Machtspiele - Alice Zeniter - E-Book

Machtspiele E-Book

Alice Zeniter

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Beschreibung

Alles beginnt im Winter 2019. Antoine arbeitet für das französische Parlament, doch er weiß nicht, was er mit dem wachsenden Hass anfangen soll, der den Berufspolitikern entgegenschlägt und der auf ihn abzufärben beginnt. Da begegnet er der Hackerin L. Sie lebt im Untergrund, denn sie hat gerade miterlebt, wie ihr Freund verhaftet wurde. Er wird beschuldigt, eine Überwachungsfirma gehackt zu haben. Sie weiß, dass sie selbst auch observiert, vielleicht sogar bedroht wird, und bittet Antoine um Hilfe. »Faszinierend, unerbittlich, wütend. Ein großer Roman.« Auguste Trapenard, France Inter.

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Übersetzung aus dem Französischen von Yvonne Eglinger

Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

© 2020 Flammarion Paris; Titel der französischen Originalausgabe: Comme un empire dans un empire, Flammarion, Paris 2020

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023

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Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1 EINLEITUNG

Biografisches Mouseover

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2 ENTWICKLUNG

1. Dezember 2018 bis 17. März 2019

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3 RETARDIERENDES MOMENT

Geschlossene Gesellschaft

1

4 AUFLÖSUNG

1

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Danksagung

Nachweis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1 EINLEITUNG

Biografisches Mouseover

Es gibt nicht ein Ich. Es gibt nicht zehn Ich. Es gibt kein Ich. ICH – ist nur eine Gleichgewichtsposition. (Eine unter tausend immerfort möglichen und stets bereitliegenden.) Ein Durchschnitts-Ich, eine Massenbewegung.

Henri Michaux, »Nachwort«,Ein gewisser Plume

»Man hat schon so einiges über mich gesagt, aber dass ich gewöhnlich bin, niemals, da sei Gott vor!«, hatte eines Tages der Abgeordnete ausgerufen, für den Antoine arbeitete. So theatralisch er seine Besorgnis auch mimte, indem er die Hand aufs Herz legte (auf das Nadelstreifenhemd, unter dem, hinter womöglich ergrauendem Brusthaar, Haut, einer feinen Fettschicht, Fleisch und Rippen, das Herz lag), konnte er doch nicht verbergen, dass es ihm ernst damit war. Der Satz, den er aus Gesprächigkeit und als Eigenlob einfach so hingeworfen hatte, traf Antoine mit voller Wucht – er sah ihn vor sich wie eine dieser sirrenden Revolverkugeln aus Hollywood-Actionfilmen, die in die Schulter des Helden einschlagen und ihn um 180 Grad herumwirbeln lassen, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz.

Antoine fürchtete, dass er selbst schon einmal als »gewöhnlich« bezeichnet worden war. Das Adjektiv schien ihm vernichtend genug, um die gewaltigen, himmelblauen und meist verschwommenen Träume zu ersticken, die sich in ihm regten. Nach der Bemerkung des Abgeordneten ließ er sich gar zu dem Gedanken hinreißen, er habe sich vielleicht gerade gegen dieses Wort und den Schrecken entworfen, den ihm die drei Silben einzuflößen vermochten. Sein Äußeres hatte, ihm selbst zufolge, nichts Auffälliges, das ihn genauer beschrieben hätte, nichts in seinem Gesicht mit den braunen Augen stach hervor, nichts an seinem Körper war außergewöhnlich lang oder breit – sodass in seinem Ausweis in der Zeile für besondere Eigenschaften bloß »keine« stand, was ihm bisweilen brutal vorkam. Als Kind hatte man ihm immer wieder gesagt, wie »süß« er aussehe, mit seinem Heiligenschein aus Engelslöckchen, aber er vermutete, dass man das allen kleinen Menschen erzählte, und er war sich sicher: Wäre er hässlich gewesen, hätte seine Mutter das niemals zugegeben, geschweige denn laut ausgesprochen. Sein Vater wiederum schien als Mann grundsätzlich auf jedes ästhetische Urteil zu verzichten, und er hatte das Aussehen seines Sohnes nur dann kommentiert, wenn dieser schmutzig, über und über mit Sand und Schlick bedeckt, vom Strand zurückkam. Daher hatte Antoine von klein auf niemals sein Äußeres herangezogen, um nach einem Anzeichen dafür zu suchen, etwas Besonderes zu sein. Während der Schulzeit konnte er sich als »begabten« Jungen betrachten, denn diesen Vermerk schrieben seine Lehrer jedes Trimester unter sein Zeugnis, und Antoine liebte es, wenn sich der Blick seiner Eltern beim Lesen der Beurteilung in einer Mischung aus Stolz und Besorgnis verschleierte. Als begabter Junge genoss er eine gewisse Ungestörtheit, denn wenn er sich in sein Zimmer einschloss, nahmen die Erwachsenen in seinem Umfeld an, er denke nach oder träume von großartigen Dingen. Schon sehr bald nötigte sein Vater ihn nicht mehr zu gemeinsamen Sonntagsspaziergängen, als wollte er seinem Sohn die vielen Stunden lassen, die dieser zur Entfaltung seiner »Begabungen« brauchte, worin sie auch immer bestanden. Dass diese Zeit größtenteils für Telefonate mit Xavier aufgewendet wurde, Antoines bestem Schulfreund, schien weder die Bewunderung seiner Mutter noch die seines Vaters zu schmälern. Sein Status eines begabten Jungen hatte es Antoine außerdem erlaubt, nicht allzu sehr unter dem mangelnden Interesse der Mädchen zu leiden, das diese ihm bis zu seinem sechzehnten Geburtstag vorenthielten. Wann immer sie höflich lächelten, durch die Blume ihre Ablehnung äußerten oder sich auf Abstand hielten, um noch seinen geringsten Annäherungsversuch im Keim zu ersticken, sagte sich Antoine, dass er vermutlich zu schnell oder zu komplex dachte, um verstanden zu werden, und ihn vor allem diese seiner Intelligenz geschuldete Gesprächshürde von den Mädchen trennte. Als er zu Beginn der Oberstufe eines traf, das seine Theorie entkräftete (Julie Le Cléach, gleicher Jahrgang, sprachlicher Zweig), gab er diese innere Rechtfertigung ohne jedes Bedauern auf und fand lieber heraus, wie es sich anfühlte, seine Haut an der eines anderen Menschen zu reiben. Antoine verlebte sein siebzehntes, dann sein achtzehntes Lebensjahr in einem Zustand relativer Glückseligkeit: Er war ein begabter Junge, und Julie Le Cléachs Hände berührten ihn überall; das war befriedigend. Diese positiven Faktoren wurden zunehmend von dem Eindruck unterlaufen, dass er am falschen Ort geboren war und es in seinem Dorf nichts gab, was er nicht schon in- und auswendig kannte, abgesehen vom Meer.

