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Das Leben zweier Frauen, verwandt und doch einander fremd, ist verwoben durch Verleumdung und Verlust. Die eine, Helene, aufmüpfig, andersdenkend und verstoßen vom Vater, erlebt die Hölle auf Erden im Nazi-Deutschland der 40er Jahre. Die andere, Selina, glaubt, dass das Jahr 1995 keine Überraschungen für sie bereithält. Doch dann kommt es anders: Selina findet heraus, dass ihre verstorbene Mutter Ruth das Kind einer NS-Zwangsadoption war. Ruths leibliche Mutter, Helene Dörenburg, gilt als verschollen. Selina beginnt, nach ihr zu suchen, und deckt mühsam das dunkle Kapitel um Krieg, Verfolgung und Verrat auf. Für die bis dahin historisch desinteressierte Selina wird die deutsche Vergangenheit zu einer persönlichen Angelegenheit. Im Kampf gegen die Zeit und in der Angst, dass der Tod schneller ist als sie, folgt sie Schritt für Schritt dem Weg der Helene Dörenburg. Er führt sie durch das nationalsozialistische Deutschland in das Frankreich der Nachkriegsjahre. In Frankreich macht Selina schließlich eine folgenschwere Entdeckung.
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Seitenzahl: 585
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ines Herziger
Lügen in sepia und schwarz-weiß
Ines Herziger
Lügen in sepia und schwarz-weiß
Roman
Inhalt
1: Berlin-Wilmersdorf, Dezember 1994
2: Potsdam, Sacrow, Oktober 1995
3: Zwei Wochen später, Sacrow, Oktober 1995
4: Berlin, April 1939
5: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, Oktober 1995
6: Berlin, April 1939
7: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, Oktober 1995
8: Berlin, Mai 1939
9: Berlin, acht Wochen später, Juli 1939
10: Berlin, Silvester 1939
11: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, Oktober 1995
12: Berlin, Januar 1943
13: Berlin, Oktober 1995
14: Berlin, Februar 1943
15: Berlin, November 1995
16: Berlin, Februar 1943
17: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, Dezember 1995
18: Berlin, Polizeigebäude Alexanderplatz, März 1943
19: Potsdam, Forststraße, Mai 1996
20: Berlin, Krankenhaus Auguste-Viktoria zu Schöneberg, Mai 1943
21: München, Juni 1996
22: Berlin, Frauengefängnis Barnimstraße, Mai 1943
23: Halle an der Saale, Juni 1996
24: Berlin, Dezember 1943
25: Berlin, August 1996
26: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, April 1944
27: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, August 1996
28: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Mai 1944
29: Potsdam, Forststraße, August 1996
30: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, 14. Juli 1944
31: Potsdam, Sankt-Johanna-Krankenhaus, August 1996
32: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Juli 1944
33: Fürstenberg/ Ravensbrück, August 1996
34: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, August 1944
35: Fürstenberg, August 1996
36: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Oktober 1944
37: Berlin, Dezember 1944, Heiliger Abend
38: Wenige Kilometer vor Walcourt, Belgien, August 1996
39: Berlin, 16. April 1945
40: Walcourt, Belgien, August 1996
41: Konzentrationslager Sachsenhausen, Sonderbau, früher Morgen des 21. April 1945
42: Walcourt, Belgien, August 1996
43: Im Wald bei Below, 23. April 1945
44: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, August 1996
45: Berlin-Wedding, Prinzenallee, September 1945
46: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, August 1996
47: Sazilly, 40 km nordwestlich von Saumur, September 1996
48: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, September 1996
49: Berlin, Reichssicherheitshauptamt, April 1944
50: Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, September 1996
51: Potsdam, Forststraße, Anfang Dezember 1996
Sazilly, 10. Januar 1997
Ein Nachwort
Für meine Eltern und Brüder von Herzen.
Und für Jola, die Liebe meines Lebens, ohne die dieses Buch nie zustande gekommen wäre.
Das Höchste, was man erreichen kann,
ist zu wissen und auszuhalten,
daß es so und nicht anders gewesen ist,
und dann zu sehen, was sich daraus – für heute – ergibt.
Hannah Ahrendt
Es war herrlich. Der Duschkopf rauschte, das Wasser floss über ihren Kopf, rann an ihrem Kinn hinunter und überspülte Hals und Schultern. Der Duschvorhang klebte wie immer an ihrem Hintern, aber das war ihr egal. Sie ließ das Wasser an sich herablaufen, stand mit geschlossenen Augen einfach nur da. Sie atmete tief ein und wieder aus und genoss die Ruhe. Sie genoss die Ruhe des Alleinseins wie das Alleinsein überhaupt. Niemand war da, mit dem sie sich unterhalten oder streiten musste. Niemand war da, mit dem sie sich zu arrangieren hatte, der ihr sagte, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Für sie war das ein Privileg. Eine halbe Ewigkeit war Scrolan nun schon unter der Dusche. Und sie hätte noch länger hierbleiben wollen, wenn nicht das Wasser bereits ihre alte, faltige Haut aufgeweicht hätte und sie dünn und schrumpelig aussehen ließ. Sie öffnete die Augen und schob den Vorhang zur Seite. Der Wasserdampf verteilte sich im Raum und verzog sich nur langsam durch die Tür, gab die Sicht auf den Spiegel gegenüber frei. Stück für Stück materialisierte sich dort ihr schlaffer Körper und erinnerte an die halbleeren Mehlsäcke der Bäckerei Kronstedt von nebenan. In solchen Momenten fragte sie sich, warum sie den dämlichen Spiegel ausgerechnet dort hingehängt hatte. Jedes Mal, wenn sie duschte, sah sie, dass ihr Körper mehr und mehr dem Verfall preisgegeben war.
Sie drehte sich nach links, nach rechts und wieder zurück. Sie griff sich in die Lenden und stellte sich so gerade wie möglich hin. Mit dem Blick in den Spiegel prüfte sie, ob sie zu- oder abgenommen hatte. Das tat sie jedes Mal, bei jedem Duschen. Als Maß nahm sie die Fliesenfugen an der Wand hinter sich: Eine Fliese maß in der Breite zwanzig Zentimeter, zwei Fliesen also vierzig. Wenn sie die Fugen rechts und links und in der Mitte dazurechnete, waren es etwa zweiundvierzig. Diese zweiundvierzig Zentimeter füllte sie heute aus. Das war gut. Sorgen musste sie sich nur machen, wenn zwischen ihren Hüften und den äußeren Fugen zu viel Platz übrigblieb. Sie hatte keine Ahnung, warum manche Menschen im Alter zur Fettleibigkeit neigten und andere, wie sie, zur Dürre. Sie wusste nur, dass sie von Monat zu Monat immer weniger Appetit hatte und oft nur deshalb aß, weil der Verstand es ihr befahl.
Scrolan hob mit der Hand die linke Brust an und ließ sie wieder los. Die klatschte gegen den Bauch. Scrolan schüttelte den Kopf. Was für ein Drama! Als sie noch ganz jung gewesen war, hatte sie diese Dinger gehasst. Überflüssige Körperzusätze, die von Monat zu Monat größer geworden waren und die sie am liebsten hinter den Armen versteckt gehalten hatte. Und jetzt? Jetzt hingen sie auf dem Oberbauch, reichten über die mageren Rippen bis hinunter zum Bauchnabel und glichen kleinen Beuteln. Das Alter war so absurd!
Sie zog das Handtuch vom Halter und trocknete Arme, Bauch und Rücken gründlich ab. Dabei dachte sie an Zeiten mit Klo auf halber Treppe und wusste, dass es ihr jetzt gut ging. Jetzt hatte sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit warmes Wasser. Sie drehte nur den Hahn auf und duschte, wann immer sie Lust dazu hatte. Kein Kesselanheizen mehr, kein Kohlenschleppen, kein Warten bis das Wasser heiß war. Alles war bestens. Wenn da nur nicht das Altern gewesen wäre. Von Jahr zu Jahr glich das Einsteigen in die Wanne einem Aufstieg in die Alpen. Der Rand schien jedes Mal höher, die Emaille glatter und die Gelenke steifer. Vor allem die rechte Hüfte, diese Sollbruchstelle aus dem Krieg machte ihr Sorgen. Nächstes Jahr würde sie das Bad umbauen lassen, am besten gleich nach dem Winter. Eine bodengleiche Dusche ohne Stolperstellen, ohne Wannenrand und mit einer Tür, die man ganz zur Seite schieben konnte, mit milchkaffeebraunen Fliesen auf dem Boden und helleren, geflammten an den Wänden. Ja, genau so sollte es werden.
Und sie würde diesen Spiegel abmachen.
Sie hob den linken Fuß auf den Wannenrand und rubbelte den Unterschenkel trocken. Dann wechselte sie das Bein. Sofort kam, was immer kam. Der stechende Schmerz in der rechten Hüfte, wie von einem Messer, das bei der OP vergessen worden war. Er ließ sie aufstöhnen. Bis zum Nacken drang der Schmerz und erinnerte sie daran, dass es einmal eine Zeit gab, in der sie täglich in den Keller gerannt war um zu überleben, eine Zeit, in der ihr alles gefehlt und sie geglaubt hatte, dass es nichts mehr zu verlieren gab. Bis ihr diese Bombe auf den Kopf gefallen war.
Doch sie hatte überlebt. Sie hatte sich aus dieser Zeit herausgeschält und Schicht für Schicht ins Leben zurück gekämpft. Dafür war der Schmerz. Um nicht zu vergessen, was sie zurückgelassen hatte.
