Joss wird immer dann anstrengend, wenn sie versucht, mir zu erklären, ich müsse mehr sein wie sie. Dabei finde ich, dass an mir nicht viel auszusetzen ist. Ich bin schlank, mittelgroß, habe hellbraune Augen und hellbraune Haare. Klar, ich steche nicht aus der Menge wie Joss. Aber ich fühle mich in ihrem Schatten ganz wohl. Statt Glitzertops trage ich im Winter ausschließlich meine gemütlichen Norwegerpullover. In meinen Augen ein Must-have in zugigen Unigebäuden. Kombiniert mit Skinny-Jeans und einem Paar Stiefeletten sehen sie durchaus schick aus. Nur Joss findet, nichts sei modisch, was keine ordentlichen Dekolletés und figurbetonten Schnitte aufweist. Mit trotzig erhobenem Kinn begegne ich ihrem missbilligenden Blick. Dass ich unter meiner Jeans eine lange Unterhose trage, werde ich ihr bestimmt nicht verraten.

»Hi«, kommt es in diesem Moment aus Richtung der Wohnzimmertür. Joss wirbelt herum, als habe ihr jemand einen Schwall eiskalten Novemberregen in den Nacken gekippt.

»Ben! Was machst du hier?«

Der Typ im Türrahmen ist Damiens Cousin und lebt seit einigen Monaten bei den beiden, da er hier in Oxford seinen Abschluss in Informatik macht. Wie immer, wenn ich ihn sehe, muss ich mir ein Lachen verkneifen. Ben entspricht so sehr dem Klischee eines Nerds, dass er kaum glaubhaft wirkt – mit Motto-Shirt, Brille und ausgefranster Frisur. »i 8Σ π« steht in Orange quer über seiner Brust. Ich starre auf die Zeichenfolge, aber die Botschaft erschließt sich mir nicht.

»Wollte dieser Liam mich nicht heute abholen?«, fragt Ben, wobei er etwas unbeholfen seine sehnigen Arme verschränkt.

Joss kommt auf die Füße und stemmt die Hände in die Hüften. »Allerdings! Und weißt du was? Er war schon da. Ich hab ihn reingelassen und ihm deine Zimmertür gezeigt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du selbst an einem Tag wie heute bis nachmittags pennst, weil du wahrscheinlich wieder die ganze Nacht gezockt hast.«

»Blödsinn!« Ben verdreht die Augen. »Ich hatte Kopfhörer auf und als jemand reinkam, dachte ich, du seist es. Ich rufe den Typen an. Der sieht das sicher nicht so eng.«

Er stößt sich vom Türrahmen ab, wobei sein Blick kurz in meine Richtung flackert – ein Fragezeichen, ob er sich von mir verabschieden soll. Er entscheidet sich jedoch dagegen und verschwindet wieder.

»Stell dir einen Wecker, Ben«, ruft Joss ihm nach. Dann dreht sie sich zu mir um. »Kannst du das glauben?«

»Dir ist schon klar, dass du mit ihm redest, als wärst du seine Mum?«

»Ach was.« Ärgerlich winkt Joss ab. »Einer muss dafür sorgen, dass er einen Job findet, sonst wohnt der mit dreißig noch bei uns.« Sie lässt sich wieder in ihren Sessel fallen. »Damien hat einen Schulfreund, der diese ultraerfolgreiche App programmiert hat und jetzt Teilhaber von Saga World Games ist. Der hat da richtig was zu sagen. Und er hat angeboten, Ben die Firma zu zeigen.«

Ich lege den Kopf schräg. »Weil du ihn dazu überredet hast.«

»Na und? Saga World Games ist megaerfolgreich. Einen klugen Kopf wie Ben können die sicher gebrauchen.«

»Und Ben will so was machen?«

»Wieso?« Fragend runzelt Joss die Stirn.

»Vielleicht will er ja auch was Sinnvolles mit seinem Leben anfangen.«

Joss lacht auf. »Lass das bloß Liam nicht hören. Ich hab mir seine App auch runtergeladen und mittlerweile ist sie mein Leben.«

»Ich dachte, Damien sei dein Leben«, ziehe ich sie mit einem schiefen Lächeln auf.

»Jaja.« Grinsend streicht Joss sich die Haare zurück. »Die App heißt übrigens James. Von der musst selbst du schon gehört haben.«

Ich winke ab. »Mir ist noch keine App begegnet, die man wirklich braucht. Mir reicht mein Notizbuch.«

Joss verdreht die Augen. »Weil du wie zu Shakespeares Zeiten lebst. Aber gut.« Mit einem übertriebenen Seufzen hebt sie beide Hände. »Was hältst du davon, wenn wir Pizza bestellen und einen Film gucken? ›Pretty Woman‹?«

Die Anspielung entgeht mir nicht. »Kommt nicht infrage.«

»Komm schon, Febe. Wir sollten deinen Sinn für Romantik trainieren, bevor er vollends verkümmert. Ich muss bei ›Pretty Woman‹ immer heulen und das solltest du auch mal wieder tun.«

Grinsend hebe ich die Schultern. »Ich muss nie heulen.«

»Das werden wir ja sehen. Ruf du den Pizzadienst an.« Joss zieht ihren Laptop aus einem Fach im Tisch. »Ich starte den Film.«

Kapitel 2

Mit einem zufriedenen Seufzen ziehe ich mir meine dicke geblümte Bettdecke bis zur Nasenspitze. Wieder in meinem früheren Zimmer in Nanas Haus zu schlafen fühlt sich vertraut und furchtbar ungewohnt zugleich an. Nachdem ich nicht nur das Häuschen, sondern auch Hamlet geerbt habe, wohne ich wieder hier – in dem kleinen Reihenhaus aus hellem Backstein mit knallroter Tür im Norden Oxfords. Doch statt des leisen Hantierens und der schweren, teppichgedämpften Schritte von Nana vor der Zimmertür begleitet mich nun Hamlets Schnarchen in den Schlaf. Er hat sich auf seinem Hundebett auf dem Rücken ausgestreckt und scheint das Gefühl zu genießen, heute nicht wieder in den Regen hinauszumüssen. Ich spüre, wie meine Glieder schwerer werden, während draußen der Novemberwind am Dach rüttelt und ab und zu Regenschwaden gegen die Scheiben prasseln. Ich spüre, wie ich in der gemütlichen Wärme in den Schlaf drifte. In der nächsten Sekunde schrillt mein Smartphone mit seinem altmodischen Rington los und katapultiert mich mit einem Schreckenslaut in die Senkrechte. Hektisch schnappe ich mir das Telefon vom Nachttisch »Was ist passiert?«

»Ich hab die Lösung!« Joss’ Stimme ist so durchdringend wie der Klingelton.

»Joss, um Himmels willen.« Stöhnend lasse ich mich zurück in mein Kissen fallen. Der Abend ist gerade erst mit zu viel Pizza, einer Flasche Wein und jeder Menge Gekicher zu Ende gegangen. Nachdem Damien leicht angetrunken aus dem Pub nach Hause kam, habe ich mich verabschiedet. Jetzt ist es mitten in der Nacht.

»Was für eine Lösung?« Augenreibend versuche ich, wieder wach zu werden.

»Na, wie du doch mit in den Skiurlaub kommen kannst. Liam!«

»Liam?«, wiederhole ich verwirrt.

»Das ist Damiens Freund, von dem ich heute erzählt habe. Saga WorldGames.«

»Ach, der mit der App. Was ist mit dem?«

»Ich konnte Damien entlocken, worüber sie im Pub gesprochen haben«, verkündet Joss, als wäre das eine einmalige Leistung. »Liam hat über Weihnachten eine Reise nach Vietnam gebucht, weil er auf keinen Fall mit seiner Familie feiern will.«

Ich stütze meinen Kopf schwer in die Hand.

