Love to share – Liebe ist die halbe Miete - Beth O'Leary - E-Book
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Love to share – Liebe ist die halbe Miete E-Book

Beth O'Leary

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Beschreibung

Not macht erfinderisch: Tiffy braucht eine günstige Bleibe, Leon braucht dringend Geld. Warum also nicht ein Zimmer teilen, auch wenn sie einander noch nie begegnet sind? Eigentlich überhaupt kein Problem, denn Tiffy arbeitet tagsüber, Leon nachts. Die Uhrzeiten sind festgelegt, die Absprachen eindeutig. Doch das Leben hält sich nicht an Regeln ...

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Der Roman

Not macht erfinderisch: Tiffy braucht eine günstige Bleibe, Leon braucht Geld. Warum nicht ein Zimmer teilen, auch wenn sie einander noch nie begegnet sind? Eigentlich kein Problem, denn Tiffy arbeitet tagsüber, Leon nachts. Die Uhrzeiten sind festgelegt, die Regeln eindeutig. Doch viele in der Küche hinterlassene Post-its später wird klar: Liebe hält sich nicht an Regeln …

»Die neue Jojo Moyes.« Cosmopolitan

Die Autorin

Beth O’Leary studierte Englische Literatur und arbeitete in einem Kinderbuchverlag. Auf der täglichen Zugfahrt zum Verlag nach London schrieb sie ihren ersten Roman Love to share, der international Begeisterung auslöste und in über 35 Ländern erscheint. Heute ist Beth freie Autorin, und wenn sie nicht an ihrem Schreibtisch sitzt, macht sie es sich gerade irgendwo mit einem Buch, einer Tasse Tee und mit mehreren Wollpullovern (bei jedem Wetter) gemütlich.

Beth O’Leary

LOVETO SHARE

Liebe ist die halbe Miete

Roman

Aus dem Englischen

von Pauline Kurbasik und Babette Schröder

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2019

Copyright © 2019 by Beth O’Leary

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

The Flatsharebei Quercus, London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO GbR, München

Umschlagmotiv: © Sarah Wilkins

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-23569-7V003

www.diana-verlag.de

Für Sam

FEBRUAR

1

TIFFY

Einen Vorteil hat es ja schon, wenn man verzweifelt ist: Man wird viel offener.

Diese Wohnung hat ihre guten Seiten. Den farbenprächtigen Schimmel an der Küchenwand kann man abschrubben, zumindest kurzfristig. Die ranzige Matratze kann man recht günstig austauschen. Und die Pilze, die hinter dem Klo wuchern, verleihen der Wohnung zweifellos einen Touch von Frische und Natur.

Aber Gerty und Mo sind nicht verzweifelt und versuchen nicht, die guten Seiten zu sehen. Ich würde ihren Gesichtsausdruck als »entsetzt« beschreiben.

»Hier kannst du nicht wohnen«, sagt Gerty.

Sie hat ihre hohen Schuhe zusammen- und die Ellbogen an den Körper gepresst, als würde sie so wenig Raum wie möglich einnehmen wollen, um gegen ihre Anwesenheit hier zu protestieren. Das Haar hat sie zu einem niedrigen Dutt gebunden und schon festgesteckt, damit sie die Anwaltsperücke, die sie bei Gericht trägt, einfach aufsetzen kann. Ihr Gesichtsausdruck wäre wohl lustig, wenn es nicht tatsächlich mein Leben wäre, worüber wir hier sprechen.

»Es muss doch noch was anderes geben, das du dir leisten kannst, Tiff«, sagt Mo besorgt und richtet sich auf, nachdem er den Boiler inspiziert hat. Er sieht noch zerzauster aus als sonst, da nun auch noch Spinnweben in seinem Bart hängen. »Die hier ist noch schlimmer als die von gestern Abend.«

Ich sehe mich nach dem Immobilienmakler um, er ist glücklicherweise außer Hörweite und raucht eine auf dem »Balkon« (dem durchhängenden Dach der Nachbarsgarage, auf dem man garantiert nicht stehen sollte).

»Ich schau mir nicht noch so ein Drecksloch an«, erklärt Gerty und blickt auf die Uhr. Es ist acht Uhr früh – sie muss um neun am Southwark Crown Court sein. »Es muss noch eine andere Möglichkeit geben.«

»Wir können sie doch wirklich problemlos bei uns unterbringen«, schlägt Mo etwa zum fünften Mal seit Samstag vor.

»Echt jetzt, Mo, hör bitte mal auf«, fordert Gerty. »Das ist keine langfristige Lösung. Und sie müsste im Stehen schlafen, um irgendwo reinzupassen.« Sie schaut mich genervt an. »Musstest du so groß werden? Sonst hätten wir dich unterm Esstisch verstauen können, also wenn du kleiner als 1,75 Meter wärst.«

Ich blicke entschuldigend, aber ich würde lieber hier wohnen als auf dem Boden der winzigen, unverschämt teuren Wohnung zu schlafen, die Mo und Gerty letzten Monat gemeinsam gekauft haben. Sie haben davor noch nie zusammengewohnt, noch nicht mal als Studenten. Ich mache mir Sorgen, dass ihre Freundschaft das nicht überleben könnte. Mo ist chaotisch und verpeilt, hat diese unheimliche Gabe, enorm viel Raum einzunehmen, obwohl er recht klein ist. Gerty hingegen hat die letzten drei Jahre in einer übernatürlich sauberen Wohnung gelebt, derart perfekt, dass sie wie computergeneriert aussah. Ich weiß nicht, wie sich diese beiden Lebensstile vertragen, ohne dass West-London implodiert.

Das Hauptproblem aber ist: Wenn ich bei jemandem auf dem Boden penne, kann ich genauso gut zu Justin zurückgehen. Und am Donnerstag habe ich um elf Uhr abends offiziell beschlossen, dass ich mir diese Option nicht länger offenhalten darf. Ich muss vorankommen und irgendwo verbindlich zusagen, damit ich keinen Rückzieher mehr machen kann.

Mo reibt sich die Stirn und lässt sich auf das schmuddelige Ledersofa fallen. »Tiff, ich könnte dir ein bisschen Geld …«

»Ich will nicht, dass du mir Geld leihst«, sage ich gereizter als beabsichtigt. »Guck mal, ich will das echt diese Woche erledigen. Ich nehme entweder diese Wohnung oder die Wohngemeinschaft.«

»Die Bettgemeinschaft, meinst du«, murmelt Gerty. »Gestattest du die Frage, warum das plötzlich so dringend ist? Also nicht, dass ich das nicht grandios finden würde. Aber beim letzten Mal, als ich das Thema angeschnitten habe, hast du bockig in dieser Wohnung verharrt und darauf gewartet, dass Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf vorbeikommt.«

Ich zucke überrascht zusammen. Nicht wegen des Untertons – Mo und Gerty konnten Justin nie leiden und wissen, dass ich äußerst ungern noch immer in seiner Wohnung lebe, obwohl er kaum dort ist. Es ist einfach ungewöhnlich, dass Gerty ihn unmittelbar erwähnt. Nachdem das letzte Abendessen zu viert, bei dem ich alle wieder miteinander versöhnen wollte, mit einem wütenden Streit geendet hatte, habe ich es aufgegeben, darauf zu hoffen, dass sie miteinander auskommen, und Gerty und Mo einfach gar nichts mehr von ihm erzählt. Alte Gewohnheiten lassen sich schwer ablegen – selbst nach der Trennung haben wir es vermieden, direkt über ihn zu sprechen.

»Warum muss es denn so billig sein?«, spricht Gerty weiter und ignoriert Mos warnenden Blick. »Ich weiß, dass du mies bezahlt wirst, aber echt, Tiffy, vierhundert pro Monat ist in London einfach nicht drin. Hast du das schon einmal vernünftig durchdacht?«

Ich schlucke. Ich spüre, wie Mo mich mustert. So ist das, wenn man mit einem Therapeuten befreundet ist: Mo ist so was wie ein anerkannter Gedankenleser, und er schaltet seine Superkräfte wohl nie aus. »Tiff?«, fragt er sanft.

Ach verdammt. Ich muss es ihnen einfach zeigen. Da führt kein Weg dran vorbei, Augen zu und durch, als würde man ein Pflaster abziehen oder in kaltes Wasser springen oder meiner Mutter erklären, ich hätte eine edle Vase von der Wohnzimmerkommode zerdeppert.

Ich nehme mein Handy und rufe die Facebook-Nachricht auf:

Tiffy,

ich bin über dein Verhalten gestern Abend echt enttäuscht. Du hast völlig unangemessen reagiert. Es ist meine Wohnung, Tiffy – ich kann wann ich will und mit wem ich will vorbeikommen.

Ich hatte auf mehr Dankbarkeit gehofft, dafür, dass ich dich bleiben lasse. Ich weiß, dass unsere Trennung schwer für dich war – ich weiß, dass du nicht bereit bist, zu gehen. Wenn du aber denkst, du kannst nun »einige Regeln festlegen«, dann solltest du mir auch die Miete für drei Monate überweisen. Und von nun an musst du auch deinen kompletten Anteil übernehmen. Patricia sagt, du nutzt mich aus, wohnst fast umsonst in meiner Wohnung, und obwohl ich mich bei ihr immer für dich eingesetzt habe, muss ich nach deinem Auftritt gestern doch zugeben, dass sie recht haben könnte.