Aber musste es jedes Mal so saumäßig wehtun...?
Langsam nahm Scrolan den Fuß vom Wannenrand, atmete tief ein und setzte beherzt das rechte Bein nach draußen. Wie gern hätte sie jetzt einen Griff gehabt, an dem sie sich hätte festhalten können.
Als sie auftrat, flutete der Schmerz erneut die Knochen. Heute war es besonders schlimm. Sie wartete einen Augenblick, biss schließlich die Zähne zusammen und zog das linke Bein nach, weil das schon über dem Wannenrand schwebte.
Und da passierte es.
Sie rutschte auf den glitschigen Fliesen aus. Die Wanne hielt den linken Fuß fest, zerrte an der Hüfte und riss das Bein weg, der Oberkörper drehte sich und ließ sie rücklings zu Boden gehen. Und bevor sie auf die Fliesen krachte, bevor ihr Kopf aufschlug und sie an nichts mehr denken konnte, bevor ein dunkler Schleier über ihre Augen fiel, hörte sie, wie ein Knochen brach, und spürte, dass er sich ins Fleisch hineinbohrte. Dann merkte sie nichts mehr. Sie sank hinab in einen Raum, in dem es keinen Schmerz mehr gab...
Sie kam zu sich.
Die Augenlider flackerten, waren zu schwer, gehorchten nicht. Zwei Vorschlaghämmer donnerten gegen die Schläfen, Fäuste tanzten im Magen. Sie wusste nicht, wie lange sie hier gelegen hatte. Kalt war ihr. Der ganze Körper zitterte. Sie versuchte sich zu bewegen, doch sofort war der Schmerz wieder da. Sie schrie auf, schnappte nach Luft, wimmerte. Obwohl sie nicht weinte, schossen ihr Tränen in die Augen. Sie konnte sich keinen Zentimeter rühren, ohne dass das Messer wieder zustach, ihr das Fleisch aufriss und sie ausweidete, als wäre sie ein Rind am Haken eines Schlachters. Sie hob den Kopf und sah, dass der linke Fuß den Anschluss zum Aussteigen verpasst hatte. Er lag noch immer auf dem Wannenrand, und das linke Bein stand wie eine Auffahrrampe gestreckt im stumpfen Winkel nach oben. Die Hüfte schmerzte als ob sie in einem Schraubstock zusammengepresst wäre. Sie ahnte Schlimmes und wollte sich lieber nicht bewegen.
Wenn sie allerdings so liegen blieb, nackt auf kalten Fliesen, würde sie krepieren. Sie fragte sich, wo das Handtuch war.
Sie drehte den Kopf nach oben und sah, dass sie die Toilettenschüssel nur um wenige Zentimeter verfehlt hatte. Schräg über ihr war die Steigleitung für die Heizung. Sie überlegte nicht lange, streckte den Arm danach aus und reichte mühelos heran. Ihre Finger umschlossen das Rohr. Dann zogen die Arme den Rest des Körpers mit ganzer Kraft von der Wanne weg.
Sie brüllte vor Schmerz. Er presste sich durch die Lungen in die Kehle, hallte in der Wohnung wider und blieb trotzdem in ihr stecken. Irgendwie schaffte sie es, das Bein vom Wannenrand zu ziehen. Wie sie hier auf dem Boden lag, kam ihr es vor, als sei der ganze Unterkörper ein einziger Matsch aus Knochen, Knorpel und aufgerissenem Fleisch. Sie sah nach unten, meinte, Blut zu spüren, sah aber keins. Erschöpft blieb sie für etliche Minuten liegen. Dann nahm sie sich zusammen, drehte den Oberkörper zur Seite und angelte nach dem Türpfosten.
Später würde sie sich nicht mehr erinnern können, wie sie es in den Flur geschafft hatte. Sie würde nicht mehr wissen, dass sie hinüber zum Telefontischchen gerobbt war, das Telefonkabel um ihr linkes Handgelenk gewickelt, sich mit der anderen Hand am Pfosten abgestützt und mit aller verbliebenen Kraft das Telefon heruntergerissen hatte. Sie würde es nicht mehr wissen, weil der Apparat auf ihre Stirn krachte und eine blutende Wunde hinterließ, und mit dem Blut kam der dunkle Schleier zurück und nahm ihr jegliches Bewusstsein.
Stehen. Weiterfahren. Halten. Stehen. Hupen. Weiterfahren. Halten. Es war ein grässliches Spiel mit Selinas Geduld. Und dabei war Geduld nicht ihre Stärke. Geduld war etwas für Menschen, die Zeit hatten. Sie hatte keine.
Überall staute sich der Verkehr. Eine Baustelle kam nach der anderen. Und der Typ im Auto vor ihr schien zu schlafen statt zu fahren. Selina hasste ihn, obwohl sie ihn nicht kannte. Nach einer Ewigkeit passierte sie den Waldpark, dann die Rote Kaserne, und als sie endlich an Nedlitz vorbei war und Neu Fahrland hinter sich gelassen hatte, atmete sie durch, bog von der Bundesstraße nach rechts ab und folgte der engen, kaum befahrenen Allee, an deren Ende das Örtchen Sacrow lag.
Viel gab es in Sacrow nicht: Ein kleiner See mitten im Wald, die Havel, die direkt an wunderschönen Grundstücken mit ebenso wunderschönen Villen vorbeifloss, die Heilandskirche mit dem Glockenturm und... Himmelreich. Es war typisch für Edda ein Altersheim mit einem solchen Namen auszuwählen. Himmelreich! Wie konnte man das nur so nennen? Dabei machte Himmelreich seinem Namen kaum Ehre. Es war nicht besonders komfortabel. Modern war es auch nicht und außerdem viel zu weit weg von zu Hause. Und obwohl der Heimplatz recht günstig war, fraßen sich die Kosten dafür inzwischen durch Eddas Vermögen. Bald würde auch Selinas Geld dran sein. Mit dem, was Selina von ihrer Mutter geerbt hatte, kam sie zwar ganz gut zurecht, aber das musste ja noch eine Weile reichen.
Sie parkte ihr Auto wie immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite, überquerte die Allee, schlüpfte durch das Gartentor und folgte unter Buchen und Kastanien dem Pfad bis zur linken Seite der zweiachsigen Freitreppe zum Haupteingang hinauf. Dort verharrte Selina einen Moment. Sie sah wie immer über das Geländer hinweg zum Fluss, der hinter dem Grundstück dahinschlich. Verärgertes Quaken der Enten drang an ihr Ohr. Sie wendete sich dem Eingangsportal zu und drückte die Holztür auf, ging durch den Windfang, an dessen Ende eine zweiflügelige, weiß gestrichene, mit kleinen Oberlichtern versehene Schwingtür in das Treppenhaus führte. Dort hing von der Decke ein mächtiger Kandelaber herab. Über den mit bunten Mosaiksteinchen verzierten Fußboden gelangte sie zur Treppe und ging ins obere Stockwerk hinauf. Im Obergeschoss sah es weniger prunkvoll aus. Alte Fenster, alte Türen und Wände, denen ein Anstrich fehlte, Linoleum, das einen Sonderplatz im DDR-Museum verdiente, rissige Decken und zerschrammte Gänge.
Selina steuerte nach links, zum Zimmer ihrer Großmutter. Auf dem Flur begegnete ihr Schwester Terese, deren träger, fast watschelnder Gang zur Nonnentracht passte. Selina lächelte sie an und nickte ihr grüßend zu. Terese tat es ihr gleich und schlurfte weiter. Ohne anzuklopfen ging Selina ins Zimmer. Sie gab Edda, die mit einem Buch im Sessel neben dem Fenster saß, einen Kuss auf die Stirn. Dann warf den Rucksack auf den Boden und warf sich in den zweiten Sessel.
"Hast du was erreicht?" Edda legte das Buch auf den Teetisch, der neben ihr stand.
"Was meinst du?"
"Bei der Krankenkasse. Wegen des Rollstuhls."
Selina stritt sich seit Wochen mit der Krankenkasse um einen kleineren, moderneren Rollstuhl für Edda. Der alte fiel bald auseinander und machte es wegen seiner Größe ohnehin schwierig, im kleinen Badezimmer vernünftig zu rangieren. Wenn Edda aufs Klo musste, rief sie jedes Mal die Schwestern um Hilfe.
"Ach ja, verdammt nochmal. Dieses Ding.", antwortete Selina.
"Fluch' nicht, mein Schatz!", sagte Edda. "Und ich will auch nicht das Wort mit Es-Zeh-Ha hören."
Ent-s-c-h-uldigung... Nein, ich hab' noch nichts erreicht. Die tun sich ziemlich schwer damit, meinen, er wäre nicht notwendig. Die wollen wahrscheinlich das Geld sparen. Die Frau von der der Krankenkasse sagte mir, das sei eigentlich Sache des Heims. Ich muss noch mal mit der Heimleitung sprechen. Ich finde, die sollten sich nicht so aus der Affäre ziehen." Während sie sprach, griff sie nach Großmutters Buch. Es war eins von Hermann Hesse. Selina blies dicke Backen und legte es an seinen Platz zurück.
"Ach, Selina!", sagte Edda. "Das Heim hat noch nicht einmal Geld, den Gemeinschaftsraum oder den Speisesaal zu streichen. Und der ist ja für alle da. Aber in meinem Rollstuhl sitze ja nur ich drin."