»Stell dir vor.« Joss lässt sich nicht bremsen – nie. »Liam hatte eine Freundin – Charlotte. Die beiden waren seit der Highschool zusammen. Vor etwa einem Jahr hat Liams älterer Bruder sie ihm ausgespannt und jetzt kommt sie auf einmal mit ihm statt Liam zur traditionellen Weihnachtswoche der Familie. Ist das nicht unfassbar?«

»Das klingt ziemlich daneben.« Ich empfinde ein wenig Mitleid für den mir unbekannten Liam. Wahrscheinlich wird sein Weihnachten ähnlich einsam wie meins. Immerhin wird ihm dabei eine warme Sonne auf den Bauch scheinen.

»Der arme Liam bekommt jetzt solchen Druck von seiner Familie, damit er nicht nach Vietnam fliegt, dass es einer Hetzjagd gleichkommt«, erklärt Joss. »Sein Bruder und Charlotte haben angeblich eine Riesenüberraschung für die ganze Familie, seine Eltern schon all seine Leibspeisen eingeplant und jetzt hat auch noch seine Grandma verkündet, sie habe Angst, es sei ihr letztes Weihnachten und er müsse unbedingt kommen.«

»Das klingt schrecklich«, gebe ich zu, auch wenn ich viel um eine Familie gegeben hätte, der so viel an mir liegt. »Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Febe, es ist unglaublich perfekt.« Joss’ Ungeduld lässt sie noch schneller sprechen. »Liam graut davor, eine ganze Woche im Haus seiner Eltern zu sitzen und Charlotte beim Turteln mit seinem Bruder zuzusehen. Er braucht eine Alibi-Freundin, damit er sich nicht ganz so mies fühlt. Und du brauchst Geld.«

»Bist du verrückt?« Wieder sitze ich senkrecht im Bett.

»Ich wusste, dass du so reagierst. Aber überleg doch mal: Du bietest Liam für eine Woche ein bisschen seelische Unterstützung. Statt allein zu Hause zu sitzen, verbringst du die Weihnachtszeit mit den Harrisons. Die sind großartig, sagt Damien.«

»Ich dachte, die spannen sich gegenseitig die Frauen aus.« Ich raufe mir die Haare. Wie soll ich es nur anstellen, Joss diesen Irrsinn auszureden?

»Und als Gegenleistung zahlt Liam dir den Skiurlaub.«

»Joss …«

»Und die Pension für Hamlet.«

»Hamlet ist ein hervorragendes Stichwort«, reiße ich das Gespräch entschlossen an mich. »Weihnachten mit Hamlet ziehe ich deinem Saga-World-Nerd allemal vor. Du weißt, dass ich mich nicht verstellen kann. Wie soll ich so tun, als würde mich interessieren, was er sagt, während er mir von seiner App oder dem neuesten Videospiel erzählt? Und noch wichtiger: Wie soll ich seiner Familie vorgaukeln, ich wäre seine Freundin? Erinnerst du dich an den Theaterkurs in der Schule? Sie haben mir gesagt, ich solle nicht in die Nähe der Bühne kommen, weil es einen negativen Einfluss auf die Schauspieler habe.«

»Du übertreibst.« Joss kichert. »Und du unterschätzt Liam. Es gibt Schlimmeres als Programmierer.«

Ich schnaube verächtlich. »Ben ist ein wandelndes Klischee. Sein geistiger Horizont beschränkt sich auf binäre Codes, seine Kommunikationsfähigkeit auf Python, seine physische Fitness auf flinke Finger und seine physiologische Erscheinung auf ein blasses Gesicht, das hin und wieder auftaucht, um herauszufinden, ob du einkaufen warst. Er hat es heute nicht mal geschafft, mir Hallo zu sagen.«

»Er steht auf dich. Das überfordert ihn einfach.«

»Ich bin ja auch unberechenbar im Gegensatz zu seinen Avataren.«

»Febe, alles, was du sagst, beweist zwei Dinge: Du hast keine Ahnung – nur Vorurteile. Und du verkennst, wie genial dieser Plan ist. Ich verlange von dir, dass du Liam kennenlernst und alles in deiner Macht Stehende für diesen Skiurlaub tust. Sonst wirst du mir erklären müssen, wie wichtig dir unsere Freundschaft ist.«

»Das ist Erpressung!«

»Mir ist jedes Mittel recht. Jetzt schlaf erst mal eine Nacht drüber und morgen reden wir weiter.«

Mit dieser Drohung legt Joss auf. Ärgerlich starre ich auf das schweigsame Telefon in meiner Hand. Soll das ein Witz sein? Wie soll ich jetzt bitte einschlafen? Innerlich bin ich viel zu aufgewühlt, weil Joss sich mal wieder in mein Leben einmischt und offenbar der Meinung ist, besser zu wissen, was gut für mich ist, als ich selbst. Entschlossen steige ich aus dem Bett und schlüpfe in dicke Wollsocken. Über den schiefergrauen flauschigen Teppichboden laufe ich nach unten in die gemütliche Küche, schalte das Licht ein und ziehe eine bunte Schürze über mein Schlaf-Shirt. Eine gute halbe Stunde später breitet sich aus dem Ofen der warme, süße Geruch von Plätzchen aus. Ich bin bereits damit beschäftigt, den Teig für das nächste Blech auszustechen. Die Stille des leeren Hauses ist nicht länger bedrohlich, sondern fühlt sich friedlich an. Das Mischen, Kneten und Rollen des Teigs hat etwas Meditatives. Den ganzen Ärger vergesse ich.

Kapitel 3

»Hi, Febe.« Damien hebt kurz eine Hand in meine Richtung und wendet sich wieder der Flasche Rotwein zu, die er an der offenen Küchentheke stehend entkorkt.

»Hi, Damien«, erwidere ich nicht weniger spröde und streiche mir fröstelnd über die Oberarme.

Joss missdeutet die Geste als Unsicherheit und taucht mit ihrem breiten Grinsen an meiner Seite auf. »Du siehst super aus.«

Ich verdrehe nur die Augen und lasse mich auf einen der Stühle am Esstisch fallen. Joss hat mich den ganzen Nachmittag telefonisch mit Styling-Ratschlägen gequält. Falls ich es wage, in einem meiner grauenhaften Schlabberpullis aufzutauchen, dann – so hat sie gedroht – würde sie ihn mir eigenhändig vom Leib reißen. Stattdessen habe ich mich also für einen eng anliegenden blauen Kaschmirpullover entschieden, der zwar wunderbar weich, aber in Sachen Wärmeisolierung ein Versager ist. Eine schimmernde dunkle Leggins und ein kurzer dunkelgrüner Seidenrock komplettieren mein Outfit. Noch immer kann ich nicht glauben, dass ich mich darauf eingelassen habe, Liam kennenzulernen. Ich fühle mich wie in einer Verkupplungsshow. Wenn von vorneherein feststeht, dass man sich gegenseitig aufs Partnerpotenzial abchecken wird – auch wenn es hier nur um eine Fake-Beziehung geht –, wirkt zwangsläufig alles steif und unnatürlich. Schließlich hat es gleichzeitig etwas zu Intimes und zu Distanziertes, wenn jedes Detail durch die Kompatibilitätsbrille beurteilt wird. Verkupplungsshows bedeuten für mich vor allem eins: Fremdschämen auf höchstem Niveau. Nur dass ich jetzt mittendrin stecke. Ich ahne, dass Joss’ Penetranz nur eine unzureichende Erklärung dafür ist, warum ich hier bin. Die Wahrheit ist: Ich will diesen Skiurlaub. Ich habe ihn mir verdient – ein bisschen Erholung nach der harten Arbeit in diesem Jahr, ein bisschen Auszeit vom Schmerz über Nanas Verlust. Aber darüber hinaus wird eines mit jedem Tag, den Weihnachten näher rückt, klarer: Ich will nicht allein sein in diesen Tagen, in denen sich alle mit ihren Familien um den Tannenbaum versammeln.