Im September 2005 ging er nach Paris, und mit dem Eintritt in die Vorbereitungsklasse für die Eliteuniversitäten begann die Angst vor der Gewöhnlichkeit, ihre Gänge zu bohren. In seinem Wohnheimzimmer, dessen Beengtheit ihm das Gefühl gab, sich höchstens in den Raum zwängen, aber niemals darin wohnen zu können, musste Antoine sich eingestehen, dass er nicht ganz vorhergesehen hatte, wie sein Leben ohne seine Eltern, seine Freunde und ohne Julie Le Cléach sein würde (deren Hände sich nun sicher überall auf einem Studenten der Universität Rennes-2 vergnügten, doch Antoine zwang sich, nicht voll Eifersucht daran zu denken, denn schließlich hatte er ihre Beziehung beendet). In seinem ersten Jahr in Paris kam er sich kein bisschen »begabt« vor, im Gegenteil, er lernte fieberhaft und pausenlos, um dann allenfalls passable Ergebnisse zu erzielen. Er sagte sich, dass man ihn möglicherweise angelogen, dass er niemals irgendein Talent besessen hatte, und in den Kommentaren zu seinen Hausarbeiten lauerte er auf ein Zeichen, an das er sich klammern könnte, auf das Wiederaufblitzen einer verschütteten Begabung. Doch in den ersten Monaten bekam er nichts als rot umkringelte, äußerst mäßige Noten, Sechsen und Siebenen, ab und an eine Neun, niemals mehr. Seine Arbeiten bewiesen ihm stetig und verlässlich seine Mittelmäßigkeit innerhalb des Systems der Vorbereitungsklassen (Mittelmäßigkeit in ihrer grundlegenden Bedeutung, »im Balzac’schen Sinne«, wie ihr Lehrer für Literaturwissenschaften es ausgedrückt hatte, als sie zu Beginn des Schuljahrs Balzacs Roman Tante Lisbeth durchnahmen, und Antoine fand es wunderbar, dass Wörter einen Balzac’schen Sinn haben konnten, dass Balzac mit seinem massigen Körper derart auf den Wörtern lasten konnte, dass er ihnen schließlich neuen Sinn eingeprägt hatte). Antoines Kontakt zu den dreißig anderen Schülern der Klasse machte ihm seine Mittelmäßigkeit noch auf andere Weise bewusst, diesmal in gesellschaftlicher Hinsicht. Im Umgang mit Diplomaten- und Professorenkindern erlebte er seine Zugehörigkeit zur Mittelschicht auf neue Art. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen war, hatte sie ihm eine gewisse Überlegenheit, einen Vorteil verschafft, doch in seinem Pariser Umfeld bedeutete sie nichts anderes als soziale Unterlegenheit, und Antoine hatte bei sich gedacht, dass »Mittelschicht« im Grunde genau das meinte: keineswegs die goldene Mitte, sondern die Tatsache, immerzu der Reiche unter den Armen und der Arme unter den Reichen zu sein. Auch wenn sich seine Noten schließlich verbesserten, auch wenn er das erste Jahr bestand und in die zweite und letzte Vorbereitungsklasse wechseln durfte, auch wenn er anschließend Politikwissenschaften an der renommierten Sciences Po studierte, hatte er das alte Zutrauen in seine intellektuellen Fähigkeiten nie ganz zurückgewinnen können, und die Angst vor der Gewöhnlichkeit hatte sich eingeschlichen, hartnäckig und ätzend.

Dass Antoine seit Verlassen der Bretagne auf Menschen traf, die einem eindeutig höheren Milieu entstammten als er, lag nicht nur an den Bildungseinrichtungen, die er nun besuchte. Die Vorbereitungsklassen bestanden, so hatte er irgendwo gelesen, zu 70 Prozent aus Kindern von Professoren und Führungskräften. Obwohl er nicht genau wusste, wann man in seiner Karriere zu einer »führenden« Kraft aufstieg – ebenso wenig, wie er wusste, wann aus einem Besser- ein Spitzenverdiener wurde –, hatte die Statistik Eindruck auf ihn gemacht. Dass diese Gesellschaftsschichten in den Vorbereitungsklassen überrepräsentiert waren, erklärte die Homogenität von Antoines Bekanntenkreis allerdings nicht allein. Auch er hatte daran mitgewirkt, indem er alle, die ihm durch ihre geografische oder soziale Herkunft ähneln könnten, zunächst mied. Er hatte aktiv die Gesellschaft der Pariser Bourgeoisie gesucht, sie hatte ihn angezogen, mit ihrem besonderen Akzent, den seltsam verzögerten Gesten. Er hatte sich dieser Gruppe beharrlich aufgepfropft, auch wenn ihm keine Unterhaltung je einfach erschien. Wenn er, zum Beispiel, von der Bretagne sprach, nickten die anderen wissend, obwohl für sie das Wort Bretagne »Île de Bréhat«, »Stadtmauer von Saint-Malo« oder »Segelkurs bei Les Glénans« bedeutete, was absolut nichts mit dem zu tun hatte, was Antoine sagen wollte. Der einzige Mensch, mit dem er damals wirklich reden konnte, war Salma. Sie war es auch gewesen, die ihn mit auf die Straße genommen hatte, indem sie behauptete, innerhalb der Mauern eines Pariser Lycées würden sie – intellektuell, politisch – verhungern.