Selina fuhr sich mit der Hand über die Augen und massierte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Dann hob sie den Kopf und grinste: "Na, vielleicht ist das ja die Lösung: Wir lassen alle ab und zu mit deinem Rollstuhl herumfahren, dann bezahlt ihn ja vielleicht das Heim."
"Oh je, das muss ich ja nun nicht haben!"
"Apropos Müssen: Darf ich mal...?" Ohne eine Antwort abzuwarten stand Selina auf und ging zum Badezimmer. Edda wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Das Badezimmer war ein mittelgroßer Raum ohne Schmuck und ohne Fenster. In der linken Ecke, gleich hinter der Tür befand sich die Dusche, rechts daneben stand das Klo. Selina schätzte die Platzverhältnisse ab: Mit einem schmaleren Rollstuhl würde Großmutter problemlos da allein rauf- und runterkommen. Selina klappte den Deckel hoch und setzte sich aufs Klo. Ihr Blick fiel auf den Waschtisch, der unter dem Spiegel stand. Das Tischchen brach unter der Last der Utensilien fast zusammen und glich der Auslage eines Drogeriegeschäfts: vier Zahnbürsten, zwei Tuben Zahnpasta, drei Tuben Haftcreme, ein Töpfchen mit Gesichtscreme für trockene Haut, eins mit extra Collagen und ein drittes für die Haut ab dreißig, zwei volle Tuben Fußcreme und eine, die halb leer war, fünf Flakons Parfüm, das Glas, in dem des Nachts die Zähne lagen, vier Mal Nagellack, zwei Mal Lackentferner, drei Becher mit Augenbrauenstiften, fünf Pinzetten, vier Nagelfeilen, drei Kämme, eine Bürste und... Ein Stapel Pappbecher?
Selina hob den Hintern an, griff nach dem Stapel und ließ sich wieder auf die Kloschüssel fallen. Sie identifizierte die Becher als gebraucht, offensichtlich vom Kaffeeautomaten aus dem Gemeinschaftsraum. Selina zählte. Fünfzehn. Wofür wollte Edda fünfzehn Pappbecher? Und dazu noch gebrauchte? Selina schüttelte den Kopf. Sie hatte es längst aufgegeben, die skurrilen Sammlungen ihrer Großmutter zu hinterfragen. War am Ende doch sowieso egal.
Nachdem sie ins Zimmer zurückgekehrt war, ging sie wortlos an den Kleiderschrank, schob den teuren Pelz zur Seite und holte Eddas Mantel heraus.
"Komm, lass uns rausgehen.", sagte sie und bugsierte den alten, viel zu großen Rollstuhl zum Sessel. Sie wuchtete Edda hinein und sah dabei zu, wie die alte Dame sich unbeholfen in ihren Mantel wickelte.
Diese kleine, zierliche Frau, dachte Selina, hat so viel Schlimmes erlebt. Nicht nur den Krieg und den Hunger, sondern auch den Tod meiner Mutter. In einer Zeit, in der Edda letztlich alles hatte, alles außer Reisefreiheit und Bananen und ein Mittel gegen Krebs, kam das Schicksal und nahm ihr die Tochter.
Selina kannte niemanden, der liebevoller, ehrlicher und genügsamer war als Edda Sandorn.
Zur gleichen Zeit in Berlin-Mitte, Universitätskrankenhaus Charité
"Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, Frau Rautegaard, glauben Sie mir." Auf dem Holzstuhl neben Scrolans Bett saß eine Frau von Mitte Fünfzig. Sie hatte grässlich gefärbtes Haar, und Scrolan überlegte schon, es ihr zu sagen.
Sie tat es nicht. Stattdessen knurrte sie nur.
Scrolan ärgerte sich nicht über diese Frau, die der Medizinische Dienst verbeigeschickt hatte, mit einer Haarfarbe, die in der Mustersträhnchensammlung eines billigen Friseurs irgendwo zwischen Kackbraun und Schimmelpilzblond hing. Sie ärgerte sich vielmehr über diesen grauenvollen Arzt. Nachdem sie schon fast ein halbes Jahr damit zugebracht hatte, wieder auf die Beine zu kommen, hetzte er ihr diese Trude auf den Hals. Nun musste sich Scrolan mit Händen und Füßen wehren, um nicht ins Heim gesteckt zu werden. Praktisch in den Vorhof zur Hölle!
Hatte man ab siebzig gar keine Rechte mehr? Keine Freiheit, über sich selbst zu bestimmen?
Zugegeben: Im Moment sah es nicht besonders gut für sie aus. Sie lag nach dem Sturz im Bad das dritte Mal in neun Monaten in diesem dämlichen Krankenhaus, hatte die dritte dämliche Operation hinter sich und musste zum dritten Mal diesen grässlichen Fraß ertragen. Alles, was sie brauchte, war nur ein wenig mehr Zeit. Dann würde sich alles wieder richten.
Und außerdem hatte sie ja noch Irina.
Irina war es, die Scrolan nackt und ohne Bewusstsein im Flur gefunden hatte. Wäre Irina nicht gekommen, wer weiß, was aus ihr geworden wäre? Aber sie hatte sie gefunden, und sie wird sich weiterhin um sie kümmern.
Nein, ein Heim war völlig unnötig. Vor allem, wenn Irina von nun an drei, vier Mal die Woche zu ihr kam, statt wie bisher nur ein Mal.
Jeden Freitag ab viertel vor zehn putzte Irina die Wohnung, wusch die Wäsche und erledigte die Einkäufe. Kurzum, sie kümmerte sich um alles, wozu Scrolan keine Lust mehr hatte. Und Irina war immer sehr gewissenhaft. Ganz anders als die Putzhilfen, die Scrolan früher in den Wahnsinn getrieben hatten. Drei Haushaltshilfen hatte Scrolan schon in hohem Bogen rausgeworfen, allesamt deutsch, aber schlampig und renitent mit großer Klappe.
Das Beste an Perestroika und Glasnost waren die billigen und guten Arbeitskräfte aus dem Ostblock.
Scrolan mochte Irina, denn sie war gründlich und führte keine Widerworte. Nach zwei Jahren sprach sie leidlich deutsch mit einem kräftigen Schuss Berliner Slang. Scrolan schätzte sie auf Mitte Zwanzig. Ihr wahres Alter hatte sie noch immer nicht herausgekriegt. Irina bewohnte eine winzige Wohnung in Weißensee und fuhr sechs Tage die Woche die anderen Kunden ab. Die würde sie selbstverständlich aufgeben müssen, wenn Scrolan sie für die ganze Woche bezahlte. Ein lukratives Angebot, das Irina garantiert nicht ablehnen würde...
Ein Heim kam nicht in Frage! Scrolan fühlte sich noch viel zu jung dafür. Ihre Lebensenergie war viel zu groß, um ihr Dasein in einem Gemeinschaftssarg zu fristen.
"Ein Heim kommt nicht in Frage!", sagte sie. "Damit das klar ist. Ein für alle Mal."
"Frau Rautegaard, das einzige, was ich Ihnen raten kann, ist, sich das noch einmal zu überlegen. Sie werden es zu Hause nicht schaffen.", sagte die Trude, und als ob sie Scrolans Gedanken erraten hätte, fügte sie hinzu: "Ihre Haushaltshilfe wird nicht die ganze Zeit bei Ihnen sein können. Und wie ich Sie einschätze, halten Sie es nie und nimmer mit nur einer Frau aus."
"Sie kennen mich nicht! Sie kennen mich ganz und gar nicht!", fauchte Scrolan. "Und außerdem: Wie wird's denn im Heim sein? Da hocken etliche Alte aufeinander und gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Würde mich nicht wundern, wenn es dort ab und zu einen Todesfall gäbe, weil der eine Kauz dem anderen eins über den Schädel gezogen hat."
"Na, Sie haben ja ein Bild von Pflegeheimen.", erwiderte die Trude und rieb sich die Stirn.
"Dann sagen Sie mir, dass es nicht so ist!"
"Ich weiß da eins, das Ihnen gefallen könnte. Und wenn wir eine sogenannte Pflegestufe beantragen – Geld aus der neuen Pflegeversicherung, die es seit Anfang dieses Jahres gibt – können Sie sich das auch leisten, glaube ich."
"Na, was Sie nicht so alles glauben." Scrolan schniefte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie drehte den Kopf zum Fenster, wollte endlich wieder allein sein. Für sie war das Thema beendet.
Es dauerte eine Weile, bis die Trude das begriff und sich verabschiedete. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, rief Scrolan ihr hinterher: "Und suchen Sie sich einen anderen Friseur!"
Dann drehte sie sich zum Nachtisch und sah, dass sie einen Prospekt liegen gelassen hatte.
***
Scrolan spürte etwas am rechten Arm. Eine Fliege vermutlich.
Zu faul, um die Augen zu öffnen und nachzusehen, wischte sie mit der linken Hand das Gekribbel weg. Nach einer Weile war es wieder da. Zwei Mal verscheuchte sie diese dämliche Fliege. Ohne Erfolg. Scrolan öffnete die Augen, um das hartnäckige Biest ins Visier zu nehmen. Da sah sie, dass die Fliege Irina hieß und sich gerade anschickte, Scrolan ein viertes Mal am Arm zu streicheln.
"Irina...", murmelte Scrolan verschlafen.
"Ich Sie nicht wecken wollen." Irinas zarte Stimme legte sich aufs Bett. "Aber muss bald wieder jehn."