Justin xx

Mir krampft sich der Magen zusammen, als ich diese Zeile noch einmal lese, du nutzt mich aus, weil ich das nie tun wollte. Ich wusste einfach nicht, dass er mich dieses Mal endgültig verlassen würde.

Mo hat die Nachricht als Erster gelesen. »Er ist am Donnerstag wieder vorbeigekommen? Mit Patricia?«

Ich schaue weg. »Er hat schon recht. Es war nett von ihm, dass er mich so lange hat bleiben lassen.«

»Witzig«, sagt Gerty sarkastisch, »ich hatte immer den deutlichen Eindruck, dass es ihm gefällt.«

Bei ihr hört es sich seltsam an, aber ich habe einen ähnlichen Eindruck. Wenn ich noch bei Justin wohne, dann ist es nicht offiziell vorbei. Ich meine, die ganzen anderen Male ist er doch schließlich auch immer zurückgekommen. Doch dann habe ich am Donnerstag Patricia getroffen. Die wahrhaftige, extrem attraktive, in der Tat ziemlich liebenswerte Frau, für die Justin mich verlassen hat. Zuvor hatte es nie eine andere Frau gegeben.

Mo greift nach meiner Hand; Gerty nimmt die andere. Wir bleiben so sitzen, ignorieren den Immobilienmakler, der vor dem Fenster raucht, und ich genehmige mir auf jeder Wange eine dicke Träne.

»Wie dem auch sei«, sage ich fröhlich und ziehe meine Hand weg, um mir über die Augen zu wischen. »Ich muss ausziehen. Jetzt. Selbst wenn ich bleiben wollte, könnte ich mir die Miete nicht leisten. Ich schulde Justin einen Haufen Geld, das ich mir wirklich nicht von jemandem leihen will, ich bin es leid, dass ich nicht selbst für meine Dinge zahle, und – um ehrlich zu sein – ja. Entweder diese Wohnung oder die WG.«

Mo und Gerty wechseln einen Blick. Gerty schließt mit schmerzerfüllter Resignation die Augen.

»Also, hier kannst du ganz sicher nicht wohnen.« Sie öffnet die Augen und streckt mir eine Hand entgegen. »Zeig mir noch mal die Anzeige.«

Ich reiche ihr mein Telefon und wechsele von Justins Nachricht zu der Anzeige für die Wohngemeinschaft im Internet.

Helle 1,5-Zimmer-Wohnung in Stockwell mit nur einem Bett, Miete beträgt 350 Pfund pro Monat inklusive Nebenkosten. Ab sofort verfügbar für mindestens sechs Monate.

Wohnung (Schlafzimmer, Wohnküche, Bad) werden mit mir, siebenundzwanzig, geteilt. Arbeite nachts auf Palliativstation und bin am Wochenende weg. Bin nur von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends zu Hause, von Montag bis Freitag. In der restlichen Zeit gehört die Wohnung dir. Perfekt für jemanden mit Nine-to-five-Job.

Für Besichtigung bitte L. Twomey kontaktieren – Kontaktdaten siehe unten.

»Du teilst dir nicht nur eine Wohnung, Tiff, du teilst dir auch ein Bett. Sich ein Bett zu teilen ist seltsam«, sagt Mo besorgt.

»Was ist, wenn L. Twomey ein Mann ist?«, fragt Gerty.

Darauf bin ich vorbereitet. »Das macht nichts«, sage ich ruhig. »Wir sind ja nicht zur selben Zeit im Bett, noch nicht einmal in der Wohnung.«

Das ähnelt auf unangenehme Weise dem, was ich gesagt habe, als ich mich letzten Monat dafür rechtfertigte, in Justins Wohnung zu bleiben, aber sei’s drum.

»Du würdest mit ihm schlafen, Tiffany!«, sagt Gerty. »Alle wissen, dass die wichtigste WG-Regel lautet: ›Niemals mit dem Mitbewohner schlafen‹.«

»Ich glaube, dass hier nicht diese Art von Arrangement gemeint ist«, sage ich ironisch. »Siehst du, Gerty, manchmal, wenn Leute sagen, dass sie ›das Bett teilen‹, meinen sie in Wahrheit …«

Gerty schaut mich lange und ruhig an. »Ja, danke, Tiffany.«

Mos Gekicher hört abrupt auf, als Gerty ihn anstarrt. »Ich würde sagen, die wichtigste WG-Regel lautet: ›Man sollte vor dem Einzug sicherstellen, dass man mit dem Mitbewohner gut auskommt‹«, sagt er und blickt verschmitzt wieder zu mir. »Besonders unter diesen Umständen.«

»Selbstverständlich werde ich L. Twomey zuerst kennenlernen. Wenn wir uns nicht verstehen, nehme ich die Wohnung nicht.«

Kurz darauf nickt Mo mir zu und drückt meine Schulter. Wir alle driften in die Art von Stille, die eintritt, nachdem man über etwas Schwieriges gesprochen hat – halb ist man dankbar, dass es vorbei ist, halb erleichtert, dass man es überhaupt geschafft hat.

»Gut«, sagt Gerty. »Gut. Tu, was du tun musst. Es muss besser sein, als hier in diesem Elend zu leben.« Sie marschiert aus der Wohnung, dreht sich im letzten Moment um und sagt laut zum Immobilienmakler, der gerade vom Balkon kommt: »Und Sie, Sie sind ein Fluch für die Menschheit.«

Er blinzelt, als sie die Wohnungstür zuschlägt. Dann folgt eine lange, unangenehme Pause.

Er drückt seine Zigarette aus. »Haben Sie nun Interesse?«, fragt er mich.

Ich gehe früh zur Arbeit und lasse mich in meinen Stuhl fallen. Mein Schreibtisch ist im Augenblick das, was einem Zuhause am nächsten kommt. Er steht voll mit halb fertigen Basteleien, die zu schwer für einen Transport mit dem Bus sind, und Topfpflanzen, die ich so hingestellt habe, dass ich Menschen kommen sehe, bevor sie erkennen können, ob ich am Platz sitze. Meine Wand aus Topfpflanzen wird von den anderen Nachwuchskräften als inspirierendes Beispiel für Innenarchitektur betrachtet. (In Wirklichkeit geht es nur darum, Pflanzen in derselben Farbe wie das eigene Haar auszuwählen – rot, in meinem Fall – und sich zu ducken/wegzurennen, wenn man jemanden sieht, der sich zielstrebig auf einen zubewegt.)

Mein erster Tagesordnungspunkt ist ein Treffen mit Katherin, einer meiner Lieblingsautorinnen. Katherin schreibt Bücher über das Stricken und Häkeln. Sie werden von einem Nischenpublikum gekauft, aber das ist typisch für Butterfinger Press – wir lieben Nischenpublikum. Wir sind auf Bastel- und DIY-Bücher spezialisiert. Selbst gebatikte Bettwäsche, selbst gestaltete Kleider, häkele dir einen Lampenschirm, stelle sämtliche Möbel aus Leitern her … So was eben.

Ich arbeite ausgesprochen gerne hier. Das ist die einzige Erklärung für die Tatsache, dass ich schon seit dreieinhalb Jahren Juniorlektorin bin, weniger verdiene, als man in London zum Leben braucht, und noch nicht versucht habe, das zu ändern, indem ich mich etwa für eine Stelle bei einem Verlag bewerbe, der tatsächlich Gewinn macht. Gerty sagt mir gern, dass ich zu wenig Ehrgeiz habe, aber daran liegt es nicht. Diese Dinge gefallen mir einfach. Als Kind habe ich meine Tage mit Lesen verbracht oder an meinen Spielsachen herumgebastelt, bis sie mir besser gefielen: Barbie die Spitzen gefärbt, meinen Laster von JCB aufgemotzt. Und nun lese und bastele ich beruflich.

Also zumindest auf dem Papier, über die Runden komme ich nicht. Ich bekomme nur wenig Geld. Ungefähr genug, um Steuern zu zahlen.

»Ich sag’s dir, Tiffy, Häkeln ist total angesagt, Ausmalbücher waren gestern«, meint Katherin, sobald sie sich in unseren besten Meetingraum gesetzt und mir von den Plänen für ihr nächstes Buch erzählt hat. Ich betrachte eingehend den Finger, mit dem sie vor mir herumfuchtelt. Sie trägt etwa fünfzig Ringe an jeder Hand, aber ich muss noch herausfinden, ob darunter Ehe- oder Verlobungsringe sind (ich denke, falls Katherin so etwas hat, würde sie eher mehrere als nur einen tragen).

Katherin ist gerade noch angenehm exzentrisch: Sie hat einen strohblonden Zopf und Haut, die irgendwie gut altert, hat unendliche viele Geschichten auf Lager, wie sie in den 1960er-Jahren irgendwo eingebrochen ist und auf Dinge gepinkelt hat. Sie war einmal eine echte Rebellin. Sie weigert sich bis heute, einen BH zu tragen, obwohl BHs inzwischen ziemlich gemütlich sind, und die meisten Frauen es aufgegeben haben zu kämpfen, weil Beyoncé das für uns erledigt.

