Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg - E-Book

Machtergreifung E-Book

Ferdinand Schwanenburg

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Beschreibung

Seit der Flüchtlingskrise ist sie wieder da, die Angst der Deutschen: Angst vor Überfremdung, vor Terroranschlägen und zunehmender Kriminalität, vor wirtschaftlicher Benachteiligung und Verarmung. In der Bevölkerung wächst der Unmut. In dieser angespannten Lage sieht Friedrich Sehlings seine Chance: Er träumt davon, wieder einen Führerstaat zu errichten … Als einige Honoratioren die rechte Deutschlandpartei gründen, tritt Sehlings der Partei bei. Schnell macht er sich zu einem unverzichtbaren Organisator der neuen Rechten, während er seine wahren Ziele im Verborgenen hält. Er schleust Spione in die Partei ein. Sein Netzwerk funktioniert, seine Truppen stehen. Er spielt die Parteigrößen gegeneinander aus und räumt jeden aus dem Weg, der seiner Mission gefährlich werden könnte. Als die Partei schließlich immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung findet, sieht er seine Zeit gekommen: Geschickt sorgt er für Chaos und Unruhe auf Deutschlands Straßen und schmiedet einen perfiden Plan, um die Macht im Land endgültig an sich zu reißen …

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Ähnliche


Ferdinand Schwanenburg

MACHTERGREIFUNG

ROMAN

1. eBook-Ausgabe 2021

© 2021 Europa Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Lektorat: Rainer Wieland, Berlin

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Simoncini Garamond

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-316-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

PERSONEN IN DER REIHENFOLGE IHRES AUFTRITTS

DIE PARTEIEN DES ROMANS IN ALPHABETISCHER REIHENFOLGE

Meinem Lateinlehrer,

der mich gelehrt hat,

historisch zu denken

KAPITEL 1

»Der redet doch genau wie Hitler«, sagte Vater Sehlings ziemlich laut und aufgebracht zu seinem Sohn Friedrich. »Dass solche Nazis im deutschen Fernsehen wieder reden dürfen, als sei nichts gewesen, ist ein Skandal. Das haben wir nur dir und deinen Spießgesellen zu verdanken, dass Hitler mit all seinen unsäglichen Taten wieder gesellschaftsfähig wird.«

Friedrich Sehlings blickte seinen Vater erstaunt an. Seit Jahren hatte er den Namen des Führers nicht mehr in seiner Gegenwart erwähnt. Im Fernsehen lief die Sonntagabend-Talkshow, das Wort hatte ein leicht schwitzender älterer Herr mit Gartenzwergkrawatte und anthrazitfarbenem Trachtenjanker.

»Hör dir das doch mal an, Friedrich, der redet genauso wirres Zeug wie du!« Der Vater kam immer mehr in Rage.

Den Sohn wiederum machten diese Worte stolz. Den Führer wieder gesellschaftsfähig gemacht zu haben, das war auch sein persönliches Verdienst. Wenigstens etwas hatte er erreicht! Doch auch das konnte die tiefe Enttäuschung nicht vertreiben, die er in diesem Moment verspürte. Mit dem heutigen Tag drohte seine Mission zu scheitern. Das dämmerte Friedrich Sehlings, als er den verbraucht wirkenden Alten mit der Gartenzwergkrawatte auf dem Bildschirm sah. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen! Dieses Mal hätte es wirklich klappen können mit der Machtergreifung. Der Alte war die perfekte bürgerliche Fassade.

Dr. Adalbert Hausding, der gerade in der Sonntagabend-Talkshow über die Hitlerzeit redete, war der große Held der Deutschlandpartei. Er hatte sie gegründet, sie von Erfolg zu Erfolg getragen – und sie drei Jahre zuvor mit einem sensationellen Wahlergebnis von 13 Prozent in den Bundestag geführt. Seitdem war er nicht nur der Vorsitzende der Partei, sondern auch Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Von Beginn an wollte Friedrich Sehlings unbedingt dazugehören, er wollte dabei sein, wenn es in Deutschland endlich wieder einen Führer gab. Doch seit dem heutigen Tag standen das Deutsche Herz, der völkische Flügel der Partei, und ihre Nachwuchsorganisation, die Jungdeutschen, unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes – ein schwerer Rückschlag im Kampf um die Macht.

Der Sohn sagte nichts und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Alten mit der Gartenzwergkrawatte zu: »Die deutsche Geschichte umfasst mehr als zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft. Und auch diese dunkle Zeit hatte ihre lichten Momente. Unter den Soldaten des Dritten Reiches waren viele Helden. Viele Deutsche denken so. Erkennen Sie das doch endlich an!«

Die letzten Worte waren an den Verteidigungsminister der Christpartei und den Chef der Ökopartei gerichtet. Mit ihnen zusammen saß Hausding im Talkshow-Studio. Die beiden galten als die kommenden Männer in Deutschland.

»So ein Nazi, so ein elender Nazi! Und diesen Fernseh-Fritzen geht es doch nur um die Quote«, schimpfte der Vater.

Friedrich Sehlings blickte auf seinen Vater. Dann streifte sein Blick die weiße Bibliothekswand in der hellen, geräumigen Münchner Altbauwohnung mit den hohen Decken, in der sein Vater seit fast fünfzig Jahren lebte und in der er selber groß geworden war. Dort standen sie, Buchrücken an Buchrücken. Der ganze in Literatur gegossene Antifaschismus Nachkriegsdeutschlands: Günther Grass, Heinrich Böll, Max Frisch, Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht und wie sie alle hießen.

Friedrichs Mutter war promovierte Literaturwissenschaftlerin und Gründungsmitglied der Ökopartei. Sie arbeitete in einem Münchner Verlag und veranstaltete in seinem Elternhaus regelmäßig Salons, bei denen allerlei Künstler zu Gast waren und Literaten aus ihren neuesten Werken vortrugen. Friedrich selber hatte lange Klavierunterricht, und auf ausdrückliche Anordnung der Mutter hatte er den Kanon jener antifaschistischen Literatur durchzuarbeiten, die dort im Regal stand. Wie verhasst war ihm das alles! Wie verhasst waren ihm die bleichen, verweichlichten Intellektuellen, die seine Mutter mit nach Hause brachte, die nicht zu ihrem Mann- und Deutschsein stehen wollten.

Die Mutter war schon vor Jahren gestorben. Seitdem besuchte Friedrich Sehlings seinen bald achtzigjährigen Vater einmal im Monat, immer sonntags. Es war ein Ritual. Sie hatten es auch dann beibehalten, als der Sohn einer der mächtigsten und einflussreichsten Männer der Deutschlandpartei geworden war.

Zum Abschluss des Tages mit Sonntagsbraten im Biergarten und anschließendem Parkspaziergang saßen Vater und Sohn stumm vor dem Fernseher und schauten sich die Polit-Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus Hamburg an. Zwischen ihnen galt eine unausgesprochene Abmachung: Sie redeten nicht mehr über Politik. Zu unterschiedlich waren ihre Weltanschauungen.

Friedrich Sehlings’ Vater war in seiner Studienzeit beim Sozialistischen Studentenbund SDS. Er war 1968 an Ort und Stelle, als es darum ging, in Berlin gegen den Schah zu protestieren. Später hat er sich dann zusammen mit seiner Frau bei der Ökopartei engagiert. Früher erzählte der Vater oft von seinen wilden Jahren in der Hoffnung, seinen Sohn von der Überlegenheit der sozialistischen Idee überzeugen zu können. Doch irgendwann hatte der Vater es aufgegeben. Zu oft hatte ihm sein Sohn das Wort »Lebenslüge« entgegengeschleudert.

Nach seinem Studienabschluss war der Vater nach München zurückgegangen, fing bei einem örtlichen Unternehmen an und diente sich bis zum Vorstandsvorsitzenden hoch. So wuchs Friedrich Sehlings in einem wohlbehüteten Elternhaus auf, versehen mit den Wohlstandsattributen eines bildungsbürgerlichen Lebens der Siebziger- und Achtzigerjahre. Er war der einzige Sohn, ein spät geborenes Wunschkind. Die Beziehung zu seinen Eltern war spannungsgeladen, mit seinem Großvater verstand er sich dagegen gut. Der lebte noch lange im Haus der Familie. Während des Kriegs war er bei der SS, bis zu seinem Tod hatte er niemals ein böses Wort über den Führer verloren. Und seinen alten SS-Dolch hatte er dem Enkel vermacht.

Nach seinem Abitur wollte Friedrich Sehlings einfach nur weg. Weg aus der geistigen Enge des Elternhauses, weg aus den verhassten grün-alternativen Künstlerkreisen seiner Mutter, weg aus der spießigen bayerischen Metropole. Er wollte Abenteuer erleben. Die ostdeutsche Provinz empfing ihn mit offenen Armen. Er kaufte sich mitten auf dem Land ein halbverfallenes kleines Bahnwärterhäuschen. Dort bekam der Dolch des Großvaters einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch: ein mahnendes Relikt eines anderen, stolzen Deutschlands.

Ihren jahrelangen Komment, nicht mehr über Politik zu sprechen, hatte der Vater jetzt gebrochen. Vieles war in Deutschland in den letzten Jahren in die Brüche gegangen. Die Flüchtlingskrise hatte das Land verändert. Aber sie war nur der Anlass, nicht die Ursache. Die Zustände in Deutschland hatten die Menschen zornig werden lassen. Friedrich Sehlings hatte den Mentalitätswandel schon früh gespürt. Plötzlich wurde über Themen offen geredet, die jahrzehntelang ein Tabu waren.