Als es an der Tür läutet, zucke ich zusammen. Joss saust in ihrer üblichen Hektik an mir vorbei und droht mir schon halb im Flur mit dem Zeigefinger. »Wag es nicht, Shakespeare zu zitieren. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«

Unsexy – das ist das Wort, das Joss dafür gebraucht. Und ich weiß, dass sie recht hat. Bewusst entknote ich meine Hände, die ich ineinander verschränkt habe, und atme tief durch. Damiens Blick lasse ich an mir abprallen, indem ich mich schon mal in Richtung Tür wende. Ihm gegenüber will ich mir meine Unsicherheit bestimmt nicht anmerken lassen. Joss’ ausgelassenes Kichern im Flur mischt sich mit einem warmen Lachen, das sofort ein leises Vibrieren in meinem Bauch auslöst. Ich werde diesen Abend schon überstehen. Letztlich geht es ja nur um so eine Art Ferienjob.

Mit einem ganzen Arm voll Astern, Dahlien und Hortensien kommt Joss zurück in die Küche geflitzt. Ich erhebe mich vom Stuhl und erblicke in der Tür einen zweiten identischen Herbststrauß. Mein Lächeln fühlt sich sperrig in meinem Gesicht an, als ich auf den Strauß zugehe. Dann sinken die Blumen ein Stück tiefer und ich bleibe abrupt stehen, schnappe nach Luft. In diese funkelnden grünen Augen habe ich schon einmal geblickt. Diesmal sind seine blonden Haare ordentlich zurückgekämmt. Die dunklen Brauen konturieren sein perfekt symmetrisches Gesicht. Statt des missmutigen Ausdrucks von unserer unglücklichen Begegnung im Hausflur formen seine sinnlichen Lippen ein zugewandtes Lächeln.

»Du musst Febe sein. Freut mich, dich kennenzulernen.« Er streckt mir seinen Zweitstrauß entgegen. Seine Augen huschen über mein Gesicht, tun sich schwer, meinen Blick festzuhalten – der einzige Hinweis, dass er vielleicht auch nervös ist. Erkennt er mich etwa nicht wieder? Ich muss meine Hände überreden, nach dem verdammten Strauß zu greifen. Warum bringt er mich so dermaßen aus der Fassung? Wahrscheinlich ein Kurzschluss in meinem Kopf. Dieser Typ sieht aus wie ein Male Model, das mit laszivem Blick von einer gigantischen Werbetafel am Piccadilly Circus auf einen runterblickt. Mit meinem Klischee eines Programmierers ist dieser Anblick so wenig vereinbar, dass meine Synapsen einfach überfordert sind. Er könnte der Titelheld des neuesten Saga-World-Action-Games sein. Nicht jemand, der Ahnung von den Algorithmen hinter der Grafik hat.

Fasse dich! Nichts mehr von Schreck! Sag deinem weichen Herzen: Kein Leid geschah. Die vertrauten Worte reißen mich aus meiner Starre. Ich nehme Liam den Strauß ab und reiche ihm meine freie Hand. »Hi, Liam.«

Sein Griff ist fest und warm. Die Berührung verweilt auf meiner Haut.

»Hey, Mann, kriege ich keine Blumen?« Damien lehnt mit verschränkten Armen an der Küchenanrichte, während Joss in einem der Oberschränke nach einer zweiten Vase sucht.

»Du schuldest mir noch einen Bierdeckel vom letzten Kneipenabend«, entgegnet Liam, während er Damien mit Handschlag begrüßt. »Solange gibt es keine Blumen.«

»Du immer mit deinen Bierdeckeln.« Damien verdreht die Augen und weist zum Tisch. »Setzt euch.«

Erst mal muss ich diese Blumen loswerden. Ich geselle mich zu Joss und stopfe die Stiele in die Vase, die sie vorbereitet hat. Pro Strauß muss Liam an die vierzig Pfund ausgegeben haben. Diese Sache scheint ihm echt wichtig zu sein. Oder er hat genug Geld, sich so einen Blödsinn ohne zweiten Gedanken zu leisten. In diesem Moment stößt Joss mir ihren Ellbogen in die Seite und wackelt mit den Augenbrauen. Vorwurfsvoll rempele ich zurück. Hätte sie mich vielleicht mal vorwarnen können, dass Liam mit Typen wie Ben nicht das Geringste zu tun hat? Weil Damien drängelt, damit wir zu essen beginnen, schiebt Joss mich energisch zum Tisch. Die Vorspeise besteht aus Baguette, Oliven und selbst gemachtem Peperoni-Feta-Aufstrich. Ich habe noch nicht mal den ersten Bissen im Mund, als Damien mich auffordert: »Dann erzähl doch mal ein bisschen von dir, Febe, damit Liam beurteilen kann, ob du als Alibi-Freundin taugst.«

Ich schieße ihm einen vernichtenden Blick zu, überspiele mein Unwohlsein jedoch mit einem Lächeln in Liams Richtung. »Klingt nach Bewerbungsgespräch. Wobei mir nicht klar ist, wer sich bei wem bewirbt.« Auf keinen Fall will ich als Bittstellerin dastehen. Was für eine absurde Situation dieses Abendessen ist! Ich bin verdammt froh, dass zu Hause eine riesige Portion Kekse auf mich wartet. Die werden meine Nerven hoffentlich beruhigen, wenn ich zurückkomme.

Das Aufblitzen in Liams grünen Augen lässt mein Herz stolpern. »Ich glaube, Joss hatte diese verrückte Idee, oder?« Sein Lächeln lässt seine Augen silberhell aufblitzen und das macht ihn plötzlich irritierend nahbar. »Überlassen wir ihr doch das Ganze und entspannen uns.«

Ich muss lachen. Steckt hinter Liams perfekter Fassade vielleicht ein netter Kerl?

»Na ja, Febe ist diejenige, die Geld braucht«, schneidet Damiens Stimme dazwischen.

Ich ignoriere ihn, aber Joss lässt ihm den Seitenhieb nicht durchgehen. »Und Liam ist derjenige, der eine Freundin braucht.«

Ihr Kommentar ist Liam sichtlich unangenehm. Er senkt zwar rasch den Blick auf seinen Vorspeisenteller, aber eine leichte Röte habe ich doch in seine Wangen huschen sehen.

Das hier ist nicht nur peinlich, begreife ich in dem Moment. Das Ganze wird schlimmer dadurch, dass sich eine aggressive Grundstimmung zwischen uns schleicht. Wie eine lauernde Katze hockt sie auf dem Tisch. Damien und Joss haben die Fronten klargemacht. Ich aber will das hier so ungezwungen wie möglich durchziehen.