Auf den Straßen, beim Marschieren, beim Skandieren, beim Plakatekleben, Barrikadenbauen, Flugblätterverteilen, lernte Antoine ein neues Volk, eine neue Sippe kennen: Guillaume und dann Jérémie, Samir und auch Élise und Clément, und nach ihnen ganze Heerscharen wogender Gesichter und Vornamen, die wie Girlanden aus kleinen Papiermännchen im Wind flatterten, sodass man die einzelnen Umrisse unmöglich zählen konnte, wenngleich sich unter ihnen, sehr weit entfernt und im Augenblick noch im Untergrund, auch der einer Frau befand, die sich L nennen ließ und die sein Leben bald durcheinanderbringen würde. Antoine hätte dieser Sippe gern angehört, wollte mit ihren Reihen verschmelzen, eine schlichte, selbstverständliche Wärme bei ihnen finden, doch ihre Beziehungen hatten sich gelockert, als er 2008 der Bewegung Junger Sozialisten beitrat, der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei Frankreichs, ehe er schließlich, einige Jahre später, Assistent eines Abgeordneten ebenjener Parti socialiste wurde, was ihn zur Zielscheibe wiederholten Spotts und sanfter Anschuldigungen machte.

Antoine hatte noch vor Abschluss seines Studiums an der Sciences Po mit der Arbeit für den Abgeordneten begonnen – er war ihm auf Zusammenkünften junger Aktivisten begegnet, und sehr schnell erzählte der Politiker ihm von den ersten Urwahlen der PS für den Präsidentschaftskandidaten 2012. Er gab unumwunden zu, sich in einer heiklen Lage zu befinden, weil er sich dem neuen Verfahren widersetzt hatte, das er als »Amerikanisierung« des politischen Lebens Frankreichs empfand. Der Abgeordnete war der Meinung, dass der Präsidentschaftskandidat der Partei naturgemäß der erste Parteisekretär zu sein habe und dass in den zwei Fällen, in denen diese Ordnung missachtet worden war, nämlich 1995 und 2006, die Innovation zu einer Wahlniederlage geführt habe. Nun, da sich die Urwahl durchgesetzt hatte und die Partei sie als »demokratischen Fortschritt« präsentierte, musste er irgendwie seine Unterstützung bekunden, ohne seine früheren Aussagen völlig zu verleugnen. Er wollte wissen, wie Antoine das an seiner Stelle umsetzen würde. Es war eine scheinbar lockere, fast freundschaftliche Unterhaltung. Antoine hatte bereits ein paar Gläser intus, und zum Spaß spielte er alle möglichen Redeweisen durch, wie beim Nasenmonolog aus dem Cyrano de Bergerac: grobschlächtig, aggressiv, schulmeisterlich, neugierig … Am nächsten Tag rief der Abgeordnete ihn an und schlug ihm vor, als Assistent bei ihm anzufangen.

Manchmal sagte sich Antoine, dass er der PS vor allem beigetreten war, weil er zuerst die sozialistischen Aktivisten kennengelernt hatte, sodass seine Zugehörigkeit zur Partei eher chronologisch als politisch bedingt war. Als Schüler hatte er sich aus einer längst überholten Familientradition heraus als »links« bezeichnet, ohne sich je eingehender mit Parteiprogrammen beschäftigt zu haben, um herauszufinden, welche Agenda ihm am ehesten entsprochen hätte – sicher, weil er ein Teenager war und nie geglaubt hätte, dass ihm irgendetwas aus der Erwachsenenwelt vollends entsprechen könnte. Nach drei Jahren der Straßenproteste an der Seite von Salma und den anderen verspürte er schließlich das Bedürfnis, sich in einem längeren, nicht bloß kurz aufflammenden Prozess zu engagieren, und da drängte sich die Bewegung Junger Sozialisten geradezu auf, die an der Sciences Po schon lange etabliert war. Antoine war voller Ungeduld, also nannte er sich Sozialist. Außerdem musste er zugeben, dass die Größe der Partei damals beruhigend auf ihn wirkte. Sie war wie seine Schule: eine Institution, bei der er Halt fand. Sie stand für ein Versprechen auf Beständigkeit, für eine gewisse Zahl garantierter Wahlsiege auf verschiedenen Ebenen (vor 2017, versteht sich). Wenn Antoine sich aber nun darauf einließ, sich ganz offiziell politisch zu engagieren (in der politischen Politik, wie Guillaume sagte, im Kapitalo-Parlamentarismus, wie Salma sagte), dann um an einer Macht teilzuhaben, die ihm anderweitig verwehrt blieb. Er würde nicht zum Schreiberling eines Politikers werden, der bloß versuchte, ins Zentrum der Macht vorzudringen. Er würde geradewegs in den Kreis derer vorstoßen, die etwas verändern konnten, auch wenn dieses Etwas sich längst nicht mit all seinen politischen Idealen deckte. Als parlamentarischer Assistent gehörte er einem Ganzen an, das sehr viel größer war als er selbst und daher auch sehr viel mächtiger. Er konnte an seinen Kräften zweifeln, feststellen, dass sie sich erschöpften, warten, bis sie zurückkehrten, ohne dass der politische Kampf dadurch unterbrochen wurde, denn er war nur eines von vielen Rädchen im Getriebe: Alles fand im großen Stil statt, und er staunte über die Dimensionen.

Auch durfte man nicht vergessen – so verteidigte Antoine sich stets, wenn jemand sein halbherziges Engagement kritisierte –, dass der Abgeordnete, als Antoine sich dem Kreis seiner jungen Mitarbeiter anschloss, in der Opposition gewesen war. Dort spiele sich alles ab, erklärte sein Arbeitgeber damals, weil man gegen die feindliche Regierung ankämpfen müsse. Antoine hatte das geglaubt. Ein Jahr lang kam es ihm so vor, als wären er und der Abgeordnete auf einer Wellenlänge; alle beide redeten sie wütend über Mehrheitsreformen und über die Steine, die diese Mehrheit jeglichem gesellschaftlichen Fortschritt in den Weg lege. Dann, im Frühjahr 2012, war Antoines Arbeitgeber selbst zum Abgeordneten der Mehrheit geworden. Nun erklärte er, dass sein Mandat eigentlich erst in dieser Situation interessant werde, weil die befreundete Regierung ihnen Türen öffne. Antoine hatte es glauben wollen; nach und nach hatte er seine Ansprüche heruntergeschraubt. Seit 2017 gehörte der Abgeordnete wieder zur Opposition, thematisierte nun aber überhaupt nicht mehr, was das für sein Handeln bedeutete. Antoine hätte ihm vielleicht auch gar nicht mehr zugehört. Manchmal träumte er, dass verlorene Illusionen Narben hinterließen. Wenn er sich zu Hause vor dem Spiegel das Hemd zuknöpfte, malte er sich einen völlig vernarbten Körper aus, den es unter dem himmelblauen Stoff und der Krawatte zu verbergen galt. Er war allerdings nicht vollkommen desillusioniert, denn ihm blieben, hier und da, einige freudige Erinnerungen, wie einzelne noch erhaltene Mauerreste. Mehrmals hatte er sich im Zentrum der Schlacht gefühlt: der Kampf gegen das System der Steuerhöchstgrenzen (im Juli 2011 zu Grabe getragen), das Gesetz zur »Ehe für alle« (im März 2013 erlassen), ein wenig hatte er sich sogar von der Aufregung um die UN-Klimakonferenz anstecken lassen (Dezember 2015 in Paris). Er musste gestehen, dass sich seither nur noch wenig tat, aber, so tröstete er sich, was einmal gewesen war, konnte wiederkehren.

