Lügenland - Gudrun Lerchbaum - E-Book + Hörbuch

Lügenland E-Book und Hörbuch

Gudrun Lerchbaum

4,8

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Beschreibung

Es ist ein Schuss, der Matteas Leben von Grund auf verändert. Am Abend vor ihrer Hochzeit, es ist zugleich ihr letzter Tag als Soldatin, erschießt sie ihre Freundin. Kurz darauf muss Mattea fliehen. Verdammt schwer in einem hoch technologisierten Überwachungsstaat, zu dem Österreich nach dem extremen Rechtsruck geworden ist. Das stellt Mattea, die in diesem System aufgewachsen ist und zu den Regimetreuen gehört, vor große Schwierigkeiten. Der Zufall kommt ihr zu Hilfe: Sie wird mit einer untergetauchten Revolutionärin verwechselt und ausgerechnet die Widerstandsbewegung hilft ihr auf der Flucht. Matteas Weltbild gerät ins Wanken. Ein packender, ein atemloser Polit-Thriller

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Seitenzahl: 462

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Zeit:11 Std. 8 min

Sprecher:Sarah Alles

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Gudrun Lerchbaum • Lügenland

Gudrun Lerchbaum

LÜGEN LAND

Polit-Thriller

Gewidmet allen, die ihren Weg erst suchen müssen

Pendragon Verlag

gegründet 1981

www.pendragon.de

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2016

by Pendragon Verlag Bielefeld 2016

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Eva Weigl

Umschlag und Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld

Umschlagfoto: cw-design / photocase.de

ISBN 978-3-86532-560-0

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund

Tag 1

Am Nachmittag vor der Hochzeit treffe ich Julia am Ufer des Kaiserwassers. Kati ist auch da. Wir trinken: auf mein altes Leben als Soldatin und auf den anstehenden Neustart. Der Bruch so drastisch wie jener vor fünf Jahren, auch dieser nur betäubt zu ertragen.

Auf abgewetzten Decken rekeln wir uns, blinzeln durch das Laubwerk in die tief stehende Sonne, der Himmel so blau wie seit Wochen nicht mehr. So blau, wie wir bald sein werden. Ich fische die Pillen aus der Hüfttasche, werfe eine ein und spüle sie mit Wodka hinunter. Julia zieht mit. Kati will keine, obwohl sie es am nötigsten hätte, endlich locker zu werden. Aber mein Vorrat ist begrenzt und ich dränge niemandem etwas auf, ihr schon gar nicht. Das grüne Licht der Topcam, die, an einem schmalen Stirnband befestigt, wie ein schillerndes drittes Auge auf ihrer Stirn sitzt, blinkt heute nicht, obwohl sie sonst jede Lebensäußerung auf Mindmine teilt. Doch beim Trinken in der Öffentlichkeit will die Frau Staatsdienerin nicht gesehen werden. Mangelnde Vorbildwirkung.

Ein Kleinkind taumelt mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, stolpert über den Rand der Decke und fällt auf alle viere. Ich drehe mich zu ihm, den Kopf in die Hand gestützt.

»Na, du Süßer!« Ich schnalze mit der Zunge.

Lachend zeigt das Kind mir seine vier Zähne und krabbelt auf mich zu. Es sucht Halt an meinem Shirt und zieht sich hoch in einen breitbeinigen Stand. Ich streiche mit dem Zeigefinger über seine pralle Wange und lasse die Fingerkuppe in dem Grübchen auf seinem Doppelkinn verschwinden. Bald werde ich selbst Mutter sein, da kann ein wenig Übung nicht schaden. Mit seinen aufgeblasenen Händchen patscht der Zwerg auf die Waffe, die in meinem Hüftholster steckt. Ich öffne den Druckknopf, halte ihm die Glock entgegen. Glucksend greift er nach dem Lauf.

Ich muss lachen. »Ja, du weißt, worauf es ankommt!«

»Nimm ihm das Ding weg!«, kreischt Kati und dann ist auch schon die Mutter da. Ohne ein Wort packt sie das Kind mit beiden Händen um seine Mitte und stolpert rückwärts davon, die Augen panisch aufgerissen.

»Du schaust ja, als hättest du Angst, wir könnten dein Dickerchen auf den Grill legen!«, rufe ich ihr nach. »Wir haben doch nur gespielt.«

»Grillen wär aber auch fein«, sagt Julia und kratzt sich am Stumpf oberhalb der Prothese. Ohne aufzustehen, lässt sie einen flachen Stein über das Wasser hüpfen, der drei Enten aufscheucht. Flatternd steigen sie auf, formieren sich, ein Geschwader auf der Suche nach dem nächsten Ziel.