»Ich dachte, wir sitzen hier erst mal ein bisschen gemütlich zusammen. Liams Liebesleben und meinen Kontostand können wir ja vielleicht später noch diskutieren.« Ich bemerke, dass Liam seinen Blick wieder zu mir hebt, sehe jedoch Damien an. »Es sei denn, du willst von deinem Essen ablenken. Dieser Aufstrich ist echt lecker, aber hattest du mir nicht letztes Mal versprochen, nicht wieder eine ganze Knolle Knoblauch in deinem Essen zu verbraten?«

Damien funkelt mich an. Restaurantbesuche mit ihm sind eine Qual. Sätze wie »Ein Steak zu garen ist eine Kunst, die dieser Koch definitiv noch nicht gemeistert hat«, kann ich schon mitsprechen. Er ist der Meinung, ein brillanter Koch zu sein, der nur aus einem Grund eine juristische Karriere eingeschlagen hat: weil er ein noch brillanterer Anwalt ist.

Liam scheint ihn ebenso gern mit seiner Selbstüberzeugung aufzuziehen wie ich, denn er steigt direkt mit in den Ring. »Richtig! Was wird denn im Hauptgang serviert? Letztes Mal war mir dein Roastbeef ein wenig zu durch – fast schon zäh.«

Joss kichert los. »Ihr habt euch aber schnell verbündet.«

»Im richtigen Moment seine Verbündeten zu kennen kann über Sieg und Niederlage entscheiden«, bemerkt Liam.

Neugierig hebe ich die Augenbrauen. »Stammt diese Erkenntnis aus deinen Videospielen?«

Mit einem jungenhaften Grinsen wirft er sich eine Olive in den Mund. »Möglich.«

Völlig ungewollt verfängt sich mein Blick in seinem. Das helle Grün schießt mir wie Sonnenlicht durch die Adern.

»Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen, Und wer in Not versucht den falschen Freund, verwandelt ihn sogleich in einen Feind.« In der Millisekunde, bevor Joss’ Fußtritt mich schmerzhaft unter dem Tisch trifft, begreife ich, dass es doch passiert ist. Liam zieht irritiert die Augenbrauen zusammen.

»Moment! Haben wir uns neulich schon mal hier unten im Hausflur gesehen? Da hast du auch schon so was Komisches gesagt. Was soll das heißen?«

Joss’ zweiter Fußtritt gegen meinen Knöchel lässt mich aufstöhnen. Natürlich versucht Joss verzweifelt, mich zum Schweigen zu bringen, doch die Treterei machte mich ärgerlich. Bisher läuft es doch gut mit Liam.

»Das ist Shakespeare«, erkläre ich ungerührt.

Er gibt einen Laut wie ein Husten von sich und greift rasch nach seinem Wasserglas. »Wie kommst du denn auf den?«

»Ich studiere Linguistik und Literatur am Hertford College«, verkünde ich und füge mit einem beinahe trotzigen Gesichtsausdruck in Joss’ Richtung hinzu: »Shakespeare ist mein Schwerpunkt.«

Joss’ gequältes Seufzen untermalt den fragenden Blick, den Liam Damien zuwirft. Damien greift feixend nach seinem Weinglas.

»Das meinte ich damit, dass Febe noch tiefer in der Vergangenheit lebt als du. Deiner Charlotte hängst du ja erst ein Jahr nach. Sie lebt in einer Beziehung mit einem Typen, der seit über vierhundert Jahren tot ist.«

Mit einem Ruck schiebt Joss ihren Stuhl zurück. »Zeit für den Hauptgang.« Sie lässt sich die Vorspeisenteller anreichen und wirft mir einen warnenden Blick zu. Ich habe jedoch keineswegs vor, Damien seine dummen Witze auf meine Kosten machen zu lassen.

»Shakespeare ist mein Forschungsobjekt, Damien, keine Beziehung.«

»Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, warum irgendwelche lange in die ewigen Literaturgründe eingegangene Dichter heute noch interessant sein sollen.« Liams Kommentar lässt jegliche Sympathien, die ich für ihn hatte, in sich zusammenfallen. »Die sind vielleicht gut, um Schüler im Literaturunterricht zu quälen«, fährt er ungeachtet meiner verengten Augen fort, »aber ehrlich gesagt hatte ich nach einer Stunde das Gefühl, es sei alles zum Thema gesagt.«

Und da ist er: der Beweis, dass sich hinter Liams perfekter Fassade doch nur ein trauriges Nichts verbirgt. Ganz abgesehen davon, dass er offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung von der Vielfalt und Finesse hat, die Shakespeare bietet, ist er ignorant und rücksichtslos.

Kämpferisch blitze ich ihn an. »Wer nur die Oberfläche sehen will, ist eben schnell zufrieden.«

Liams Lächeln wird von einem spöttischen Zug um seinen Mund eingefärbt. »Auch Shakespeare?«

»Den brauche ich nicht für jeden klugen Satz.«

Mit beiden Ellenbogen stützt Liam sich auf dem Tisch ab. »Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin glaubt ans eigene Fach. Aber die Frage ist doch, welche Relevanz das für uns normale Leute hat.«

Ich hebe die Augenbrauen. »Welche Relevanz hat denn irgendwelches Online-Geballer für uns?«

»Online-Geballer?« Offenbar belustigt schüttelt er den Kopf. »Du hast keine Ahnung von Videospielen, oder?«

»Ungefähr so viel wie du von Shakespeare.«

»Febe, kannst du mir mit dem Essen helfen?« Joss’ Ruf aus der Küche ist ein kläglicher Versuch, unsere Diskussion zu ersticken.

Liam sieht mich herausfordernd an. »Was gibt es denn Relevantes über den Typen zu wissen?«

»Die meisten Theorien, wer der Autor Shakespeare gewesen ist, stammen nicht aus der Wissenschaft. Sie verraten uns mehr über die Gesellschaft, in der sie entstanden sind, als über Shakespeare.«

Liams Augenbrauen wandern nach oben. »Das ist mir zu hoch.«

»Das wundert mich nicht. Mich würde trotzdem interessieren, welche Relevanz Videospiele für uns haben, wenn dir Relevanz so wichtig ist.«

Liam gibt ein Schnaufen von sich, als hielte er die Frage für eine Zumutung. »Du lebst wirklich in einem anderen Jahrhundert, oder?«

»Damien.« Joss’ Stimme wird drängender. Kurz fliegt mein Blick zu ihm. Mit genüsslichem Lächeln und Weinglas in der Hand hat er sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Bei Joss’ Ruf erhebt er sich jedoch widerwillig.

»Videospiele sind Entertainment«, erklärt Liam. »Gamer mögen mal in abgedunkelten Räumen gehockt haben, aber heutzutage ist Gaming schick und liegt voll im Trend. Jeder spielt. Überall. Das allein macht es relevant. Wer hingegen liest heute noch Shakespeare?«

Mein Zeigefinger schnellt empor. »Shakespeare wurde erst lange nach seinem Tod zum Literaten verklärt. Zu seiner Zeit war er das Entertainment für die Massen schlechthin. Und zwar auf der Bühne! Lesen konnten seinerzeit die wenigsten.«

Liam zuckt mit den Schultern. »Und heute hat man seine Bühne überall dabei – auf dem Smartphone. Nur auf dieser Bühne kann man direkt ins Geschehen eingreifen.«

»Das haben die Zuschauenden damals auch getan. Wenn die Leute fanden, die Schauspieler taugten im Schwertkampf nichts, sprangen sie auf die Bühne und mischten mit.«

»Echt?«

Ist das Blitzen in seinen Augen Interesse oder Spott? Ich bekomme keine Gelegenheit, es herauszufinden, weil Joss und Damien geräuschvoll die Hauptspeise servieren.

»Rückwärts gegartes Steak vom Galloway-Rind – auf den Punkt«, preist Damien seine Kreation an. »Ofenkartoffeln mit Sour Cream und karamellisierte Möhren.«

»So.« Mit Nachdruck stellt Joss ihren Teller vor sich ab und setzt sich wieder. »Themenwechsel. Erzähl uns von Charlotte und deinem Bruder, Liam.«

Liams Hand, die mit der Gabel auf dem Weg zum Mund war, verharrt mitten in der Luft.