»Das wäre gut«, sage ich. »Vielleicht könnten wir einen Slogan mit dem Wort ›Achtsamkeit‹ unterbringen. Man ist beim Häkeln doch achtsam, oder?«

Katherin lacht mit zurückgelegtem Kopf. »Ah, Tiffy. Dein Job ist echt unglaublich.« Liebevoll tätschelt sie mir die Hand, dann greift sie nach ihrer Tasche. »Wenn du diesen Jungen namens Martin siehst«, sagt sie, »richtest du ihm aus, dass ich diesen Tagesworkshop auf dem Schiff nur mache, wenn ich eine glamouröse junge Assistentin bekomme.«

Ich seufze. Ich weiß, wohin das führt. Katherin schleppt mich gern zu diesen Auftritten mit – für jeden Workshop braucht sie ein lebendes Modell, um zu zeigen, wie man Maß nimmt, wenn man ein Outfit entwirft, und ich habe einmal den fatalen Fehler begangen, mich für die Aufgabe anzubieten, als sie sonst niemanden finden konnte. Nun bin ich das Mittel ihrer Wahl. In der PR wollen sie dermaßen dringend solche Aktionen mit Katherin durchführen, dass sie inzwischen auch mich anbetteln.

»Das ist mir zu viel, Katherin. Ich mach keine Schifffahrt mit dir.«

»Aber es ist umsonst. Andere Menschen zahlen viel Geld dafür, Tiffy!«

»Du fährst mit ihnen nur um die Isle of Wight«, erinnerte ich sie. Martin hatte mich bereits darüber informiert. »Und es findet an einem Wochenende statt. Ich arbeite nicht an Wochenenden.«

»Das ist keine Arbeit«, beharrt Katherin, sammelt ihre Notizen ein und packt sie völlig willkürlich in ihre Handtasche. »Es ist ein wunderbarer Segelausflug an einem Samstag mit einer Freundin.« Sie macht eine Pause. »Mit mir«, erläutert sie. »Wir sind doch Freundinnen, oder?«

»Ich bin deine Lektorin«, sage ich und bugsiere sie aus dem Meetingraum.

»Denk drüber nach, Tiffy!«, ruft sie unbeirrt über die Schulter. Sie erblickt Martin, der vom Drucker geradewegs auf sie zugeht. »Ich mache es nur, wenn sie mitkommt, mein lieber Martin! Also musst du mit ihr reden!«

Und dann ist sie verschwunden, eilt durch die schmutzigen Milchglastüren unseres Büros.

Martin wendet sich an mich. »Schöne Schuhe«, sagt er mit einem charmanten Lächeln. Ich erbebe. Ich kann Martin aus der PR nicht leiden. Er sagt in Meetings Sachen wie: »Go for it!« und kommandiert Ruby herum, unsere Marketingmanagerin, die Martin aber für seine persönliche Assistentin hält. Er ist erst dreiundzwanzig, hat aber entschieden, dass es seiner erbarmungslosen Jagd nach einer höheren Stelle zuträglich sei, wenn er älter wirke, deswegen spricht er immer in diesem furchtbaren, gewollt witzigen Tonfall und versucht, mit dem Geschäftsführer über Golf zu reden.

Die Schuhe sind aber wirklich grandios. Es sind lilafarbene Stiefel, ähnlich wie Doc Martens, auf die weiße Lilien gemalt sind, und das hat mich fast den ganzen Samstag beschäftigt. Seitdem Justin mich verlassen hat, bastele ich viel mehr und individualisiere meine Kleidung. »Danke, Martin«, sage ich und will wieder zurück zu meinem sicheren Schreibtisch schleichen.

»Leela hat erzählt, dass du eine Wohnung suchst«, sagt Martin.

Ich zögere. Ich weiß nicht, wohin das führt. Ich denke, in keine gute Richtung.

»Ich und Hana« – eine Frau aus der Marketingabteilung, die meinen Stil immer spöttisch belächelt – »haben ein Zimmer frei. Vielleicht hast du es auf Facebook gesehen, aber ich dachte, ich sollte es dir sagen, weißt du, in real life. Dort steht nur ein Einzelbett, aber ich denke, das ist gerade kein Problem für dich. Weil wir Freunde sind, dachten Hana und ich, wir könnten es dir für fünfhundert Pfund im Monat geben, plus Nebenkosten.«

»Das ist total lieb von dir!«, sage ich. »Aber ich habe gerade etwas anderes gefunden.« Also irgendwie zumindest. Fast. O Gott, falls L. Twomey mich nicht nimmt, werde ich dann bei Martin und Hana wohnen müssen? Ich meine, ich verbringe bei der Arbeit schon den ganzen Tag mit ihnen, das reicht mir. Ich weiß nicht, ob ich meinen (nicht sonderlich festen) Entschluss, Justins Wohnung zu verlassen, beim Gedanken an Martin durchziehe, der mir wegen der Miete hinterherläuft, und Hana, die mich jeden Morgen in meinem mit Porridge bekleckerten Adventure-Time-Pyjama sieht.

»Ach so, okay. Dann suchen wir jemand anderen.« Plötzlich liegt ein listiger Ausdruck auf Martins Gesicht. Er hat Schuldgefühle gewittert. »Du könntest es wieder gutmachen, indem du mit Katherin auf diese …«

»Nein.«

Er seufzt übertrieben laut. »Gott, Tiffy. Es handelt sich um einen kostenlosen Bootsausflug! Machst du das nicht sowieso ständig?«

Früher habe ich das ständig gemacht, als mein wunderbarer und inzwischen Exfreund mich mitnahm. Wir sind von einer karibischen Insel zur nächsten gefahren, im sonnigen Dunst einer romantischen Glückseligkeit. Wir entdeckten europäische Städte und waren dann wieder aufs Boot geeilt, um in unserer winzigen Schlafkoje unglaublichen Sex zu haben. Wir haben uns am All-you-can-eat-Buffet die Bäuche vollgeschlagen und uns dann aufs Deck begeben und die über uns kreisenden Möwen beobachtet, während wir faul dalagen und über unsere zukünftigen Kinder sprachen.

»Nein, nicht mehr«, sage ich und nehme mein Smartphone. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss telefonieren.«

2

LEON

Mein Handy klingelt. Gerade schreibt Doktor Patel Medizin für Holly auf (kleines Mädchen mit Leukämie). Schlechter Moment. Sehr schlechter Moment. Doktor Patel mag nicht gestört werden und zeigt das auch. Hat wohl vergessen, dass ich als Nachtpfleger auch morgens um acht Uhr hätte heimgehen können. Und trotzdem noch hier bin, um mich um todkranke Menschen und miesepetrige Ärzte wie Doktor Patel zu kümmern.

Drücke den Anruf weg, logisch. Nachher werde ich die Mailbox abhören und einen Klingelton einstellen, der nicht so peinlich ist (dieser heißt »Jive« und ist viel zu flippig für ein Hospiz. Funkmusik hat auch an einem Ort mit kranken Menschen ihre Berechtigung, aber sie passt einfach nicht immer).

Holly: »Warum bist du nicht rangegangen? Ist das nicht unhöflich? Was, wenn das jetzt deine Freundin mit den kurzen Haaren war?«

Dr. Patel: »Unhöflich ist es, sein Smartphone während der Visite nicht auf lautlos zu stellen. Obwohl mich wundert, dass überhaupt jemand versucht, ihn um diese Uhrzeit anzurufen.«

Ein Blick zu mir, halb gereizt, halb amüsiert.

Dr. Patel: »Vielleicht hast du schon bemerkt, dass Leon nicht sehr gesprächig ist, Holly.«

Sie beugt sich verschwörerisch zu ihr.

Dr. Patel: »Einer der Assistenzärzte hat eine Theorie aufgestellt. Er meint, dass Leon nur über eine begrenzte Zahl an Wörtern für jede Schicht verfügt. Um diese Uhrzeit sind alle aufgebraucht.«

Würdige diesen Spruch nicht mit einer Antwort.

Apropos nette Freundin mit kurzen Haaren: Kay weiß noch nichts von der Sache mit dem Zimmer. Ich hatte noch keine Zeit. Und ich gehe dem unvermeidlichen Streit aus dem Weg. Aber nachher muss ich es ihr unbedingt sagen.

Die Nacht war gut. Mr. Priors Schmerzen hatten so weit nachgelassen, dass er mir von dem Mann erzählen konnte, in den er sich im Schützengraben verliebt hat: einen dunkelhaarigen Charmeur namens Johnny White. Mit dem markanten Kinn eines Hollywoodstars und einem Funkeln in den Augen. Sie verlebten einen aufregenden, romantischen Kriegssommer, dann wurden sie getrennt. Johnny White kam mit einem Granatentrauma ins Krankenhaus. Sie sahen sich nie wieder. Mr. Prior hätte eine Menge Ärger kriegen können (Homosexualität und Militär gleich Ärger).

Ich war müde (der Kaffeekick ließ nach), blieb aber nach der Übergabe noch bei Mr. Prior: Der Mann bekommt nie Besuch und redet gern, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt. Hab’s nicht geschafft, ohne einen Schal davonzukommen (mein vierzehnter von Mr. Prior). Kann nicht immer ablehnen, und bei Mr. Priors Stricktempo fragt man sich nach dem Sinn der industriellen Revolution. Bin ziemlich sicher, dass er schneller strickt als eine Maschine.

Esse todesmutig aufgewärmte Hähnchenpfanne und sehe dabei die letzte Folge von Masterchef. Dann höre ich die Mailbox ab.