Bis es so weit war, suchte Antoine sich seine Genugtuungen anderswo. Sie waren kleiner, bisweilen winzig. An manchen Tagen dachte er, ehe er ins Büro aufbrach, er lebe in einem Zeitalter, in dem schon der Verbleib in der PS seinen Arbeitgeber zu einem Linken mache. Zahlreich waren die Überläufer, die sich ein neues Etikett verpasst hatten, manche gleich mehrere auf einmal, wie Kleidungsstücke im Schlussverkauf, die zum zweiten oder dritten Mal heruntergesetzt wurden; ein Gestrüpp widersprüchlicher Informationen. Der Abgeordnete hatte seine Partei nicht verlassen. Vielleicht, so dachte Antoine, weil sie wie ein Keller für einen reifenden Wein oder wie ein wohltemperierter, sanft beleuchteter Museumssaal für ein alterndes Gemälde war, sprich: der einzige Ort, der eine sorgfältige Konservierung erlaubte. Wie dem auch sei, der Abgeordnete war Sozialist geblieben. Und der klägliche Zustand seiner Partei hatte seinem besonderen Charme nichts anhaben können, der sich laut Antoine der Fähigkeit verdankte, sowohl im Privaten als auch in der Öffentlichkeit stundenlang über so unterschiedliche Themen wie das Steuerwesen, autofiktionale Erzählformen oder die Tiefsee zu diskutieren, sowie der federnden Eleganz seiner Rede und dem ihm eigenen Talent, auch ohne zu lächeln stets liebenswert zu erscheinen.

Der Abgeordnete hatte eine lange, gerade Nase, extrem gerade, viel gerader, als bei einem menschlichen Gesicht zu erwarten. Da er eine Brille trug, deren oberer Rand dicker und ebenfalls schnurgerade war, erweckten die zwei sich rechtwinklig zwischen den Brauen kreuzenden Balken den Eindruck, sein Gesicht wäre ein Kruzifix. Manchmal, wenn niemand zuschaute, kritzelte Antoine dieses bekreuzte Gesicht auf die Seitenränder von Dokumenten, und er fragte sich, welche Züge unerlässlich waren, damit ein Porträt dem Dargestellten ähnelte. Würde er beispielsweise nur das Kreuz zeichnen, könnte man darin den Abgeordneten erkennen? Musste er das Oval des Gesichts ergänzen? Den Haaransatz, der von Jahr zu Jahr zurückwich und auf der Stirn zwei Geheimratsecken enthüllte? Den dunkelroten, fast schon braunen Mund? Da sich diese kleinen Kritzeleien im Laufe der Zeit mehrten, musste Antoine einsehen, dass der Abgeordnete einen wichtigen Platz in seinem Leben einnahm und dass er ihm – wenn er die hastig hingeworfenen Striche so betrachtete – sogar Zuneigung entgegenbrachte. Das war dem Abgeordneten selbstverständlich bewusst. Er erzählte seinen Kollegen in der Assemblée nationale gern, dass das von ihm beschäftigte Team eine Art Vaterfigur in ihm sehe, ganz ohne die in einer Familie vorgezeichneten Konflikte. Das stimmte nicht und würde niemals stimmen, egal wie oft er es wiederholte – es führte bloß dazu, dass die Behauptung zugleich falsch und vertraut klang. Bestenfalls spielte er die Rolle eines reichen, exzentrischen Onkels.

Gefangen in der Illusion einer väterlichen Machtweitergabe tat der Abgeordnete zudem gern so, als würde einer seiner Assistenten (sie waren vier, zwei in der Nationalversammlung und zwei in seinem Wahlkreis) eines Tages sein Mandat weiterführen; als müsste der Wahlvorgang die interne Entscheidung nur noch bestätigen. Vielleicht träumte Bertrand, der seine Stellung schon genauso lange innehatte wie Antoine, ebenfalls ein wenig davon, doch für die anderen kam so etwas nicht infrage. Personalwechsel war wichtig, auch wenn der Abgeordnete das nicht zu bemerken schien. Das galt im Übrigen nicht nur für sein Team, sondern war im Palais Bourbon, dem Sitz der Assemblée nationale, ein allgemeines Phänomen. Antoine und Bertrand hatten einige Eintagskollegen gekannt, die diesen oder jenen äußeren Verlockungen erlegen waren. Aufgrund einer erbitterten, starren politischen Loyalität sprach Bertrand ausschließlich mit Mitarbeitern der PS. Antoine hatte als Raucher dagegen Gelegenheit gehabt, im halb japanischen, halb neonfarbenen Garten der Rue de l’Université 101 kurze Unterhaltungen mit Assistenten anderer Parteien anzuknüpfen. Es herrschte ein gewisses Maß an Misstrauen, das den Austausch von Interna verhinderte, doch Träume vom Draußen teilte man zwischen zwei Zigarettenzügen umso leichter. Da war das Ausland, die große Fremde, mit ihren Sprachen und exotischen Bäumen, ihren Gassen in untergehender Sonne und den vom Euro so verschiedenen Währungen, dass sie wie Spielgeld wirkten. Da war die freie Wirtschaft, mit ihrem Versprechen auf Reichtum und wiederum auf Fremde. Da waren höhere Ämter. Und für andere waren da diese paar magischen Worte, das Gras, das in Nachbars Garten immer so viel grüner ist, jenes authentische Gras, neben dem kein anderes Gras das Recht haben dürfte, sich Gras zu nennen: Es war die Rückkehr in die »echte Welt«, die für den einen das Schrauben an alten Autos bedeutete, für den anderen die Eröffnung eines Restaurants oder eines Reisebüros für Ökotourismus, und manche gingen wirklich, nachdem sie es monatelang angekündigt, aber keinerlei Anstalten dazu gemacht hatten, und dann waren sie fort, und auf ihrer Facebook-Seite erschien plötzlich ein Firmenlogo, die Auslage eines kleinen Geschäfts, ein Landhaus.

