Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin - Kerstin Dirks - E-Book

Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin E-Book

Kerstin Dirks

4,7

Beschreibung

Remierre de Sagrais streift seit Jahrzehnten als einsamer Jäger durch Europa und hat sein Dasein allein dem Kampf gegen die Mächte des Bösen verschrieben. Sein eigenes Leben hat er einem strengen Kodex unterworfen und stellt es weit hinter seine Pflicht, die Menschheit vor Vampiren seinen dunklen Brüdern zu schützen, zurück. Ein normales Privatleben oder gar Liebesbeziehungen sind für ihn schon lange indiskutabel. Joli Balbuks Leben hingegen wechselt nach einem plötzlichen Lebenszeichen von ihrem verschollen geglaubten Vater von eintönig zu aufregend. Dieser besteht auf ein baldiges Treffen, und schon bald gerät Jolis Weltbild völlig aus den Fugen. Ein Strudel aufregender Ereignisse führt sie direkt in eine Welt, die sie bisher nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte, in die dunkle Welt von Remierre de Sagrais. Sie kann sich seiner faszinierenden Aura nicht entziehen und muss bald erkennen, dass auch sie ein Teil dieser dunklen Welt ist.

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Wolfsängerin

Lykandras Krieger 01

Kerstin Dirks

Herausgeber: © Sieben-Verlag Ltd. 2008Covergestaltung: © Sieben-Verlag 2008

ISBN Printausgabe: 978-3-940235-27-5ISBN E-Book: 978-3-941547-66-7

www.sieben-verlag.de

Prolog

Paris 1777

Der junge Mann war erleichtert, dem überfüllten Ballsaal, dem Tanz und der anstrengenden Konversation mit einer Cousine dritten Grades zu entrinnen. Er verspürte Dankbarkeit gegenüber der Dame, die ihm seine Flucht ermöglicht hatte, indem sie ihn durch einen Botengang lotste, und die ihm allem Anschein nach noch einiges mehr ermöglichen würde. Sie war gewiss keine Jungfrau mehr. Eine Jungfrau hätte nicht mit ihren Reizen kokettiert. Ihren Namen hatte sie ihm nicht nennen wollen, doch sie hatte sich als Jade vorgestellt, und Jade würde er sie nennen. Sie trug ein schwarzes Kleid, das perfekt zu ihrem rabenschwarzen Haar und dem stechenden Blick passte, jedoch inmitten der farbenfrohen Gesellschaft mit all ihren Pastelltönen deplaziert wirkte. Nicht wenige Damen und Herren hatten gefragt, ob sie in Trauer sei, woraufhin sie lediglich glockenhell gelacht und erklärt hatte, Schwarz sei ihr die liebste Farbe.

Jade war älter als er. Nicht viel, vielleicht ein paar Jahre. Er fand es aufregend und hoffte insgeheim, dass sie in gewissen Dingen Erfahrung hatte, die ihm mit seinen achtzehn Lenzen noch fehlte. Seit er den Kinderschuhen entwachsen war, hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Er war zu einem Mann geworden. Sein Körper rebellierte, wann immer er ein schönes Dekolleté oder einen sinnlichen Mund sah. Aber das war nicht alles. Ein alter Fluch lastete auf ihm und seiner Familie. Ein Fluch, der ihm nun immer häufiger zu schaffen machte, da sich die Auswirkungen erst im jungen Erwachsenenalter zeigten. Und diese Auswirkungen waren von schrecklicher Natur. Sein Vater hatte deswegen den Verstand verloren, behauptete seine Mutter, und er fürchtete das gleiche Schicksal zu erleiden.

„Mein lieber Freund, ich hoffe, Ihr könnt Euch wie ein Gentleman benehmen“, sagte Jade und schloss die Tür zu einer schmalen Kammer auf, welche man ihr als Gästezimmer zugeteilt hatte.

Er wusste nicht, woher sie kam oder welcher Familie sie angehörte. In diesem Moment interessierte es ihn auch nicht sonderlich.

„Ich hatte gehofft, Euch heute Nacht mehr als nur ein Gentleman zu sein.“

Jade lachte erneut glockenhell und legte sich auf das schlichte Bett. Ihre Familie bekleidete sicherlich keinen allzu hohen Rang. Das Gästezimmer wirkte schäbig.

„Was habt Ihr denn mit mir vor, mein Freund?“

Er trat langsam heran, bemüht, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, denn ein Mann durfte nicht unsicher sein, er musste führen.

„Warum kommt Ihr nicht näher?“, forderte sie ihn auf und klopfte auf den Platz neben sich. Sein Blick ruhte auf ihren apfelförmigen Brüsten, die sich bei jedem Atemzug hoben und senkten. Bei jeder Aufwärtsbewegung drohten sie aus ihren Körbchen zu springen. Er wünschte, sie täten es. „Nun?“ Sie sah ihn forschend an. „Wie wollt Ihr mich verführen?“

„Ich ... muss gestehen, ich habe ...“

„Noch nie bei einer Frau gelegen“, beendete Jade seinen Satz. Er fürchtete, sie würde ihn aus ihrem Zimmer werfen oder ihn auslachen. Stattdessen streichelte sie seine Wange. „Das macht doch nichts. Ich habe Erfahrung für zwei. Und du bist nicht der erste Bursche, den ich in die Kunst der Liebe einführe.“

Er blickte auf seine Hände und sah, dass sie leicht zitterten. Rasch schloss er sie zu Fäusten, um das Zittern vor ihr zu verbergen. Die Kunst der Liebe. Das klang so herrlich poetisch und erregend zugleich. Aber auch beängstigend. Ein erneuter Blick auf ihren Busen lenkte ihn von seinen Zweifeln ab. Seine noch unerfahrene Männlichkeit stieß energisch gegen den hellblauen Samtstoff seiner Culotte.