Da war sie wieder: die große Angst. Jenes weite Spektrum von Ängsten, das die Deutschen bereits nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte und sie Zuflucht bei einem charismatischen Führer nehmen ließ. Im Deutschland des Kalten Krieges war die große Angst vorübergehend unterdrückt, war ruhiggestellt. Jetzt brach sie sich wieder Bahn, und zwar in ihrer zerstörerischen Form, als Gesellschaft des Zorns. Eine solche Chance würde es so schnell nicht wieder geben. Das erkannte Friedrich Sehlings damals auf Anhieb.

In der Talkshow war jetzt der Bundesvorsitzende der Ökopartei an der Reihe. Steif saß der Mann in seinem Nadelstreifen-Dreiteiler im schwarzen Edelstahlsessel. Sein Haar war bereits vollständig ergraut, er war Anfang sechzig. In den Umfragen gewann seine Partei von Woche zu Woche in der Wählergunst. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als Bundeskanzler zu werden, der erste grüne Regierungschef in Deutschland. Es wäre die Krönung seines Lebenswerkes, rund vierzig Jahre nach der Gründung der Partei, bei der er von Beginn an dabei war.

Der ergraute Politiker hob mahnend den Zeigefinger und begann zu dozieren: »Es gibt in unserem Land außer ein paar Wirrköpfen wie Ihnen, Herr Dr. Hausding, niemanden, der heute noch die Verbrechen der Wehrmacht und des Dritten Reiches verherrlicht. Sie werden gnadenlos scheitern. Niemand wird Sie wählen. Eigentlich brauchen wir uns mit Ihnen gar nicht zu beschäftigen.«

In das gleiche Horn wie der altgediente Politiker der Ökopartei stieß der junge Verteidigungsminister. Der kommende Star der Christpartei setzte ebenfalls alles daran, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Er war Mitte dreißig, wirkte immer jugendlich-lässig, trug nie Krawatte und hatte ein Diplom als Umwelt-Ingenieur. Nach einer kurzen Zeit als Umweltminister hatte ihn die Kanzlerin auf den wichtigen Posten des Verteidigungsministers befördert. Zusammen mit seinem Ehemann lebte er in einer schicken Altbauwohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Noch war seine Stunde nicht gekommen, doch dank seiner Eloquenz und seines guten Aussehens wurde er von Talkshow zu Talkshow gereicht.

»Rechts von der Christpartei hat es auf lange Sicht noch nie eine erfolgreiche Partei gegeben«, hob er an. »Und eine solche wird es auch in Zukunft nicht geben. Mit Ihrem rechtspopulistischen Gerede vertreten Sie eine extrem kleine Minderheit. Mit Ihnen werden wir spielend fertig.«

Seit Monaten hatte der Verteidigungsminister für die Beobachtung des völkischen Flügels der Deutschlandpartei durch den Verfassungsschutz gekämpft, auch gegen Widerstand in seiner eigenen Partei, in der viele mehr oder weniger offen Sympathien für die Rechtsaußenpartei hegten.

Dem Verteidigungsminister widersprach die Journalistin Dr. Florentine Fischer. Sie, Anfang dreißig, war eines der Nachwuchstalente des politischen Wochenmagazins Demokratischer Beobachter, der Hauspostille des linksliberalen Establishments. Die Zeitschrift war genauso alt wie die Bundesrepublik. Die erste Ausgabe erschien am 24. Mai 1949, als das Grundgesetz in Kraft trat, nachdem es einen Tag zuvor erlassen worden war. Der 24. Mai war ein Dienstag. Seitdem erschien das Magazin traditionell immer an diesem Tag. Dienstag war in Deutschland Beobachtertag.

Der Name Demokratischer Beobachter war bewusst gewählt, sah sich das Magazin doch von Anfang an als ein Wächter der Demokratie in der noch jungen Bundesrepublik. Die Zeitschrift war eine Institution, sie hatte im Lauf der Jahre unzählige Skandale aufgedeckt und das Denken der Deutschen geprägt. Ihren Hauptsitz hatte das Magazin in München-Schwabing, die Berliner Redaktion saß am Hohenzollerndamm in Berlin-Wilmersdorf, dem gutbürgerlichen Zentrum der einstigen Frontstadt des Kalten Krieges. Auch der alte Sehlings hatte seit Studienzeiten ein Abonnement und verschlang jeden Dienstag die neue Ausgabe.

»Auch wenn das Deutsche Herz und die Jungdeutschen jetzt unter Beobachtung stehen, ist die Gefahr nicht gebannt«, erklärte die junge Journalistin. »Die Deutschen haben Angst. Angesichts der Globalisierung haben sie Furcht vor einem Kontrollverlust. Viele fordern eine politische Kehrtwende, möchten zurück in eine alte Gesellschaftsordnung. Die Deutschlandpartei ist da nur ein Symptom für das Erstarken reaktionärer und autoritärer Tendenzen in der Gesellschaft.« Sie richtete ihren strengen Blick auf Dr. Hausding, der leicht das Gesicht verzog. »Viele Deutsche, das haben Sie heute wieder einmal eindrucksvoll gezeigt, leben längst in einer Parallelwelt und haben den Boden des Grundkonsenses bereits verlassen. Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, dass uns da nicht etwas komplett entgleitet.«

Die Augen von Vater Sehlings glänzten. »So stelle ich mir eine Journalistin vor«, rief er freudig. »Eine klare Analyse und ein klarer Standpunkt. Die schaut nicht auf die Quote oder auf ihre persönliche Karriere. Anders hätte ich es vom Demokratischen Beobachter auch nicht erwartet.« Die Welt von Vater Sehlings schien wieder in Ordnung.

Dr. Hausding verließ das Fernsehstudio über den Seiteneingang. Es nieselte, und er zog den Kragen seines Mantels hoch. Vor dem Gebäude wartete bereits ein Auto auf ihn. Am Steuer saß sein unverzichtbarer Mitarbeiter Herbert. Herbert gehörte zu jenen Menschen, die andere im Nu für sich einnehmen konnten. Mit vollem Namen hieß er Herbert Hahn, doch alle in der Partei nannten den gemütlichen, dicklichen, immer einen ärmellosen, brauen Pullover tragenden, stets zu einem Schwätzchen aufgelegten Mann nur bei seinem Vornamen.

Herbert ließ den Wagen an. »Nach Hause oder möchten Sie noch etwas essen?«, fragte Herbert. »Ich kenne hier abseits der Autobahn noch einen Laden, dessen Besitzer einen der besten Gulaschs macht, den Sie hier im Norden bekommen können. Ein wahres Gedicht.«

Herbert kannte immer irgendwo jemanden, der spätabends noch ein leckeres Essen auf den Tisch zaubern oder einem irgendwie behilflich sein konnte. Woher er alle diese Leute kannte, wusste Dr. Adalbert Hausding nicht, es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Herbert hatte einmal erzählt, dass er Koch gelernt habe und auch schon mal Marktschreier für Wurstwaren gewesen sei.

Hausding schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, wir warten noch einen Moment.« Herbert ließ den Motor laufen. Kurz darauf öffnete sich die Wagentür, und auf den Rücksitz neben Hausding glitt eine junge Frau in einem Trenchcoat.

»Wir fahren zuerst Frau Dr. Fischer zu ihrer Wohnung in Berlin«, rief der alte Mann nach vorn. »Dann fahren Sie mich nach Hause.« Herbert schaute in den Rückspiegel und lächelte der hübschen blonden Journalistin zu. Auch wenn es für ihn einen ziemlichen Umweg bedeutete und er wohl erst mitten in der Nacht ins Bett kommen würde, rief er ohne zu zögern: »Jawohl!«

Hausding wollte sich gerade seiner hübschen Begleiterin zuwenden, da klingelte sein Telefon. Es war Martin Müller, der zweite Vorsitzende und Mitgründer der Deutschlandpartei.

»Guten Abend, Herr Dr. Müller«, sagte Hausding.

»Guten Abend, Herr Dr. Hausding«, erwiderte Müller ebenso formell. Seine Stimme klang aufgebracht. »Das ist doch alles eine einzige Katastrophe. Ich habe Sie in der Talkshow gesehen. Wie können Sie nur so über die deutsche Vergangenheit reden, jetzt, wo Teile unserer Partei unter Beobachtung stehen? Gerade jetzt müssen wir vorsichtig sein. Ich verlange, dass sich sofort der Bundesvorstand trifft. Wir müssen das Deutsche Herz und die Jungdeutschen aus der Partei ausstoßen, und zwar sofort.«

Dr. Hausding seufzte. »Wie wollen Sie das denn anstellen? Die sind integraler Teil unserer Partei. Sie gehören dazu.«

»Als Erstes müssen wir diesen Sehlings loswerden. Der hat uns diese ganzen Nazis doch erst ins Haus geholt.«

»Wie soll das denn gehen?« Dr. Hausding wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. »Sie haben doch selbst so viel Wert darauf gelegt, jedes neue Mitglied vor seinem Eintritt zu kontrollieren. Das war ihnen doch so unheimlich wichtig.«

Diesen Einwand überhörte der Co-Vorsitzende bewusst. »Die ganzen Nazis sind unser Untergang«, rief er. »Wir müssen sie schleunigst loswerden.«

Bei dem Wort Nazi schreckte Hausding zusammen. Zwar hatte er auch etwas gegen Kampfstiefel tragende Glatzen-Nazis. Aber er hatte auch etwas dagegen, jeden rechts eingestellten Menschen gleich als Nazi zu bezeichnen. »Nun übertreiben Sie mal nicht, Herr Dr. Müller. Wenn Sie alle, die Sie Nazis nennen, aus der Partei haben wollen, dann stehen Sie bald ziemlich alleine da. Das sind die Menschen, die uns wählen.«

»Der Sehlings ist die größte Gefahr für die Partei«, wiederholte Müller. »Wir konnten Sie sich nur mit dem einlassen und ihm so viel Macht verschaffen?«

Hausding überging die Frage seines Mitgründers und antwortete mit besänftigendem Tonfall: »Mir ist der Mann doch auch nicht besonders sympathisch. Aber solche Menschen brauchten wir damals, und wir werden sie auch zukünftig noch brauchen.« Hausding betonte dabei das Wort »noch«. »Er ist sicherlich nicht besonders intelligent, vielleicht bauernschlau. Der organisiert halt gerne und hat einen servilen Charakter.« Er machte eine kurze Pause. »Irgendwann stoßen wir diese Typen ab. Aber im Moment sind sie uns nützliche Idioten.«

»So nützlich, dass wir jetzt vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Ich dachte, wir waren uns damals einig. Wir wollten mit unserer Partei die alte Christpartei wieder auferstehen lassen. Wir brauchen eine rote Linie nach rechts.«

»Nun beruhigen Sie sich doch!« Dr. Adalbert Hausdings Stimme wurde nun doch scharf.