Mailbox: »Hallo, ist da L. Twomey? Oh, Mist, du kannst ja nicht antworten – das passiert mir immer bei Mailboxen. Okay, ich gehe einfach mal davon aus, dass du L. Twomey bist. Ich heiße Tiffy Moore und rufe wegen der Anzeige im Internet an, wegen des Zimmers? Also, meine Freunde finden es merkwürdig, wir würden uns ja ein Bett teilen, aber mir macht es nichts aus, wenn es dir nichts ausmacht, und um ehrlich zu sein, würde ich so ziemlich alles tun, wenn ich für den Preis sofort in eine Wohnung im Zentrum von London einziehen kann. [Pause] O Gott, nicht alles. Es gibt einen Haufen Sachen, die ich nicht machen würde. Ich bin ja keine … Nein, Martin, jetzt nicht, siehst du nicht, dass ich telefoniere?«

Wer ist Martin? Ein Kind? Will diese Quasselstrippe mit Essex-Dialekt etwa ein Kind mit in die Wohnung bringen?

Weiter Mailbox: »Sorry, das war mein Kollege, er will mich mit einer mittelalten Dame auf ein Kreuzfahrtschiff schicken, um mit Rentnern übers Häkeln zu reden.«

Nicht gerade die Erklärung, die ich erwartet hatte. Eindeutig besser, wirft aber einige Fragen auf.

Weiter Mailbox: »Also, ruf mich an oder schick mir eine Nachricht, wenn das Zimmer noch frei ist. Ich bin superordentlich, ich komme dir nicht in die Quere, und ich bin es gewohnt, abends für zwei zu kochen. Wenn du selbst gekochtes Essen magst, kann ich dir was übrig lassen.«

Dann liest sie ihre Nummer vor. Denke gerade noch rechtzeitig ans Mitschreiben.

Sie ist nervig, das steht fest. Und sie ist eine Frau, was Kay womöglich stört. Aber es haben nur zwei andere Leute angerufen: Einer fragte, ob ich was gegen Igel als Haustiere hätte (Antwort: solange sie nicht in meiner Wohnung hausen), und der andere war ganz offensichtlich ein Drogendealer (und das bilde ich mir nicht nur ein – er hat mir während des Telefonats Drogen angeboten). Ich brauche 350 Pfund zusätzlich pro Monat, damit ich Sal weiterhin bezahlen kann, ohne Kays Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine andere Möglichkeit fällt mir nicht ein. Außerdem werde ich die nervige Frau nie zu Gesicht kriegen. Bin immer nur da, wenn sie weg ist.

Ich schreibe ihr eine Nachricht.

Hallo, Tiffy. Danke für deinen Anruf. Wäre toll, dich kennenzulernen und zu besprechen, wie wir das mit meiner Wohnung regeln. Wie passt Samstagmorgen? Gruß, Leon Twomey.

Eine nette, normale Nachricht. Kann mir gerade noch verkneifen, nach Martins Plan mit dem Kreuzfahrtschiff zu fragen, obwohl meine Neugier geweckt ist.

Sie antwortet sofort.

Hallo! Klingt super. Wie wär’s um zehn Uhr früh in der Wohnung? x

Sagen wir 9 Uhr, sonst schlafe ich ein! Bis dann. Adresse steht in der Anzeige. Gruß, Leon.

Na also. Erledigt. Ganz einfach: 350 Pfund im Monat, schon so gut wie in der Tasche.

Jetzt mit Kay reden.

3

TIFFY

Natürlich bin ich neugierig und googele ihn. Leon Twomey ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name, und ich finde ihn auf Facebook, ohne die gruseligen Stalkingtechniken verwenden zu müssen, die ich mir für neue Schriftsteller vorbehalte, um sie von anderen Verlagen abzuwerben.

Ich bin erleichtert, als ich sehe, dass er gar nicht mein Typ ist, was die ganze Sache definitiv erleichtern wird – falls beispielsweise Justin Leon jemals kennenlernen würde, würde er ihn nicht als Bedrohung wahrnehmen. Er hat hellbraune Haut und dickes, lockiges Haar, das lang genug ist, um es hinter die Ohren zu streichen, und er ist viel zu schlaksig für mich. Nur Ellbogen und Hals, der Typ Mann. Er sieht aber wie ein netter Kerl aus, der auf jedem Foto dieses niedliche, schiefe Lächeln aufgesetzt hat, das nicht im Geringsten Furcht einflößend oder mordlüstern aussieht, obwohl man – wenn man sich mit diesem Hintergedanken Bilder anschaut – jeden für einen Axtmörder halten könnte, deswegen verdränge ich den Gedanken. Er sieht freundlich und nicht bedrohlich aus. Das ist gut.

Aber ich weiß nun zweifelsfrei, dass er ein Mann ist.

Bin ich wirklich bereit, mir ein Bett mit einem Mann zu teilen? Selbst mit Justin war das manchmal schrecklich, und wir hatten eine Beziehung. Seine Matratzenseite hing in der Mitte durch, und manchmal duschte er nicht zwischen Fitnessstudio und Bett, deswegen roch seine Seite der Decke irgendwie schwitzig … Ich musste immer aufpassen, dass sie nicht umgedreht wurde und ich die verschwitzte Seite bekam.

Aber dennoch. 350 Pfund pro Monat. Und er wäre nie wirklich da.

»Tiffany!«

Abrupt schaue ich auf. Mist, das ist Rachel, und ich weiß, was sie will. Sie will das Manuskript für dieses verdammte Backbuch mit Kinderreimen, das ich den ganzen Tag über ignoriert habe.

»Versteck dich nicht in der Küche oder tu so, als würdest du telefonieren«, sagt sie durch meine Blumentopfwand. Das ist das Problem, wenn man mit Freunden zusammenarbeitet: Man verrät ihnen im Pub betrunken seine Tricks und ist ihnen dann schutzlos ausgeliefert.

»Du warst beim Friseur!«, sage ich. Ein verzweifelter Versuch, die Unterhaltung früh in eine andere Richtung zu lenken, aber ihr Haar sieht an dem Tag tatsächlich echt cool aus. Sie hat es wie immer geflochten, aber diesmal mit leuchtenden türkisfarbenen Bändern, die sie wie die Riemen eines Korsetts eingeflochten hat. »Wie hast du das hinbekommen?«

»Versuche nicht, mich mit meinem Lieblingsthema abzulenken, Tiffany Moore«, sagt Rachel und tippt mit ihren Nägeln mit den perfekten Polka Dots auf den Tisch. »Wann bekomme ich das Manuskript?«

»Ich brauche nur … ein wenig länger …« Ich lege die Hände auf die Seiten vor mir, damit sie die einstelligen Seitenzahlen nicht sehen kann.

Sie verzieht die Augen zu Schlitzen. »Donnerstag?«

Ich nicke eifrig. Ja, warum nicht? Ich schaffe das zwar auf gar keinen Fall, aber »Freitag« klingt viel besser, wenn man es an einem Donnerstag hört, deswegen werde ich es ihr dann sagen.

»Gehst du morgen mit mir was trinken?«

Ich halte inne. Ich wollte brav sein und diese Woche wegen der drohenden Schulden gar kein Geld ausgeben, aber Ausgehen mit Rachel ist immer grandios, und ich könnte wirklich ein wenig Zerstreuung gebrauchen. Außerdem wird sie sich am Donnerstag nicht mit mir über das Manuskript streiten, wenn sie einen Kater hat.

»Yup.«

Betrunkener Mann Nr. 1 ist ein extrovertierter Typ. So ein betrunkener Mann, der die Arme weit auseinanderreißt, ohne darauf zu achten, was sich links und rechts neben ihm befindet (bislang hat er eine riesige Plastikpalme, ein Tablett mit Sambuca-Shots und ein recht berühmtes ukrainisches Model erwischt). Jede Bewegung ist überzeichnet, selbst sein ganz normaler Gang: Also ein Schritt mit dem linken Fuß, dann mit dem rechten, und wieder von vorne. Der Betrunkene Mann Nr. 1 geht wie ein Kleinkind, das bei der musikalischen Früherziehung einen Tanz aufführt.

Betrunkener Mann Nr. 2 ist eher arglistig. Sein Gesicht ist völlig emotionslos, wenn er einem zuhört, als würde der fehlende Ausdruck seine Nüchternheit verdeutlichen. Er nickt von Zeit zu Zeit und ziemlich überzeugend, blinzelt aber nicht häufig genug. Seine Versuche, einem auf die Brüste zu starren, sind viel weniger subtil, als er vermutet.

Ich frage mich, was sie von mir und Rachel halten. Sie haben sich gleich auf uns gestürzt, aber das ist nicht zwangsläufig positiv. Als ich noch mit Justin zusammen war, erinnerte er mich bei jedem Ausgehabend mit Rachel daran, dass viele Männer bei »schrägen Mädels« an »verzweifelt und leicht zu haben« denken. Er hat recht, wie immer. Ich frage mich tatsächlich, ob es einfacher ist, als »seltsames« Mädel flachgelegt zu werden oder als selbstbewusste Cheerleaderin: Man ist zugänglicher, und niemand denkt, man hätte schon einen Freund. Was vielleicht bei nachträglichem darüber Nachdenken noch ein Grund dafür ist, dass Justin meine Ausgehabende mit Rachel nicht gut fand.

»Also, Bücher darüber, wie man Kuchen backt?«, fragt Betrunkener Mann Nr. 2 und beweist damit seine Zuhörfähigkeiten und die oben erwähnte Nüchternheit. (Mal ehrlich jetzt: Warum trinkt man Sambuca-Shots, wenn man dann so tut, als hätte man nicht den ganzen Abend lang getrunken?)