„Wie hast du es denn gern?“, fragte sie und grinste von einem Ohr bis zum anderen. Es war erstaunlich, wie hübsch sie trotz dieses übergroßen Mundes aussah. Am liebsten hätte er ihre vollen Lippen geküsst. Er wollte wissen, wie sie schmeckten.

„Ich weiß es nicht“, stotterte er leise.

„Wie meinst du das, du weißt es nicht?“ Sie lachte. „Jeder Mann hat Phantasien. Ganz besonders in deinem Alter. Mach mir nichts vor, du Früchtchen.“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Handrücken mit ihrem schwarzen Spitzenfächer.

„Autsch.“ Er rieb sich über die gerötete Stelle.

„Ich sehe schon, du bist ein Küken. Auch wenn du dem Kükenalter längst entwachsen sein solltest. Andere Jungen in deinem Alter haben zumindest schon an sich selbst gespielt oder gewisse Vorstellungen entwickelt. Aber sei es drum, weil ich dich mag, will ich dich nicht im Stich lassen. Leg dich auf mein Bett und schließe die Augen.“

Hastig tat er, was sie von ihm verlangte. Die Beule in seiner Hose wurde größer.

„Hast du deine Augen geschlossen?“

„Aber ja!“

„Wirklich? Du schwindelst mich nicht an?“

Er schüttelte den Kopf.

„Gut. Nun lass dich fallen. Gib dich ganz deinen Sehnsüchten hin.“ Etwas Weiches schlang sich um sein linkes Handgelenk und fesselte ihn an den Bettpfosten. Er verkrampfte sich.

„Lass dich fallen. Keine Angst.“

„Was ist das?“

„Nur ein Seidenschal. Du fürchtest dich doch nicht vor einem Seidenschal, nicht wahr?“

Er biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Sei ein Mann, mahnte er sich. Einen Seidenschal konnte er im Notfall zerreißen. Dennoch war es ein seltsames Gefühl, sich von einer reiferen Frau an deren Bett fesseln zu lassen und ihr gänzlich ausgeliefert zu sein.

„Du bist wirklich tapfer“, sagte Jade und band auch sein zweites Handgelenk fest. Diesem folgten beide Beine.

„Du besitzt viele Seidenschals“, stellte er fest, ohne die Augen zu öffnen.

Sie lachte leise. Er zuckte, als er ihre Hand an seiner Hose spürte. Langsam befreite sie ihn von seiner lästig gewordenen Culotte und zog sie bis zu den Knien herunter. Er fühlte, wie nun die Luft über seine Härte strich, die sich ihr sehnsüchtig entgegenstreckte, auf eine Berührung ihrer Hände oder ihrer sinnlichen Lippen wartend.

„Nicht schlecht“, sagte sie. „Du bist wahrlich wohlgewachsen, mein Freund.“

Blut schoss ihm in die Wangen. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, Vergleiche anzustellen, aber ihre Worte hinterließen ein stolzes Gefühl.

Er hörte das Knarren des Bettes, und sie setzte sich auf seine Oberschenkel. Ihre Unterröcke breiteten sich über ihm aus und ihre heiße Scham berührte seine Haut. Ein aufregendes Prickeln schoss durch seinen Unterleib, der schmerzte vor Erregung. Sie nahm ihn in beide Hände. Es fühlte sich himmlisch an. Für einen Moment vergaß er seine Fesseln und gab sich ganz diesen wundervollen Berührungen hin.

Er blickte an sich herunter und sah, wie sie kurz davor war, ihn in den Mund zu nehmen. Erneut jagte ein Schauer durch sein Rückgrat. Ein Schauer, der so herrlich sinnlich und aufregend war, dass er Raum und Zeit vergaß. Er glaubte zu schweben, irgendwo über den Wolken. Dem Hochgefühl folgte ein Schmerz, der in jeden Teil seines Körpers ausstrahlte und ihn abrupt in die Realität zurückriss.

Oh nein. Nicht schon wieder.

„Jade ...“, keuchte er. „Zieh ... den Vorhang zu ... bitte.“

„Den Vorhang?“

„Das Mondlicht ... es darf meine Haut nicht ...“

Es gelang ihm nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Er riss die Augen auf, sah die Veränderung seines Körpers, das Anschwellen seiner Muskeln, die sein Rüschenhemd zerrissen, und Jades Blick. Ein süffisantes Lächeln umspielte ihre Lippen, offenbar war ihr nicht fremd, was sie sah.

„Bitte, ich ... halte diese Schmerzen nicht ... länger aus.“

Seit er herausgefunden hatte, dass das Licht des Vollmondes die Verwandlung herbeiführte, hatte er es gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Doch die Verlockung hatte ihn unvorsichtig werden lassen. Er hatte die Gefahr verdrängt, die hinter den vorbeiziehenden Nachtwolken lauerte.