Ich kämpfe noch immer mit meinem Ärger über Katis Anwesenheit. Wie ein Terrier hängt sie an Julia, nicht loszuwerden. Ein Terrier, der sich in das fehlende Bein verbissen hat.

Julia nimmt einen tiefen Schluck. »Auf deinen großen Tag«, sagt sie und reicht mir die Wodkaflasche weiter. »Wenn sogar du einen findest, kann ich ja noch hoffen.«

»Sei doch still!« Ich reiße eine Handvoll Gras aus, werfe es in ihre Richtung. »Du hast Arbeit, einen richtigen Job. Ich werde nur heiraten. Haushalt, Kinder … wenn ich könnte, würde ich mit dir tauschen!«

Das ist gelogen, denn immerhin habe ich noch beide Beine.

»Ist doch nicht wahr!«, sagt Kati auch prompt, die Stirn missbilligend gerunzelt. »Du hast doch schon immer vom Heiraten geträumt, damals in der Schule. Weiße Kutsche, Blütenmeer und alles. Ist doch das Beste, was dir passieren kann! Und jetzt tust du so …«

Als ob sich nichts geändert hätte seit unserer Schulzeit. Noch immer weiß sie alles besser. Ich spiele mit der Waffe, lasse mich auf den Rücken fallen und visiere durch das Blattwerk den Hubschrauber an, der die Wagramer Straße entlangknattert.

»Ich tu nicht so. Zweifel ist die Voraussetzung für jeden Erkenntnisfortschritt.« Ich schwenke die Waffe in ihre Richtung. »Ich denke, also bin ich. Du denkst nicht, also bist du nicht. Klick!«

Kati wedelt mit den Händen herum. »Ich wäre dir wirklich sehr dankbar … leg das Ding weg!«

»Hey Leute, Gewalt ist nur eine Lösung unter vielen.« Julia grinst. »Schluss mit Schuss! Du hast bloß kalte Füße, Mädel. Entspann dich.« Sie winkt mich näher, die Flasche in der Rechten. »Leg dich hin!« Mit der Linken hält sie mir die Nase zu, dass ich nach Luft schnappen muss, mit der Rechten gießt sie mir den Wodka in den Rachen. Ich versuche zu schlucken, dann den Kopf wegzudrehen, doch ich habe Angst, mir die Nase zu brechen, so gnadenlos hält Julia fest. Das Zeug rinnt mir über die Wangen und den Nacken hinunter. Ich spucke, huste.

Kati entwindet Julia die Flasche und trocknet sie mit einem Zipfel der Decke ab. »Und? Wie ist dein Kleid?«, fragt sie. Ihr Blick wird schmalzig. »Weißt du noch – meines? Ein Traum! Du warst so neidisch!«

Ich tupfe mir mit dem Ärmel das Gesicht trocken und wische die Finger an der Hose ab, bevor ich mein Fonband vom Handgelenk löse und das Display gerade biege. Ich wische mich durch die Bilder. »Da! Das Hochzeitskleid meiner Mutter. Mit extra Rüschen unten. War zu kurz.«

Kati nimmt mir das Band aus der Hand und runzelt die Stirn. »Hast du das schon gepostet?« Sie hält Julia das Bild unter die Nase.

Ich sehe ihnen an, was sie denken, erkenne mich ja selbst kaum wieder in der Prinzessin mit dem aufgesteckten Haarteil über Rüschenwolkenbergen. Unter halb gesenkten Lidern vermessen sie den Ist-Zustand, vergleichen ihn mit der Fremden auf dem Foto.

Ich versuche, ihre Blicke zu ignorieren und mit dem Untergrund zu verschmelzen. Mein Flecktarn, in der Stadt so sinnlos wie der Glaube an höhere Gerechtigkeit, ergibt auf der graugrünen Decke mit den durch das Blätterdach gefilterten Lichtflecken endlich Sinn. Schon morgen muss ich auf seinen Schutz verzichten und jeden Tag vor dem Kleiderschrank grübeln, was ich anziehen soll. Will. Den ganzen Tag selbst bestimmen, was zu tun ist.

»Wie ist er denn so?«, fragt Julia.

Der verschüttete Schnaps brennt noch in meinen Augen, lässt sie tränen. Ich setze mich in den Schneidersitz, nippe an der Flasche und reiche sie an Julia weiter.