»Ihr kennt euch schon seit der Highschool, nicht wahr? Und dann hat sie sich einfach so für deinen Bruder entschieden?«

Zögernd nickt Liam. »Vor einem Jahr etwa.«

Damien schnaubt abfällig. »Ich verstehe nicht, warum du sie nicht endlich in den Wind schießt.«

»Damien«, tadelt Joss. »Das nennt man Liebe.« Sie legt mir kurz den Arm um die Schultern. »Febe ist total einfühlsam, Liam. Sie ist die perfekte Alibi-Freundin.«

Peinlich berührt schüttele ich ihren Arm ab. Joss schafft es, dass ich mich wie das neue Designprodukt eines Start-ups fühle. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, gibt Damien einen abschätzenden Laut von sich.

»Um Charlotte eifersüchtig zu machen, wäre sexy deutlich besser als einfühlsam.«

»Eifersüchtig?« Sofort alarmiert lasse ich meine Gabel sinken.

Auch Joss blickt mit erhobenen Augenbrauen zwischen Liam und Damien hin und her. »Ich dachte, es geht um moralische Unterstützung.«

Damien verdreht die Augen. »Charlotte soll kapieren, dass Liam die bessere Partie ist und sie einen Fehler macht.«

Ungläubig ziehe ich die Augenbrauen hoch. Was soll diese Charlotte für eine Frau sein, wenn Liam davon ausgeht, dass sie ihn erst für seinen Bruder sitzen lässt, um es sich dann bei nächster Gelegenheit wieder anders zu überlegen?

Joss hingegen scheint die neue Sachlage rasch zu verarbeiten. »Febe ist total sexy.«

Ich stoße sie in die Seite. Dieses Abendessen befindet sich auf einer Steilfahrt in die Katastrophe.

»Sie weiß nicht, was für eine Braut Charlotte ist«, kommentiert Damien mit vollem Mund. In der darauffolgenden Stille gewinnen seine Worte unangenehm viel Gewicht. Liams Weinglas landete zu laut auf der Tischplatte.

Joss schnaubt aufgebracht und starrt Damien herausfordernd an. »Und was für eine Braut ist Charlotte?«

Ungerührt zuckt Damien mit den Schultern. »Eine glatte Zehn.« Als ihm Joss’ gefährlich verengte Augen auffallen, beugt er sich tiefer über seinen Teller. »Früher zumindest. Ich habe sie ja länger nicht gesehen.«

Obwohl Alkohol und mein Stoffwechsel keine gute Kombination sind, greife ich beherzt nach meinem Weinglas und leere es in wenigen Schlucken. Das war ja zu erwarten. Jemand mit einem ›Cover Magazine‹-Gesicht wie Liam würde sich nicht mit weniger als einer glatten Zehn zufriedengeben.

»Ich will ja nur sagen, dass Charlotte super aussieht. Und sie weiß es«, verteidigt sich Damien, der noch immer im Fadenkreuz von Joss’ Blick grillt. »Da muss man sich etwas mehr einfallen lassen als ein nettes Lächeln.«

Hitze steigt mir in die Wangen. Vielleicht ist der Wein schuld oder die Unverfrorenheit, mit der Damien zum Ausdruck bringt, was er von mir hält. Natürlich habe ich immer geahnt, wie er mich sieht: eine harmlose, leicht verschrobene, aber weitestgehend langweilige Leseratte, der er hin und wieder in seinem Wohnzimmer begegnet.

»Lass das mal Febes Sorge sein«, weist Joss ihn zurecht.

»Febe muss wissen, worauf sie sich einlässt. Liam gibt doch nicht so viel Geld aus und am Ende hat er gar nichts von der Sache.« Zustimmungsheischend sieht er Liam an. »Erklär du es ihnen.«

Liam fasst sein Besteck fester. Sein Blick streift mich. Dann wendet er sich mit einem Grinsen an Damien. »Wieso? Sie sieht doch voll in Ordnung aus.«

Damien beugt sich über seinen Teller. »Eine Zehn ist sie nicht.«

Ich habe eine verdammte Lust, ihm einen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Dazu müsste ich jedoch eine enorme Treffsicherheit diagonal unter dem Tisch unter Beweis stellen und die traue ich mir nicht zu. Joss übernimmt das augenblicklich für mich. Zumindest, wenn ich ihren empörten und Damiens schmerzverzerrten Gesichtsausdruck richtig deute. Trotzdem bin ich kurz davor, einfach aufzustehen und zu gehen. Damiens idiotische Attraktivitätsskala ist einfach nur demütigend. Ich presse die Lippen zusammen. Doch Liam muss noch einen draufsetzen: »Eine Acht schafft sie.« Jetzt grinst er in meine Richtung.

Damiens Feixen ist ein Schlag ins Gesicht. »Mag sein.«

»Alles klar.« Sorgsam lege ich meine Gabel auf den Teller, den ich nicht mal halb leer gegessen habe. »Ich denke, dieses Gespräch könnt ihr auch ohne mich fortsetzen.«

»Febe!«, ruft Joss erschrocken.

Doch ich wende mich mit nur scheinbar kühler Gelassenheit an Damien: »Da du so scharf auf Blumen warst, wirst du dich freuen, dass ich dir den Strauß hierlasse.«

»Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt«, versucht er, mich aufzuhalten. »Das war doch nur Spaß.«

»Mit zweien, die lachen, und einer, die sich einfach dumm vorkommt.« Mein Blick richtet sich auf Liam, dessen Miene eingefroren wirkt. Seine Augen schimmern in hellem Grün. »Nichts für ungut, aber hätte ich gewusst, dass es nur darum geht, ob mein BMI stimmt, meine Körbchengröße überzeugt und ich meinen Arsch in Szene zu setzen verstehe, hätten wir uns das hier sparen können.« Kurz klopfe ich auf die Tischplatte. »Einen schönen Abend noch.«

Und Abgang. Wow! Shakespeare wäre stolz auf mich gewesen. Ich bin bereits an der Tür, als Joss mich einholt. Sie findet mich auf einem Bein hüpfend, während ich versuche, in meine Stiefel zu gelangen.

»Febe, warte doch.« Ihre blauen Augen sind geweitet vor Bestürzung. »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in Damien gefahren ist.«

Mir tut es nicht weniger leid für Joss. Ich weiß, sie ist bereit, alles zu tun, damit es mir gut geht – auch wenn sie dabei manchmal übers Ziel hinausschießt. Ich erwidere ihre Umarmung. »Mach dir keine Sorgen. Ich muss mir nur nicht alles gefallen lassen.«

Ich werfe ihr ein beruhigendes Lächeln zu. Als ich die Tür öffne, wirbelt sie herum und stürmt zurück in die Küche.

»Damien, du hast dich wie ein Riesenarsch aufgeführt!«, höre ich sie schimpfen, ehe der dunkle Hausflur mich schluckt. Ich schlinge meinen Schal ein weiteres Mal um meinen Hals und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Die tiefe Traurigkeit, die mir kalt in den Knochen steckt und gegen die kein Schal der Welt ankommt, hat nichts mit dem zu tun, was Damien gesagt hat. Sondern damit, dass jetzt tatsächlich gar nichts mehr zwischen mir und meinem einsamen Weihnachten steht. Schließlich steige ich an der Haltestelle Park Town aus dem Bus und freue mich richtig darauf, von Hamlet begrüßt zu werden. Ich freue mich auf Nanas gemütliches Häuschen mit den geblümten Sofas, den Bücherregalen und den Fotos aus über achtzig Jahren Lebenszeit. Weihnachten werde ich mit Hamlet und der Erinnerung an Nana verbringen. Vielleicht kaufe ich sogar einen kleinen Weihnachtsbaum. Und ein Geschenk für Hamlet. Ans Alleinsein bin ich gewöhnt. Und jetzt geht es nur um ein paar Tage, in denen es noch stiller ist.