Ein Schrei entdrang seiner Kehle, als die Verformung seines Gesichts einsetzte. Es fühlte sich an, als breche ihm jemand mit roher Gewalt jeden einzelnen Knochen. Jade kletterte von ihm herunter und stellte sich neben das Bett, offensichtlich wollte sie das Ungeheuer sehen, in das er sich verwandelte und sie wurde nicht einmal nervös. Ihre Augen glühten, ihr Mund war leicht geöffnet, sie sah erregt aus.

Er konnte sehen, wie sich aus seiner Nase eine Schnauze formte, spürte seine Ohren wachsen, überall sprossen Haare.

Mühelos zerriss er die Seidenschals, die ihn an das Bett gefesselt hatten.

„Ich wusste es“, sagte Jade und rieb sich die Hände wie ein eifriger Händler, der ein gutes Geschäft witterte. „Ich wusste, was du bist. Ich habe es gespürt.“ Sie leckte sich über die Lippen.

Er blickte an sich herab und sah den Körper eines haarigen Kolosses, dessen Pranken so groß waren wie ein menschlicher Kopf. Er rollte sich aus dem Bett und landete auf den Hinterläufen. Wegen der niedrigen Deckenhöhe musste er den Rücken und die Beine krümmen.

Auch wenn er äußerlich ein Ungeheuer war, so schlug in seiner Brust noch immer das Herz eines verunsicherten Jünglings, der nicht begriff, was mit seinem Körper jede Vollmondnacht geschah, warum es geschah und woher dieser Fluch stammte, dem er anheim gefallen war.

Er hatte die alten Schriften gelesen, in denen sich Männer in Wölfe verwandelten, weil sie von einem Werwolf gebissen worden waren. Doch ihm war nichts dergleichen geschehen, er hatte noch nicht einmal einen echten Wolf je gesehen. Unfähig in seiner monströsen Gestalt auch nur ein Wort zu sprechen, stieß er ein Grollen aus, das gefährlicher und aggressiver klang als das Brüllen eines ausgehungerten Löwen.

„Wir sind uns sehr ähnlich, ob du es glaubst oder nicht“, sagte Jade und stellte sich vor ihn. „Ich bin eine Gestaltwandlerin, ein höheres Wesen. Eines, das im Gegensatz zu dir jegliche Form annehmen kann, wann immer es will.“ Ihre Worte klangen herablassend. „Ich nehme an, du fühlst dich in diesem Körper nicht wohl“, fuhr sie fort. „Nun, sonderlich ansehnlich bist du in der Tat nicht. Und eine Unterhaltung scheint ebenso unmöglich. Dennoch schlage ich dir ein Geschäft vor, über das du nachdenken solltest. Ich werde dich lehren, deine Kräfte zu gebrauchen, denn ich weiß alles über deine Art. Im Gegenzug wirst du mir zur Verfügung stehen, wann immer ich es will, denn du gefällst mir.“

Sie sah ihm in die Augen und er hatte das Gefühl, sie könne in sein tiefstes Inneres blicken. Jade war ihm unheimlich. Aber sie behauptete die Antworten auf die Fragen zu kennen, die ihn quälten. Für diese Antworten war er bereit einiges zu geben.

Jade ging zum Fenster und zog die dicken Samtvorhänge zu, sodass das Licht des Mondes nicht länger auf seinen Körper fiel. Erneut brandeten die schrecklichsten Schmerzen durch seinen Leib. Sie ließen ihn schreien, als durchbohrten Hunderte Pfeilspitzen seinen gepeinigten Körper. Er sank auf die Knie, einer Ohnmacht nahe. Das Knirschen seiner Knochen klang in seinen Ohren, er spürte, wie sich die Haare in seine Haut zurückzogen und seine Gestalt schrumpfte. Mehrere Male drohte es dunkel um ihn zu werden, bis er schließlich benommen am Boden liegen blieb. Die glatten Dielen kühlten seinen nackten Körper. Geschwächt hob er den Kopf und blickte zu Jade.

Sie sah auf ihn herab und schmunzelte. „Du musst noch viel lernen, junger Werwolf.“

Sie beugte sich vor und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Zögernd nahm er sie an.

Berlin 2008

„Ist alles in Ordnung, Joli?“

Joselin Balbuk, genannt Joli, Tierarzthelferin, 24 Jahre jung, Liebhaberin von Chilischokolade und trotz ihrer Leidenschaft für Kalorienbomben, grazil wie eine Gazelle, schreckte aus ihren Gedanken und starrte ihren Chef verwirrt an. Für einen Moment hatte sie alles um sich herum vergessen. Sie war peinlich berührt, denn so etwas war ihr noch nie passiert. Tagträumereien hob sie sich normalerweise für den Feierabend auf. Heute war jedoch alles anders. Sie musste immerzu an den Brief ihres Vaters denken. Ihres richtigen Vaters. Des Mannes, der sich 24 Jahre lang nicht um sie geschert, von dem sie weder einen Brief noch irgendeine andere Art von Lebenszeichen erhalten hatte. Ihr ‚Erzeuger’ hatte quasi keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Bis zu dem Tag, an dem sie plötzlich in ihrem Briefkasten gelegen hatte, die Nachricht, auf die Joli Jahre lang gewartet hatte. Sie war knapp gehalten gewesen, geschrieben auf einem Bogen mit Marienkäferdruck, den man wohl eher auf dem Schreibtisch eines Kindes vermutete. Die Botschaft war unmissverständlich. Er wollte sie kennen lernen. Joli wusste nicht recht, was sie von dem unerwarteten Wunsch ihres Vaters halten sollte. Natürlich war sie neugierig auf ihn. Und sie hatte viele Fragen. Warum er sie weggegeben hatte, warum er sich erst jetzt meldete und sie wollte ihm Fragen über ihre leibliche Mutter stellen.