»Ganz okay. Bis auf die feuchten Hände. Im Bett …«, ich schlucke, denke an das Getatsche und die viel zu nassen Küsse, »… na ja, das wird schon. Immerhin 78 Prozent Charakterübereinstimmung und sogar 86 Prozent genetische Kombatt… – Scheiße, verdammter Fusel – Kompa-ti-bi-li-tät, wollte ich sagen. Mehr als mit seiner Ersten jedenfalls.« Die Sonne sticht mir in die Augen und ich rutsche ein Stück weiter in den Schatten.

Kati wiegt den Kopf, spitzt die Lippen, tut wieder einmal auf süß. »78 und 86, nicht schlecht. Bei uns waren es 81 und 89, aber so viel besser ist das ja auch nicht.«

Julia boxt ihr auf den Oberarm. »Hat dein Mann sich auch schon nach einer Nachfolgerin umgeschaut? Vier Jahre verheiratet und noch immer nicht schwanger. Pass bloß auf!«

»Sie ist weg«, sage ich. Wenigstens heute soll es um mich gehen und nicht um Kati.

»Weg? Wer?«, fragt Julia.

»Na, seine erste Frau.«

»Wie, weg? Tot?«

»Keine Ahnung. Vielleicht bei der Miliz. Wo alle Minderleister aufschlagen. Ob kunstverseucht, ob bipolar, ob süchtig oder unfruchtbar – die rechte Waffe in der Hand macht euch zum Teil der Heldenschar!«, zitiere ich den Leitsatz der Kampagne, die mich vor fünf Jahren aus dem Atelier geholt hat. »Marschgesang statt Ausdruckszwang.«

»Kindersegen oder Minenlegen«, wispert Julia und reicht Kati anzüglich zwinkernd die Flasche. Den Spruch kenne ich nicht, den hat sie sich ausgedacht.

Katis Gesicht jetzt. Obwohl sie als Lehrerin sicher nicht bei der Miliz landen würde, ob sie nun Kinder bekommt oder nicht. Auch Bildung ist Landesverteidigung. Nur, wer die Grenzen des Landes kennt, kann sie auch verteidigen und all das Gewäsch. Ob sie auch an die Sprüche denkt? Jedenfalls kaut sie auf ihrer Unterlippe und würgt hinunter, was ihr auf der Zunge liegt. Noch immer kann Julia sich bei ihr alles erlauben. Einer der letzten Sonnenstrahlen streift ihr zartes Gesicht, lässt ihr mokkafarbenes Haar aufglänzen, bevor die Sonne hinter dem Kahlenberg versinkt. Mit dem Zeigefinger zeichne ich den Schwung der Locke, die sich über ihre Wange windet, auf mein Hosenbein. Hinter uns rafft die letzte Familie ihre Badesachen zusammen und macht sich auf den Heimweg.

»Irgendetwas fehlt«, sagt Julia, den Blick auf mein Fonband geheftet. »Kein Schleier, das wäre zu viel. Ein weißes Satinband vielleicht, locker eingeflochten.«

Auf allen vieren krieche ich zu ihr, weil der Boden unter mir buckelt und kippt. Go-Pill und Alkohol, dazu die Hitze. Den Kampf mit der Schwerkraft gewinne ich mit Mühe und richte mich auf, stütze mich auf Julias Schulter. Sie hat die Prothese abgenommen. Wie damals der abgetrennte Unterschenkel liegt sie in der Wiese, der türkisfarbene Leinenschuh am rechtwinklig abgespreizten Fuß ordentlich geschnürt, darüber die Rüschen eines weißen Söckchens, seit Jahren gleich. Nur die roten Spritzer fehlen. Und aus der fleischfarbenen Hülle ragen weder Knochensplitter noch blutiges Gewebe.

Es geschah, als die Leute begannen, ihre Gärten zu verminen, um sich und ihre Vorräte zu schützen. In den Unruhezeiten während des Zerfalls der Union war es auf einmal kein so großes Glück mehr, mit Kindern am Stadtrand zu wohnen. Modetechnisch hingegen war diese Zeit ein Gewinn, weil die Männer sich ihre Bärte abrasierten. Schließlich lief jeder Bärtige Gefahr, als Islamist zu gelten. Den Prügelpatrouillen der Aufrechten, die damals außer Rand und Band gerieten, wollte niemand einen Vorwand liefern. Wie Gewitterwolken hingen Misstrauen, Angst und die Erwartung einer Katastrophe, eines großen Krieges, über unserer Kindheit, ohne dass wir ihnen mehr Bedeutung zugemessen hätten, als der Gefahr eines kräftigen Regenschauers.