"Wie lange sitzt du schon hier?"
Irina zuckte mit den Schultern. "Vielleicht eine Stund?"
"Warum hast du mich nicht eher geweckt?" Scrolan richtete sich auf und setzte sich bequemer hin.
Irina sprang auf und rückte das Kopfkissen zurecht. "Ich nicht stören wollen.", sagte sie.
"Ach, Irina! Du störst mich nicht! Ich freue mich immer, dich zu sehen."
Für ihre Besuche bei Scrolan ließ Irina regelmäßig die Mittagspause sausen. Das rührte Scrolan.
"Gut, dass du da bist, Irina. Ich wollte dich etwas fragen."
"Wann Sie kommen hinaus?", fragte Irina.
"Ich? Ach, wenn ich das wüsste! Im Moment sieht es eher so aus, als wollte man mich einsperren."
"Warum? Haben Sie etwas jemacht?"
"Wie man's nimmt. Ich war halt nicht achtsam genug."
"Nicht Grund einzusperren."
"Da hast du ganz recht!"
Scrolan sah Irina an. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Irina rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, fuhr sich ständig mit der Hand durch das Haar und vermied es, anders als sonst, Scrolan anzusehen.
"Was ist los, Irina?"
"Ich wollen Ihnen etwas sagen."
"Das trifft sich gut. Ich wollte dir auch etwas sagen, das heißt, ich will dich etwas fragen."
"Ja? Was?" In Irinas Augen flatterte Unruhe.
"Du zuerst!", sagte Scrolan.
"Jaaa..." Irina machte aus zwei Buchstaben ein Wort von einem halben Meter Länge. "Sie wissen, ich kommen aus Nähe von Bratislava."
"Ja. Und?"
"Es ist so." Irina stockte. "Ich haben immer Heimweh. Ich nie richtig zu Hause hier. War immer schwer für mich. Sehr schwer."
"Ja?" Scrolan ahnte, dass das, was jetzt kam, ihr nicht gefallen würde.
"Ich jehen zurück. Zurück nach Heimat.", sagte Irina endlich.
Scrolan traf der Schlag: "Nein! Das ist nicht dein Ernst!"
Irina sprach unbeirrt weiter: "Stadt zu groß. Ich zu allein. Und Familie möchten auch, dass ich wiederkommen. Agentur wird bestimmt jute Frau für Sie finden. Janz bestimmt. Ich schon mit Chef jesprochen."
"Irina. Tu mir das nicht an! Ich brauche dich hier! Du bist die einzige, die ich noch habe!" Scrolan starrte sie an. Irina aber schwieg, schaute auf ihre blank geputzten Schuhe.
Nach einer Weile sagte sie: "Frau Rautegaard, bitte verstehen Sie: ich müssen jehen. Meine Mamutschka braucht mich. Sie allein mit meine Kind."
"Du hast ein Kind?!"
"Ja. Latí. Das ist Name von meine Sohn. Ist fünf Jahre alt. Braucht mich. Als ich herkam, ich gar nicht so lange bleiben wollen. Jetzt aber hohe Zeit zurück zu jehen."
"Ach, Irina!", war jetzt alles, was Scrolan herausbrachte. Verzweiflung wallte auf. Und Resignation.
"Agentur hat viele jute Hilfen.", sagte Irina nun.
"Nein, eine Neue will ich nicht! Keine wird so gewissenhaft sein wie du."
Es folgte Schweigen.
Scrolan sah auf ihre alten, von Flecken übersäten Hände. Nach einer Weile hörte sie Irinas Stimme: "Was aber wollten Sie mich fragen?"
Scrolans Blick blieb auf den Händen liegen. "Ach nichts, Irina. Nichts.", sagte sie und unterdrückte ihre Tränen.
Selina bugsierte den Rollstuhl über Baumwurzeln und Erdwalle den Weg zwischen Wald und Wasser entlang, bis hin zur Holzbank am südlichen Ufer des Sees. Hier stellte sie ihn links neben die Bank, klemmte die Räder gegen eine Wurzel, zog die Handbremse an, raffte die Wolldecke aus dem Rückennetz und schlang sie um Eddas Schultern. Sie selbst setzte sich auf die Bank und holte aus dem Rucksack zwei Äpfel heraus. Einen gab sie Edda. Sie aßen schweigend und genossen die Ruhe und die Aussicht.
Selina schloss die Augen, lehnte sich zurück und atmete tief ein. Schön war es hier. Friedlich. Und angenehm warm. Vielleicht war es der letzte schöne Herbsttag vor dem Winter.
Er roch nach Wasser und Wald, und außer dem leisen Plätschern der Wellen und das Schnattern einer Ente hörte man nichts als Menschenferne. Das war genau das, was Selina jetzt brauchte. Die Sonne schimmerte durch ihre Augenlider und kreierte eine Patchworkdecke aus Äderchen und Haut. Auf der Pupille kringelten sich Narben. Winzige Würmer, die vorüber huschten, wann immer Selina sie ansehen wollte. Im Hintergrund hörte sie Krähen krächzen. Langsam rutschte sie an ihren Gedanken herunter. Sie bewegte sich auf der Grenze zwischen Wachsein und Dämmerung, als Edda die Stille durchbrach: "Du bist heute so früh da. Geht das denn?"
Selina blinzelte. Die Helligkeit tat den Pupillen weh. "Ich habe nur Rechtsgeschichte.", sagte sie und schloss die Augen wieder.
"Und warum bist du dann nicht in der Uni? Ich dachte, die Vorlesungen sind wichtig."
"Rechtsgeschichte ist wie Geschichtsunterricht immer ist. Es ist die Geschichte von alten Männern. Öde, einseitig und nutzlos."
"So siehst du das? Nun ja... Wo seid ihr gerade?"
"Weimarer Republik. Danach kommt die Nazizeit."
"Und das interessiert dich nicht?"
"Nö. Hat mich nie interessiert."
Ihre Großmutter quittierte ihre Antwort mit einem kurzen Hm, sagte aber nichts.
Selina streckte sich aus, stopfte die Hände unter den Hintern und machte es sich bequemer.
So war es schon immer, dachte sie. Auch in der Schule. Vor allem in der Schule: Das ewige Gelaber über die Vergangenheit, das Gesülze über Krieg und Widerstand, Juden und KZ, Kommunisten, Sozialisten, Antifaschisten, KPD und Manifest. Generationenschuld. Generationenbuße. Das alles interessierte Selina nicht die Bohne. Hatte es nie.
"Schau dich mal an, Omi.", sagte Selina und legte den Kopf in den Nacken. "Du bist in dieser Zeit aufgewachsen, hast ein Kind durch den Krieg gebracht und viel Schlimmes erlebt. Und? Redest du ständig davon? Nein. Du lässt mich mit solchen alten Geschichten zufrieden."
Edda erwiderte nichts.
Nach einer Weile sagte sie: "Mir wird kalt, Selina. Lass uns gehen."
Als sie die Einfahrt zum Heim hinaufkamen, sah Selina einen Krankenwagen vor dem Eingang stehen. Sie schob ihre Großmutter zum gläsernen Aufzug auf der rechten Seite der Villa. Während sie warteten, dass er herunterkam, wurde eine alte Frau, knochig und faltig im Gesicht und mit weißgrauem, kurzem Haar aus dem Krankenwagen gehoben. Pfleger griffen sie an beiden Seiten unter die Achseln und zwängten sie in einen Rollstuhl. Das schien der Alten nicht zu gefallen. Sie knurrte die Pfleger an, und Selina hörte, wie sie mit rauchig kratzender Stimme schimpfte, dass sie dieses dämliche Scheißding nicht brauchen würde.
Die Pfleger ignorierten sie. Und während sie immer wieder den Kopf schüttelte und in sich hinein brummte, wurde sie an Selina und Edda vorbei geschoben, direkt in den gerade angekommenen Aufzug hinein. Der Pfleger drehte den Rollstuhl um hundertachtzig Grad und drückte den Knopf zur Fahrt nach oben. Bevor die Türen sich schlossen, hob die Alte ihren Kopf und sah Selina direkt in die Augen. Die Alte verstummte von einer Sekunde auf die andere und erbleichte im gleichen Augenblick, ganz so als ob sie einen Geist gesehen hätte. Sie starrte Selina auch dann noch an, als sich der Glaskasten bereits nach oben in Bewegung setzte.
"Kennst du diese Frau?", fragte Selina.
"Nein. Keine Ahnung, wer das ist.", sagte Edda.
"Hast du bemerkt, wie sie mich angesehen hat?"
"Nein. Hat sie das?"
"Ja. Sie sah ganz komisch aus."
"Na, komisch sehen hier viele aus.", sagte Edda. "Guck dir mal die Zimke dort drüben an. Sieht die etwa normal aus?" Sie wies auf eine Frau, die auf der Parkbank gegenüber dem Eingang saß. Ihr feuerrotes Haar stand in alle Richtung ab. Sie sah aus wie die Meduse im Windkanal.
Es stimmte. Normal war hier nichts.
Selina verließ das Heim über die rückwärtige Tür, trat auf die Terrasse und nahm die breite steinerne Treppe, die hinunter in den Park führte. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen und schaute zur Havel hinüber. Der Fluss trieb wie immer lautlos dahin, sandte seinen sanft fischigen Geruch in Selinas Nase.