»Yeah!«, antwortet Rachel. »Oder darüber, wie man Regale baut, Kleidung näht, und so weiter und so fort. Was machst du denn gerne?«

Sie ist betrunken genug, um Betrunkenen Mann Nr. 2 attraktiv zu finden, aber ich vermute, sie will ihn nur beschäftigen, damit ich mich auf Betrunkenen Mann Nr. 1 stürzen kann. Von den beiden ist Betrunkener Mann Nr. 1 ganz eindeutig besser: Zunächst einmal ist er groß genug. Das ist die erste Herausforderung. Ich bin eins achtzig, und obwohl ich kein Problem damit habe, mit kleineren Männern auszugehen, scheint es die Typen häufig zu stören, wenn ich ungefähr fünf Zentimeter größer bin als sie. Das ist in Ordnung für mich – ich habe kein Interesse an Kerlen, denen solche Dinge wichtig sind. Es ist ein nützlicher Filter.

»Was ich gerne mache?«, wiederholt Betrunkener Mann Nr. 2. »Ich tanze gerne mit schönen Frauen in Bars mit doofen Namen und überteuerten Getränken.« Plötzlich grinst er, was zwar ein wenig schwerfälliger und schiefer wirkt, als er es wahrscheinlich beabsichtigt, aber dennoch ziemlich attraktiv ist.

Ich sehe, dass Rachel dasselbe denkt. Sie wirft mir einen berechnenden Blick zu – also ist sie doch nicht so betrunken –, und ich sehe, dass sie die Situation zwischen mir und Betrunkenem Mann Nr. 1 evaluiert.

Ich schaue mir ebenfalls Betrunkenen Mann Nr. 1 an und begutachte ihn genauer. Er ist groß, mit schönen breiten Schultern und Haar, das an den Schläfen ergraut, was ich ziemlich sexy finde. Er ist wahrscheinlich Mitte dreißig – er erinnert ein ganz klein bisschen an George Clooney in den 1990er-Jahren, wenn man ein wenig die Augen zusammenkneift oder das Licht dimmt.

Finde ich ihn gut? Falls ja, könnte ich mit ihm schlafen. Das kann man machen, wenn man Single ist.

Seltsam.

Ich habe nach der Trennung von Justin noch nicht daran gedacht, mit jemandem zu schlafen. Als Single ohne Sex hat man so viel Zeit: nicht nur die Zeit, in der man tatsächlich miteinander schläft, sondern die Zeit, in der man sich die Beine rasiert, schöne Unterwäsche kauft, sich fragt, ob sich alle anderen Frauen die Bikinizone waxen lassen etc. Das ist ein großer Vorteil. Gut, da ist diese erdrückende Abwesenheit eines der bedeutendsten Aspekte des Erwachsenenlebens, aber man hat eben auch immer Zeit, seinen ganzen Kram zu erledigen.

Klar, ich weiß, dass wir uns vor drei Monaten getrennt haben. Ich weiß, dass ich theoretisch mit anderen Menschen schlafen kann. Aber … ich muss einfach daran denken, was Justin dazu sagen würde. Wie wütend er wäre. Offiziell wäre mir das alles erlaubt, aber irgendwie ist es eben doch noch nicht erlaubt. Nicht in meinem Kopf, noch nicht.

Rachel versteht es. »Tut mir leid«, sagt sie und tätschelt Betrunkenem Mann Nr. 2 den Arm. »Ich würde gern mit meiner Freundin tanzen.« Sie kritzelt ihre Nummer auf eine Serviette – Gott weiß, wo sie diesen Stift her hat, die Frau ist eine Zauberin – und dann liegt meine Hand in ihrer, und wir bahnen uns den Weg zur Mitte der Tanzfläche, wo mir die Musik von beiden Seiten gegen den Kopf wummert und meine Trommelfelle erzittern lässt.

»Welche Art von betrunken bist du?«, fragt Rachel, während wir uns unangemessen sexy zu einem Klassiker von Destiny’s Child aneinander reiben.

»Ich bin ein wenig … nachdenklich«, rufe ich ihr zu. »Zu analytisch, um mit diesem netten Mann zu schlafen.«

Sie nimmt sich einen überteuerten Shot vom Tablett, das eine Kellnerin herumträgt, und reicht der Frau Bargeld.

»Also nicht betrunken genug«, sagt sie und reicht mir den Drink. »Du bist vielleicht Lektorin, aber kein betrunkenes Mädel nimmt das Wort ›analytisch‹ in den Mund.«

»Juniorlektorin«, erinnere ich sie und stürze den Drink herunter. Jägermeister mit Red Bull. Kurios, wie etwas so abgrundtief Widerliches, bei dessen Nachgeschmack man am nächsten Tag kotzen will, auf einer Tanzfläche lecker schmeckt.

Rachel spendiert mir schon den ganzen Abend Drinks, flirtet mit jedem attraktiven Mann, der ihr unter die Augen kommt, und dirigiert ihn dann in meine Richtung. Sie sieht das vielleicht anders, aber ich bin ziemlich betrunken, deswegen denke ich nicht groß drüber nach – sie ist einfach eine grandiose Freundin. Die Nacht verfliegt inmitten von tanzenden Menschen und farbenfrohen Drinks.

Erst als Mo und Gerty kommen, frage ich mich, was das alles soll.

Mo sieht wie ein Mann aus, der kurzfristig herbeigerufen wurde. Sein Bart ist ein wenig zerdrückt, als hätte er komisch darauf gelegen, und er trägt ein ausgeleiertes T-Shirt, an das ich mich noch aus Unizeiten erinnern kann – obwohl es nun ein wenig enger sitzt. Gerty ist erhaben schön, wie immer, sie trägt kein Make-up, und ihr Haar ist zu einem Ballerinaknoten gebunden; es ist schwer zu sagen, ob sie ihr Kommen geplant hat, weil sie nie Make-up trägt und sowieso immer tadellos angezogen ist. Vielleicht hat sie auch einfach in letzter Minute ein Paar ein wenig höhere Schuhe zu ihrer Skinny-Jeans angezogen.

Sie gehen über die Tanzfläche. Mein Verdacht, dass Mo nicht hier sein wollte, wird bestätigt – er tanzt nicht. Wenn man mit Mo in einen Club geht, tanzt er immer. Warum sind sie denn bei meiner spontanen mittwöchlichen Ausgehaktion mit Rachel dabei? Sie kennen sie noch nicht einmal sonderlich gut – nur von den obligatorischen Treffen an meinem Geburtstag oder bei Einweihungspartys. Gerty und Rachel führen eine Art Kleinkrieg um die Position als Alphawolf und geraten meistens aneinander.

Habe ich Geburtstag?, frage ich mich betrunken. Bekomme ich aufregende Neuigkeiten?

Ich drehe mich zu Rachel. »Wa…?«

»Tisch«, sagt sie und zeigt auf die Nischen hinten im Club.

Gerty kann ihre Irritation über die Richtungsanweisung ganz gut verbergen, obwohl sie sich doch gerade erst den Weg zur Mitte der Tanzfläche gebahnt hat.

Ich spüre schlechte Stimmung. Ich bin gerade ungemein schön betrunken, deswegen bin ich dazu bereit, Sorgen zu verdrängen und zu hoffen, sie wollen mir erzählen, ich hätte eine vierwöchige Reise nach Neuseeland gewonnen oder so.

Aber nichts da.

»Tiffy, ich wusste nicht, wie ich dir das sagen soll«, sagt Rachel, »mir fiel kein besserer Plan ein. Dich nett abfüllen, dich daran erinnern, wie sich flirten anfühlt, dann dein Support-Team herrufen.« Sie nimmt meine beiden Hände. »Tiffy. Justin ist verlobt.«

4

LEON

Gespräch zum Thema Wohnung lief ganz anders als erwartet. Kay war ungewöhnlich wütend. Schien sich über die Vorstellung aufzuregen, dass jemand außer ihr in meinem Bett schläft. Dabei kommt sie doch nie vorbei. Hasst die dunkelgrünen Wände und die ältlichen Nachbarn – das gehört zu ihrem Du-verbringst-zu-viel-Zeit-mit-alten-Leuten-Ding. Wir sind immer bei ihr (hellgraue Wände, coole, junge Nachbarn).

Der Streit endet mit einem anstrengenden Unentschieden. Sie will, dass ich die Anzeige lösche und der Essex-Frau absage. Doch ich bleibe dabei. Etwas Besseres ist mir nicht eingefallen, um jeden Monat leicht an Geld zu kommen. Von einem Lottogewinn mal abgesehen, aber den kann man schlecht in seine Finanzplanung einbeziehen. Hab keine Lust, mir die 350 Pfund wieder von ihr leihen zu müssen. Ist nicht gut für unsere Beziehung – waren Kays eigene Worte.

Wenn sie das findet – okay. Dann wird sie sicher auch noch einsehen, dass das hier eine gute Lösung ist.

Die Nacht zog sich. Holly konnte nicht schlafen. Wir haben Dame gespielt. Sie hebt die Finger und lässt sie über das Brett tanzen, als würde sie zaubern, bevor sie einen Stein berührt. Ist wohl so ein Psychospiel – der Gegner schaut auf die Finger, anstatt seinen nächsten Zug zu planen. Wo lernt eine Siebenjährige Psychospiele?

Das frage ich sie.

Holly: »Du bist ganz schön naiv, Leon, stimmt’s?«

Spricht es »neif« aus. Hat es wahrscheinlich noch nie laut gesagt, nur in einem Buch gelesen.

Ich: »Ich kenne mich aus in der Welt, danke, Holly!«

Wirft mir einen herablassenden Blick zu.