Es ist ja dann auch nicht zum ganz großen Desaster gekommen. Nicht zu dem jedenfalls, auf das alle gewartet hatten. Gerade noch rechtzeitig hatten die Aufrechten die Macht übernommen und das Land gereinigt, jeden Einzelnen in die Pflicht genommen, Grenzen gezogen, Zäune errichtet.

Wir spielten Basketball bei den Garagen, Julia, Kati und ich. Shirin war schon heimgegangen, ihre Eltern in dauernder Sorge um sie. Der Ball flog über einen Zaun. Orange leuchtend lag er auf dem Rasen, der Maschendraht brusthoch nur und niemand weit und breit zu sehen.

Kati hätte gehen müssen. Sie hatte viel zu scharf geworfen.

Danach fing ich an, den Barbiepuppen die Glieder auszureißen und sie neu zu kombinieren. Ein schwarzes Bein für die weiße Barbie, vier weiße Arme für den schwarzen Torso, dem ich daraufhin neue Kleider nähen musste. Damals gab es noch fremdethnische Barbies. Auch gehäkelt habe ich viel.

»Ein weißes Satinband?«, frage ich und starre auf das Brautkleid-Bild. »Ich weiß nicht. Vielleicht eher eine Dornenkrone. Rosenstiele zum Kranz gewunden, die Blütenblätter zu meinen Füßen verstreut.«

Der Schuss kracht neben uns in den Baum, lässt Rindenstücke spritzen und die Vögel im Umkreis auffliegen.

»Deckung!«, schreit Julia und sucht Schutz hinter dem Stamm.

Der Wächter steht keine zehn Meter entfernt am Zaun der Sportanlage, die Halbautomatische angelegt. Ein bärtiger Siebziger in der kornblumenblauen Uniform der Bürgerwehr. Ich taste nach meiner Waffe, Adrenalin auf Kampfpegel, Schweißausbruch, kein Schwindel mehr, kein Zittern. Ich nehme ihn ins Visier.

»Schert’s euch weg, versoffenes Gesindel!«

Kati steht auf und geht langsam auf den Alten zu, die Arme wie lahme Flügel ausgestreckt, die Handflächen offen, klebrig lächelnd. »Entschuldigen Sie, wenn wir Sie gestört haben sollten. Ich unterrichte drüben am Gymnasium.« Sie deutet mit dem Zeigefinger vage über das Wasser. Als ob der Mann sich mit der Waffe in der Hand nach der besten Schule für seine Enkel erkundigt hätte. »Ich feiere mit meinen Freundinnen hier Junggesellenabschied, da muss es doch ein bisserl poltern.«

Selbst jetzt will sie politisch korrekt sein und vermeidet die weibliche Form, obwohl eindeutig kein Mann unter uns ist. Bloß kein linkes Gendersprech. Sie lacht affektiert, hebt die Arme und wirft den Kopf in den Nacken, als wolle sie dem Alten die Richtung zum siebten Himmel zeigen. Er behält die Waffe im Anschlag, doch seine Schultern entspannen sich.

»Ich verspreche Ihnen, wir bleiben nicht mehr lange. Schließlich will ich morgen bei der Hochzeit nicht völlig verkatert sein.«

Ich, ich, ich, ich. Alle Blicke wie immer auf sie gerichtet. Der Schuss zieht einen endgültigen Schlussstrich unter ihr Geplapper. Ich lasse meine Waffe sinken wie der Wächter die seine, sehe sie taumeln, beobachte ihren Fall. Nur der Wächter kann ihr in die Augen sehen. Sein Mund steht offen, der Kiefer wie ausgehängt. Er sieht Julia an, die hinter ihrem Baumstamm hervorlugt, schließlich mich. Er schwankt einige Schritte rückwärts und rennt dann geduckt im Zickzack davon wie ein Feldhase.

Julia kriecht hinter dem Baum hervor. Ihr Blick hetzt hin und her zwischen Kati und mir und der Stelle, wo der Mann gleich im Vereinsheim verschwinden wird. Sie robbt zu Kati, die reglos auf dem Bauch liegt, starrt auf das Loch, das unterhalb des linken Schulterblattes in der weißen Bluse prangt. Wie eine im Zeitraffer aufblühende Rose breitet sich das Blut auf dem Gewebe aus. Julia packt Kati an der Schulter, versucht, sie umzudrehen.