Antoine wollte keine Rückkehr in die »echte Welt«, die für ihn »Eltern« oder »Côtes-d’Armor« hieße, und immer, wenn ihm die Assemblée allzu sehr zu schaffen machte, träumte er davon, Schriftsteller zu werden. Er hielt es für besser, nicht davon zu sprechen, solange er nichts veröffentlicht hatte. Es wäre ihm zu peinlich gewesen, zu denen zu gehören, die bloß im stillen Kämmerlein schrieben, ihr Schreiben aber laut hinausposaunten. Jene, die schreiben und nicht veröffentlicht werden, aber von einer Veröffentlichung träumen, stehen auf unterster Stufe. Jene, die schreiben und gar nicht veröffentlicht werden wollen, verfügen über einen gewissen Charme, und sei es nur der ihnen zugeschriebenen krankhaften Schüchternheit wegen. Und jene, die von einer Veröffentlichung träumen, aber gar nicht schreiben, sind durch den Widersinn ihres Unterfangens auf der sicheren Seite.

Die Reden, die Antoine für seinen Arbeitgeber anfertigte, befriedigten seinen Wunsch zu schreiben ganz und gar nicht. Unter sich nannten die Assistenten diese Reden »Märtyrer«, weil sie ahnten, was der Abgeordnete ihnen bei seinen Wortmeldungen im Plenarsaal antun würde. Im Grunde waren es gar keine Reden mehr, sondern beliebig umzustellende und frei kombinierbare Satzblöcke, gespickt mit Auszügen aus Archiv- und Fremdmaterial (»10 Prozent Jaurès, 90 Prozent Wikipedia«, hatte Bertrand es eines Tages zusammengefasst, als er die vom Drucker ausgespuckten Seiten überflog). Zugegeben, Antoine hatte noch nie so viel geschrieben wie in seiner Zeit als parlamentarischer Assistent, aber er stellte fest, dass die schiere Menge ihn eher frustrierte als freute. Er wollte nicht schreiben – er war schließlich kein – na was? – Grafomane, es interessierte ihn kein bisschen, Brief nach Brief auszuspucken und Wörter zu zählen –, er wollte ein großes Werk hervorgebracht haben. Oft träumte er davon, nur noch in Teilzeit zu arbeiten, um sich diesem Projekt endlich widmen zu können, obwohl er wusste, dass er mit einem halben Gehalt niemals über die Runden käme. Er hatte weder Ersparnisse noch reiche Eltern, und auch wenn niemand das mehr bedauerte als er selbst, war er der Ansicht, dass die Zeit der Schriftsteller vorbei war, die Meisterwerke zuwege brachten, während sie mit ihrem Vermieter Versteck spielten, um sich um die Mietzahlungen zu drücken, oder sich eine Mahlzeit beim Cafébesitzer um die Ecke erbettelten. Antoine verdiente zweitausend Euro im Monat, von denen tausend für seine Miete draufgingen (Nebenkosten inbegriffen), vierhundert für Lebensmittel, achtzig für Telefon- und Internetvertrag, zwanzig für sein ungenutztes Kino-Abo, und der Rest war nicht eindeutig festgelegt (beziehungsweise variabel), allerdings kaum ausreichend. Um mit weniger auszukommen, hätte er Paris verlassen müssen, und das lehnte er rundweg ab. Auch über zehn Jahre nach seiner Ankunft in der Hauptstadt staunte er noch immer, dass er hier leben konnte, und darüber, wofür die Stadt stand.

Da Teilzeit nicht infrage kam, versuchte er seit Kurzem, seine Abende und Wochenenden, seine Urlaubszeiten und manchmal auch die frühen Morgenstunden so zu organisieren, dass er Zeit zum Schreiben fand. Er hoffte, die derart gewonnenen Stunden würden es ihm erlauben, sein Vorhaben zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, doch Woche für Woche stellte er fest, dass er nicht vorankam. Jene Stunden waren nur theoretisch gewonnene Zeit, sie gingen größtenteils wieder verloren, als würden sie zwischen die Ritzen seines Parketts oder hinter den Schreibtisch fallen. Antoine verpasste Partys, die er sich ganz wunderbar ausmalte, schlug Einladungen seiner Eltern aus und gähnte am Schreibtisch, ohne auch nur ein einziges Kapitel vorweisen zu können, um sein Fortbleiben oder seine Müdigkeit zu adeln. Irgendetwas muss sich ändern, sagte er sich im Herbst 2019 wiederholt und war unsicher, ob der Satz sich nicht eher auf seine Wünsche als auf den Zustand der Welt bezog. Irgendetwas muss sich ändern.

L betrachtete die Welt als Wohngemeinschaft zweier unterschiedlicher Raumzeiten, die sie das Drinnen und das Draußen nannte und die – ihr zufolge – durch das Drücken der Power-Taste klar voneinander getrennt waren. Diese Unterteilung war ihr als Jugendliche bewusst geworden; damals lebte sie mit ihrer Mutter in einem Vorort weit außerhalb, wo die kleinen Häuser sich offenbar nicht zwischen Land und Stadt entscheiden konnten, in einer Grauzone existierten, die weder das eine noch das andere war. Falls es in ihrem Leben irgendwann einmal einen Vater gegeben hatte, war er nicht mehr da, hatte kein Bild von sich zurückgelassen, das im Wohnzimmer herumgestanden hätte, und die zwei Frauen redeten nicht über ihn. Das Einzige, was er ihnen hinterlassen hatte, war sein Name, und L sah das keineswegs als Geschenk. Nicht einem Lehrer oder Arbeitgeber war es gelungen, den Wust aus Konsonanten beim ersten Lesen fehlerfrei auszusprechen. Wenn sie ihn schon niemals kennenlernen sollte, wäre es L lieber gewesen, ihr Vater hätte sie ebenso wenig erkennen können.