„Halten Sie bitte die Katze fest“, schimpfte Doktor Mark.

Joli schob ihre übergroße Brille mit bernsteinfarbenem Rand hoch und blickte auf den Untersuchungstisch, in ein kugelrundes Pelzgesicht, dessen gelbe Augen zornig funkelten. Wenn Blicke töten könnten, wäre Joli in diesem Moment leblos zu Boden gesunken oder zumindest bewusstlos geworden. Das Tier knurrte dramatisch. Es war allzu offensichtlich, dass es mit dieser Behandlung nicht einverstanden war und seine Krallen nur zu gern in Jolis nackte Arme gebohrt hätte. Immer wieder protestierte es heftig, sobald Jolis Griff sich etwas lockerte und es eine Möglichkeit sah, sich unter ihren Händen hervorzuwinden. Eines musste man dem Tier jedoch lassen. Es bewies Ausdauer.

Mit starrem Gesichtsausdruck beobachtete die Besitzerin der Katze die Szenerie. Die ältere Dame wurde blass, als ihr Liebling ein bedrohliches Grollen ausstieß, das in einem lauten Aufschrei mündete.

„Ganz ruhig, meine Kleine“, versuchte Joli die getigerte Patientin zu beruhigen. Aber diese konnte oder wollte nicht verstehen. Und Jolis Stimme klang trotz ihrer Worte alles andere als ruhig.

Doktor Mark setzte die Spritze an. Keine Sekunde später erklang ein ohrenzerschmetternder Schrei, der sogar eine professionelle Tierarzthelferin mit vierjähriger Berufserfahrung in verschiedenen Praxen zusammenzucken ließ. Wer schon einmal paarungsbereite Katzen in der Nacht schreien gehört hatte, der wusste, über welches Stimmvolumen diese Tiere verfügten.

„Sehr tapfer“, lobte Dr. Mark mit einem ironischen Lächeln, und betrachtete stolz die kleine Blutampulle, die er Frau Blumenburg wie eine Trophäe präsentierte. Diese wurde nun noch bleicher und wedelte sich rasch mit der Hand frische Luft zu.

„Ich ... ich muss mich setzen“, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl in der Nähe fallen, der unter ihrem Gewicht bedrohlich knarrte.

Joli setzte die Katze in ihr Körbchen zurück, was dieser auch nicht recht gefiel und mit einem Fauchen quittierte.

Als Joli an sich herunter sah, entdeckte sie einen Fleck auf ihrem blauen Tierarztoverall, den die Katze in ihrer Panik hinterlassen hatte. Sie gab Dr. Mark ein Zeichen und verschwand auf die Toilette, um den Urin mit einem feuchten Tuch auszuwaschen. Ihr Blick fiel in den Spiegel, aus dem ihr eine zierliche Frau mit köterblonden Haaren, die zu allen Seiten abstanden, und einer übergroßen Brille entgegen blickte. Die Gläser waren milchig und ließen ihre Haut bleich erscheinen.

Vorsichtig nahm Joli das Bernsteingestell ab und polierte die Augengläser mit dem Ärmel ihres Overalls. Ohne Brille konnte sie nur sehr schlecht sehen. Kontaktlinsen kamen jedoch nicht infrage, da sie Angst vor dem Einsetzen hatte. Sie hatte es probiert, doch nachdem sich eine Linse an ihrem Auge festgesaugt hatte und nur mit Mühe und Not wieder abgegangen war, hatte sie entschieden, lieber zu ihrer Kurzsichtigkeit zu stehen und ihre Brille zu tragen.

Joli setzte sie wieder auf und betrachtete sich von allen Seiten. Heute war einer dieser Tage, an denen sie ganz und gar nicht mit ihrem Aussehen zufrieden war. Aber welche Frau war das schon, von ihrer Kollegin und besten Freundin Karla abgesehen, die in Jolis Gegenwart nie über Problemzonen oder Diäten sprach.

Joli beugte sich vor und strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Es gab Momente, in denen sie Karla beneidete. Nicht nur, weil diese eine funktionierende Beziehung führte, sondern auch weil sie mit ihrem Leben zufrieden war. Sie hatte viele Freunde, einen Verlobten, den sie nach eigener Aussage wie am ersten Tag liebte, und das nötige Kleingeld um drei Mal im Jahr zu verreisen. Joli verbrachte die meisten Abende zuhause. Von Karla abgesehen hatte sie nicht viele Freunde und es boten sich selten Gelegenheiten auszugehen. Hin und wieder begleitete sie ihre Adoptiveltern zum Kegeln, wenn der Verein zu einem Freundschaftsspiel eingeladen war. Joli mochte Kegeln, war allerdings keine Sportskanone und wollte auch kein festes Mitglied werden. Ihre Adoptivmutter schien instinktiv zu spüren, dass Joli einsam war, und versuchte sie zu ermutigen, öfter etwas zu unternehmen, um nette Leute kennen zu lernen, anstatt immer nur mit älteren Herrschaften Kegeln zu gehen.