Aber Dr. Martin Müller wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe diesem Sehlings von Anfang an misstraut. Dieser Kleinbürger passt doch nicht zu uns«, tönte es ziemlich aggressiv und laut aus dem Mikrofon.

»Er gehört genauso zu unserer Partei wie Sie, Herr Dr. Müller«, sagte Hausding noch schärfer als zuvor.

»Wenn Sie das so sehen, dann haben wir beide wohl ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was die Deutschlandpartei will«, platzte es aus Müller heraus. »Es gibt genügend Leute, die denken schon lange über eine Spaltung der Partei nach. Und jetzt ist dann wohl der richtige Zeitpunkt dafür. Gute Nacht, Herr Dr. Hausding!« Dann beendete er das Gespräch.

Dr. Adalbert Hausding packte sein Mobiltelefon weg und wollte gerade einen neuen Versuch machen, sich seiner Mitfahrerin zuzuwenden, als das Telefon erneut klingelte. Er blickte über seine Brille hinweg auf das Display und seufzte. Dieses Mal war es der »Oberst«, ebenfalls Mitglied im Bundesvorstand der Deutschlandpartei und zusammen mit Müller einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion. Der Spitzname Oberst kam daher, dass er zuvor Generalstabsoberst der Bundeswehr war und die Partei jetzt wie eine militärische Einheit zu führen versuchte. Auch diesen Anruf nahm der Parteivorsitzende entgegen. Herbert und die junge Journalistin bemühten sich, möglichst unauffällig zuzuhören.

»Guten Abend, ich hoffe, ich störe Sie nicht, Herr Dr. Hausding«, sagte der Oberst. »Ich wollte mich nur kurz melden wegen der neuen Situation. Ich schlage vor, dass sich der Bundesvorstand schnellstmöglich trifft, um eine neue Beurteilung der Lage anzustellen.«

»Ich stimme Ihnen zu«, antwortete Hausding. »Ich werde den Bundesvorstand zu einer Sitzung einberufen, damit wir darüber reden können«, sagte Hausding.

»Ach, noch etwas«, fuhr der Oberst fort. »Ich werde demnächst interessantes Material aus der Vergangenheit von Friedrich Sehlings zugespielt bekommen, das ihn in einer äußerst verfänglichen Situation zeigt.« Er wartete kurz auf eine Reaktion von Hausding, dann fuhr er fort. »Ich hoffe, wir sind uns einig in der Beurteilung, dass dieser Feldwebel zu mächtig geworden ist und in seine Schranken gewiesen werden muss. Von ihm geht eine Gefahr für die Partei aus, auch wenn er Ihr Ziehsohn ist.«

»Die Bezeichnung Ziehsohn ist eine Zuschreibung der Presse«, entgegnete Hausding. »Ich habe sie nie gebraucht. Jedenfalls hat uns dieser Mann in der Vergangenheit gute Dienste erwiesen.«

»Na, dann sind wir uns ja einig, dass wir mittlerweile soweit sind, ohne ihn auszukommen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, entgegnete Hausding und legte das Telefon zur Seite.

Dr. Florentine Fischer blickte Hausding mit ihrem typischen Kleinmädchen-Augenaufschlag an. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich in meinem Porträt von dir diesen Sehlings als deinen Ziehsohn bezeichnet habe. Das hat mir einige Pluspunkte bei unserem Chefredakteur gebracht.«

Der alte Mann lächelte die junge Frau etwas gequält an, wie Herbert mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel beobachten konnte. Dann sagte er: »Ist doch schön, dass für dich alles so gut läuft.«

»Ich hoffe, ich habe dich in der Talkshow nicht zu hart angegriffen«, entgegnete die Journalistin. »Ich muss auf meine Karriere achten. Unser Chefredakteur beharrt darauf, dass wir immer angriffslustig sind. Das seien wir der linken und kritischen Tradition des Demokratischen Beobachters schuldig, sagt er.«

Jetzt lächelte Hausding der jungen Frau offen zu. »Nein, überhaupt nicht. Das war genau richtig. Das bringt uns noch mehr Anhänger, auch wenn die Situation gerade etwas schwierig ist. Du weißt ja: Bei den Leuten, die uns wählen, gilt der Demokratische Beobachter als Inbegriff des grünen und roten Establishments. Mach ruhig weiter so.«

Die Journalistin strahlte. »Ich muss in Zukunft wirklich ziemlich kritisch sein. Bald wird der Posten des Berliner Büroleiters frei. Den will ich unbedingt haben.« Für kurze Zeit herrschte Stille, dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: »Übrigens, hättest du etwas dagegen, wenn ich den Oberst auf dieses Material anspreche, das er bezüglich Sehlings erwähnt hat?«

Hausding schüttelte leicht den Kopf. »Nur zu.« Dann wechselte er rasch das Thema: »Das war eine gute Idee, dass du mich heute wieder in die Talkshow geholt hast. Wie ist dir das überhaupt gelungen?«

Auch wenn es dunkel war und der Innenraum des Autos durch das Gegenlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge immer nur kurz erhellt wurde, sah Herbert im Rückspiegel sehr deutlich, dass die junge Frau jetzt errötete.

»Ich habe … Ich hatte … Ich hatte mal was mit dem Redaktionsleiter. Der ist noch … Der ist noch immer scharf auf mich. Was denkst du, warum ich so oft eingeladen werde?«

Der alte Mann lächelte. Er hatte schon viel erlebt in seinem langen Leben. Diskret wechselte er das Thema. »Es wäre schön, wenn du mal wieder mit deinen Eltern zum Kaffee vorbeikommen würdest … So wie früher.«

Die Journalistin nickte: »Sehr gern. Sie sind dir immer noch dankbar, dass du mir damals geraten hast, Jura zu studieren.«

Hausding lächelte und sagte: »Ich habe jetzt endlich deine Doktorarbeit gelesen. Du hast da einige sehr interessante Dinge geschrieben.«

Die nächsten eineinhalb Stunden redeten die beiden nur über juristische Fragen. Vor einem frisch sanierten Gründerzeitbau im Prenzlauer Berg hielt Herbert an, stieg aus und öffnete der Journalistin die Wagentür. Sie gab Dr. Hausding einen Kuss auf die Wange und sagte zum Abschied: »Ich mache in der nächsten Printausgabe einen schönen kritischen Bericht über die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Gute Nacht, Onkel Adalbert.«

Dann stieg sie aus und verschwand in dem Haus, nicht ohne vorher auch Herbert einen Wangenkuss zu geben und ihm ein verführerisches »Schlaf auch du gut, Herbert!« zuzuhauchen.

Nach dem gemeinsamen Tag mit seinem Vater fuhr Friedrich Sehlings noch in derselben Nacht von München aus zurück in die ostdeutsche Provinz, in sein geliebtes Bahnwärterhäuschen. Auch als er längst ein großer Mann und Strippenzieher der Deutschlandpartei war, hatte er es nicht aufgegeben. Zu Hause war er nur noch selten, dem Aufbau der Partei hatte er alles untergeordnet: seine Freizeit, sein Privatleben und seine Freundschaften, die er außerhalb der Politik und der Partei hatte. Zu wichtig war ihm seine Mission. Wenn es jetzt nicht klappte, dann würde Deutschland nie wieder einen Führer bekommen, da war er sich sicher.

Doch jetzt stand es schlecht um seine Mission: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz war ein Kampfmittel der etablierten Parteien mit dem Ziel, die Deutschlandpartei zu vernichten. Er machte sich nichts vor: In den nächsten Wochen würde es Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Austritten geben – von Leuten, die die Partei trugen, die sich genauso für die Mission engagierten wie er. Polizisten, Soldaten, Beamte, Angehörige des Öffentlichen Dienstes würden sich distanzieren, weil sie Angst um ihre Jobs und ihre Existenz hatten. Ihm fiel der Satz des ihm so verhassten Bertolt Brechts ein: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.«

Das Kampfmittel, das die Christpartei und mit ihr die anderen Systemparteien, wie die Mitglieder der Deutschlandpartei die anderen Parteien gerne nannten, benutzten, war altbekannt. Es hatte sich schon vor fast fünfzig Jahren im Kampf gegen die 68er-Bewegung bewährt. Friedrich Sehlings kannte sich aus in Geschichte. Geschichte war eine seiner großen Leidenschaften. 1972, zwei Jahre vor seiner Geburt, hatten der Bund und die Länder den Radikalenerlass beschlossen. Wer in den Öffentlichen Dienst wollte, dessen Treue zum Grundgesetz wurde von Verfassungsschützern überprüft. Viele der damals demonstrierenden und randalierenden Studenten wollten Lehrer oder Sozialarbeiter werden oder irgendeinen anderen mit Steuergeldern alimentierten Posten ergattern, also nahmen sie Abstand von ihren Idealen und kehrten in die spießige Bürgerlichkeit zurück. Der Radikalenerlass hatte die Gründung der Ökopartei um ein Jahrzehnt hinausgezögert, davon war Sehlings überzeugt. Er kannte sich aus damit, seine Mutter hatte ihm von deren Gründungszeit mindestens so oft erzählt wie sein Opa von seinen Kriegserlebnissen als SS-Mann. Für seinen Vater hatte der Radikalenerlass sogar direkte Auswirkungen gehabt. Er blieb seinen Idealen treu. Statt, wie geplant, Lehrer zu werden, ging er in die Wirtschaft, wurde Manager und schließlich Vorstandsvorsitzender.