Aus ihrer Kindheit blieben ihr nur wenige Erinnerungen, oder zumindest dachte L nur selten an sie zurück. Manchmal waren da gewisse Gerüche, etwa die Hände ihrer Mutter, die von jedem Tag eine Geruchserinnerung zurückzubehalten schienen und mal nach Reinigungsmittel und Scheuerschwamm, mal nach Fisch und Gewürzen oder auch nach Zigarette rochen, sodass, wenn sie L zudecken kam, in dem Bett, wo das kleine Mädchen eingeschlafen war, ohne auf die Mutter zu warten, ganz ungewohnte Gerüche auf es einströmten, so stark, dass es davon erwachte. »Wie spät ist es?«, murmelte dann die fünf-, sechs-, sieben-, achtjährige L. »Zu spät«, antwortete ihre Mutter mit den berauschenden Händen jedes Mal. Ihre Kindheit war eigentlich völlig uninteressant gewesen. In Ls persönlichem Kalender hatte ihr Leben begonnen, als ein alter Computer ins Haus kam, in dem Jahr, als L vierzehn wurde.

Als L trotz wiederholt drohenden Sitzenbleibens schließlich die Schule abgeschlossen hatte, verfügte sie über beliebig viel Zeit, um das im Wohnzimmer angelandete Gerät zu zerlegen. Eine alleinerziehende Mutter mit weit entferntem Arbeitsplatz garantierte ihr eine gewisse Ungestörtheit. L hätte das ausnutzen können, um mit ihren Freunden lange auszubleiben, in dem leeren, kleinen Haus Wodka aus der Flasche zu trinken, irgendwelche Typen einzuladen und davon zu profitieren, dass sie einen Ort zum Vögeln hatten – was genug gewesen wäre, diese Typen vergessen zu lassen, dass ihr großer, magerer Körper sie weniger begehrenswert machte als andere, wie sie fand –, L hätte traurig sein, Geschwister verlangen, fernsehen, mit dem Boxen anfangen oder sich vorgekrümmt voller Sorgfalt die Nägel lackieren können, aber L hatte einen Computer, und das reichte ihr als Zeitvertreib. Alles hatte mit einer Geistergeschichte angefangen: der Geschichte eines Druckers. Ein Phantomdrucker hatte den echten Drucker an dessen Arbeit gehindert, und L musste überall hinklicken, musste jedes Menü öffnen, um das Phantom schließlich auszutreiben. Diese Jagd hatte sie erregt, ihr den Eintritt in ein ungeahntes Labyrinth eröffnet, und in den Folgewochen hatte sie es immer wieder versucht, sich jedes Mal weiter vorgewagt. Wenn ihre Mutter nach Hause kam, immer »zu spät«, immer in eine Geruchswolke gehüllt, gab es niemanden mehr, den man zudecken musste, keine schlaftrunkenen Fragen. L saß vor dem Computer, die Schultasche zu Füßen, und es bedurfte langer Verhandlungen, häufig auch Drohungen, um sie von dort zu verscheuchen. Sie war ins Drinnen abgeglitten.

Das Drinnen war frei, unbestimmt und riesig; es gab Mauern, Trennwände aus Zahlen, die unvermittelt dunkle, fließende Boulevards versperrten, welche L auf Fingerspitzen hinabeilte, doch da sie sich ständig an den Zeilen aus Programmiercode stieß, hatte sie gelernt, dass diese Wände sich auflösen, zersplittern oder aufgleiten konnten. Das Draußen gehörte schon zu lange anderen, als dass L dort ihren Platz gefunden hätte, niemand wusste mehr, wer es ersonnen hatte oder wie all die Grenzen gezogen worden waren, die ihr den Aufstieg erschwerten. L begab sich trotzdem weiter dorthin, wie sie sich von einem Felsvorsprung in ein Gewässer gestürzt hätte, mit starrsinnigem Mut, voller Übelkeit. Doch sobald ihre Verpflichtungen endeten, ringelte sie sich wieder im Drinnen ein.

Dort war sie zu Beginn der 2000er-Jahre auf ihresgleichen gestoßen. Es gab Reddit, es gab 4chan, und sie hatte Stunden auf dem /b/ verbracht und mit Fremden alberne oder abstoßende Bilder ausgetauscht, die sie alle miteinander verbanden, egal wo sie vor ihren Rechnern saßen: Fotos von Fettleibigen im Mini-String, Zeichnungen pädophiler Bärchen, religiöse Ikonen, in denen Jesus durch einen Velociraptor ersetzt worden war, die weiße Katze Longcat, deren Körper so unglaublich laaaaaaaaaang war, und Tacgnol, ihr finsterer Zwilling … »Ich verstehe nicht, was du daran so lustig findest«, sagte Ls Mutter manchmal, wenn sie hinter ihr auftauchte, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Natürlich verstand sie es nicht. Sie hatten eine gemeinsame Sprache aus Witzen und Anspielungen entwickelt, die nur ihnen gehörte, und sie hatten dieser Sprache einen Namen gegeben, diesem Konglomerat aus Bildern, Witzen, Verweisen und Phonemen; sie hatten es lulz genannt. L fühlte sich bei ihnen am richtigen Ort. Die meisten Mitglieder jener Foren waren Jugendliche wie sie, die sich langweilten oder ein Draußen nur in Form von Spott und Drangsalierung kannten, Teenager, die wussten, dass sie überhaupt keine Chance hatten, in der Fleischosphäre irgendetwas zu erreichen, die sich im Internet jedoch eine Macht zurückeroberten, die ihnen anderswo versagt blieb. Mit jedem digitalen Lachkrampf besetzte L ein wenig mehr von dem, was sie als ihr Territorium betrachtete, ein Zipfelchen Welt, das sie mit einer Handvoll Leuten teilte, die ihr ähnelten, weil sie allesamt gesichtslos waren. Wenn sie sich über die Tasten beugte, hatte sie den angespannten, lastenden Körper eines Thelonious Monk am Klavier. Sie gehörte nicht zu jenen Körpern, die von ganz jungen Jahren an durch Fingerübungen an der Tastatur geformt worden waren. Sie war ein Mädchen aus dem Draußen, dessen ganze Gestalt danach schrie, ins Drinnen einzutreten und darin zu verschwinden, ganz und gar, eine gedrückte Taste nach der anderen, jede mit einer anderen Intensität, aber der immer gleichen Ernsthaftigkeit, und L senkte den Finger, als zwänge sie etwas mit dem Brecheisen auseinander, jetzt macht schon die Türen weiter auf, verdammt noch mal.