Es war kühler geworden. Von der Wärme des Tages war jetzt am Abend nichts mehr zu spüren.Selina schlang die Arme um die Brust, trat in den Park und ging unter den Trauerweiden hindurch zum Ufer. An der Böschung blieb sie stehen, so dicht, dass die Schuhspitzen beinah das Wasser berührten. Fast jedes Mal, bevor sie Himmelreich verließ, kam sie hierher, an die Stelle, wo sie die Idylle hören konnte. Das Rauschen des Schilfs, die schwappenden Wellen, das Lachen der Enten. Sie schaute über das Wasser, inhalierte die Ruhe und konnte nicht verstehen, dass das alles zu DDR-Zeiten Sperrgebiet war. Eine Schönheit, die nur den Eliten vorbehalten gewesen war.
Das Ufer drüben war in der Dämmerung nur noch schemenhaft zu erkennen. Die Umrisse verschmolzen mit dem Wasser, und es war nicht mehr zu erkennen, wo das eine aufhörte und das andere begann. Selina sog die Luft ein. Es roch nach Herbst. Dieser erdige Geruch kroch ganz in sie hinein und erfüllte sie mit Wehmut. Die Luft staute sich in ihren Lungen. Als Mama starb, hatte es genauso gerochen. Jedes Mal, wenn der Herbst Einzug hielt, kamen die Erinnerungen. Bilder halbkahler Bäume, steriler Krankenhausflure und unbequemer Besucherstühle. Draußen duftete es nach Erde und fallenden Blättern, drinnen stank es nach Laken, Wäschestärke und Karbol.
Langsam leerte sie die Lungen wieder. Ihr Atem färbte den Wind und hinterließ kleine weiße Wölkchen, die sofort verschwanden. Vergängliche Kondensstreifen ihrer Existenz.
Sie drehte sich vom Ufer weg und merkte erst jetzt, dass sie Tränen in den Augen hatte. Schnell wischte sie sie weg und schaute zum Haus hinüber, zum Fenster hinauf, das zu Eddas Zimmer gehörte. Das Lämpchen auf dem Teetisch brannte.
Selina ging auf dem Schotterweg links an der Villa vorbei bis zur Pforte. Die Kiesel knirschen wohlig unter ihren Sohlen. Sie öffnete das Eisentor, huschte hindurch und ging zum Auto. Als sie die Autotür öffnete, sah sie, dass zwanzig Meter weiter eine Gestalt die Straße entlang schlich. Selina kniff die Augen zusammen und erkannte krumme Beine, einen krummen Rücken, einen Gehstock und schlabberige, graue Hosen. Am unteren Rand des Pullunders lugte ein Hemdzipfel hervor. Der gehörte eigentlich in die Hose. Der Mann zog das rechte Bein nach, sein Oberkörper schaukelte bei jedem Schritt und der Kopf versank tief in den Schultern.
Selina kannte diesen Gang. Er gehörte zu Otto Bach.
Otto Bach war lange Zeit vor Edda nach Himmelreich gekommen. In seinen lichten Momenten kauerte er traurig auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und begriff, wo er war und was er war: ein Witwer im Heim, der langsam den Verstand verlor. In den anderen Phasen seines Daseins war er Ende zwanzig und gerade aus dem Krieg zurückgekehrt. Dann ging er auf die Pirsch und suchte nach Käte, seiner Frau. Es war jedes Mal erstaunlich, wie einfach er aus Himmelreich entkam, ohne dass es irgendwer bemerkte. So wie offenbar jetzt gerade.
Selina schlug die Autotür wieder zu und ging ihm entgegen.
"Na, Herr Bach, wieder unterwegs?", rief sie, noch bevor sie ihn erreicht hatte.
Er aber schien sie nicht zu hören und ignorierte auch den Arm, den sie ihm entgegenstreckte. Er schlurfte vorbei. Selina blieb, wo sie war, und wartete, ob er den richtigen Weg einschlug.
Einen Moment später drehte er sich um und schaute Selina an: "Käte?"
"Nein, Herr Bach, Selina Sandorn. Sie wissen doch: Frau Sandorns Enkelin."
Er machte eine unwirsche Handbewegung, winkte ab, weil ihm offenbar nicht gefiel, was er da hörte. Dann drehte er sich um, ging weiter und brummte in sich hinein. Er steuerte zwar auf das Eisentor zu, schlurfte aber daran vorbei. Selina schüttelte den Kopf und lächelte. Schließlich folgte sie ihm, holte ihn nach ein paar Metern ein.
Sie fasste ihn am Arm und sagte sanft: "Komm, Otto, es ist Zeit reinzugehen."
Er ließ es sich gefallen. Sachte machten sie kehrt und gingen zurück zum Heim.
Im Flur kam ihnen Terese entgegen. Sie nickte Selina dankbar zu, sagte aber nichts und nahm ihr den alten Bach ab.
"Käte?", fragte er, dieses Mal an Terese gewandt.
Terese nickte nur und sagte: "Ja, mein Herz."
Inzwischen war die Dämmerung der Dunkelheit gewichen und machte aus der Fahrt nach Hause eine Fahrt mit brennenden Augen und verkrampftem Nacken. Erst als sie nach unendlichen Minuten die Bundesstraße erreichte und weit hinter Neu Fahrland schließlich die ersten Häuser von Potsdam sah, entspannte sie sich. Sie nahm den Weg über die Hegelallee, bog am Luisenplatz auf die Zeppelinstraße ein und folgte ihr bis zum Stadion, fuhr dort nach rechts in die Forststraße und erreichte endlich die Wohnsiedlung, in der sie aufgewachsen war und noch immer lebte. Dort stand das kleine blaue Haus, das sie von Edda und von ihrer Mutter übernommen hatte. Das Haus ihrer Kindheit.
Endlich zu Hause, warf sie den Mantel über den Stuhl im Flur, streifte die Schuhe von den Füßen und rief nach Gorbatschow.
Er kam sofort und strich ihr um die Beine.
Sie suchte im Kühlschrank nach der angefangenen Dose Katzenfutter von gestern, fand sie aber nicht und öffnete eine neue. Bevor sie ihm das Schüsselchen vor die Nase stellte, kraulte sie Gorbatschow an den Ohren.
"Na, warst du am Kühlschrank und hast die alte Dose aufgefressen?", fragte sie.
Gorbatschow antwortete mit einem fordernden Miauen.
"Ist ja gut, dann hab' ich sie dir eben gestern schon gegeben."
Gorbatschow setzte sich und fraß genüsslich.
Am nächsten Tag, Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow
Die erste Nacht war grauenvoll gewesen.
Nun saß Scrolan am Frühstückstisch mit drei Alten, die nur dummes Zeug redeten.
Was hatte sie hier nur verloren?
Dämliche Irina! Wenn sie geblieben wäre, müsste Scrolan das alles hier nicht ertragen. Meine Sohn braucht mich. Pah! Und was war mit ihr, mit Scrolan? Sie brauchte Irina mindestens genauso viel wie dieser Bengel. Mindestens! Aber statt das zu begreifen und ihre Kündigung zurückzunehmen, war Irina abgereist. Ein kurzer Besuch, eine kleine Träne und weg war sie!
Ohne sie war Scrolan aufgeschmissen. In der Wohnung zu bleiben, war aussichtslos geworden. Was sie aber am meisten ärgerte, war, dass sie dieser Trude vom Medizinischen Dienst hatte recht geben müssen.
Lustlos hatte sie in den Prospekten, die die Trude ihr ins Krankenhaus gebracht hatte, herumgeblättert. Dann war sie wie vom Blitz getroffen gewesen: Sacrow! Es gab tatsächlich ein Heim in Sacrow! Erinnerungen keimten auf. Schöne Erinnerungen. Traurige Erinnerungen. Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit.
Und so hatte sich Scrolan entschieden. Wenn sie schon aufs Abstellgleis geschoben wurde, dann wollte sie selber bestimmen, welcher Sackbahnhof es war. Also sollte es dieses Heim sein. Dieses, das der Heilandskirche so nahe war. Aber dass sie zwischen senilen Tattergreisen mit schlechtsitzendem Zahnersatz leben würde, hatte sie nicht bedacht. Ihre einzige Zuflucht war ein zwanzig Quadratmeter kleines Zimmer mit Blick auf den Park und die Havel, mit ein paar eigenen Möbeln, vier Grünpflanzen und ihrer Staffelei, die zusammengeklappt an der Wand neben dem Fenster lehnte.
Verdammt noch eins, es war zum Heulen!
Zum Heulen war auch das, was man hier zu Essen bekam. Immerhin – nach dem Fraß im Krankenhaus war das schon haute cuisine.
Scrolan matschte in ihrem Jogurt, den man zum Frühstück serviert hatte, und blickte in die Runde der Zahnlosen, die zu dritt oder zu viert an den Tischen saßen. Drüben am Fenster entdeckte sie die Alte mit dem graugelockten Haar, die sie gestern bei ihrer Ankunft vor dem Aufzug gesehen hatte. Zusammen mit dieser jungen, schönen Frau, die den Rollstuhl geschoben hatte. Mein Gott, wie die Kleine ihrer Helene ähnelte! Das war kaum zu glauben.
Sofort entwickelte ihr Hirn in seiner Dunkelkammer die alten Bilder und katapultierte Scrolan in eine Zeit, die schön gewesen war und grauenhaft zugleich. Wie sehr sie ihre Lene heute noch vermisste! Auch nach all den Jahren hatte sie sie noch immer nicht vergessen.