Kapitel 4

Eine Woche später beginnt der Dezember mit Dauerniesel und gelegentlichem Graupel, der schwer auf meinen bunten Regenschirm platscht. Und auf Hamlet. Beim Spazierengehen kommt er aus dem Schütteln kaum heraus. Ich vermute, wir gehen beide nur aus einem einzigen Grund vor die Tür: weil wir glauben, es sei gut für den anderen. Obwohl Joss und ich übereingekommen sind, das desaströse Essen mit Liam aus unserem Gedächtnis zu streichen, schlagen wir uns beide mit Schuldgefühlen herum: sie ihrer verrückten Idee wegen und ich, weil sie meinetwegen Ärger mit Damien hat.

Wie immer, wenn ich mich emotionalem Stress ausgesetzt fühle, flüchte ich mich in die Welt, in der ich mich am besten aufgehoben fühle: die Logik der Wissenschaft. Ich brenne für mein Studium. Als ich klein war, hat meine Mum mir Shakespeare-Geschichten statt Märchen erzählt. Es hat sie auf ihre erfolgreichste Idee als Künstlerin gebracht: eine illustrierte Kinderbuchreihe über die Shakespeare-Werke. Manchmal fühlt es sich an, als würde sie durch Shakespeare zu mir sprechen. Wahrscheinlich hat sie sich von ihm inspirieren lassen, als sie mich noch in den Arm nehmen und mir echte Ratschläge geben konnte. Sie hat das nicht so oft getan, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber manchmal ist es schön, mir einzureden, meine Mum sei für mich da gewesen. Ihr ist es leichtgefallen, nur das Schöne in der Welt zu sehen. Für mich ist das anders. Tatsachen bauen sich mit nachdrücklich in die Seiten gestemmten Armen mitten in meinem Blickfeld auf. Mir hilft nur, den Blick abzuwenden, wenn ich sie nicht sehen will. Und deshalb ist mein Studium die beste Ablenkung. Irgendwie auch die einzige.

Hamlet gebe ich morgens zur Nachbarin. Manchmal besucht er auch die Familie schräg gegenüber, die ihn schon früher oft auf Wochenendausflüge mitgenommen hat, weil die Kinder sich so sehr einen Hund wünschen. Für unseren großen Spaziergang bleibt uns nur der Abend. Dann stapfen wir in stiller Eintracht durch die Dunkelheit und feuchte Kälte. Immerhin sind die Weihnachtslichter zurück! Überall schwingen sich leuchtende Girlanden von Gebäude zu Gebäude. Weihnachtsbäume – von klassisch elegant bis kitschig grell – stehen an allen Ecken. Wenn ich das Hertford College verlasse, ziehen die süßen Düfte des Christmas Market in der Broad Street zu mir herüber: gebratene Mandeln und Waffeln, dazwischen das würzige Aroma der Authentic German Bratwurst. All das erfüllt mich mit Wehmut – einer verwirrenden Mischung aus Glück und Traurigkeit. Denn im Eindruck der Lichter und der Weihnachtslieder singenden Chöre in den Straßen schwingt die Tatsache mit, dass Nanas Häuschen in diesem Jahr noch keinen Lichterschmuck trägt. Ich bringe es nicht über mich, in ihren Sachen auf dem winzigen Dachboden zu kramen.

Ich schiebe den Gedanken von mir, als ich nach meinem Termin bei Professor Delaney an meinen Arbeitsplatz in der Bibliothek zurückkehre. Ich liebe die deckenhohen Bücherregale, das zwischen Buchdeckel gepresste Wissen, die konzentrierte Atmosphäre und meinen Lieblingsplatz vor einem der großen Halbrundfenster, auch wenn die alten Mauern und kahlen Büsche draußen zu dieser Jahreszeit eine ziemlich trostlose Stimmung verbreiten. Immerhin ist meine Kommilitonin Dina mittlerweile da und klappt gerade ihren Laptop neben meinem auf.

»Du bist ja doch da«, begrüßt sie mich mit gedämpfter Stimme. »Ich habe gerade überlegt, dir deinen Platz am Fenster streitig zu machen.«

Breit grinst sie mich an. Ihre rotblonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr fast bis zur Taille reicht. Die Sommersprossen auf der Nase und die schmale Lücke zwischen den Schneidezähnen geben ihr ein pippilangstrumpfhaftes Aussehen.

»Ich habe bei Professor Delaney mein Probekapitel abgegeben.« Ich dränge mich hinter ihr vorbei zu meinem Platz durch.

»Du hast jetzt schon dein Kapitel abgegeben?« Dina reißt dramatisch die Augen auf. »Manchmal hasse ich dich.«

»Laut Professor Delaney ist das nur Ausdruck davon, dass ich kein Leben habe.« Mit einem resignierten Seufzen lasse ich mich auf meinen Platz fallen.

Dina verbirgt ihr Gesicht in den Händen. »Das tröstet mich gar nicht.«

»Hilft das vielleicht?« Prüfend sehe ich mich um und ziehe dann eine Tüte meiner selbst gebackenen Kekse zwischen den zum Sichtschutz gestapelten Büchern auf meinem Tisch hervor. Als Dina das Knistern des Papiers hört, richtet sie sich kerzengerade auf.

»Du hast Kekse reingeschmuggelt? Oh ja.« Kaum hat sie sich den ersten Keks in den Mund gesteckt, schließt sie theatralisch die Augen. »Die sind himmlisch.« Noch kauend greift sie nach dem nächsten. »Trotzdem: Ich hab mein Kapitel erst halb fertig. Vor den Ferien muss ich noch zwei Präsentationen abschließen. Zach und ich haben noch nicht geklärt, wo wir Weihnachten feiern, weil uns beide Familien sehen wollen. Und meine Schwestern arbeiten täglich an meiner Selbstbeherrschung, damit ich mit ihnen zum Weihnachtsshopping nach London fahre.«

Ich muss grinsen. »Jetzt weißt du, warum ich mein Kapitel schon fertig habe. Mein Leben ist todlangweilig.«

»Sag bloß, du hast auch schon alle Weihnachtsgeschenke besorgt.« Dina starrt mich an, als plane sie, mich mit ihrem Laptop zu erschlagen, wenn ich Ja sage.

Ich hebe nur die Schultern. »Ich brauche nicht so viele.«

Dina verstummt, als spüre sie meine Traurigkeit, obwohl ich sie zu verbergen versuche. Es ist so ein Ding mit der Einsamkeit: Diejenigen, die in einem Meer sozialer Kontakte schwimmen, werden mir irgendwie fremd. Und unheimlich. Weil sie mir das Gefühl geben, im Gegensatz zu ihnen gar nicht richtig da zu sein, schwerelos irgendwie, durchsichtig – fast wie ein Geist. Einen Moment lang ist nur Dinas Kauen zu hören. Dann öffnet sie ihre pinkfarbene Trinkflasche mit weißen Punkten und nimmt einen Schluck Wasser.

»Wer solche Kekse backt, muss eigentlich auch nicht lange nach Weihnachtsgeschenken suchen«, meint sie mit einem Lächeln.