Im Laufe der Jahre, während sie ständig zwischen Drinnen und Draußen hin- und hergewechselt war, hatte L sich verändert, und dann und wann entdeckte sie ein weißes Haar in der schwarzen Masse, die der Zigarettenrauch spröde gemacht hatte. L hatte sich verändert, aber im Drinnen konnte das niemand sehen. Die wenigen Fotos, die es dort von ihr gab, stammten aus einer Zeit, als sie sich noch nicht genug Gedanken über das Drinnen gemacht oder es ganz einfach nicht genug beherrscht hatte, um zu verhindern, dass Bilder sich dort festsetzten. Sie hätte sie löschen können, doch anders, als die Leute aus dem Draußen dachten, hinterließen Einbrüche ins Drinnen ebenfalls ihre Spuren, Fingerabdrücke zwischen den Zeilen, die sie hätten verraten können, sie aber wollte sich ohne jede Fährte fortbewegen. Sie ließ also zu, dass die Fotos an einigen verschlafenen Schnittpunkten der Datenautobahn existierten und logen. Sie hatte nicht mehr das weiche, rundliche Gesicht von früher oder die Brille, die ihr ein gelehriges Aussehen verlieh, und auch nicht mehr die Hoodies, deren aufgedruckte Botschaften ihrer Brille widersprachen.

L war im Drinnen eine alte Häsin, sie war kein Kind des 21. Jahrhunderts, gehörte nicht zu jenen, die das World Wide Web bloß als dicht verschränktes Autobahnnetz kannten, auf dem man mit unmenschlicher Geschwindigkeit dahinrasen konnte. Sie hatte noch das piepsende, knackende Warten der Modems vor dem Verbinden erlebt und war sich bewusst, dass Signale sehr weit gesendet wurden, in fremder und durch die zu ihr dringenden Geräusche schlecht übersetzter Gestalt, Signale, auf die sie keinerlei Einfluss hatte und die unterwegs verloren gehen konnten. Anhand dieser Wartezeit vermaß L den riesigen unsichtbaren Raum, den die Signale durchquerten, sie dachte an die Satelliten rund um den Erdball, die ihnen langsam kreisend als Vermittler dienten und trotz ihrer orbitalen Ruhe ebenfalls weder unfehlbar noch ewig waren. L hatte die Angst gekannt, dass nichts geschehen und der Computer in striktem Solipsismus verharren würde. Sie hatte das Internet bereits zu einer Zeit gekannt, als es noch endlich erscheinen konnte, wie eine Insel, die man an einem Tag mit Trippelschritten umrunden kann. L hatte auf Fotos geklickt, die zehn Minuten lang Streifen für Streifen geladen wurden. Man konnte auf die Toilette gehen, sich eine Cola holen und wiederkommen, ohne etwas zu verpassen. Damals suchte L vor allem nach Mangazeichnungen von Fans wie ihr selbst, sie hatte alle Zeit der Welt, die überaus muskulösen Arme, die dreieckigen Haarsträhnen und mit Kabeln verschlungenen Tentakel auftauchen zu sehen. Sie hatte es nicht eilig, ihr gefiel das sogar. Doch später würde L an all die denken, die damals mit dem Onlinekonsum von Pornos angefangen hatten. Sie würde sich fragen, ob sie bereits mit dem Wichsen begannen, wenn erst der obere Teil eines Fotos zu sehen war – Haare und vielleicht ein Stirnansatz, sofern das Modell eine klassische, vertikale Pose einnahm, aber manchmal sicher auch weniger klar zu identifizierende Dinge wie ein Knie oder vielleicht ein Ellenbogen. Es musste Tausende Teenager gegeben haben, die zum Essen gerufen wurden, noch bevor sie einen Blick auf ein wenig Titte, Möse oder Schwanz erhascht hatten. Das Begehren besaß eine andere Zeitlichkeit, war ein allen auferlegtes, schmerzhaft langsames Entblättern. Wenn der gesamte Bildschirm sich nur durch die Berührung ihres Fingers zu drehen schien, kam L sich alt vor. Sie liebte diese Momente, wenn ein Verbindungsfehler Facebook daran hinderte, Fotos zu laden, und nur hypothetische Bildunterschriften zuließ, die L von beunruhigender Poesie erschienen.

Dieses Bild zeigt vielleicht einen Garten, ein Lächeln, eine Brille.

Dieses Bild zeigt vielleicht Menschen, eine Landschaft, Stühle.

Diese Schwächen würden bald beseitigt sein, das war L klar, und sie gekannt zu haben stellte daher einen ebenso sicheren Altersmarker dar wie eine Radiokarbondatierung.

Vorläufig ließ sich Ls Dienstalter vor allem an der Liste von Schlachten ablesen, an denen sie teilgenommen hatte und die, für die Neuen, nichts als Namen und Daten waren, die ihnen kein einziges Geschichtsbuch nahebrachte, sondern die sie sich untereinander zuflüsterten, voll Freude darüber, sich ihre Vorfahren selbst aussuchen zu können. Mitte der Nullerjahre lebte L sehr viel mehr im Internet als in der Schule oder auf Familientreffen, zwei bedeutungslosen Zusammenkünften, bei denen man sie andauernd fragte, was sie später einmal werden wolle, während man ihr nichts als verkorkste Lebensbausteine anbot, die sie erstrebenswert finden sollte. »Später« interessierte sie nicht, sie entwarf sich nicht in die Zukunft, sondern betätigte sich auf einem riesigen Gebiet, von dessen Existenz die Erwachsenen um sie her keine Ahnung zu haben schienen. Im Jahr 2006, als dieses Gebiet bedroht wurde, beobachtete L fasziniert, wie das Volk des Drinnen sich in eine Armee verwandelte, um sein Territorium zu verteidigen, eine Armee, deren Angehörige für sich beanspruchten, nichts zu besitzen, was sie ans Draußen band, insbesondere keine Namen, eine Armee aus Anonymen, die sich mit einem Video vorgestellt hatte, schön und bedrohlich wie Metall, in dem eine Computerstimme deklamierte:

We are legion / we do not forgive / we do not forget / Expect us.