Holly: »Schon okay, Leon. Du bist einfach zu nett. Ich wette, die Leute behandeln dich wie einen Fußabstreifer.«

Das hat sie irgendwo aufgeschnappt. Wahrscheinlich bei ihrem Vater, der alle vierzehn Tage in einem schicken grauen Anzug vorbeikommt, schlechte Süßigkeiten mitbringt und nach Zigarettenrauch stinkt.

Ich: »Nett zu sein ist eine gute Sache. Man kann stark und nett sein. Man muss sich nicht für eins entscheiden.«

Wieder dieser herablassende Blick.

Holly: »Pass auf. Es ist so … Kay ist stark, und du bist nett.«

Sie breitet die Hände aus, von wegen so ist das nun mal. Ich bin verdutzt. Wusste nicht, dass sie Kays Namen kennt.

Richie ruft an, als ich gerade heimkomme. Muss zum Festnetztelefon sprinten – ich weiß, dass er es ist, weil außer ihm niemand hier anruft – und stoße mir den Kopf an der tief hängenden Küchenlampe. Das ungeliebteste Teil in dieser großartigen Wohnung.

Reibe mir den Kopf. Schließe die Augen. Lausche aufmerksam, ob Richies Stimme zittert oder verrät, wie es ihm wirklich geht, und höre nichts als einen echten, lebenden, atmenden Richie, dem es anscheinend soweit gut geht.

Richie: »Erzähl mir eine gute Geschichte.«

Schließe die Augen noch fester. Dann hatte er ein schlechtes Wochenende. Die Wochenenden sind schlimm – da sind sie länger in den Zellen eingesperrt. Dass er nicht gut drauf ist, höre ich an dem Akzent, der für uns beide typisch ist – halb London, halb County Cork. Wenn er traurig ist, klingt er irischer.

Ich erzähle ihm von Holly. Ihrem Talent beim Damespiel. Ihrem Vorwurf, ich wäre neif. Richie hört zu, dann:

Richie: »Wird sie sterben?«

Das ist schwierig. Die Leute verstehen irgendwie nicht, dass es uns nicht darum geht, ob sie sterben wird. Eine Palliativklinik ist nicht nur ein Ort, an dem man langsam stirbt. Auf unseren Stationen gibt es mehr Leute, die überleben und entlassen werden, als Todesfälle. Es geht darum, dass man sich während eines Zeitraums wohlfühlt, der unumgänglich und leidvoll ist. Darum, schwere Zeiten leichter zu machen.

Aber Holly … könnte sterben. Sie ist sehr krank. Süß, altklug und sehr krank.

Ich: »Für leukämiekranke Kinder in ihrem Alter sieht die Statistik ganz gut aus.«

Richie: »Die Statistik interessiert mich nicht. Ich will eine gute Geschichte hören.«

Ich lächele und erinnere mich, wie wir als Kinder die Handlung von Nachbarn nachgespielt haben, als der Fernseher kaputt war. Richie stand schon immer auf gute Geschichten.

Ich: »Sie wird wieder. Wenn sie erwachsen ist, wird sie … Programmiererin. Bei ihrem Dametalent findet sie einen Weg, die Ernährungsprobleme der Menschheit zu lösen. Niemand muss mehr hungern, und Bono hat in der Weihnachtszeit nichts mehr zu tun.«

Richie lacht. Nicht laut, aber laut genug, um den Knoten in meinem Bauch zu lockern.

Eine Weile herrscht Schweigen. Vielleicht ist es einträchtiges Schweigen, vielleicht fällt uns auch nur nichts Passendes ein.

Richie: »Es ist die Hölle hier drin, Mann.«

Die Worte treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Diese Faust habe ich im Laufe des letzten Jahres zu oft gespürt. Immer in Momenten wie diesem, in denen mich die Realität aufs Neue mit voller Wucht trifft, nachdem ich sie für ein paar Tage ausgeblendet hatte.

Ich: »Bald ist die Berufungsverhandlung. Wir schaffen das. Sal sagt …«

Richie: »Ach, Sal will seine Kohle. Ich weiß, wie die Chancen stehen, Lee. Das ist nicht zu schaffen.«

Er spricht schleppend, mit schwerer Zunge, fast unverständlich.

Ich: »Was soll das? Vertraust du deinem großen Bruder nicht mehr? Früher hast du mir immer erzählt, ich werde mal Milliardär!«

Ich höre ein zögerndes Lachen.

Richie: »Du hast schon genug für mich getan.«

Das ist nicht wahr. Für ihn kann ich nie genug tun. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, ich könnte mit ihm tauschen und ihm das ersparen.

Ich: »Ich habe einen Plan. Um an Geld zu kommen. Er wird dir gefallen.«

Rascheln.

Richie: »Hey, Mensch, ah, einen Moment …«

Gedämpfte Stimmen. Mein Herz schlägt schneller. Wenn wir telefonieren, wenn ich nur seine Stimme höre, kann ich mir leicht vorstellen, dass er irgendwo ist, wo es ihm gut geht. Aber er steht in einem Gefängnishof, nachdem er sich entschieden hat, die halbe Stunde Freigang am Tag für ein Telefonat zu nutzen. Anstatt für die einzige Gelegenheit zu duschen. Und hinter ihm hat sich eine Schlange gebildet.

Richie: »Ich muss auflegen, Lee. Pass auf dich auf.«

Freizeichen.

Samstagmorgen, halb acht. Selbst wenn ich jetzt gehe, komme ich zu spät. Und allem Anschein nach werde ich jetzt nicht gehen. Dr. Patel möchte, dass ich schmutzige Laken auf der Dorsal-Station wechsele. Die Stationsschwester der Korallen-Station will, dass ich Mr. Prior Blut abnehme. Socha, die Assistenzärztin, braucht meine Hilfe bei dem sterbenden Patienten auf der Algen-Station.

Socha gewinnt. Rufe im Laufen Kay an.

Kay nimmt ab und sagt: »Du hängst bei der Arbeit fest, stimmt’s?«

Mein Atem reicht nicht für eine anständige Erklärung. Wenn es eng wird, liegen die Stationen zu weit auseinander. Der Stiftungsrat des Hospizes sollte in kürzere Flure investieren.

Kay: »Ist okay. Ich übernehme dein Treffen mit dieser Frau.«

Ich stolpere. Bin überrascht. Darum wollte ich sie eigentlich bitten, klar – darum habe ich Kay angerufen und nicht gleich die Essex-Frau, um ihr abzusagen. Aber das war sehr … einfach.

Kay: »Pass auf, mir gefällt diese Mitwohnidee nicht. Aber ich weiß, dass du das Geld brauchst, und das verstehe ich. Doch wenn ich mich damit wohlfühlen soll, sollte alles über mich laufen. Ich treffe diese Tiffy und kümmere mich um die Organisation. So hast du mit dieser Frau, die zufälligerweise in deinem Bett schläft, gar nichts zu tun. Dann finde ich es nicht mehr ganz so schräg, und du musst dich nicht darum kümmern, wofür du, seien wir ehrlich, gar keine Zeit hast.«

Fühle mich auf einmal schwer verknallt. Obwohl sie mich vielleicht auch nur kontrollieren will. Das ist in diesem Beziehungsstadium schwer zu sagen, aber trotzdem.

Ich: »Bist … bist du dir sicher?«

Kay, entschieden: »Ja. Das ist der Plan. Und keine Arbeit an den Wochenenden. Okay? Die Wochenenden gehören mir.«

Scheint mir fair.

Ich: »Danke. Vielen Dank. Und … würde es dir etwas ausmachen … ihr zu sagen … «

Kay: »Ja, ja, ich erzähle ihr von dem schrägen Typen in Nummer 5 und warne sie vor den Füchsen.«

Eindeutig schwer verknallt.

Kay: »Ich weiß, du meinst, ich höre nicht zu, aber das stimmt nicht.«

Noch über eine Minute bis zur Algen-Station rennen. Ich habe ein ungesundes Tempo vorgelegt. Anfängerfehler. Die furchtbare Unmittelbarkeit dieser Schicht mit all den sterbenden Menschen, Druckgeschwüren und unberechenbaren Demenzpatienten hat mich umgehauen, und ich vergesse die einfachsten Überlebensregeln in einem Hospiz. Gehen, nicht rennen. Immer wissen, wie spät es ist. Nie deinen Stift verlieren.

Kay: »Leon?«

Hab vergessen, laut zu sprechen. Nur schwer geatmet. Klingt wohl ziemlich unheimlich.

Ich: »Danke. Liebe dich.«

5

TIFFY

Ich denke darüber nach, eine Sonnenbrille zu tragen, aber damit sähe ich wie eine Diva aus, weil Februar ist. Niemand will mit einer Diva zusammenwohnen.

Die Frage lautet natürlich, ob man lieber mit einer Diva oder einer emotional völlig am Boden liegenden Frau zusammenwohnen würde, die ganz klar die letzten beiden Tage nur geheult hat.

Ich erinnere mich daran, dass dies kein normales Vorstellungsgespräch für eine WG ist. Leon und ich müssen uns nicht verstehen – wir werden eigentlich gar nicht zusammenwohnen, wir werden uns nur zu unterschiedlichen Zeiten in derselben Wohnung aufhalten. Ihn stört es nicht, wenn ich meine gesamte Freizeit mit Heulen verbringe, oder?

»Jacke«, befiehlt Rachel und reicht sie mir.

Ich bin noch nicht so fertig, dass mich jemand anziehen muss, aber Rachel hat bei mir übernachtet, und wenn sie hier ist, kümmert sie sich um mich. Selbst wenn das bedeutet, mir morgens die Kleidung herauszusuchen.