Ich komme nicht zum Antworten, weil ich unsere wunderbar liebenswerte, blonde Bibliothekarin entdecke, die zwar eine der nettesten Personen am College ist und bestimmt keine grundsätzliche Abneigung gegen Kekse hat, sie aber nun mal nicht in ihrer Bibliothek duldet. Hastig drückt Dina mir die Papiertüte wieder in die Hand und ich schiebe sie zurück zwischen die Bücher. Keine Sekunde zu früh. Mit einem erfreuten Lächeln kommt unsere Bibliothekarin direkt auf mich zu, beugt sich über den Sichtschutz zu meinem Tisch und flüstert: »Febe, am Ausgang wartet jemand, der dich sprechen möchte.«

»Mich?« Überrascht folge ich ihr über den knarrenden Boden, vorbei an den tippenden, lesenden und lernenden Studierenden die Treppe hinunter zum Ausgang.

»Er wartet draußen«, erklärt sie mir mit einem Lächeln, als ich sie fragend ansehe. »War sehr hartnäckig.«

Als ich die Tür öffne, spüre ich ein Sirren in meinen Nervenenden. Das Blitzen der silbrigen Schlieren in seinen grünen Augen trifft mich mitten ins Herz und lässt es schneller schlagen. Mehr als einen überraschten Laut, der vage an ein Hi erinnert, bringe ich nicht hervor.

»Ein Glück!«, erwidert Liam mit einem erleichterten Grinsen. »Du bist gar nicht leicht aufzuspüren.«

Entgeistert starre ich ihn an. Er trägt wieder die petrolfarbene Bikerjacke und dunkle Jeans. Auch wenn alles an ihm sportlich und lässig wirkt, schreien einem die Kleidungsstücke vom Wollschal bis zu den Lederboots quasi entgegen, dass sie Designstücke sind und wahrscheinlich mindestens so viel gekostet haben wie mein Skiurlaub. Schließlich kehrt mein Blick in sein Gesicht zurück. »Damien hat meine Telefonnummer. Warum hast du nicht einfach angerufen?«

Er hebt die Schultern. »Damien weiß nicht, dass ich hier bin.«

Fragend wandern meine Augenbrauen in die Höhe. Ehe ich jedoch noch etwas sagen kann, klappt Liam seine Umhängetasche auf und streckt mir eine riesige bunte Packung Pralinen entgegen. »Ich will mich bei dir entschuldigen.« Ungläubig starre ich ihn an. »Und ich hatte gehofft, dass du Schokolade lieber magst als Blumen und ich dich bestechen kann, damit du mir fünf Minuten zuhörst.«

Er wackelt mit der Pralinenschachtel vor meiner Nase herum und bringt mich wider Willen zum Lächeln.

»Na gut, warte kurz.« Um nicht vor dem Zugang zur Bibliothek im Weg zu stehen, nehme ich die Schokolade, suche mein Schließfach im Flur und tausche die Pralinen gegen meine Jacke.

»Na dann.« Ihm voran laufe ich die Treppe hinab und durch den schmalen Steingang in den Old Buildings Quad. Im Sommer liebe ich es hier. Die alten Mauern der Bibliothek, der Mensa mit ihrer Spiraltreppe und der Kapelle rund um die Rasenfläche strahlen dann so viel Erhabenheit und Ruhe aus. Zu dieser Jahreszeit aber ist es vor allem kalt, windig und nass. Fröstelnd drehe ich mich zu Liam um. »Die Zeit läuft.«

»Es tut mir leid, Febe.« Liam vergräbt die Hände in seinen Jackentaschen. »Dieser ganze Abend neulich war einfach nur peinlich. Dass Damien und ich dich auf diese Art bewertet haben, war völlig daneben. Ich wollte nicht, dass du dich wie eine …« Er stockt mitten im Satz.

»Dass ich mich wie eine Prostituierte beim ›Pretty Woman‹-Casting fühle?«, bemerke ich trocken.

»Nein!« Vehement schüttelt Liam den Kopf und klappt gegen das regnerische Wetter den Kragen seiner Jacke hoch. »Das wollte ich nicht sagen. Ich habe eher an Escort gedacht. Mein Gott, es wird nicht besser.« Er reibt sich mit den Händen übers Gesicht.

Ich muss grinsen. »Definitiv nicht.« Mehrfach schlinge ich mir meinen Schal um den Hals und verschränke die Arme.

»Na gut.« Liam atmet lang aus. »Was ich dir eigentlich sagen will: Ich habe erst gedacht, Joss’ Idee soll ein Witz sein, und ich weiß, das alles ist noch genauso verrückt wie vor einer Woche. Aber ich muss zugeben, dass du mir als Fake-Freundin wirklich helfen würdest.«

Entgeistert mustere ich ihn.

»Weißt du, seit Charlotte mit Nelson zusammen ist …« Wieder stockt er und winkt ab. »Ganz abgesehen von dem Scheißgefühl, von ihr eingetauscht worden zu sein, sind meine Verwandten das Schlimmste. Immer diese mitleidigen Blicke, das Händetätscheln, Schulterklopfen, die hoffnungsvolle Frage, ob ich denn jemanden kennengelernt habe oder wie die perfekte Frau für mich sein müsste. Immer diese Fragezeichen in den Gesichtern, wie ich es aufnehme, wenn Charlotte und Nelson vor meinen Augen rummachen. Alle starren mich an und warten auf meine Reaktion. Soll ich hinsehen und demonstrieren, es mache mir nichts aus? Oder besser weggucken und dann denken alle, ich ertrage den Anblick nicht?« Er schnaubt frustriert. »Glaub mir: Das ist schon für ein paar Stunden schwer auszuhalten – geschweige denn eine ganze Woche.«

Das kann ich mir gut vorstellen. Und sein Redeschwall wirkt so ehrlich, dass er mich irgendwie berührt.

»Also, falls du es dir noch mal überlegen würdest …« Liam spricht jetzt langsamer, beobachtet mich mit seinen hellen grünen Augen, als versuche er, meine Reaktion vorherzusehen. »Falls du es dir doch vorstellen könntest und falls du doch das Geld für den Skiurlaub brauchst …« Sein feines Lächeln lässt mir trotz der grausigen Kälte, die mir unter meinen Strickpullover kriecht, Hitze in die Wangen steigen. »Dann hätten wir einen Deal.«

Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich reagieren soll. Ich hatte das Thema schon abgehakt. Und jetzt ist die Option plötzlich wieder da?

Liams Blick ruht abwartend auf mir. Ich weiß, ich sollte ablehnen. Ich sollte mich nicht dafür hergeben. Vor allem nicht, nachdem Damien und Liam ihre dämliche Bewertungsskala-Nummer abgezogen haben. Auch wenn er sich dafür entschuldigt hat. Andererseits: Was habe ich zu verlieren? Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt, Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. Natürlich ist es verrückt, eine Woche lang eine fremde Familie zu belügen – für Geld. Aber ist die Aussicht schlimmer als Nanas einsames Häuschen?

»Febe? Denkst du zumindest darüber nach?«

»Ich mache es.«

Ich weiß nicht, wer verblüffter von meinen Worten ist. Liam braucht ein paar Sekunden.

»Echt?«

»Sieh mich bitte nicht so an, als sei ich übergeschnappt. Sonst nehme ich das sofort zurück.«

Endlich blitzen die silbrigen Schlieren in seinen Augen wieder auf. Ein zaghaftes Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus. »Also haben wir einen Deal?«

»Wir haben einen Deal.« Ich hebe einen drohenden Finger. »Solange du nicht von mir erwartest, dass ich zur optischen Konkurrenz für Charlotte werde.«

Zögernd hebt er die Schultern. »Ganz ehrlich gesagt fände ich es schon gut, wenn sie zumindest ins Grübeln käme. Nelson und sie haben mich total verarscht. Ich war überrumpelt und … verletzt und habe fast das ganze Jahr kaum mit den beiden geredet.« Er hebt die Schultern. »Und ich habe einfach nie versucht, ob ich noch eine Chance hätte.«

Misstrauisch hebe ich die Augenbrauen.