Wie viele der Parteimitglieder, wie viele seiner Kameraden und alten Weggefährten würden jetzt die Biege machen und so tun, als wenn sie von der Deutschlandpartei noch nie etwas gehört hätten, fragte sich Sehlings. Er kannte das bereits. Die Deutschlandpartei war nicht die erste Partei, von der er gedacht hatte, dass sie das Sprungbrett sein konnte für seine Mission. Doch noch nie war er seinem Ziel so nahe gewesen. Die Deutschlandpartei saß mit über neunzig Abgeordneten im Deutschen Bundestag, war in allen Landtagen vertreten und auch im Europaparlament. Das alles brachte viel Geld ein und Posten, mit denen die Kämpfer für die Mission versorgt werden konnten. Es bildete die organisatorische Basis für die nächsten Schritte.

»Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns aus dem Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen«, hatte Joseph Goebbels im Völkischen Beobachter zum Parlamentseinzug der NSDAP im Jahr 1928 geschrieben. Sehlings hatte lange und sehr genau studiert, wie es Hitler und seinen Mannen von 1928 an in nur wenigen Jahren gelang, die Macht im Land zu ergreifen. Er kannte zahlreiche Passagen aus Hitler- und Goebbels-Reden auswendig und wusste alles über den nach Hitler einflussreichsten Mann des Dritten Reichs, Heinrich Himmler. Der Gedanke, dass seine Mission scheitern könnte, jetzt, wo sie so weit gekommen waren, machte Sehlings traurig und wütend zugleich. Er drückte seinen Fuß auf das Gaspedal und raste auf der Autobahn in der dunklen, kalten Winternacht Ostdeutschland entgegen.

Seine Gedanken kreisten um die Entwicklung der letzten Jahre. Seit seinem ersten Zusammentreffen mit Dr. Adalbert Hausding war für ihn vieles anders geworden. Er war jetzt Landtagsabgeordneter seiner Partei und stand einem der mitgliederstärksten und aktivsten Verbände der Deutschlandpartei vor. Zudem war er der Fraktionsvorsitzende im Landtag und Mitglied im Bundesvorstand. Er war der Ziehsohn von Dr. Adalbert Hausding. Er war einer der mächtigsten und gefürchtetsten Männer in der Partei. Dafür hatte er die letzten fünf Jahre hart gearbeitet.

Das Klingeln seines Mobiltelefons riss Sehlings aus seinen Gedanken. Er schaute auf das Display. Es war Ronny Matschinski. Was will der jetzt bloß von mir?, dachte er. Trotz seiner schlechten Laune nahm er den Anruf entgegen.

»Guten Abend, Kommandeur«, sagte der Anrufer. Seine Stimme klang ängstlich. »Ich habe den Führer in der Talkshow gesehen. Was machen wir jetzt? Wir müssen doch etwas tun. Sonst ist die ganze Sache verloren.«

Friedrich Sehlings kannte Matschinski schon lange. Auch für diesen war es nicht die erste Mitgliedschaft bei einer rechten Partei. Sofort nach dem ersten Zusammentreffen mit Dr. Adalbert Hausding hatte Sehlings viele seiner alten Kampfgenossen angerufen und reaktiviert. So auch den Rechtsanwalt Ronny Matschinski. Sehlings wusste: Wo immer es Posten zu verteilen gab, war Matschinski zur Stelle. Doch genauso schnell war er auch wieder weg, wenn Gefahr drohte.

Und dennoch musste er auf ihn zurückgreifen. Matschinski war einer der besten Druckverkäufer, die man sich vorstellen konnte. Er war ausgezeichnet darin, auch skeptischen Zeitgenossen eine Mitgliedschaft in der Deutschlandpartei anzudrehen, und in der Lage, selbst die abseitigsten politischen Themen zu verkaufen. Und genau solche Leute brauchte eine neue Partei. Mit diesen Fähigkeiten hatte Matschinski es innerhalb kurzer Zeit zu hohen Ämtern in der Partei gebracht: Auch er war einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag und Mitglied im Bundesvorstand.

»Ich habe schon mit einigen Mitgliedern des Deutschen Herzens gesprochen. Auch sie sind der Meinung, dass wir jetzt schnell einen Gegenangriff starten müssen, notfalls müssen wir radikaler werden. Wir müssen es denen da oben endlich zeigen«, redete Matschinski auf Sehlings ein.

»Nun mal ganz langsam, Ronny. Die Beobachtung heißt erst einmal gar nichts. Teile der Linkspartei werden seit Jahren beobachtet, und denen ist auch nichts passiert. Die stellen sogar einen Ministerpräsidenten.« Friedrich Sehlings versuchte seinem Kampfgefährten Mut zu machen. »Wir müssen das positiv sehen. Die Beobachtung ist doch so etwas wie eine Adelung für uns.«

»Aber wir müssen doch etwas tun! Diese elenden Feindzeugen werden von nun an noch stärker gegen uns vorgehen. Der Oberst reibt sich schon die Hände. Posaunt überall herum, dass es uns jetzt an den Kragen geht, besonders dir«, sprudelte es aus Ronny Matschinski heraus. »Der hat wohl was gegen dich in der Hand. Aus alter Zeit …«

»Feindzeuge« war das Wort, das die Mitglieder des Deutschen Herzens für innerparteiliche Gegner verwendeten. Sie waren in ihren Augen Verräter, weil sie nicht an die Mission glaubten, sondern sich der Christpartei anbiederten, um möglichst schnell in Regierungsämter zu kommen. Die beiden schlimmsten Feindzeugen waren Dr. Martin Müller und der Oberst.

»Der Oberst hat etwas gegen mich in der Hand aus früherer Zeit?« Friedrich Sehlings runzelte die Stirn. »Weißt du Genaueres?«

»Noch nicht«, antwortete Matschinski. »Er hat in einem Gespräch mit Müller so etwas angedeutet, er tat recht geheimnisvoll. Ich stand zufällig daneben und habe mitgehört. Vielleicht ist auch gar nichts dran. Du weißt doch, wie großspurig der immer ist. Gerüchte aus deiner Vergangenheit kochen doch immer mal wieder hoch.«

»Bleib bitte trotzdem dran«, befahl Sehlings.

»Jawohl, Kommandeur!«

Sehlings wollte das Gespräch beenden und sagte: »Wir dürfen uns jetzt keinen Fehler erlauben. Wir sind gerade sehr verwundbar. Gute Nacht!«

»Ich mache mir wirklich Sorgen«, antwortete Matschinski. »Wir haben schon so viel erreicht. Es wäre schade, wenn wir das alles jetzt aufgeben müssten. Gute Nacht.«

Friedrich Sehlings war sauer. »Dieser elende Opportunist«, murmelte er vor sich hin. »Der hat doch nur Angst, dass er seine Pfründe verliert.« Sorgen machte er sich aber wegen des Obersts. Der konnte eine wirkliche Gefahr für ihn werden.

Doch weit kam Friedrich Sehlings mit seinen Gedanken nicht. Der nächste Anrufer war schon in der Leitung. Es war Hans-Jürgen Lehmann, der Vorsitzende des Deutschen Herzens. Der Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes saß in keinem Landtag und auch nicht im Bundestag, er war nur eines von vielen Mitgliedern im Bundesvorstand. Als charismatisches Aushängeschild des völkischen Flügels der Partei war er jedoch immer mächtiger geworden.

»Die Zeit des Waldgangs ist gekommen«, flüsterte Lehmann ins Telefon. »Meine Truppen stehen zum Sturm auf das Winterpalais bereit. Wir müssen die Revolution jetzt machen.«

Sehlings stöhnte innerlich. Die Revolutionsfantasien haben ihm das Gehirn vernebelt, dachte er. Der glaubt tatsächlich, er sei sowas wie ein rechter Lenin. Leider brauchte Sehlings ihn noch. Mit dem biederen Dr. Adalbert Hausding hatte Friedrich Sehlings die ideale bürgerliche Fassade für seine Mission gefunden. Der frühere hohe Beamte war die Verkörperung der alten Bundesrepublik, ein intellektueller Vertreter der westdeutschen Christpartei der Siebziger- und Achtzigerjahre, einer Zeit, nach der sich die bürgerlichen Konservativen in Deutschland zurücksehnten. Was ihm damals aber noch fehlte, war eine Integrationsfigur auf der völkischen Seite. Dort gab es viele Splittergruppen und Möchtegern-Führer, die alle ihr eigenes Süppchen kochten, aber nicht den Anschluss an bürgerlich-konservative Kreise fanden. Sehlings war klar, dass seine Mission nur gelingen konnte, wenn beide Gruppen zusammen agierten. Dazu bedurfte es einer charismatischen Figur, der die Völkischen zu folgen bereit waren. Die meinte er in Hans-Jürgen Lehmann gefunden zu haben.