Ich bin zu kaputt für Protest, nehme die Jacke und ziehe sie mir über. Ich mag diese Jacke sehr. Sie besteht aus einem riesigen Ballkleid, das ich in einem Secondhandladen aufgestöbert habe – ich habe das ganze Ding auseinandergenommen und den Stoff verwendet, aber die Perlenstickereien einfach gelassen, deswegen sind nun lilafarbene Pailletten und Verzierungen auf der rechten Schulter, dem Rücken und unter meinen Brüsten. Sie erinnert ein wenig an die Jacke eines Zirkusdirektors, passt aber wie angegossen, und seltsamerweise zaubern die Applikationen eine schmale Taille.

»Habe ich dir die nicht gegeben?«, frage ich stirnrunzelnd. »Irgendwann letztes Jahr?«

»Du würdest dich doch nie von dieser Jacke trennen!« Rachel verzieht das Gesicht. »Ich weiß, dass du mich liebst, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du niemanden so doll liebst.«

Richtig, natürlich. Ich stehe dermaßen neben mir, dass ich kaum klar denken kann. Zumindest ist es mir wichtig, was ich heute Morgen trage. Es steht schlecht um mich, wenn ich einfach anziehe, was oben in der Schublade liegt. Und es ist nicht so, als würden andere Leute das nicht bemerken – bei meinen Klamotten sticht ein nicht ausreichend geplantes Outfit gleich ins Auge. Am Donnerstag sorgten die senfgelbe Cordhose, die cremefarbene Rüschenbluse und die lange grüne Strickjacke bei der Arbeit ein wenig für Wirbel – Hana aus dem Marketing bekam einen schweren Hustenanfall, als ich in die Küche ging, während sie gerade ihren Kaffee trank. Zudem versteht niemand, warum ich plötzlich dermaßen traurig bin. Sie denken alle: Warum heult sie jetzt? Hat Justin sie nicht schon vor Monaten verlassen?

Sie haben recht. Ich weiß nicht, warum mich gerade diese Ebene von Justins neuer Beziehung so sehr stört. Ich hatte schon entschieden, dass ich dieses Mal wirklich ausziehen würde. Und es ist nicht so, dass ich ihn heiraten wollte oder so. Ich dachte nur … er würde zurückkommen. So wie früher immer – er haut ab, knallt die Tür, macht dicht, ignoriert meine Anrufe, doch dann wird ihm sein Fehler bewusst, und gerade, wenn ich denke, ich komme über ihn hinweg, ist er wieder da, hält mir die Hand hin und lädt mich auf ein großartiges Abenteuer ein.

Aber das war’s dann, nicht wahr? Er wird heiraten. Das ist … Das ist einfach …

Rachel reicht mir wortlos ein Taschentuch.

»Ich werde mich noch einmal schminken müssen«, sage ich, als das Schlimmste vorbei ist.

»Wir haben eeeeecht keine Zeit«, sagt Rachel und zeigt mir ihr Handy.

Shit. Halb neun. Ich muss jetzt gehen, sonst werde ich zu spät kommen, und das wird einen schlechten Eindruck machen – wenn wir streng darauf achten, wer wann in der Wohnung ist, wird Leon von mir Pünktlichkeit verlangen.

»Sonnenbrille?«, frage ich.

»Sonnenbrille.« Rachel reicht sie mir.

Ich schnappe mir die Tasche und gehe zur Tür.

Während der Zug durch die Tunnel der Northern Line rattert, erblicke ich mein Spiegelbild im Fenster und richte mich ein wenig auf. Ich sehe gut aus. Die fleckige, zerkratzte Scheibe ist vorteilhaft – wie ein Instagram-Filter. Und ich trage eins meiner Lieblingsoutfits, mein Haar ist frisch gewaschen und kupferrot, und obwohl ich mir vielleicht den Eyeliner weggeheult habe, ist mein Lippenstift noch intakt.

Hier bin ich. Ich schaffe es. Ich komme gut allein zurecht.

Das Gefühl hält so lange, bis ich am Eingang der Haltestelle Stockwell ankomme. Dann schreit mir ein Typ aus einem Auto »Hol deine Muschi raus!« entgegen, und der Schock verwandelt mich gleich wieder in eine Tiffy, deren Zukunft nach der Trennung wenig lebenswert ist. Ich bin zu bestürzt, um ihm zu erklären, dass seine Forderung anatomisch nicht umzusetzen ist.

Ich werde in etwa fünf Minuten an dem Block mit der Wohnung angekommen sein – es ist ein Stück bis zur Haltestelle. In Vorfreude auf mein zukünftiges Zuhause trockne ich mir die Wangen und nehme die Gegend genau in Augenschein. Es handelt sich um gedrungene Häuser aus Backstein, vor denen sich ein kleiner Park mit traurig aussehendem Londoner Gras befindet, das eher wie gemähtes Heu aussieht. Für jeden Bewohner gibt es einen Parkplatz, ein Mieter verwendet ihn zur Lagerung einer befremdlich hohen Anzahl von Bananenkisten.

Während ich bei Wohnung 3 klingele, bewegt sich etwas: Ein Fuchs, der aus der Ecke hervorspaziert, wo wahrscheinlich die Mülleimer stehen. Er starrt mich frech an und bleibt dann mit angehobener Pfote stehen. Ich habe noch nie einen Fuchs aus dieser Nähe betrachtet – er ist viel räudiger als in Bilderbüchern. Füchse sind aber toll, oder? Sie sind so toll, dass man sie nicht mehr aus Spaß erschießen darf, selbst dann nicht, wenn man ein berittener Aristokrat ist.

Der Türöffner summt, ich trete ein. Es ist sehr … braun. Brauner Teppich, keksfarbene Wände. Aber das macht eigentlich nichts – das Wohnungsinnere ist wichtig.

Als ich an die Tür von Wohnung 3 klopfe, merke ich, dass ich wirklich nervös bin. Nein – an der Grenze zur Panik. Ich mache das hier gerade wirklich, oder? Denke drüber nach, bei irgendeinem dahergelaufenen Fremden im Bett zu schlafen? Tatsächlich Justins Wohnung zu verlassen?

O Gott. Vielleicht hatte Gerty recht, und das ist alles ein wenig viel. Einen schwindelerregenden Moment lang denke ich darüber nach, zu Justin zurückzukehren, zurück zur Vertrautheit dieser in Weiß und Chrom gehaltenen Wohnung, zu der Möglichkeit, ihn wiederzubekommen. Aber der Gedanke fühlt sich nicht so gut an, wie ich vermutet hatte. Irgendwie – vielleicht gegen elf Uhr abends am vorletzten Donnerstag, als ich offiziell beschloss auszuziehen – begann die Wohnung ein wenig anders auszusehen und ich auch.

Ich weiß auf eine vage Art, dass das etwas Gutes ist, auch wenn ich nicht genau sagen kann warum. Ich bin so weit gekommen – ich kann nun keinen Rückzieher mehr machen.

Ich muss diesen Ort mögen. Das ist meine einzige Option. Als also jemand die Tür öffnet, der eindeutig nicht Leon ist, bin ich derart in der Stimmung, mich hier einzuquartieren, dass ich es einfach hinnehme. Ich reagiere noch nicht einmal überrascht.

»Hi!«

»Hallo«, sagt die Frau an der Tür. Sie ist zierlich, hat olivfarbene Haut und eine dieser Pixie-Frisuren, die einen französisch aussehen lassen, wenn der Kopf klein genug ist. Ich fühle mich direkt riesig.

Sie tut nichts, um dieses Gefühl zu zerstreuen. Als ich in die Wohnung komme, spüre ich, wie sie mich eingehend betrachtet. Ich versuche, mich auf die Einrichtung zu konzentrieren – ooh, dunkelgrüne Tapete, sieht echt nach den 1970er-Jahren aus –, aber nach einer Weile nerven ihre Blicke. Ich drehe mich um, damit sie mir ins Gesicht schauen muss.

Oh. Es ist die Freundin. Und ihr Gesichtsausdruck könnte nicht eindeutiger sagen: Ich hatte mir Sorgen darüber gemacht, du könntest heiß sein und mir meinen Freund abspenstig machen, während du es dir in seinem Bett gemütlich machst, aber nun habe ich dich gesehen, und er würde sich nie von dir angezogen fühlen, deswegen: ja! Komm rein!

Sie lächelt nun übers ganze Gesicht. Schön, egal – wenn ich so die Wohnung bekomme, kein Problem. Auch ihre Art schreckt mich nicht ab. Sie hat keine Ahnung, wie verzweifelt ich bin.

»Ich bin Kay«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ihr Händedruck ist fest. »Leons Freundin.«

»Das habe ich mir gedacht.« Ich lächele, damit es nicht unfreundlich wirkt. »Schön, dich kennenzulernen. Ist Leon im …«

Ich strecke den Kopf ins Schlafzimmer. Hier muss er sein, oder im Wohnzimmer, wo in der einen Ecke die Küche untergebracht ist – viel mehr gibt es in der Wohnung nicht.

»… im Badezimmer?«, frage ich, als ich das leere Schlafzimmer sehe.

»Leon kommt nicht von der Arbeit weg«, sagt Kay und schiebt mich ins Wohnzimmer.