Wieder und wieder schaute Scrolan hinüber zu der Graugelockten. Die Ähnlichkeit der jungen Frau war das eine. Aber auch die Alte kam ihr verflucht bekannt vor. Und jedes Mal, wenn Scrolan zu ihr hinübersah, starrte die Alte sie an. Auch sie schien nachzudenken, woher sie sich kannten. Von früher? Womöglich von damals? War Scrolan schon so senil geworden, dass sie sich nicht mehr an alle, die bei ihnen ein- und ausgegangen waren, erinnerte?
Scrolan schüttelte den Kopf: Nein, sie würde die Alte nicht fragen. Das kam gar nicht in die Tüte. Irgendwann würde es ihr von alleine einfallen. Und Zeit hatte sie hier ja genug.
Zur gleichen Zeit in Potsdam, Forststraße
Was war bloß los mit ihr? Lag es am gestrigen Abend? Am Essen? Am Wein? Ihr Schädel brummte.
Sie fuhr sich mit den Händen durch das Haar und blieb mit den Fingern hängen. Es war struppig und stand nach allen Seiten ab. Sie griff zur Bürste, setzte am Scheitel an und entdeckte ein einzelnes graues Haar. Sie versuchte, es zu separieren, aber ihre Augen flatterten. Deshalb ließ sie es, wo es war. Es beunruhigte sie, dass sich schon jetzt, mit achtundzwanzig, graue Haare zeigten. Dieses satte Schwarz, das sie von Mama geerbt hatte, würde bald von grauem Rauch durchwirkt sein. Bei Mama war es genauso.
Mama. Sie fehlte ihr so sehr. Das machte den Tag nicht leichter. Vielleicht, so überlegte sie, war das der Grund, warum es ihr an Orientierung fehlte, warum sie bei allem so lustlos war, bei ihrem Studium, ihren Beziehungen, ihrem ganzen Dasein: Weil sie begriffen hatte, dass das Leben, egal was man tat oder nicht tat, unweigerlich zum Tod führte, und weil es keinen Unterschied machte, ob man sich anstrengte oder nicht, ob man nach etwas strebte oder es bleiben ließ. Selina sah auf die Armbanduhr, die auf dem Waschbecken lag. Sie zeigte kurz vor neun Uhr. Schon wieder verpasste Selina eine Vorlesung. Wenn das so weiterging, konnte sie ihr Studium an den Nagel hängen. Naja, immerhin müsste sie kein BAföG zurückzahlen. Sie hatte wegen ihrer üppigen Ersparnisse ja nie welches bekommen. Sie beschloss, heute nicht mehr zur Uni zu fahren. Das war der dritte Tag in Folge.
Selinas Besuch war nur kurz. Sie war vor einer Stunde gekommen und hatte Edda wie immer in den Park ausgeführt bis es Abendessen gab.
Nun verließ sie Himmelreich über das Foyer des Hauptausgangs. Sie zog die Tür auf und hörte hinter sich den alten Otto Bach, der nach seiner Käte rief. Selina winkte ihm zu und schaute noch immer über die Schulter zurück zu ihm, als sie über die Schwelle nach draußen trat und mit dem nächsten Schritt gegen etwas Hartes stieß. Sie strauchelte, fing sich am Geländer ab und sprang, um nicht die Stufen hinunter zu fallen, mit einem Satz auf den Schotterweg.
Halb im Flug hörte sie hinter sich eine Stimme, die so rau war wie eine Raspel: "Können Sie nicht aufpassen, verdammt noch eins?"
Nachdem sich Selina abgefangen und umgedreht hatte, sah sie, dass sie auf dem Treppenpodest gegen einen Rollstuhl gestoßen war. Darin saß die Alte, die gestern mit dem Krankenwagen gebracht worden war.
"Entschuldigung.", sagte Selina. "Ich hab' Sie nicht gesehen."
"Wie kann man mich nicht sehen?", krächzte die Alte.
Selina schaute sie an und gab ihr recht: Man musste schon blind sein, um sie zu übersehen. Im letzten Tageslicht erkannte Selina sonnengebräunte Haut, ein Gesicht, das von zahlreichen Fältchen durchzogen war, und weißgraue, unter einer Kappe hervorquellende Haarsträhnen. Ihre Augen lächelten, obwohl die Alte todernst war. Sie trug verwaschene Jeans und ein weißes T-Shirt, also etwas, das man in diesem Heim nicht allzu oft sah. Ihre Arme lagen auf den Oberschenkeln, der Rücken war gekrümmt, in der rechten Hand qualmte eine Zigarette.
"Tut mir leid. Ich war in Gedanken.", sagte Selina.
Doch die Alte hörte gar nicht mehr zu. Wie gestern starrte sie Selina nur an. Ihr Blick klebte an Selinas Gesicht wie Lindenblüten am Auto. Die Augenbraun waren zusammengezogen und der Kopf leicht zur Seite geneigt.
"Sie sind gestern hier eingezogen, stimmt's?", fragte Selina, um die Peinlichkeit zu überbrücken.
Es dauerte eine Weile, bis sich der Blick der Alten löste und sie auf Selinas Frage antwortete.
"Ja, ja.", brummte sie. "Kann ja nicht mehr alleine. Dämliche Verletzung."
"Ein Unfall?", fragte Selina.
Während die Alte einen tiefen Zug von ihrer Zigarette nahm, ließ sie Selina keine Sekunde aus den Augen. "Wie man's nimmt. Gewissermaßen ist das Dilemma schon uralt. Fast so alt wie ich." Sie massierte sich den Nacken und fügte hinzu: "Ich lag im Krieg unter Trümmern. Und mit meinem Sturz vor 'nem dreiviertel Jahr hat man's endlich geschafft, mich in dieses Ding hier zu stopfen." Sie zeigte auf den Rollstuhl.
"Das tut mir leid.", sagte Selina, obwohl sie nicht recht wusste, warum sie sich entschuldigte. Sie wollte weg hier und drehte sich schon um, als die Alte sagte: "Rautegaard. Scrolan Rautegaard."
"Was?"
"Ich heiße Scrolan Rautegaard." Sie streckte Selina die faltige Hand entgegen.
"Ach so. Ja. Hallo." Selina griff zu und spürte einen festen, warmen Griff.
"Haben Sie auch einen Namen?", fragte die Alte.
"Äh. Ja.", sagte Selina. "Sandorn. Ich heiße Sandorn."
"Schön und stachelig."
"Wie bitte?"
"Schön und stachelig. Sanddorn. Das ist er doch, oder?"
Selina spürte, dass sie rot wurde. "Mit nur einem D, nicht mit zwei.", erwiderte sie und sah zu Boden. Da wurde Scrolan Rautegaard erneut todernst und glotzte Selina an.
"Stimmt etwas nicht?", fragte Selina.
"Nein." Scrolan Rautegaard schüttelte den Kopf: "Nein, nein, alles ist Bestens. Sie erinnern mich nur an alte Zeiten."
"Das tut mir leid." Schon wieder. Dabei hatte sie keinen Grund, sich ständig zu entschuldigen.
"Warum?", fragte Scrolan Rautegaard.
"Warum was?"
"Warum tut es Ihnen leid?"
Das Gespräch wurde seltsam.
"Warum sind Sie nicht drinnen beim Abendessen?", wechselte Selina das Thema.
"Weil das Essen kein Essen ist. Und weil es nur eine verflucht schlabberige Suppe gibt." Sie zog das E am Ende der Suppe so in die Länge, dass daraus eine Suppeee wurde. Eigenartiger Akzent. Eigenartiger Name.
"Woher kommen Sie?", fragte Selina.
"Aus Berlin.", war die Antwort.
Selina nickte nur und ließ es dabei bewenden.
"Na, ich geh dann mal.", sagte sie schließlich und verabschiedete sich.
Scrolan Rautegaard hob nur stumm die Hand zum Gruß. Zwischen den Fingern glomm der Zigarettenstummel.
Auf dem Weg zum Auto spürte Selina den Blick der Alten im Rücken. Selina schaute nicht zurück.
Am nächsten Tag, Katholisches Seniorenheim Himmelreich, Sacrow, Oktober 1995
Am nächsten Nachmittag saß Edda im Gemeinschaftsraum und las.
Draußen stürmte es und war so dunkel, dass drinnen das Licht brennen musste, obwohl es noch nicht einmal zwei Uhr war. Scheußliches Wetter. Nichts zum Rausgehen. Nichts für den Park.
Plötzlich stand Otto Bach neben ihr und klopfte mit dem Krückstock gegen die Fußplatte ihres Rollstuhls.
"Los!", befahl er. "Packen Sie Ihre Sachen! Die Russen haben die Memel überquert und werden bald hier sein. Wir müssen weg!"
Edda nahm ihre Brille ab und sah ihn von unten her an. "Ist es schon so weit?", sagte sie. "Dann fangen Sie schon mal mit dem Packen an, Otto. Aber sagen Sie vorher den jungen Damen in den schönen schwarzen Kitteln Bescheid. Die können Ihnen helfen."
"Ja. Gut. Das ist eine gute Idee. Das ist eine gute Idee.", sagte er und nickte. Dann sprach er mehr zu sich selbst als zu Edda: "Aber nicht vor dem Kaffeetrinken. Aber nicht vor dem Kaffeetrinken."
Er hinkte zum anderen Ende des Raumes, geradewegs auf das Sofa zu und ließ sich hineinfallen. Eddas Augen folgten ihm. Armer Kerl, dachte sie, seine Käte fehlt ihm maßlos.