Denn die Deutschlandpartei bestand eigentlich aus zwei Parteien. Ihr Erfolg lag darin, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einen Brückenschlag zwischen konservativen Bürgerlichen und Völkischen zu erreichen. An der Kluft zwischen beiden Gruppen waren bisher alle Versuche gescheitert, in Deutschland ein Viertes Reich zu errichten. Bis zur Gründung der Deutschlandpartei hatte die Christpartei die konservativen Bürgerlichen im Griff. Kaum ein Konservativer wollte es wagen, den Mutterschoß der Christpartei zu verlassen und eine eigene Partei zu gründen. All jene, die rechts außerhalb der Partei standen, galten als anrüchig. Über den neuen rechten Parteien schwebte auch immer das Damoklesschwert eines möglichen Parteienverbotes durch das Bundesverfassungsgericht.

Bis zum Jahr der großen Flüchtlingskrise hatte dieser Mechanismus des »Teile und Herrsche« gut funktioniert. Seitdem die Christpartei aber Abschied von ihrer langgepflegten gesellschaftlichen Aufgabe genommen hatte, die Konservativen am rechten Rand zu integrieren und damit unschädlich zu machen, und begann, ihr Heil in der urbanen, links und grün angehauchten Wählerschicht zu suchen, war alles anders.

Bei Hans-Jürgen Lehmann musste man vorsichtig sein. Der Mann war sensibel, konnte leicht aus der Haut fahren und bildete sich auf seinen Status als Star der Völkischen etwas ein. Allerdings war er auch leicht manipulierbar. Besonders historischen Vergleichen war er zugeneigt, hatte er doch vor seiner Karriere als Lebensmittelhändler Geschichte und Biologie auf Lehramt studiert.

»Ja, die Zeit des Umbruchs ist bald da«, antwortete Friedrich Sehlings. »Wir brauchen aber noch etwas Zeit, um alles richtig vorzubereiten. Manchmal muss man sich mit seinem Erzfeind erst verbünden, um ihn dann zu vernichten. Denk immer daran: Ohne Rapallo hätte es das Unternehmen Barbarossa nie geben können.«

Friedrich Sehlings wusste, an welchen Knöpfen er bei Lehmann drehen musste. Seine Staatsexamensarbeit hatte der Lebensmittelhändler über den Vertrag von Rapallo geschrieben. Der Vertrag zwischen Deutschland und Russland normalisierte einst die Beziehungen der beiden Staaten und führte sie aus der internationalen Isolation heraus, in die Russland infolge der Oktoberrevolution und Deutschland wegen des Ersten Weltkriegs geraten war.

»Das Deutsche Herz ist unsere Luftwaffe«, fuhr Sehlings fort. »Und unser Rapallo ist, dass wir das Deutsche Herz offiziell auflösen. Dann können wir es umso besser im Geheimen aufrüsten. Wie damals die Reichswehr die Luftwaffe für das ›Unternehmen Barbarossa‹.« Dass der einst so betitelte Angriff auf die Sowjetunion damals für die Deutschen fatal ausgegangen war, dieses Detail ließ Sehlings lieber weg. »Du verkündest schnellstmöglich die Auflösung des Deutschen Herzens. Es ist nur eine Frontbegradigung, bis wir den Angriff starten können.«

Das Ganze widerstrebte Lehmann zwar, aber gegen historische Argumente war er machtlos. Also erklärte er sich einverstanden. Doch ruhigstellen konnte Sehlings Lehmann immer nur für kurze Zeit – bis ihn ein anderer mit einer anderen historischen Anekdote zu etwas anderem beschwatzte.

Kaum hatte Lehmann aufgelegt, da rief Hausding an. Er und Herbert hatten Florentine Fischer gerade in Berlin abgesetzt.

»Guten Abend, Herr Sehlings, ich wollte sie nur kurz darüber informieren, dass der Müller jetzt doch wohl die von ihm lange geplante Parteitrennung durchziehen will. Machen Sie mal einen Plan, wie wir das verhindern können.«

Friedrich Sehlings antwortete nur knapp: »Jawohl, Herr Dr. Hausding. Ich kümmere mich darum.« Er sah auf die Uhr, er hatte erst gut die Hälfte der Strecke hinter sich. Eine halbe Stunde später klingelte sein Telefon erneut. Dieses Mal war es Herbert. Er hatte den Parteivorsitzenden gerade bei seiner Vorstadtvilla abgesetzt.

»Hallo Kommandeur, der Führer hat dich ja schon darüber informiert, dass der Müller die Partei spalten will. Er hat dir allerdings verschwiegen, dass der Oberst verfängliches Material aus deiner Vergangenheit in die Hand bekommen soll und es gegen dich verwenden will. Sieht so aus, als ob uns dieses Mal echte Gefahr droht. Die Nichte des Führers ist schon dran.«

»Ich danke dir, Herbert«, sagte Sehlings. »Dann ist jetzt wohl dringend eine Lagebesprechung der Küchenbrigade notwendig.«

»Sehr schön«, erwiderte Herbert. »Ich freue mich schon auf ein gutes Essen und auf den Cognac.«

Auf der nächtlichen Autobahn war Sehlings nun fast allein. Mit Tempo 180 raste er durch das Dunkel der Nacht. In den frühen Morgenstunden kam er endlich bei seinem Bahnwärterhäuschen an. Er schürte den Kamin an und setzte sich in einen der Lehnsessel, seinem Lieblingsort direkt vor dem Kaminfeuer. Es war der größte Raum in dem kleinen Haus aus den dreißiger Jahren. Einst bewohnte es ein preußischer Bahnwärter, und der Raum war die gute Stube der mehrköpfigen Familie. Jetzt war er ihm Bibliothek, Arbeitszimmer und geistiger Rückzugsort. Hier konnte Sehlings seine kleinbürgerliche Fassade fallen lassen. Ein großer Schreibtisch nahm die eine Seite des Raumes ein, die drei Lehnsessel vor dem Kamin füllten die andere Seite aus. Er goss sich einen Cognac ein. Die lodernden Flammen spiegelten sich in den Gläsern seiner Brille.

Sein Blick streifte über die Bücher auf mooreichenen Bibliotheksregalen, dicht an dicht gepackt bis unter die niedrige Decke: Handbücher der Machtmechanik, Lehrwerke zur Machtergreifung, Klassiker der militärischen und politischen Strategie. Sehlings hatte sie alle gelesen, immer wieder, sie penibel studiert in langen Nächten: Sunzi, Machiavelli, Clausewitz und Lenins Was tun?, eines der Hauptwerke der marxistisch-leninistischen Parteitheorie. Da stand auch die rechte Weiterentwicklung von Lenins Werk, das Buch Für eine positive Kritik des französischen Rechtsaktivisten Dominique Venner aus den sechziger Jahren, ebenso wie die Gefängnishefte des italienischen Marxisten Antonio Gramsci aus den dreißiger Jahren, in denen dieser seine Theorie der kulturellen Hegemonie darlegte.

Vor allem aber stand da ein Werk, das ihn immer wieder begeistert hatte. Das Buch war schon ziemlich abgegriffen, so oft hatte Sehlings es in die Hand genommen: Joachim C. Fests dickleibige Hitler-Biografie. Seine Eltern hatten sie ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Sie dachten wohl, sie würden mit dem Buch des konservativen Historikers und Journalisten bei ihrem Sohn das Bild des Führers, das sein geliebter Großvater ihm malte, zurechtrücken können.

Doch Sehlings hatte das Werk mit ganz anderen Augen gelesen: als Blaupause einer erneuten Machtergreifung. Er nahm den mehr als tausend Seiten dicken Wälzer aufs Neue zur Hand und schlug das Kapitel »Die große Angst« auf, sein Lieblingskapitel. Es beschrieb das Spektrum jener Angstvorstellungen, die die Menschen in der Zeit der Weimarer Republik heimsuchten und sie in das Lager der extremen Rechten trieben. Das Kapitel zeigte all das Krisenhafte auf, das mentale Erkranken am Zivilisatorischen, die gesellschaftlichen Erregungszustände im Deutschland der Vorkriegszeit. Es zeigte, wie und warum die Deutschen in Adolf Hitler ihren Retter sahen.

Eine Zeit solcher gesellschaftlichen Erregungszustände erlebte er nun in Deutschland wieder. Die große Angst war wieder da. Allerorten spürte er bei den Menschen die Angst vor dem Untergang des Vertrauten, die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor Anarchie. Er spürte, dass die Menschen sich wieder nach einem Führer sehnten.

Sehlings fing an zu lesen, er kannte die Sätze fast schon auswendig: »Mit dem Hinzutreten Hitlers waren Energien vereint, die, unter krisenhaften Bedingungen, die Aussicht großer politischer Wirksamkeit besaßen. Denn die faschistischen Bewegungen haben sich in ihrer sozialen Substanz durchweg auf drei Elemente gestützt: das kleinbürgerliche mit seinen moralischen, wirtschaftlichen und gegenrevolutionären Indignationen, das militärischrationalistische sowie das charismatische des einzigartigen Führers. Er war die entschlossene Stimme der Ordnung, die dem Durcheinander, dem chaotischen Element, gebot, er hatte weiter geblickt und tiefer gedacht, er kannte die Verzweiflungen, aber auch die Rettungsmittel.«

Früh entwickelte Sehlings für sich seine Mission, die Ergreifung der Macht in Deutschland. Doch im Moment stand es schlecht darum: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz würde der Partei Mitglieder und Wähler kosten. Dr. Martin Müller plante die Parteispaltung. Der Oberst sollte bald verfängliches Material in Händen halten, das ihm das Genick brechen konnte. Und der schöne Lehmann war nur vorübergehend ruhiggestellt, plante womöglich schon die Wiederauflage des Sturms auf das Winterpalais, eine Revolution, einen Bürgerkrieg.