Es ist ziemlich minimalistisch und ein wenig in die Jahre gekommen, aber sauber, und mir gefällt diese 70er-Jahre-Tapete überall. Ich wette, die Leute gäben 80 Pfund pro Rolle aus, wenn Farrow & Bell sie verkaufen würde. In der Küche befindet sich eine niedrige Hängeleuchte, die nicht recht zur sonstigen Einrichtung passt, die aber irgendwie toll ist; das Sofa besteht aus ramponiertem Leder, der Fernseher ist nicht eingesteckt, sieht aber recht ordentlich aus, und der Teppich wurde erst kürzlich gesaugt. Das alles sieht vielversprechend aus.

Vielleicht wird das gut. Vielleicht wird es sogar großartig. Auf einmal habe ich bildlich vor Augen, wie ich hier auf dem Sofa herummümmele, mir in der Küche zu schaffen mache, und plötzlich will ich beim Gedanken, das alles für mich zu haben, auf der Stelle hüpfen. Ich bremse mich gerade noch rechtzeitig. Kay wirkt auf mich nicht wie eine spontane Tänzerin.

»Dann werde ich … Leon gar nicht kennenlernen?«, frage ich und erinnere mich erschaudernd an Mos erste WG-Regel.

»Also, das wirst du wohl irgendwann«, sagt Kay. »Aber du wirst alles Weitere mit mir besprechen. Ich kümmere mich für ihn um die Untervermietung. Ihr werdet nie gleichzeitig hier sein – du hast die Wohnung von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens für dich und während des ganzen Wochenendes. Wir machen einen Vertrag für sechs Monate. Ist das okay für dich?«

»Ja, das ist genau das, wonach ich suche.« Ich halte inne. »Und Leon wird nicht unerwarteterweise auftauchen? Außerhalb dieser Zeiten oder so?«

»Auf gar keinen Fall«, sagt Kay mit dem Gesichtsausdruck einer Frau, die dafür sorgen wird. »Von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens gehört die Wohnung dir und nur dir allein.«

»Großartig.« Ich atme langsam aus, beruhige das aufgeregte Flattern in meinem Bauch und schaue mir das Bad an – man kann jede Wohnung anhand ihres Badezimmers beurteilen. Alles ist sauber, strahlend weiß, es gibt einen dunkelblauen Duschvorhang, wenige ordentlich aufgereihte Flaschen mit geheimnisvoll männlich aussehenden Cremes und Flüssigkeiten und einen abgenutzten, aber benutzbaren Spiegel. Wunderbar. »Ich nehme die Wohnung. Falls du sie mir gibst.«

Ich bin mir sicher, dass sie Ja sagt, falls wirklich sie die Entscheidung fällt. Ich wusste es, als sie mich im Flur gemustert hat: Egal was Leons Kriterien für eine Mitbewohnerin sind, Kay hat nur dieses eine, und ich habe ganz eindeutig mit »angemessen unattraktiv« gepunktet.

»Wunderbar«, sagt Kay. »Ich rufe Leon an und sage ihm Bescheid.«

6

LEON

Kay: »Sie ist optimal.«

Ich blinzele im Bus langsam vor mich hin. Wundervolles langsames Blinzeln, döse dabei immer wieder kurz weg.

Ich: »Echt? Nicht nervig?«

Kay klingt gereizt: »Spielt das eine Rolle? Sie mag es sauber und ordentlich und kann sofort einziehen. Wenn du das ernsthaft durchziehen willst, bekommst du niemand Besseren.«

Ich: »Der merkwürdige Typ in Nummer 5 stört sie nicht? Oder die Fuchsfamilie?«

Kurze Pause.

Kay: »Sie hat nicht gesagt, dass eins von beidem ein Problem ist.«

Wundervolles langsames Blinzeln. Ein wirklich langes. Muss aufpassen – will nicht an der Endstation aufwachen und den ganzen Weg wieder zurückfahren müssen. Nach einer langen Woche ist das immer die Gefahr.

Ich: »Wie ist sie?«

Kay: »Sie ist … skurril. Eine starke Persönlichkeit. Sie hatte so eine große Sonnenbrille mit Horngestell auf, obwohl wir doch eigentlich noch Winter haben. Und ihre Stiefel waren mit Blumen bemalt. Aber entscheidend ist, dass sie pleite ist und froh, eine so billige Wohnung zu finden!«

»Eine starke Persönlichkeit« ist Kays Ausdruck für Übergewicht. Wünschte, sie würde solche Sachen nicht sagen.

Kay: »Hör mal, du bist doch gerade auf dem Heimweg, oder? Wir können reden, wenn du da bist.«

Mein Plan sah eigentlich folgendermaßen aus: Kay mit dem gewohnten Kuss begrüßen, Arbeitsklamotten ausziehen, Wasser trinken, in Kays Bett fallen und ewig schlafen.

Ich: »Vielleicht heute Abend? Nachdem ich geschlafen habe?«

Schweigen. Überaus gereiztes Schweigen (ich bin ein Experte für Kays Schweigen).

Kay: »Dann gehst du direkt ins Bett, wenn du kommst?«

Ich beiße mir auf die Zunge. Unterdrücke den Drang, ihr einen detaillierten Bericht meiner Woche zu liefern.

Ich: »Wenn du reden willst, kann ich aufbleiben.«

Kay: »Nein, nein, du brauchst deinen Schlaf.«

Ich bleibe auf jeden Fall auf. Am besten hole ich alles aus diesen Blinzel-Schläfchen heraus, bis der Bus in Islington ist.

Kay begrüßt mich frostig. Mache den Fehler, Richie zu erwähnen, woraufhin die Temperatur noch weiter sinkt. Vermutlich meine Schuld. Ich kann ihr einfach nichts von ihm erzählen, ohne dass mir gleich wieder DER STREIT in den Ohren klingt. So als würde sie jedes Mal die Replay-Taste drücken, wenn sie Richies Namen ausspricht. Während sie Frabendessen macht (eine Kombination aus Frühstück und Abendessen, die sowohl für Tages- wie auch für Nachtmenschen passt), ermahne ich mich immer wieder, daran zu denken, wie DER STREIT ausgegangen ist. Dass sie sich entschuldigt hat.

Kay: »Und? Fragst du mich wegen der Wochenenden?«

Starre sie an und brauche Zeit für die Antwort. Nach einer langen Nacht fällt mir das Reden manchmal schwer. Schon den Mund zu öffnen und verständliche Gedanken zu formulieren ist so, als würde ich etwas Schweres heben. Oder wie in einem dieser Träume, in denen man wegrennen will, aber die Beine in Sirup feststecken.

Ich: »Was soll ich fragen?«

Kay hält inne, die Pfanne mit dem Omelett in der Hand. Sie sieht sehr hübsch aus im Wintersonnenlicht, das durchs Küchenfenster scheint.

Kay: »Wegen der Wochenenden. Wo willst du sie verbringen? Mit Tiffy in deiner Wohnung?«

Oh, verstehe.

Ich: »Ich habe gehofft, dass ich hierbleiben kann. Ich bin doch sowieso jedes Wochenende hier, wenn ich nicht arbeite.«

Kay lächelt. Habe das befriedigende Gefühl, das Richtige gesagt zu haben, aber dann wird mir mulmig.

Kay: »Ich weiß, dass du vorhattest, hier zu sein. Ich wollte es nur von dir hören.«

Sie sieht meine verwirrte Miene.

Kay: »Normalweise bist du an den Wochenenden nur zufälligerweise hier, nicht weil du es geplant hast. Nicht weil es zu unserem Lebensplan gehört.«

Das Wort »Plan« gefällt mir deutlich weniger, wenn das Wort »Leben« davorsteht. Auf einmal konzentriere ich mich eifrig auf das Omelett. Kay drückt mir die Schulter, streicht mit den Fingern über meinen Nacken und zupft an meinen Haaren.

Kay: »Danke.«

Ich habe ein schlechtes Gewissen, obwohl ich ihr eigentlich nichts vorgemacht habe – ich bin davon ausgegangen, dass ich jedes Wochenende hier sein werde. Das gehörte zu meinem Vermietungsplan. Ich habe es nur nicht … so gesehen. Lebensplanmäßig.

Zwei Uhr morgens. Am Anfang kamen mir die dienstfreien Nächte sinnlos vor. Saß herum und wartete auf den Sonnenaufgang. Doch jetzt ist das meine Zeit – es ist ruhig, und das übrige London schläft oder betrinkt sich. Übernehme mittlerweile jede Nachtschichtvertretung, die man mir anbietet, da verdient man am besten. Nur am Wochenende nicht – das habe ich Kay versprochen. Außerdem kann der Mitwohnplan nur so funktionieren. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich überhaupt lohnt, mich jetzt an den Wochenenden umzustellen – ich arbeite fünf von sieben Nächten. Vielleicht bleibe ich einfach nachts auf.

Normalerweise schreibe ich um zwei Uhr morgens an Richie. Die Zahl seiner Telefonate ist begrenzt, aber er darf unbegrenzt Briefe empfangen.

Letzten Dienstag ist es drei Monate her, dass er verurteilt wurde. Wie begeht man so ein »Jubiläum« – stößt man darauf an? Ritzt man eine weitere Kerbe in die Wand? Richie hat es eigentlich gut verkraftet, doch als er reinging, hat Sal ihm gesagt, dass er ihn bis Februar wieder rausholen würde. Und das war ziemlich schlecht.

Vermutlich tut Sal sein Bestes, aber Richie sitzt unschuldig im Gefängnis. Darum bin ich automatisch ein bisschen sauer auf seinen Anwalt. Sal ist nicht schlecht