Sofort dachte sie an Johann. Wie sehr sie ihn nach all den Jahren noch vermisste! Er war ein guter Ehemann gewesen; einen besseren hätte sie sich nie wünschen können. Manchmal sprach sie mit Selina über ihn, aber Selina konnte sich ja kaum an ihn erinnern. Sie war noch viel zu klein gewesen. Edda rechnete nach: Sechs musste sie gewesen sein, denn Ruth war gerade dreißig geworden, als Johann starb. Er war ein guter Vater gewesen, hatte Ruth nie spüren lassen, dass sie nicht seine leibliche Tochter war.
Der Krieg hatte viele Schicksale zusammengeschweißt. Für Johann war die Heirat mit Edda nach dem Tod seiner ersten Frau ein Neuanfang gewesen. Und für Edda war sie die Rettung.
Ihr Blick löste sich von Otto Bach. Sie legte ihr Buch in den Schoß und schaute den anderen im Raum zu. Alle waren mehr oder weniger geschäftig: Am Fenster links von ihr spielten zwei Frauen und ein Mann Mensch-ärgere-dich-nicht. Edda schätzte ab, wann es dort den ersten Krach geben würde.
Im Sessel zwei Meter davon entfernt saß Mathilde Sommerrast und strickte. Sie strickte Schals mit wunderbaren Mustern und Farben und hatte Dutzende davon in ihrem Zimmer, aber niemanden, dem sie sie schenken konnte.
Auf einem Stuhl gleich neben dem Kachelofen in der rechten Ecke saß Karl Hanse. Auch so ein armer Wicht. Er saß den lieben langen Tag einfach nur da und starrte vor sich hin, tat nichts anderes als dazusitzen, und wenn zum Essen gerufen wurde, erhob er sich und ging, ohne die anderen anzusehen oder mit irgendjemandem zu sprechen, in den Speisesaal. Er war ein durch und durch unglücklicher Mensch.
Edda wandte den Kopf nach links und sah Maria Mendelsohn mit Kopfhörern und geschlossenen Augen im Sessel sitzen. Daneben stand auf einem Tischchen der Plattenspieler. Weil sie nicht allein in ihrem Zimmer sein mochte, hatte man ihr erlaubt, ihre Platten im Gemeinschaftsraum zu hören, aber nur solange sie die anderen nicht störte. Edda wusste, dass sie der Callas lauschte und sich vorstellte, es selbst zu sein. Maria Mendelsohn hatte immer davon geträumt, Opernsängerin zu sein, doch in ihren besten Jahren musste sie aus Deutschland weg, war in die Schweiz geflüchtet. Und als der Krieg zu Ende war und sie nach Berlin zurückkehrte, war sie zu alt für die Karriere. Immerhin: Sie hatte überlebt. Ihre Familie hatte es nicht.
In diesem Raum saß die Kriegsgeneration. In den vier Jahren, in denen Edda nun schon in Himmelreich war, hatte sie viele von ihnen kommen und gehen sehen. Für manche war der Krieg gestern erst zu Ende gegangen.
Für Otto Bach dauerte er immer noch an.
Plötzlich ging die Tür auf, und Schwester Martha schob die Neue hinein. Die mit dem braunen Teint und dem weißen Haar. Die, die Edda gestern ständig angestarrt hatte. So, als ob sie sich kennen würden...
Edda überlegte, wo sie sich begegnet sein könnten. Es wollte ihr nicht einfallen.
Schwester Martha stellte den Rollstuhl vor das Fenster an einen der freien Tische ab. Eine jüngere Frau war den beiden gefolgt. Edda schätzte sie auf Mitte fünfzig, ihr Haar war fürchterlich gefärbt, sie trug eine Aktentasche unter dem Arm und eine Brille auf der knolligen Nase. Sie setzte sich zu der Neuen, stellte die Aktentasche auf dem Schoß ab und packte Unterlagen aus.
Edda hob ihr Buch auf Augenhöhe und tat so, als würde sie darin lesen. Sie beobachtete über die Seiten hinweg die Neue, die nur dasaß und auf das Reden der anderen Frau hin und wieder mit dem Kopf nickte, selbst aber schwieg. Edda sah, wie sie ein paar Papiere unterschrieb, die die andere ihr zugeschoben hatte. Edda beschlich das Gefühl, dass die Neue nicht besonders glücklich dabei war. Edda hätte zu gern gewusst, was das für Papiere waren. Sie reckte den Hals, um besser sehen zu können. Leider ein wenig zu hoch, denn plötzlich schaute die Neue zu ihr herüber. Ihre Blicke trafen sich.
Der Schreck fuhr ihr durch und durch: Plötzlich war Edda klar, dass sie die Neue wirklich kannte! Und sie wusste auch, woher.
Edda warf das Buch in den Schoß, löste die Bremsen ihres Rollstuhls und rollte aus dem Raum, eilte den unendlich langen Flur hinunter zum Aufzug. Ihre Arme wurden beim Griff an den Radlauf immer schwerer. Sie schmerzten. Trotzdem ging es viel zu langsam.
Atemlos kam Edda am Aufzug an. Eine Ewigkeit verging, bis er da war und sich seine Türen öffneten. Noch länger dauerte es, bis sie sich endlich wieder schlossen und der Aufzug nach oben rumpelte.
Schweißtropfen sammelten sich auf ihrer Stirn. Sie wischte sie weg.
Als sie im zweiten Geschoss ankam, blieb sie mit dem rechten Rad an der Aufzugstür hängen. Sie fluchte. Rangierte hin- und her, rüttelte sich endlich frei, bog nach links ab und raste den Gang entlang bis zu ihrem Zimmer. Dort warf sie die Zimmertür hinter sich zu und rollte zur Kommode. Die Schublade blieb hängen. Edda rüttelte daran. Schlug zwei Mal mit der Faust dagegen bis sie endlich nachgab. Das Kästchen lag ganz hinten. Da, wo es niemand sah. Mit zittrigen Fingern öffnete sie es und holte eine Fotografie heraus.
Sie starrte das Bild an.
Oh Gott, es stimmte! Ja, es stimmte. Es war Jahrzehnte her, aber es stimmte.
Sie hielt sich mit der Hand den Mund zu. Konnte es kaum glauben: Sie kannte diese Frau, die, die da unten im Gemeinschaftssaal saß…
***
Selina parkte wie üblich unter den Lindenbäumen, stellte den Motor ab und starrte nach draußen. Winde wirbelten umher, Blätter rasten imaginäre Wendeltreppen hinauf, schwebten in der Horizontalen mehrere Meter weiter, bis sie nieder wehten und dem Sog erneut folgten.
Jemand hatte vergessen, Himmelreichs Gartentor zu schließen. Der Wind tobte sich daran aus, riss an ihm und schleuderte es gegen das Schlossblech. Selina stieg aus und schlug den Kragen hoch. Eine Böe griff ihr ins Haar, zog an ihrem Mantel und ließ ihn wieder los.
Als sie das Gartentor hinter sich geschlossen hatte, sah sie Scrolan Rautegaard im Rollstuhl mit breit auseinander gestellten Beinen vor Himmelreichs Haupteingang sitzen. Offenbar kämpfte sie gerade mit Streichhölzern gegen den Wind. La Donna Quichotte der Raucherinnen, dachte Selina. Es war kein Wetter, um einen Hund vor die Tür zu scheuchen, aber drinnen war das Rauchen verboten.
Als Selina sich näherte, hob Scrolan Rautegaard den Kopf. Die Zigarette brannte noch immer nicht, und wie es schien, hatte Scrolan es aufgegeben.
"Hallo Frau Rautegaard! Sehr windig heute, was?", sagte Selina.
"Ist wohl so.", krächzte die Alte. "Das Wetter wird uns noch erwürgen, glauben Sie mir!"
"Hm.", gab Selina zurück und betrat die erste Stufe.
"Ihre Großmutter ist auf ihrem Zimmer. – Falls Sie sie suchen.", sagte Scrolan Rautegaard.
Selina stoppte, setzte den Fuß zurück auf den Schotterweg und sah Scrolan Rautegaard an. Woher wusste sie...?
"Meine Großmutter?", fragte sie.
"Klar, Ihre Großmutter. Oder haben Sie noch andere Omas hier?" Scrolan Rautegaard riss ein neues Streichholz an und hielt es an die Zigarette. Dieses Mal klappte es. Sie zog an ihr und blies den Rauch in einer langen Wolke aus. Selina betrachtete die alte Frau in ihren Kakihosen mit Taschen an den Seiten, dem sandfarbenen Hemd und der Weste darüber. Ein heller Hut war tief ins Gesicht gezogen und verdeckte ihre Augen. Der Wind riss an ihm, ließ die breite Krempe auf- und abtanzen, aber die Alte hatte ihn mit einem Lederband am Kinn befestigt. Jeder andere, dachte Selina, hätte bei diesem Wetter den Hut im Schrank gelassen, nicht aber Scrolan Rautegaard. Wahrscheinlich hatte sie ihn gerade wegen des Windes aufgesetzt.
Als Selina sich verabschieden und weitergehen wollte, fragte Scrolan Rautegaard: "Ihre Großmutter – ist sie mütterlicherseits?"
Wieder stoppte Selina und verharrte auf der zweiten Stufe. "Ja, das ist sie. Warum fragen Sie?"