Nachdem Joli von ihrem Ex betrogen worden war und von ihm, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, auch noch den Laufpass bekam, hatte sie keine große Lust mehr auf neue Bekanntschaften. Ganz besonders dann nicht, wenn es sich um männliche Bekanntschaften handelte. Sie lebte zurückgezogen mit ihren geliebten Katzen Pawy und Abby in ihrer Anderthalb-Zimmer-Wohnung.

Joli kehrte ins Sprechzimmer zurück, als Frau Blumenburg die Praxis verließ.

„Na, Sie sind wohl gestern lange aufgeblieben?“, stellte Dr. Mark fest.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Eine junge, unternehmungslustige Frau wie Sie hat doch Freitagabends sicherlich einiges vor.“

Wenn der wüsste. Ein Single-Haushalt und Langeweile gepaart mit der nervtötenden Partymusik des Nachbarn unter ihr, das war ihr Leben. Zumindest war es das bis gestern. Die Nachricht ihres Vaters hatte das geändert. Sie hatte den gestrigen Abend entgegen ihrer Gewohnheit nicht vor dem Computer oder mit einem Buch verbracht, sondern darüber nachgedacht, ob sie seiner Bitte nach einem baldigen Treffen nachkommen sollte oder nicht. Sie war noch immer unschlüssig. In Gedanken ging sie noch einmal den Inhalt des Briefs durch.

‚Liebe Joselin, du wirst sicher überrascht sein, diese Zeilen lesen und nicht wissen, wer der Mann ist, der sie dir sendet. Daher will ich mich kur vorstellen. Ich weiß, das alles kommt überraschend für dich, doch es bleibt nicht die Zeit für lange Erklärungen. Mein Name ist Phillip Tremonde. Ich bin dein leiblicher Vater. Mir ist bewusst, dass ich viele Fehler gemacht habe, doch nun bin ich am Ende meines Lebens angekommen und verspüre den Wunsch, die Fehler wieder gut machen. Ich möchte dich treffen. Bitte rufe mich an, meine Nummer lautet ... ’,

So, oder so ähnlich, hatte er sich ausgedrückt. Wie selbstverständlich alles für ihn schien. ‚Triff mich, ich will meinen Fehler wieder gut machen’. Sollte sie es ihm tatsächlich so einfach machen? Aber wenn er nun sterbenskrank war, wie er es andeutete, so war das vielleicht die letzte Möglichkeit ihn zu treffen und mehr über ihre Wurzeln zu erfahren.

„Machen Sie für heute Feierabend, Joli. Karla wird sicher gleich kommen“, sagte Doktor Mark und legte fürsorglich die Hand auf ihre Schulter.

Joli nickte dankbar. Sie ging in die Umkleide, zog sich den blauen Tierarztoverall aus, schlüpfte in ihre Alltagskleidung und verließ die Praxis, um sich in ihr Lieblingscafé zu setzen. Es war bereits Nachmittag und das Expresso war rappelvoll. Nirgends sonst gab es so viele interessante Kakaovariationen. Sie setzte sich unter einen Sonnenschirm auf den letzten, freien Stuhl und bestellte eine heiße Schokolade mit Chili. Dann griff sie in ihre Handtasche und zog das Handy sowie den zerknitterten Brief ihres Vaters hervor. Sie strich das Papier glatt, welches sie nicht in den Umschlag zurückgetan, sondern unachtsam in die Tasche gestopft hatte, und las noch einmal sein Schreiben. Was sollte sie nur tun? Sie war so unendlich neugierig auf diesen Mann.

Sie überlegte ob es ihren Adoptiveltern recht sein würde, wenn sie Herrn Tremonde ohne vorherige Absprache mit ihnen traf. Sie waren sehr verständnisvoll und hatten sie dazu erzogen, eigene Entscheidungen zu treffen. Sein Name klang französisch. Ein weiterer Punkt, der sie neugierig machte. Es musste sich um eine offene Adoption gehandelt haben. Anders war nicht zu erklären, dass Herr Tremonde ihre Adresse kannte. Wahrscheinlich waren es sogar ihre Adoptiveltern gewesen, die sie ihm gegeben hatten. Folglich würden sie sicher nichts gegen den Kontaktversuch einzuwenden haben.

„Ihre Schokolade“, sagte der Kellner und stellte die Tasse samt Untersetzer auf den roten, runden Plastiktisch.

Sie legte das Handy auf ihren Schoss und rührte mit dem Löffel das schaumige Getränk um. Manchmal musste man etwas riskieren. Wenn sie die Chance auf ein Treffen nicht nutzte, würde sie es später vielleicht bereuen. Was hatte sie zu verlieren? Sollte er sich als Stinkstiefel entpuppen, konnte sie immer noch gehen. Sie griff erneut nach ihrem Handy und gab die Telefonnummer ein, die er in ordentlicher Handschrift aufgeschrieben hatte. Zumindest war der Brief nicht mit der Maschine getippt, stellte sie beiläufig fest. Ein kleines Detail, das seinem Schreiben eine persönliche Note gab. Sie hielt das Handy ans Ohr und lauschte dem Freizeichen, das nur vom starken Pochen ihres Herzens übertönt wurde. Ihre Kehle fühlte sich schmerzhaft trocken an und das Schlucken fiel ihr schwer. Nur die Ruhe, er wollte etwas von ihr, nicht umgekehrt.