Jetzt war Sehlings zu müde, weiter darüber nachzudenken, ob die Arbeit der letzten fünf Jahre umsonst war. Er hatte nichts dagegen, in seinem Lehnsessel mit dem Hitlerbuch auf dem Schoß einzuschlafen. Sein matter Blick glitt zu seinem Schreibtisch. Dort lag er: Der SS-Dolch seines Großvaters, das Relikt eines vergangenen Deutschlands. Wie es jetzt aussah, würde dieses Deutschland wohl nie wieder auferstehen. Dann übermannte Sehlings der Schlaf. Im Traum glitt er zurück in die Anfangstage der Deutschlandpartei. Er sah sich selbst, wie er Dr. Adalbert Hausding das erste Mal gegenübertrat und ihm die Hand schüttelte …

KAPITEL 2

Die Deutschlandpartei war erst wenige Wochen alt, doch hatte sie bereits viele Anhänger. Immer mehr Deutsche sehnten sich nach einer Alternative zu den bestehenden Parteien. Und die Deutschlandpartei versprach ihnen, diese Alternative zu sein. Der Mann mit der Gartenzwergkrawatte war ihr Mitbegründer und einer der beiden Vorsitzenden. Die Vorsitzenden tourten durchs Land, sprachen in Festsälen von Landgasthäusern, um Mitglieder für die neue Partei zu gewinnen. Und die Menschen strömten ihnen zu, besonders dem greisen, vertrauenerweckenden Dr. Adalbert Hausding.

Friedrich Sehlings hatte sich aufgemacht, eine dieser Veranstaltungen zu besuchen. Vom Rand aus hatte er die Rede Hausdings aufmerksam verfolgt. Jetzt näherte er sich dem Pulk von Menschen, die Hausding umringten und auf ihn einredeten. Frauen und Männer – mehr Männer, vor allem alte Männer, aber doch auch ein paar junge. Das Gesicht des vortragenden alten Mannes wirkte eingefallen, geistesabwesend, als ginge ihn das alles nichts an, was da jetzt um ihn herum geschah. Er ließ es über sich ergehen.

Einer der Zuhörer klopfte ihm fest auf die Schulter, gluckste anerkennend und konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lob. Auch das ließ der Alte stoisch über sich ergehen. Ein Mann aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. So stand er da mit seiner Gartenzwergkrawatte, seiner hellbraunen Bundfaltenhose und seinem anthrazitfarbenen Trachtenjanker.

Sehlings blieb einige Schritte außerhalb der Menge stehen, als wolle er nicht dazugehören. Er wartete geduldig, bis sich der Pulk allmählich auflöste. Zwei junge Männer wollten noch ein Autogramm. Der Alte wirkte unsicher, so als ob er zum ersten Mal ein Autogramm gab, und kniff die Augen zusammen. »Wo soll ich unterschreiben?« Wortlos reichte ihm der junge Mann den Flyer, der auf die Veranstaltung hinwies und den der Wirt des Gasthauses auf jeden Stuhl gelegt hatte. Zusammen mit kaum lesbaren, handkopierten Mitgliedsanträgen.

Die beiden Männer bedankten sich und gingen. Hausding blieb gedankenversunken zurück, reglos, den Blick auf den Boden gesenkt. Dann sah er sich um, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Er bemerkte Sehlings, der immer noch wartete, einige Schritte entfernt. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen sich an. Er sagte nichts, aber man sah ihm an, was er dachte: »Bitte nicht noch so einer!«

Sehlings überlegte kurz, was er sagen sollte. Ihm fiel nichts Passendes ein. »Verzeihung, ich wollte nicht dazugehören«, rutschte es ihm heraus. Dann fing er sich, ging zu dem alten Mann und reichte ihm die Hand. Dessen unerwartet laffer Händedruck stand in einem merkwürdigen Kontrast zu den scharfen Worten eben auf dem Podium.

»Mein Name ist Friedrich Sehlings. Ich möchte bei Ihnen mitmachen. Sie unterstützen.« Er unterließ jedes Lob und jede Schmeichelei. Das hatte der Mann in der letzten Viertelstunde genug gehört. Lieber kam er sofort zur Sache. »Ich habe meinen Mitgliedsantrag schon ausgefüllt.«

Hausding sah ihn mit leerem Gesichtsausdruck an. »Wir können jede helfende Hand gebrauchen.« Es klang so, als hätte der Mann das in den vergangenen Wochen schon Hunderte Male gesagt.

»Nein, ich meine … äh, ich meine, ich will helfen … mitorganisieren«, stammelte Sehlings.

Auch das schien Hausding nicht zu überzeugen.

Jetzt wurde Sehlings direkter. »Sie haben wirklich eine tolle Rede gehalten. Aber das Drumherum stimmt nicht. Warum gibt es hier keinen Tisch mit einer Box, in die man seine ausgefüllten Mitgliedsanträge stecken kann? Warum gibt es hier nirgendwo ein Roll-up von der Partei?«

»Roll… was?« Hausding runzelte die Stirn und sah Sehlings an, als habe er von solchen Dingen noch nie etwas gehört. »Wir sind erst am Anfang, haben noch kein Personal.«

»Ich möchte Sie bei solchen Dingen unterstützen. Ich bin gut in sowas.«

Hausdings Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er schien etwas überfordert mit dem Angebot, das ihm da gerade unterbreitet wurde.

»Wann und wo halten Sie denn Ihre nächste Rede?«, fragte Sehlings in betont freundlichem Ton. »Ich könnte doch das Drumherum organisieren, wenn Sie nichts dagegen haben …«

Wortlos sah sich Hausding um, er schien irgendetwas zu suchen. Sein Blick fiel in eine der Ecken des Saals, dort stand ein abgewetzter, brauner Lederkoffer. Bedächtig ging Hausding dorthin, ergriff ihn und kehrte zu Sehlings zurück. Umständlich öffnete er den Koffer und kramte ein braunes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor. Es war genauso abgewetzt wie der Koffer und wohl auch genauso alt. Hausding schlug es auf. Er blätterte. »Am Samstag, in einem Gasthof irgendwo an der niederländischen Grenze, 19 Uhr.«

Sehlings zog sein iPhone aus der Jackett-Tasche und wischte auf dem Display herum. »Ja, passt, wunderbar«, sagte er. »Wer fährt Sie denn?«

Wieder blickte Hausding Sehlings etwas begriffsstutzig an. Schließlich sagte er müde: »Ich fahre immer selber.«

»Das geht doch nicht«, rief Sehlings empört. »Das sind doch mehrere hundert Kilometer. Ich fahre Sie. Geben Sie mir mal Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie morgen an. Dann können wir alles Weitere besprechen. Jetzt sind Sie sicherlich müde.«

Wieder öffnete Hausdings umständlich seinen Koffer, wühlte darin herum und holte schließlich einen Pack Visitenkarten, zusammengehalten mit einem roten Gummiband, hervor. Er zog langsam eine heraus und überreichte sie Sehlings.

Der schaute sie sich an und sagte: »Oh, sind das Ihre privaten? Das müssen wir auch ändern. Es gibt viel zu tun. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Dann gab er Hausding erneut die Hand und spürte wieder den merkwürdig laffen Händedruck des alten Mannes.

Einige Wochen später stand Friedrich Sehlings erneut an der holzvertäfelten Wand eines großen Festsaals. Aus allen politischen Lagern strömten in jenen Tagen der Deutschlandpartei neue Anhänger zu. An erster Stelle ehemalige Mitglieder der Christpartei, denen ihre alte Partei zu links und zu urban geworden war. An zweiter Stelle Anhänger der Sozialpartei, die darauf hofften, dass sich die neue Partei für die kleinen Leute einsetzte. Die alte Sozialpartei war in ihren Augen längst eine Partei der Akademiker, der Journalisten und gut versorgten Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Zahlreich waren, vor allem im Osten des Landes, auch ehemalige Mitglieder der Linkspartei. Sie sehnten sich nach einer neuen Protestpartei. Denn die alten Genossen waren im neuen System versackt und genossen die Pfründe des bundesrepublikanischen Politikbetriebes.

Vor allem aber profitierte die Deutschlandpartei von der Flüchtlingskrise. Sie war der Startschuss für eine Politisierung der Gesellschaft, das Schlüsselerlebnis für viele, sich politisch zu engagieren. Menschen, die vorher nicht politisch waren und erst recht nicht in einer Partei organisiert, wandten sich der Deutschlandpartei zu. Ihre Motive waren diffus: Angst vor Fremden, Hass auf das Establishment, Furcht vor Statusverlust, das Wiederaufbrechen einer längst verschwunden geglaubten Kluft zwischen Ossis und Wessis, die Sehnsucht nach der alten westdeutschen Wohlstandsgesellschaft der Achtzigerjahre, eine latente Unzufriedenheit mit der Demokratie. Was ihnen allen gemeinsam war: Sie fühlten sich von den alten Parteien nicht mehr vertreten. Sie alle vereinte der Protest gegen die gegenwärtigen Zustände in Deutschland.

Von der Rückseite des Saals aus hatte Sehlings alles im Blick. Ihm entging nichts. Nicht der Redner, nicht das Publikum und auch nicht seine drei Jungs. Der eine betreute den Informationsstand, der andere schob Wachdienst an der Tür, der dritte filmte mit einer Videokamera Hausdings Rede. Vorne zog Dr. Adalbert Hausding seine Show ab. Sehlings hatte die Rede jetzt bestimmt schon zwanzigmal gehört, er kannte inzwischen jedes Wort, jede Pointe, jeden rhetorischen Seitenhieb auf die Ökopartei und die Sozialpartei und vor allem auf die nach links abgedriftete Christpartei.

Die Säle der Landgasthäuser glichen einander: hölzerne Kneipenstühle, kitschige, das Landleben verherrlichende Ölschinken an den Wänden, umrahmt von alten Pferdehalftern oder anderen Devotionalien einer vergangenen altdeutsch-bäuerlichen Welt. Im Schankraum gab es meist große Schnitzel mit viel Pommes zu moderaten Preisen. Und noch eines hatten die Gasthöfe gemeinsam: Sie lagen alle in der Provinz, fernab der großen Metropolen. Hier wohnten, hier arbeiteten und hier verzweifelten die Menschen, die der Deutschlandpartei zuströmten.