"Weil ich überlege, ob ich Ihre Mutter kenne."
Selinas Herz setzte für einen Moment aus und formte sich zu einem Achtungszeichen.
"Meine Mutter? Woher denn?", fragte sie.
"Das weiß ich noch nicht. Wie heißt sie denn?"
"Ruth.", sagte Selina leise. "Sie hieß Ruth. Sie ist vor sieben Jahren gestorben."
Scrolan Rautegaard schwieg. Sie sah auf den Riss in der Stufe zu ihren Füßen, dann sah sie auf und fragte mit kratziger, aber sanfter Stimme: "Wie alt war sie?"
"Vierundvierzig."
"So jung..." Scrolan Rautegaard schüttelte kaum sichtbar den Kopf. "Was ist passiert?"
Selinas Blick flog am Haus vorbei zum Fluss hinüber, nahm Anlauf und war im nächsten Augenblick am anderen Ufer. Eine lange Zeit war seit Mamas Tod vergangen, doch darüber zu sprechen fiel ihr noch immer schwer, vor allem, wenn sie dieses eine, schlimme Wort sagen musste, dieses Wort, das sie so lange nicht über die Lippen hatte bringen können: "Krebs."
"Das tut mir leid.", sagte Scrolan Rautegaard.
"Woher kannten Sie meine Mutter?"
Scrolan Rautegaard atmete tief ein und aus, bevor sie etwas sagte. "Ich befürchte, ich kannte sie doch nicht. Nicht wenn sie so jung war..."
Selina glaubte Enttäuschung aus ihrer Stimme zu hören, aber vielleicht war es nur ihre eigene Traurigkeit.
Es war Zeit, hinein zu gehen. Selina verabschiedete sich und stieg an der an der Alten vorbei die Stufen hinauf zum Haus.
Als sie Eddas Zimmer betrat, hörte sie es sofort: Aus dem Badezimmer kam ein jämmerliches Schluchzen.
"Oma?", rief Selina durch die Tür. Im Badezimmer wurde es still, dann ging nach wenigen Sekunden das Schluchzen weiter.
"Oma, was ist los?" Selina drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen.
"Edda! Ich bin es – Selina. Stimmt etwas nicht? Geht es dir nicht gut?"
Noch immer kam keine Antwort.
Selina traktierte die Klinke, hämmerte gegen die Tür: "Edda, lass mich rein! Ich will wissen, ob es dir gut geht."
"Lass mich! Ich will meine Ruhe.", rief die alte Frau. Das Weinen erstickte fast die Worte.
"Was ist mit dir?"
"Nichts!"
"Von Nichts weint man nicht!" Selinas Stimme wurde schärfer. "Ich geh hier nicht eher weg, bis du da endlich rausgekommen bist. ...Hörst du? ...Edda?!"
Nach einer Weile drehte sich der Schlüssel im Schloss, die Tür sprang auf und gab einen Spalt frei. Selina drückte die Tür auf und ging hinein, fand ihre Großmutter im Rollstuhl vor der Kloschüssel mit verquollenen Augen und dunkelroter Nase. Selinas Herz verkrampfte sich. Sie hockte sich hin, fasste Edda ans Knie und sah zu ihr auf.
"Was ist los, um Himmels Willen?"
Aus Eddas Augen flossen dicke Tränen. Sie tropften die Nase herunter und sammelten sich im Schoß. Ihr Schluchzen hörte nicht auf. "Scrolan war vorhin bei mir.", sagte sie, atemlos vom Weinen.
"Scrolan? Scrolan Rautegaard?"
Kopfnicken.
"Hat sie dir was getan?"
Kopfschütteln.
"Warum weinst du dann?"
Schluchzen.
"Edda…?!"
Edda holte tief Luft. Dann sagte sie: "Scrolan hat ein Foto."
"Was für ein Foto?", fragte Selina.
Edda deutete ihr, dass sie aus dem Badezimmer wollte. Selina half ihr und steuerte sie weisungsgemäß zur alten Kommode. Dort beugte sich Edda umständlich über die Armlehne ihres Rollstuhls, öffnete eine Schublade und holte ein Kästchen hervor, dessen Deckel mit Intarsien verziert war. Selina hatte dieses Kästchen noch nie gesehen, wusste gar nicht, dass es existierte. Eddas Hände bebten, als sie ein Foto herausnahm und es ihr wortlos hinhielt. Selina nahm es und sah es sich an.
Es war eine sepiafarbene Aufnahme, mit geriffeltem Rand und zweimal geknickt, ein Foto aus alter Zeit.
Immer wenn Selina solche Aufnahmen sah, war ihr, als ob die Vergangenheit nur in Sepia existiert hätte: die Menschen, die Bäume, die Straßen und Häuser, alles. Die komplette Wirklichkeit nur in sepia oder schwarz-weiß.
Ein vertikaler und ein horizontaler Falz zeichneten sich deutlich ab, die Kanten waren abgeblättert. In dem Versuch, das Foto zu erhalten, war es gepresst und in der Mitte geklebt worden. Die Aufnahme zeigte zwei Frauen. Die eine trug einen Muff und einen langen, bis oben zugeknöpften Mantel, die andere, auf der rechten Bildseite, steckte in Reiterhosen, Stiefel und einer kurzen Jacke. Unter der Jacke war ein Hemd mit Krawatte zu sehen. Die eine hatte dunkles, lockiges Haar, die andere war blond. Schräg auf den Köpfen saß bei beiden jeweils ein Hut mit runder Krempe. Es war die Mode der vierziger Jahre. Die Frauen standen eng beieinander; die mit den Reiterhosen hatte den Arm um die andere gelegt und lachte. Die mit Muff und Mantel schmunzelte nur.
"Und wegen dem Foto hier weinst du?", fragte Selina.
"Nein." Edda zog den Rotz hoch.
"Weswegen dann?"
"Schau hin! Schau genau hin. Erkennst du sie nicht?"
Selina hielt das Foto dicht vor die Augen. Sie ging zur Stehlampe, drehte sie heller und sah noch einmal darauf. Da erkannte sie die Frau in den Reiterhosen. Auf dem Bild war sie zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, hatte sich bis heute aber kaum verändert: die Augen, den Mund und das Lachen hatte Selina schon einmal gesehen. Selbst mit dem weißen Haar, das sie nun trug, glich sie ihrem Foto bis in jede Einzelheit, hatte jetzt nur das Gesicht einer Siebzigjährigen. Die Frau auf dem Foto saß da draußen und rauchte.
Die Frau auf dem Foto war Scrolan Rautegaard.
Scrolan kniff die Augen zusammen und studierte das amüsante, wenngleich eigenartige Detail an einem Schirm, der an sonnigen Tagen wie diesen gewiss nicht als Regenschutz gedacht war. Das Ende des Schirmstocks war wie ein Entenkopf geformt. Er lehnte schräg am Tisch der fünf Damen, die ein paar Meter von Scrolan entfernt neben der großen Topfpalme saßen. Sie waren im selben Maße elegant wie auffallend gekleidet. Scrolans Blick hatte sich in dem Moment an sie geheftet, als sie das Gustavos betreten hatten. Sie lachten und lärmten über das Gedudel der Kaffeehausmusik hinweg, ganz so, als seien sie allein in dem großen Saal, durch dessen Kuppel die Sonne flutete.
Scrolan sah zur Decke hinauf. Gustavo hatte unter dem Glas, das den ganzen Saal überspannte, weiße Tücher gehängt. Das tat er immer, wenn die Sonne brannte und sich anschickte, das Kaffeehaus in ein Tropenhaus zu verwandeln.
Scrolan versuchte, sich mit der Hand kühlere Luft zuzufächeln, aber es nützte nichts. Drinnen wie draußen war es schon jetzt, im April, so heiß wie im Sommer. Auch heute trieb die Sonne die Thermometersäule über die Fünfundzwanziggradmarke hinweg.
Scrolan fächelte weiter und nippte an ihrem Kaffee. Sie sah immer wieder zu den Frauen, die Hemden und Krawatten trugen, darüber Kostüme oder Anzüge, die gewiss vom Maßschneider stammten. Selbst hier in Berlin waren die wenigsten Frauen in diesen Tagen kühn genug, sich so zu kleiden. Diese Frauen taten es trotzdem.
Scrolans Blick heftete sich an die schöne Dunkelhaarige. Zu ihr schien der Entenkopf zu gehören, denn sie versicherte sich regelmäßig seiner Existenz. Sie tastete nach ihm oder rückte ihn zurecht. In jeder Bewegung strahlte sie eine Anmut aus, der sich Scrolan nicht entziehen konnte. Die dunklen, in der Sonne rötlich glänzenden Locken hatte sie zu einem Knoten gebunden und zwang die Strähnen, die dem Traktat der Frisur entflohen, immer wieder hinter das Ohr. Sie hatte sinnliche Hände, ein makelloses Gesicht und saphirblaue Augen. Scrolan war gefangen von diesem Blau, das so gar nicht zum Schwarz des Haars gehören wollte. Es war ein Kontrast, wie er harmonischer nicht sein konnte.
Scrolan war froh, einen der hinteren Tische genommen zu haben, abseits an der mit Spiegeln bedeckten Wand, die man je nach Aussehen und Laune liebte oder hasste. Von hier aus hatte sie einen vortrefflichen Blick auf die Schöne und ihren Entenkopfschirm. Es war eine erquickliche Art, sich die Zeit zu vertreiben bis Amalie kam.