„Sie sind mit dem Anschluss von Remierre de Sagrais verbunden“, erklang eine alte, doch erhaben klingende Stimme.

Joli drückte vor Schreck auf den roten Knopf, der die Verbindung trennte. Sie hatte den seltsamen, französischen Namen kaum verstanden, doch sie war sicher, der Mann hatte sich nicht als Phillip Tremonde vorgestellt. In ihrer Aufregung hatte sie mit Sicherheit die falsche Nummer gewählt. Sie schob die Brille ihren Nasenrücken hinauf und räusperte sich. Irritiert sah sie auf ihr Display und verglich die Zahlen mit jenen, die auf dem Marienkäferdruck standen. Alles war korrekt. Verunsichert klickte sie auf die Wahlwiederholung.

„Sie sind mit dem Anschluss von Remierre de Sagrais verbunden.“ Die Stimme klang genauso wie das Mal zuvor. Als käme sie von einem Tonband. Oder als hätte jemand diesen Satz peinlich genau einstudiert.

„Hallo, hier ist Joli Balbuk. Ich habe mich wahrscheinlich verwählt. Oder vielmehr hat mir jemand eine falsche Nummer aufgeschrieben. Ich wollte eigentlich mit Phillip Tremonde sprechen. Entschuldigen Sie also bitte die Störung. Wiederhören.“

„Warten Sie, Joli. Ich bin der, den Sie suchen. Ich bin Phillip Tremonde“, drang es an ihr Ohr.

Joli hielt den Atem an.

„Es freut mich sehr, dass Sie, dass du dich meldest. Ich hatte es nicht zu hoffen gewagt, nun wird doch noch alles gut.“

Offenbar lag Herrn Tremonde einiges daran, sie vor seinem Tod kennen zu lernen. Und das fühlte sich für Joli gut an. Sehr gut sogar.

„Möchtest du mich treffen, Joli?“, fragte Phillip Tremonde, nachdem für eine Weile Schweigen eingekehrt war.

„In Ordnung“, sagte sie schließlich aus einem Bauchgefühl heraus, und bereute es im selben Moment. Normalerweise traf sie derart wichtige Entscheidungen nicht in einem emotionalen Ausnahmezustand wie diesem. Manche Entscheidungen mussten wohlüberlegt sein. Und diese fiel zweifelsohne in die Kategorie ‚überleg es dir genau’. Für einen Rückzieher war es jetzt zu spät, denn Phillip Tremonde hatte es unwahrscheinlich eilig seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen.

„Wo bist du im Augenblick? Ich schicke dir ein Taxi.“

„Moment. Das geht mir ein wenig zu schnell, Herr Tremonde.“

„Das tut mir aufrichtig leid, Joli. Doch die Zeit drängt. Wenn du es also einrichten kannst, würde ich dich gern heute noch sehen. Bitte.“

Die Stimme des alten Mannes klang verzweifelt. Joli hatte Mitleid und verfluchte sich gleichzeitig für dieses Gefühl. Sie sollte nicht so leichtgläubig sein. Jeder konnte behaupten, er wäre ihr Vater. Vielleicht war es ratsamer, ihre Eltern anzurufen und sich den Namen bestätigen zu lassen. Sein ‚Bitte’ erweichte jedoch ihr Herz. Es klang ehrlich. Vielleicht weil sie nicht glauben wollte, dass er sie anlog.

„In Ordnung, ich sitze im Café Expresso Ecke Schwedenstraße. Und wo geht die Reise hin?“

„Nach Dahlem. Ich freue mich sehr.“

Mit diesen Worten legte er auf und ließ Joli völlig verblüfft am anderen Ende der Leitung zurück. Ihr Vater musste offenbar gut bei Kasse sein, wenn er in dieser Gegend wohnte. Oder er lebte zur Untermiete. Das würde auch erklären, warum er sich nicht mit seinem Namen meldete. Sie winkte den Kellner heran, bezahlte ihren Kakao und wartete auf das Taxi.

Fünf Minuten später saß sie auf dem Rücksitz der weißen Droschke. Der Fahrer war von der schweigsamen Sorte, das Radio hatte er auf volle Pulle gedreht. Joli war das nur recht. Ihr stand der Sinn nicht nach einer belanglosen Unterhaltung. Sie lauschte der atemberaubenden Stimme von Whitney Houston. ‚One Moment in Time.’ Für jeden Menschen, so glaubte Joli, gab es einen solchen ‚one moment’, der das Leben gänzlich veränderte. Manche warteten vielleicht länger als andere, doch ganz sicher gab es ihn, diesen entscheidenden Moment. Vielleicht war jetzt der ihre gekommen.

Schon bald veränderte sich das Straßenbild. Aus dem Augenwinkel sah sie Einfamilienhäuser und Villen an sich vorbei rauschen. Schließlich hielt das Taxi vor einem prachtvollen Anwesen, das ein wenig abgelegen am Ende der Straße lag, aber den anderen Villen in der Gegend um nichts nachstand. Das zweistöckige Gebäude strahlte im reinsten Weiß, im oberen Stockwerk gab es einen Balkon. Das Dach lief spitz zu und schimmerte im Licht der Sonne, als wäre es nass. In Wahrheit waren zwischen den Ziegeln Metallplatten angebracht, die das Sonnenlicht reflektierten. In den Vorgarten trat ein alter, gebrechlicher Mann in einem schwarzen Anzug, der ihm viel zu groß war. Unausgefüllt baumelten die Ärmel an ihm herunter. Joli stieg aus. Der Mann musste am Fenster gestanden und auf das Taxi gewartet haben. Nun lief er wackeligen Schrittes auf den Wagen zu und reichte dem Fahrer durch das offene Fenster einige Scheine.