Eiswassergleich schwappt Nüchternheit durch meinen tauben Körper. »Lass, wir müssen weg, bevor die Miliz kommt!«

Ich schiebe die Glock in das Holster, greife nach der Beinprothese und werfe sie Julia zu. Die Flasche wische ich an der Decke ab, genetische Spuren, Fingerabdrücke, bevor ich sie in den Fluss schleudere. Keuchend halte ich inne. Wie schnell sich alles ändern kann. Der Schuss hat sich gelöst. Einfach so. Ich lege die Hand an die noch warme Pistole, will auch sie abwischen, der Flasche hinterherwerfen. Doch die eingravierte Dienstnummer führt direkt zu mir, auch ohne Fingerabdrücke, und morgen früh bei meinem Dienstaustritt muss ich sie abgeben.

Julia packt mich am Arm, reißt mich fort.

Tag 2

Ich trage ein schwarzes Band im Haar und gebe keine Antwort auf die Fragen. Gibt es nicht viele Gründe, am Hochzeitstag zu trauern? Soll jeder selbst seinen Reim darauf finden. Kotzerei kurz zuvor über einem Beet mit Sommerblumen, rot und weiß und violett. Mitleidige Blicke, verhaltenes Getuschel und das beliebte Ratespiel: schon schwanger oder nur Nervosität? Vom Poltern schwer verkatert?

Julias Augen, dunkle Knöpfe, verschlossen über dem wahren Grund der Übelkeit und dem des schwarzen Bandes. »Verraten werde ich dich wohl nicht«, hat sie gesagt, als wir uns am Vorabend trennten. Wohl nicht. Meine beste Freundin.

Wir stehen in der Kirche, vor mir der Altar.

»Da ist ein Mensch. Allein. Kein zweiter teilt mit ihm den Lebensweg. Für wen müht er sich ab?«, fragt der Priester schleppend. Der Gekreuzigte schaut ihm über die Schulter, sieht mich an, eher traurig als leidend. An körperlichen Schmerz muss er sich über die Jahrhunderte gewöhnt haben, doch die Vergeblichkeit seines Versuchs, die Menschheit von ihrer Schuld zu erlösen, wird ihn in alle Ewigkeit bekümmern. Wenn er mich jetzt wirklich sähe, dann wäre es das erste Mal, dass er mich wahrnimmt. Ich senke den Blick.

Jesus ist wohl der letzte Mann, der in diesem Land noch Vollbart trägt, verpönte Islamistentracht. Wir laden unsere Gäste ein, beim Abtransport dabei zu sein. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie heute noch hören, wie sie vor dem Schultor ihre Parolen schrien, unsere Aufrechten. Ob schwarz ob braun, dein Land ist fern. Bei uns sehen wir dich nicht mehr gern. Chris! Ten! Heit! Zum! Kampf! Be! Reit!

Damals hatte Julia sich aufgeregt. Man dürfe Minderheiten nicht in die Ecke drängen. Dann war Shirin von einem Tag auf den anderen verschwunden, abgeschoben wie so viele andere, und auch Julia hatte den Protest aufgegeben. Julia. Die kein Wort mit mir gesprochen hat, heute, mir nicht die Ohrringe gegeben hat, die sie mir borgen wollte. Etwas Altes, etwas Neues, was Geborgtes und was Blaues, alter germanischer Brauch, heißt es, doch das reimt sich nicht einmal und meistens hört man die Worte noch immer auf Englisch. Something old, something new, something borrowed, something blue. Den Kampf um die ausschließliche Verwendung der deutschen Sprache hat inzwischen selbst der Kanzler aufgegeben. Auch die Engländer seien in ihrer Grundsubstanz Germanen, sagt er.

Neben mir steht der Mann, der von nun an die Freundinnen ersetzen muss und das auch will, sofern ich den Druck der schweißnassen Hand richtig deute. Hinter mir schluchzt es. Meine Augen sind trocken, der Blick gesenkt auf das weiße Rüschenmeer, dessen Saum bei der kleinsten Bewegung wie Gischt über den steinernen Boden tanzt. Ich möchte Blut sehen auf diesen weißen Wolken, rot wie das auf Katis Bluse, gestern erst, zum Sterben schön in seiner Endgültigkeit. Sterben, jetzt, das wäre Gottesbeweis und verdiente Strafe zugleich.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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