Dr. Adalbert Hausding wirkte fremd unter diesen Menschen. Er war ein intellektueller Metropolenbewohner, verkehrte einst unter den Geistesgrößen der alten Bundesrepublik und hatte mit dem Ticket der Christpartei als promovierter Jurist eine glänzende Verwaltungskarriere gemacht. Jetzt war er alt, schon viele Jahre in Pension. Doch auch an ihm nagten die Zustände in Deutschland und in seiner einst so geliebten Christpartei. Sie hatte ihm einmal so viel bedeutet. Noch heute erzählte er stolz davon, wie er einmal vom alten Bundeskanzler der Christpartei in dessen Privathaus zum Saumagen-Essen eingeladen worden war.

Wie anders war nun die neue Christpartei. Mit einigen anderen Intellektuellen hatte Hausding eine Initiative zur Rettung seiner Partei gegründet. Sie hatten um ein Gespräch auf höchster Ebene gebeten. Was er dann erlebte, schilderte er in seiner Standardrede als den Schlüsselmoment zur Gründung der Deutschlandpartei.

»Wir wurden von einem jungen, zweitrangigen Referenten empfangen. Er führte uns wie Touristen durch die Parteizentrale. Am Abend lud er uns in ein vegetarisches Restaurant im Prenzlauer Berg ein. Da saßen wir dann unter den ganzen grünen, verwöhnten Latte-macchiato-Müttern. Der junge Referent erzählte uns etwas von der urbanen und hippen Christpartei, mit der man heute Wahlen gewinnt. Uns Alten und Erfahrenen wollte dieser Grünschnabel erst gar nicht zuhören.«

Sehlings wusste, was jetzt kam. Hausdings Stimme wurde lauter und aggressiv: »Solche Grünschnäbel sind es, die aus unserer schönen konservativen Saumagen-Christpartei eine grüne Vegetarier-Latte-macchiato-Christpartei gemacht haben. Diese Christpartei will aus unserem geliebten Deutschland ein grünes Multikulti-Projekt machen. Wir von der Deutschlandpartei kämpfen gegen dieses grüne Multikulti-Deutschland.«

Im Saal donnerte Applaus auf. Hausding setzte jetzt zum Endspurt seiner Rede an. Sehlings hielt einen Arm hoch und beschrieb mit ihm über seinem Kopf einen großen Kreis. Das war beim Militär das Zeichen für den Befehl zum Sammeln. Sofort setzten sich seine drei Jungs in Bewegung und kamen zu ihm. Dann folgte die Befehlsausgabe: »Nach der Rede des Führers drückt ihr jedem, der den Saal verlässt, einen Mitgliedsantrag in die Hand. Dann baut ihr ab. Ich gehe in der Zeit mit dem Führer im Schankraum noch etwas essen. Beeilt euch aber. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Die drei nickten gehorsam.

»Der Führer ist wie ein Spielzeugtrommler«, fügte er hinzu. »Ihr wisst schon: Diese Blechtrommler, die wie wild trommeln, solange sie aufgezogen sind, und dann in sich zusammenfallen. Nach seiner Rede ist er anderer Mensch. Ich muss ihn dann abschirmen von den ganzen Verrückten, die ihn bedrängen und ihm wer weiß was erzählen. Ich muss immer wissen, wer was von ihm will, mit wem der Führer redet. Verstanden?« Die drei nickten wieder und machten sich davon.

Im Schankraum aßen Dr. Adalbert Hausding und Friedrich Sehlings nach dem Auftritt Schnitzel mit Pommes.

»Was ich Sie schon immer einmal fragen wollte …«, erhob Hausding das Wort, während er noch an einem besonders zähen Rest Schnitzel kaute. »Warum tragen die jungen Männer, die uns begleiten, eigentlich immer rote Krawatten und rote Hosenträger?«

»Das ist bestimmt so ein neuer Jugendtrend, ein Modetick. Statt Filzhaaren und zerschlissenen Jeans drücken die jungen Leute von heute ihren Protest und ihre Gesinnung eben mit roten Krawatten und mit Hosenträgern aus.«

»Ach so«, sagte Hausding. Die Erklärung schien ihm zu genügen.

Friedrich Sehlings kannte viele Leute, die der neuen Partei wohlgesinnt waren. Für die dritte Veranstaltung, zu der er Hausding begleitete, hatte er bereits einen Kleinbus organisiert. Die drei jungen Männer in Hosenträgeruniform waren immer dabei. Sie fuhren die beiden Männer und kümmerten sich um alles Organisatorische. Hausding saß immer hinter dem Fahrer, Sehlings vorne auf dem Beifahrersitz.

Eines Abends, nachdem das Begleitkommando Hausding bei seiner Vorstadtvilla abgesetzt hatte, bekam Sehlings einen Anruf. »Hallo, hier ist Ronny Matschinski, erinnerst du dich noch?«, tönte es aus dem Smartphone.

»Na klar, das ist aber eine Überraschung«, sagte Sehlings. »Ist ja eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

Ronny Matschinski kam direkt zur Sache: »Ich habe gehört, dass du bei der Deutschlandpartei bist. Ich würde gerne bei euch mitmachen. Ich finde den Dr. Adalbert Hausding wirklich ganz toll. Das ist eine richtige Führerpersönlichkeit, wie wir sie uns immer gewünscht haben.«

»Das habe ich mir fast schon gedacht, dass du dich irgendwann meldest«, erwiderte Sehlings. »Schick mir deinen Mitgliedsantrag, ich kümmere mich um die Mitgliederverwaltung hier. Unser zweiter Bundesvorsitzender ist allerdings ein Kontrollfreak. Der kann Männer wie uns Kameraden nicht ab. Der kontrolliert alle Bewerber, ruft sie persönlich an und stellt Fragen. Er bekommt von mir zwar nur bereinigte Datensätze, aber der ist ziemlich misstrauisch. Wenn er bei dir anruft, dann erzähl ihm nicht, dass wir uns kennen, und auch nichts von den alten Zeiten.«

»Mensch, das waren echt wilde Zeiten«, rief Ronny Matschinski euphorisch. »Aber ich habe schon verstanden. Der bekommt von mir eine astreine Show geliefert.« Er lachte. »Du bist immer noch der alte Strippenzieher! Und den Trick mit den bereinigten Datensätzen hast du auch immer noch drauf. Ich freue mich echt.«

»Ich werde mich in den nächsten Wochen bei dir melden. Dann können wir überlegen, wie wir dich einbinden. In der Zwischenzeit tu mir bitte einen Gefallen: Ruf die alten Kameraden an und sag, dass sie eintreten sollen. Sie sollen mich aber vorher kontaktieren, damit wir sie ohne Verdacht einschleusen können.«

»Dein Wunsch war mir immer Befehl«, antwortete Ronny Matschinski.

»Herbert, kleben Sie bitte die Benzinrechnung auf ein weißes DIN-A4-Blatt, beschriften es mit Datum und Fahrtziel und legen es mir dann mit der Reisekostenabrechnung vor.« Dr. Martin Müller war der zweite Bundesvorsitzende der Deutschlandpartei, zusammen mit Dr. Adalbert Hausding hatte er die Partei gegründet.

»Ich kümmere mich darum.« Herbert, griff nach der Rechnung und schloss die Wagentür. Sie kamen gerade von der monatlichen Sitzung des Parteivorstandes in einem Hinterzimmer eines Landgasthofes, zentral gelegen in Deutschland. Herbert fuhr.

Müller, Anfang vierzig, war ein Bürokrat, ein Aktenfresser und ein Kontrollfreak. Stets in einem tadellosen Anzug von der Stange, immer mit gestreifter Krawatte, war er die Verkörperung des spießigen, deutschen Staatsdieners. Auch wenn beide Parteigründer promovierte Juristen waren, gab es von Anfang an Spannungen zwischen den Männern um die Ausrichtung der neuen Partei. Zu deutlich war die Kluft zwischen dem gediegenen, aus großbürgerlichen Kreisen stammenden Hausding und dem kleinbürgerlichen Aufsteiger Müller, der es immerhin zum Vorsteher eines Finanzamtes in der Provinz gebracht hatte.

Am Tag, nachdem Friedrich Sehlings die erste Veranstaltung von Dr. Adalbert Hausding besucht hatte, war Herbert bei einer Hinterzimmerrede von Müller aufgetaucht und hatte sofort mit angepackt. Diese Hilfsbereitschaft hatte Dr. Martin Müller sehr imponiert. Bald übernahm Herbert für ihn die Organisation der Veranstaltungen und den Fahrdienst. Beide waren im gleichen Alter. Müller, der selbst langjährige Vertraute und Bekannte zu siezen pflegte, duzte ihn.

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.

»Hast du gesehen, wie dieser Sehlings um den Hausding herumscharwenzelt«, begann Müller. Entgegen seiner sonst verschlossenen, stets bedachten Art schüttete er seinem Fahrer das Herz aus. »Der ist ein richtig untertäniges, kleinbürgerliches Faktotum. Und wie der aussieht mit seinem GI-Haarschnitt und dieser altertümlichen Brille!« Müller war nun kaum mehr zu stoppen. »Und was Dr. Hausding heute wieder für ein intellektuelles Zeug von sich gegeben hat! Warum nur jubeln die Menschen dem so zu? Warum wird er ständig in diese Talkshows eingeladen?«

Herbert lenkte den Wagen durch den Ort auf die Landstraße in Richtung Autobahn.