„Behalten Sie den Rest“, sagte er.

Joli erkannte seine Stimme. Die ausgemergelte Gestalt war tatsächlich Phillip Tremonde. Ihr Vater wandte sich ihr zu. Seine Hände zitterten. Er wirkte erschreckend zerbrechlich, ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte, nachdem sie seine Stimme gehört hatte. Joli schätzte ihn auf Ende 60. Aber das war unwahrscheinlich. Wenn auch nicht gänzlich unmöglich. Vielleicht hatte er ihre Mutter sehr spät kennen und lieben gelernt.

Ein erfreutes Lächeln zeichnete sich auf den alten Zügen ab. Er wankte auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schulter. Joli hatte das Gefühl, dass er sie umarmen wollte. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Vielleicht Scham oder die Angst vor Zurückweisung.

„Wie schön“, sagte er, löste sich von ihr und ging durch den blumenverzierten Vorgarten zum Haus. Joli folgte ihm. Der Kies unter ihren Füßen knirschte angenehm. Die Steine schimmerten feucht. Offenbar war es nicht lange her, seit der Garten zuletzt gesprengt wurde.

„Ein schönes Anwesen“, sagte sie anerkennend und fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie ihre Kindheit in Dahlem verbracht hätte.

„Es gehört nicht mir, sondern Monsieur de Sagrais.“

Aha. „Sagrais?“

„De Sagrais“, verbesserte Tremonde. „Du wirst ihn kennen lernen.“

Joli fragte sich, in welcher Beziehung de Sagrais zu ihrem Vater stand. Handelte es sich um eine Art Männer-WG oder lebten die beiden als Paar zusammen? Das war vielleicht der Grund, warum ihre leiblichen Eltern sie weggegeben hatten. Die beiden Männer waren sicher zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um ein kleines Kind großzuziehen. Sie fragte sich aber, warum sich nicht zumindest ihre Mutter um sie gekümmert hatte.

Tremonde öffnete die knarrende Tür und bat Joli hinein. Kaum hatte sie die Villa betreten, glaubte sie, mit nur einem einzigen Schritt eine Reise in die Vergangenheit gemacht zu haben. Die Einrichtung des Hauses wirkte altmodisch. Mehr noch. Historisch. Joli betrachtete einen Spiegel mit goldenen Beschlägen und Arabesken. Ein wahrlich prachtvoller Anblick, wäre da nicht ein großer Sprung gewesen, der die Spiegelfläche teilte. Es sah aus, als hätte jemand seine Wut an dem guten Stück ausgelassen und ihn mit der Faust malträtiert.

Der Spiegel hing über einer Kommode, die gut und gern aus dem frühen 18. Jahrhundert stammen mochte. Natürlich konnten diese Möbelstücke Nachbildungen sein. Hier lebten eindeutig Exzentriker, oder Menschen, die das Flair der Vergangenheit liebten. Oder einfach ältere Herren, die von Neuerungen nichts hielten. Was auch immer die Beweggründe waren dieses Zuhause wie ein Herrenhaus aus dem Barock auszustatten, der Stil wurde konsequent durchgehalten, von Telefon und Radio abgesehen gab es hier nichts was darauf hindeutete, dass die Welt im 21. Jahrhundert angekommen war. Was ebenso auffiel wie die alten Möbelstücke, waren Knoblauchzehen und Kreuze, die an den Wänden und von den Decken hingen. Man war offenbar sehr religiös, wenn man die Anzahl der Kreuze betrachtete. Oder Sammler alter Reliquien. Warum man sein Heim allerdings mit Knoblauchgewächsen schmückte, konnte sie sich nicht erklären.

Phillip Tremonde führte Joli in den Salon, wie er das Wohnzimmer nannte, und bot ihr einen Platz auf einer edlen Couch mit Samtbezug an. Das Holzgestell knarrte verdächtig, als sie sich auf dem Sitzmöbel niederließ. Morsch war es wenigstens noch nicht. Oder zumindest nicht morsch genug, um unter Jolis Fliegengewicht zu zerbersten.

„Möchtest du einen Tee oder Kaffee?“

„Nein, danke. Ich hatte gerade eine heiße Schokolade.“

Phillip Tremonde nickte und entfernte sich von dem kleinen Rollwagen nahe der imposanten Eichentür, auf dem zwei Kannen und edles Porzellan standen. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf den altmodischen Sessel und lächelte sanft. Joli lächelte zurück. Sein Lächeln wurde breiter und wandelte sich in ein verlegenes Grinsen, das zugleich unerwartet gepflegte Zähne enthüllte. Joli wusste nicht recht, was sie sagen sollte, bis ihr klar wurde, dass es ihm augenscheinlich genauso ging. Sie waren einander völlig fremd.