»Du musst gar nichts machen«, sagt er rasch. »Überlass es mir. Aber wenn du vorhast, diesen Pullover zu tragen, kannst du ihn ja vielleicht wenigstens ab und zu ausziehen, falls du mir helfen willst.«

Sein jungenhaftes Grinsen wirkt so unschuldig, dass ich ihm fast nicht böse sein kann. Selbstkritisch blicke ich an mir hinunter, bin aber eigentlich zufrieden mit mir. Mein wollweißer Strickpullover reicht bis zur Mitte meiner Oberschenkel und verhüllt erfolgreich meine Kurven. Dafür hat er ein schickes Zopfmuster und ist mein absolutes Lieblingsteil an kalten Wintertagen. Mit einem langsamen Augenaufschlag blicke ich zu Liam auf. »Du willst also wissen, was ich drunter trage?«

Seine Augenbrauen wandern in die Höhe.

»Ein langes Unterhemd«, flüstere ich ihm zu.

»Ich hatte gehofft, die Antwort sei Nichts«, flüstert er zurück.

Wieder verschränke ich die Arme vor der Brust. »Ich dachte, deine Grandma hat ein schwaches Herz.«

Liam winkt ab. »Sie tut nur so.«

Wir mustern einander – ich für meinen Teil irgendwo zwischen Skepsis und Euphorie über meinen Wagemut.

Schließlich nickt Liam mir zu. »Damit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet, aber dann haben wir wohl einen Deal.«

»Du hast dir also nicht überlegt, wie wir das alles durchziehen?« Nervosität sitzt mir plötzlich im Nacken.

Er runzelt die Stirn. »Was meinst du?«

»Wir brauchen eine Geschichte, oder? Sie werden dich fragen, wo wir uns kennengelernt haben, ob ich lieber Rot- oder Weißwein trinke und welches Essen ich mag.«

»Du hast recht.« Ein silbriges Schimmern überzieht seinen Blick, als verliere er sich in einem Gedanken. »Ich überlege mir was.« Er lässt sich meine Telefonnummer geben und verspricht, sich bei mir zu melden.

Kurz blicke ich ihm nach, als er sich verabschiedet. Gegen die Kälte hat er die Hände in seinen Jackentaschen vergraben. Was habe ich bloß getan? In den beiden Beziehungen, die lange genug dauerten, dass ich sie als solche klassifizieren würde, spielte jeweils ein schmalbrüstiger Typ mit Sinn für Poesie und jeder Menge intellektuellem Tiefgang die Hauptrolle. Wie soll ich bitte so tun, als könnte ich die Freundin von Liam sein? Der Gedanke hat mich noch nicht losgelassen, als ich in die Bibliothek zurückkehre.

»Sag noch mal, dein Leben sei langweilig.« Dina hält mir den letzten Keks hin und deutet auf das große Fenster zum Innenhof. »Ich habe euch gesehen.«

Es fühlt sich viel zu gut an, als ich nach dem Plätzchen greife und mich vor meinen Laptop setze, auf dem sich der nachtschwarze Collegekater zusammengerollt hat. Er sieht entspannt aus, aber seine halb ausgefahrenen Krallen warnen mich vor jeglichem Versuch, ihn zu vertreiben.

»Also? Wer ist der Typ?«, will Dina wissen.

Ich werfe ihr ein Lächeln zu. »Mein Weihnachtsdate.«

Kapitel 5

»Du machst was?!« Joss’ Stimme dringt so laut aus meinem Telefon, dass ich es sofort weiter vom Ohr weghalte.

»Liam und ich fahren zum Weihnachtsshopping nach London«, wiederhole ich mit hochgezogenen Schultern. Ich stehe an der Straße vor Nanas Haus – links mein Koffer, rechts Hamlet. Unverwandt starrt er zu mir hoch – in seinen hellbraunen Augen die Frage, ob wir bitte wieder reingehen können.

»So wie du das sagst, klingt es, als wärt ihr schon seit Monaten ein Paar.« Und so wie Joss das sagt, klingt es, als sei das schlecht.

»Das soll es ja auch. Wir haben schließlich nur einen Tag Zeit zu üben, uns auch so zu verhalten.« Mit einer Mischung aus Ungeduld und Panik blicke ich die Straße hinunter. Es ist der 23. Dezember um kurz nach neun Uhr morgens und ich stehe unter einem hellgrauen Himmel, der nach Schnee aussieht, aber sicher doch nur wieder Regen bringen wird. Ich atme Frostwolken aus, von deren Anblick mir noch kälter wird. Eigentlich habe ich Joss angerufen, damit sie mir Mut macht, doch auf sie ist gerade kein Verlass. Sie sagt es zwar nicht, aber ich glaube, sie hat noch immer Ärger mit Damien.

»Wozu? Liam hat doch diese App für euch geschrieben.«

»Selbst Liam musste zugeben, dass so eine App noch lange kein Paar aus uns macht.«

»Dann hast du ihn dazu überredet?« Joss klingt ungläubig. Ich vergrabe meine Hand mit Hamlets Leine in meiner Jackentasche.

»Warum so skeptisch? Das war doch ursprünglich deine Idee.«

Joss seufzt tief. »Sei mir nicht böse. Ich bin nur nervös, weil ich schuld bin, wenn es schiefläuft. Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn ich dich raushauen soll.«

»Ich bin erwachsen, Jo.« Fröstelnd kehre ich einer kalten Windböe den Rücken zu.

»Damien sagt, Liam würde alles tun, um Charlotte zurückzugewinnen. Vergiss das einfach nicht, in Ordnung? Auch dann nicht, wenn du in einem Zimmer mit ihm übernachtest und dir auffällt, wie verdammt heiß er ist.«

»Was?« Wofür hält Joss mich? Das Auto, das direkt neben mir am Bordstein hält, verhindert jede Überlegung, mich doch im Haus zu verbarrikadieren und alles abzusagen. »Er ist da.«

»Halt mich auf dem Laufenden, Febe«, verlangt Joss. »Lass uns telefonieren.«

»Hi.« Die Fahrertür hat sich geöffnet. Liam lächelt mir über das Dach seines Autos hinweg zu. »Bist du so weit?«

Dummes Herz! Warum schlägt es viel zu schnell und treibt mir warm das Blut bis in die Fingerspitzen?

»Ist gut, ich melde mich«, versichere ich Joss, ehe ich das Telefon in meine Tasche gleiten lasse. Ob ich so weit bin? Ich hoffe, das ist eine rhetorische Frage.

»Was ist das?« Liams Gesicht hat einen entgeisterten Ausdruck angenommen. Ich folge seinem Blick und stelle fest, dass sich seine Augen auf Hamlet geheftet haben.

»Er heißt Hamlet.«

Liam kommt zu uns auf den Bürgersteig. Hamlet steht auf und streckt ihm freundlich wedelnd die Nase entgegen. Liam ignoriert ihn. »Was macht er hier? Du wolltest ihn doch in eine Hundepension bringen.«

Hilflos hebe ich die Schultern. »So kurzfristig habe ich keinen Platz für ihn bekommen. Die meinten, sie seien seit Monaten über die Feiertage ausgebucht.«

Liam verschränkt die Arme vor der Brust. Sein missbilligender Blick beeindruckt Hamlet kein bisschen. Er wedelt freundlich weiter.