»Weißt du eigentlich, was dieser Sehlings früher gemacht hat und wovon der so lebt? Der ist immer und überall und reißt sich um jeden Organisationsjob. Ich habe nur gehört, dass er Feldwebel bei der Bundeswehr war. Der hat schon etwas Schützengrabenhaftes an sich. Etwas Brutales. Leider hat der sehr viel Einfluss auf Dr. Hausding.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Herbert neugierig.

»Dr. Hausding kann nicht organisieren. Das lässt der alles den Sehlings machen. Und hast du gesehen, Herbert? Der fährt Hausding schon nicht mehr selber. Der hat jetzt immer junge Männer in diesen albernen Hosenträger-Uniformen dabei, denen er seine Befehle zubellt.« Müller klang nun ziemlich aufgebracht. »Und ständig telefoniert er. Mit wem telefoniert der denn nur immer?«

Herbert zog nur die Schultern hoch, den Blick auf die Landstraße gerichtet. Vor ihnen erschien die Auffahrt der Autobahn.

»Ich traue dem nicht über den Weg. Und dann hat der sich auch noch darum gerissen, die Mitgliederverwaltung zu übernehmen. Aber das sag ich dir: Ich lasse mir die Listen mit allen Bewerbern vorlegen und kontrolliere das, die meisten rufe ich persönlich an.«

»Kam es dabei denn schon mal zu Unregelmäßigkeiten?«, wollte Herbert wissen, während er den Wagen auf die Autobahn einfädelte.

»Nein«, sagte Müller. »Aber da kann man interessante Leute kennenlernen. Kürzlich habe ich mit einem sehr respektablen Rechtsanwalt telefoniert, Ronny Matschinski. Der hat während des Studiums ein Jahr in den USA verbracht. Genau solche Leute brauchen wir in der Partei.«

»Ach, Ronny ist also auch wieder dabei«, murmelte Herbert für sich, sodass es Müller nicht hören konnte.

In der Zwischenzeit hatte Müller einen Packen Zeitungen aus seinem Koffer hervorgeholt, die er während der Fahrt durcharbeiten wollte. Herbert warf einen Blick zur Seite. Zuoberst lag das Junge Deutschland.

»Mein Medium ist ja der Demokratische Beobachter«, sagte Müller, als er Herberts Blick bemerkte. »Das lese ich seit dem Studium. Etwas linkslastig und sehr kritisch, aber auch sehr gut und objektiv. Aber auf den Veranstaltungen sprechen mich die Menschen immer wieder auf das Junge Deutschland an. Deshalb habe mir das jetzt auch im Abo bestellt. Eine unsägliche Zeitung, ziemlich viel braunes Zeug …«

»Was meinen Sie mit braunem Zeug, Herr Dr. Müller?«, fragte Herbert und setzte den Blinker, um den Lkw vor ihnen zu überholen.

»Diese ganze Verherrlichung des Zweiten Weltkrieges. Die Ausländerfeindlichkeit. Dieses Gerede von der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung … Das Junge Deutschland bedient alle diese Themen. Und für unsere Mitglieder scheint es die Leib- und Magenzeitung zu sein. Ganz ehrlich: Ich habe die Sorge, dass sich unsere Partei in die falsche Richtung entwickelt.«

»Was meinen Sie denn mit falscher Richtung?«, bohrte Herbert weiter, während er den Wagen wieder auf die rechte Spur zog.

»Zu einer Nazipartei. Wie damals die Demokratiepartei oder die Rechtsstaatspartei. Du erinnerst dich vielleicht noch?«

»Ja, nur zu gut«, sagte Herbert und lächelte.

»Bei einer Veranstaltung kürzlich war dieser Oliver Felsenstier da, der Chefredakteur des Jungen Deutschlands. Der hat mich interviewt. Mal sehen, was der über mich schreibt …«

Müller war eitel und ehrgeizig, das hatte Herbert sofort erkannt. Der Parteivorsitzende schlug die Zeitung auf, und suchte nach dem Artikel über die Deutschlandpartei und fing an zu lesen. Plötzlich rief er laut aus: »Das gibt es doch nicht!«

»Was ist passiert?« Herbert nahm den Fuß vom Gaspedal.

»Unfassbar, was dieser Felsenstier über Dr. Hausding und mich schreibt!« Dann begann Müller laut vorzulesen: »Was Dr. Adalbert Hausding mit Intellekt und Rhetorik gelingt, das versucht Dr. Martin Müller mit Fleiß und Disziplin wettzumachen. Doch er hat als Parteigründer nicht das Format seines Mitgründers. Das Politikgeschäft ist für ihn eine Art Verwaltungsakt. Seine Sprache wirkt hölzern und klingt wie Juristendeutsch. Nur ein Beispiel aus einer seiner Reden: ›In die aktive Politik hat mich die Nichteinhaltung der rechtlichen Prozesse bei der Umsetzung der Einwanderung gebracht.‹ Mit solch einer Sprache gewinnt man keine Menschen, die sich in schweren Zeiten nach einer charismatischen Führerpersönlichkeit sehnen.«

»Oh, das ist bitter«, sagte Herbert und schüttelte den Kopf.

»Es geht noch weiter, hör mal!« Müller las vor: »Wie anders klingt da die erfrischende Rhetorik des Dr. Adalbert Hausding, wenn er davon spricht, wie aus der ›schönen konservativen Saumagen-Christpartei eine grüne Vegetarier-Latte-macchiato-Christpartei‹ geworden ist. Das reißt die Menschen vom Hocker. Deshalb strömen sie in Massen zur Deutschlandpartei.« Wütend faltete Müller die Zeitung zusammen und warf sie auf die Rückbank.

Herbert wollte den Parteivorsitzenden ablenken und fragte: »Waren Sie nicht auch mal bei der Christpartei?«

Müller nickte. »Ja, aber ich bin ausgetreten, wegen der Linksverschiebung. Inhaltlich hat Dr. Hausding ja durchaus recht. Die heutige Christpartei ist nicht mehr die, in die ich mal eingetreten bin. Die ist schon ziemlich grün geworden. Und ich kann das beurteilen: Ich war nämlich auch mal bei der Ökopartei«, erzählte Müller mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.

»Was?« Herbert konnte es kaum glauben. »Sie waren bei der Ökopartei?«

»Ja, auch ich hatte meine wilden Jahre. Das war zu Beginn meines Studiums. Ich habe mich damals sehr für Umwelt- und Naturschutz interessiert. Ich war ein paar Monate Mitglied, habe sogar einige Zeit ausprobiert, vegetarisch zu leben«, berichtete Müller.

Herbert war wirklich erstaunt. »Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.«

»Doch Herbert, ich war ein ganz Wilder.« Auf Müllers Bubengesicht schlich sich ein Lächeln. »Ich habe sogar einige Zeit in einer Studentengruppe mitgemacht, die Tiere aus Universitätslaboren befreit hat.«

Herbert hatte Mühe, sich weiter auf den Verkehr zu konzentrieren. »Das haut mich jetzt aber echt um.«

»Ich habe natürlich nichts Verbotenes gemacht. Ich habe die Bekennerschreiben formuliert und als angehender Jurist aufgepasst, dass da nichts Strafbares drinsteht.«

»Aber Sie sind doch schon als Student in die Christpartei eingetreten, sagen Sie immer in Ihren Reden«, wunderte sich Herbert.

»Meine wilde Phase war ja auch nur ganz kurz. Dann habe ich gesehen, dass der Ansatz der Ökopartei nicht meiner ist, und bin in die Christpartei. Das war auch besser für meine Laufbahn«, erklärte Müller freimütig.

Was danach folgte, wusste Herbert: Nach dem Studium ging Müller in die Finanzverwaltung und kaufte sich schon in jungen Jahren ein Reihenhaus mit Garten in der Vorstadt.

»Etwas ist aber noch geblieben aus dieser Zeit.«

»Was denn?«, fragte Herbert, immer noch verblüfft über das Geheimnis, das ihm Müller gerade anvertraut hatte.

Müller lächelte breit. »Ich halte heute Hühner nach der Methode des ökologischen Landbaus und produziere meinen eigenen Bioeier. Vollkommen ohne Gift, nur mit den Kräften der Natur.«

Vor ihnen tauchte plötzlich das Heck eines Wiesenhof-Lasters auf mit der Aufschrift »Bruzzler – Mann, ist das eine Wurst«. Herbert trat auf die Bremse, es fehlte nicht viel, und sie wären in den Wagen hineingekracht. Ausgerechnet, dachte Herbert und unterdrückte ein Lachen.

In der Zentrale der Kommunikationsagentur »Zum Silbernen Reh« in Berlin-Mitte herrschte routinierte Geschäftigkeit. Die Räume der Agentur nahmen die ganze Etage des alten backsteinernen Industriebaus ein. Wo einst, als Berlin noch eine bedeutende Industriemetropole war, Arbeiter an öligen Maschinen schraubten, tippten jetzt junge Kreativarbeiter in Großraumbüros angestrengt Texte in ihre Computer. Der Meetingraum, in dem der Umweltminister Platz genommen hatte, war nur durch Glaswände von der geräumigen Fabriketage abgetrennt. Der Minister zählte rund drei Dutzend Frauen und Männer, die meisten in T-Shirts und Jeans, kaum einer über dreißig.

»Du brauchst einfach mehr Street Credibility«, redete der Inhaber und Chef der Agentur auf den Minister ein. Er trug eine kurze Hose, Turnschuhe und ein verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift »Einfach mal mit Profis arbeiten«. »Du hast keine Authentizität bei der nicht-urbanen Zielgruppe.«

»Du meinst bei den Provinzlern«, entgegnete der Minister mit säuerlichem Gesicht. Die im Meetingraum versammelte Runde, zu der neben den beiden Männern der Pressesprecher des Ministers und die junge Senior Consultant Julia gehörten, lachte über diese Bemerkung.