Sie wusste nichts über Tremonde, außer dem, was er ihr in seinem Brief offenbart hatte. Und er musste sogar noch weniger über sie wissen, weil er sie nie zuvor kontaktiert hatte. Die Situation war schwierig, vor allem ungewohnt. Einzig das Ticken der Kuckucksuhr durchbrach die unangenehme Stille. Ob wohl bei jeder vollen Stunde ein kleiner Holzkuckuck aus dem Miniaturtürchen schnellte? Joli sah auf das Ziffernblatt und stellte fest, dass sie noch eine Dreiviertelstunde warten musste, um das herauszufinden. Sie wandte den Blick von der Uhr ab und betrachtete Tremondes Ohren. Genau wie sie hatte auch er ein abstehendes Ohr. Der Anblick ließ ihre letzten Zweifel schwinden, dass es sich vielleicht nur um eine Verwechslung handelte. Es gab noch mehr Gemeinsamkeiten. Wenn er lächelte, kam er ihr auf unheimliche Weise vertraut vor. Sie entdeckte vieles von sich selbst, wenn sie ihn ansah.

„Der Arzt hat mir nur noch wenige Wochen zu leben gegeben“, unterbrach er das Schweigen plötzlich. „Außer dir habe ich keine lebenden Verwandten mehr“, sagte Tremonde ohne großes Feingefühl an den Tag zu legen oder sie auf das Thema vorzubereiten. Joli erschrak über die unerwartete Offenheit.

Irgendwann einmal musste der schwarze Anzug ihrem Vater wie angegossen gepasst haben. Er war vermutlich ein attraktiver, lebensfroher Mann gewesen. Es musste schrecklich sein, nur noch der Schatten eines früheren Ichs zu sein.

Betrübt senkte sie den Blick und fragte sich was er von ihr erwartete. Sollte sie ihn in die Arme nehmen? Sie kannte ihn doch kaum. Er war immer noch ein Fremder. Auch wenn sie großes Mitleid verspürte.

„Das tut mir leid.“ Joli warf einen kurzen Blick zu ihm und sah, wie betreten er drein schaute. So wie er aussah, fühlte sie sich im Moment. Sie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte und räusperte sich verlegen. Aber es gab eine Frage, die ihr auf der Zunge brannte. „Was ist mit meiner Mutter?“ Es war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt diese Frage zu stellen, denn es ging erst einmal um Tremonde, der in Frieden mit seinem Leben abschließen wollte. Doch Joli brannte darauf mehr über ihre Mutter zu erfahren und Tremonde schien es nichts auszumachen. Er sah sie gütig, wenn auch betrübt an.

„Deine Mutter, ihr Name war Claire, starb bei deiner Geburt.“

Sie hatte mit einer anderen Antwort gerechnet. Schlimmstenfalls damit, dass ihre Mutter sie aus Überforderung zur Adoption freigegeben hatte. Was wiederum viele neue Fragen aufgeworfen hätte. Andererseits verspürte sie nun Erleichterung darüber, dass ihre Mutter sie gar nicht weggegeben hatte. Vielleicht war sie kein ungewolltes Kind gewesen. Vielleicht wäre sie bei ihrer Mutter aufgewachsen, wenn diese nicht gestorben wäre. Wie oft hatte sie nachts in ihrem Bett gelegen und sich gefragt, warum ihre Eltern sie überhaupt in die Welt gesetzt hatten, wenn sie sie doch gar nicht wollten. Viele Fragen hatten sie ein Leben lang gequält. Nun wusste sie zumindest, dass ihre Mutter sie nicht weggegeben hatte. Warum ihr Vater sich für ein Leben ohne sie entschieden hatte, blieb hingegen offen. Sie hoffte, er würde es ihr im Laufe des Gespräches erklären.

„Die Familie Tremonde ist eine sehr alte, ehrwürdige und traditionsbewusste“, sagte er plötzlich mit Stolz geschwellter Brust. Joli ließ sich ihre Verwirrung über den plötzlichen Themenwechsel nicht anmerken. Sie würde ihn später noch einmal auf ihre Mutter ansprechen. Jetzt wollte sie ihn aus Höflichkeit ausreden lassen. „Seit über zwei Jahrhunderten stehen die Tremondes im Dienste des Marquis de Sagrais.“

„Marquis?“

„Des Markgrafen de Sagrais“, erklärte Tremonde bedeutsam.

Das musste aber ein sehr alter Herr sein. Joli lächelte, denn so wie er sich ausdrückte klang es als hätte die Familie Tremonde 200 Jahre lang ein und demselben Adligen gedient. Ihr Vater war wie es schien schon etwas verwirrt.

„Im Laufe der französischen Revolution flohen die Familien nach Preußen und ließen sich in Berlin nieder. Es waren schreckliche Zeiten, geprägt von Armut und Hunger. Sie mussten sich eine neue Existenz aufbauen, aufgrund der Unruhen in der Heimat hatten sie einen Großteil ihres Besitzes zurückgelassen. Seit jenem Tag wuchs die Verbindung zwischen dem Marquis und den Tremondes zu einem schier unzerstörbaren Band. Der Herr stieg in den Kunsthandel ein, beschaffte wertvolle Schätze aus Afrika und dem Orient, die er teuer an den Meistbietenden verkaufte. So sammelte sich über die Jahrzehnte ein beträchtliches Vermögen an. Für jeden Tremonde war es eine große Ehre, dem Herrn zu dienen und ihn nach Kräften zu unterstützen.“