Das war die Geburtsstunde von Anonymous, direkt vor Ls Augen, in den Foren, in denen sie all ihre Nächte zubrachte. Und ganz wie es das lulz verlangte, war alles Teil eines verqueren Witzes. Die Scientologen wollten ein Video von Tom Cruise von mehreren Forumsseiten verschwinden lassen, in dem er einen peinlichen Bekehrungseifer an den Tag legte (unterbrochen von noch peinlicheren schrillen Lachern). In den von Anwälten versandten Abmahnungen und der Geschwindigkeit, mit der die Websites sich fügten, sahen diejenigen, die zu Anons werden sollten, eine unerträgliche Zensur. Sie liebten dieses Video, es brachte sie zum Lachen, sie wollten es immer wieder ansehen. Also posteten sie es von Neuem in alle möglichen verborgenen Winkel des Drinnen. Als die Anwälte sie ihrerseits ins Visier nahmen, riefen einige zu massivem Widerstand gegen die Scientology-Kirche auf (Deckname: Projekt Chanology). L hatte den Aufruf zu ihrer großen Schande nicht beachtet. Die Scientology-Kirche war kein Feind, der ihre Besorgnis weckte, vermutlich, weil er zu amerikanisch war, zu weit weg. Von ferne hatte sie die Aktionen ihrer Sippe mitverfolgt, wie eine Fernsehserie, in der Freunde von ihr mitspielten; sie verpasste keine einzige Folge, war allerdings der Ansicht, dass die unvorhergesehenen Wendungen in einem Paralleluniversum stattfanden, in einer Fantasiewelt. Einige Jahre später würde sie sich das mit stetig wachsendem Ärger vorwerfen: Sie hatte die Chance gehabt, an etwas mitzuwirken, das ihr zufolge eines der wichtigsten Ereignisse des neuen Jahrhunderts war, und sie war ein bloßer Zaungast geblieben.

Für L überschlug sich alles im Sommer 2010. Sie war gerade zweiundzwanzig geworden. Ihre letzten Versuche, der Welt des Draußen noch eine Chance zu geben (denn L hatte gehofft, das Erwachsensein könnte etwas verändern), waren eine Abfolge von Partys gewesen, auf denen weder der Alkohol noch die Musik je stark genug waren, ihr Gehirn in Offline-Modus zu versetzen. Allerdings hatten diese Partys ausgereicht, um L wegen unentschuldigten Fehlens aus ihrem Fachhochschulstudium fliegen zu lassen. Sie hatte ihre Mutter drei Monate lang angelogen und so getan, als ginge sie weiterhin zu den Kursen, und dann, als sie das Auslaufen der Studienbeihilfe nicht länger verheimlichen konnte, hatte sie noch ein paar Monate länger gelogen und behauptet, auf ein anderes Studienfach umzusatteln. »Zeig mir die Immatrikulationsbescheinigung, na los, zeig sie mir!«, hatte ihre Mutter schließlich gefordert. Es hatte neuerliche Auseinandersetzungen und Drohungen gegeben, noch zahlreicher als bei Ankunft des Computers, denn dieses Mal hatte Ls Mutter ein paar Verwandte herbeizitiert, die sie bei ihrem Vorhaben unterstützen sollten, »ihre Tochter wieder auf den richtigen Weg zu bringen«. L hatte sich die Standpauke von Tante Baya angehört, Tante Melikas Versuche, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, und Tante Faizas Verteidigungsrede, weil sie doch immerhin keinen Vater hatte, die Kleine, da musste man ja Löcher im Hirn kriegen. Am Ende eines jeden Satzes hatte L genickt, ob er nun geschrien, geheult oder geschnaubt war, aber das war auch alles. Schließlich hatte ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt, in der Hoffnung, einen heilsamen Schrecken hervorzurufen, der nicht eingetreten war. Im Sommer 2010 drückte die Gluthitze schwer auf die kleine Pariser Einzimmerwohnung, in der L dank einer Verkettung entfernter Bekanntschaften zur Untermiete wohnte oder eher zur Unteruntermiete. Der Ort war eine Art schwebende Höhle im obersten Stockwerk eines Gebäudes an der Avenue de Flandre. Entlang der großen Verkehrsachse bildeten bunt zusammengewürfelte Bauten (Kapselhaus, Lichtschwerthaus, pseudoimperiales Haus) eine flimmernde Wolke in der gesättigten Luft, doch L nahm kaum wahr, was draußen vor sich ging: Das Drinnen brannte noch heißer als der Sommer mit seinen immer extremeren, orangeroten Hitzewarnungen. WikiLeaks hatte gerade gemeinsam mit mehreren großen internationalen Zeitungen über neunzigtausend Dokumente des amerikanischen Militärs zum Afghanistankrieg öffentlich gemacht. Es war der 25. Juli. Ls August war mit der Prüfung der Dokumente und den Debatten um Julian Assange dahingeschmolzen – die sich ebenso sehr mit dessen politischer Vergangenheit wie mit dessen Haarfarbe beschäftigten. Sie arbeitete damals in einem Lokal am Ufer des Ourcq-Kanals, erinnerte sich jedoch an den Namen keiner einzigen Kollegin und konnte sich auch nicht an die Gesichter der Gäste erinnern, nicht die geringste Anekdote erzählen, die sich draußen auf der Terrasse zwischen den gestreiften Sonnenschirmen zugetragen hätte. Hingegen erinnerte L sich ganz genau, dass sie in jenem Sommer ihren ersten Streit mit Elias gehabt hatte, der nicht Elias hieß und Elias kein bisschen ähnelte. L hatte in einem Gruppenchat geschrieben, dass Assange ein Held sei, und Elias warf ihr daraufhin vor, sich dem Personenkult hinzugeben. Sie begannen eine private Unterhaltung, und trotz einiger unvermeidlicher Stunden der Funkstille, weil sie arbeiten oder schlafen mussten, war es in Ls Augen ein ununterbrochener Dialog gewesen, bis Elias ein Jahr später bei ihr einzog.

Im Oktober 2010 hatte WikiLeaks es wieder getan und an die vierhunderttausend Geheimdokumente über den Irakkrieg veröffentlicht. Hinter dem Tarnanstrich, den die amerikanische Regierung dem Konflikt verpasst hatte, traten die getöteten Zivilisten hervor, die Folterungen, die Kollateralschäden, diese so schrecklich kalte Bezeichnung, dass sie nicht einmal mehr Euphemismus, sondern Lüge war. Im November hatte die Website schließlich eine nicht weniger beeindruckende Menge an Depeschen aus Außenministerium, Botschaften und Konsulaten der Vereinigten Staaten vorgelegt. Die amerikanische Regierung war außer sich – Elias und L schickten sich Videos rotgesichtiger congressmen wie Leckerbissen zu –, doch die amerikanische Regierung war auch machtlos, also sandte sie ihren Zorn ohne bestimmtes Ziel in die Welt. Auf Bitten mehrerer politischer Persönlichkeiten verweigerten einige Unternehmen WikiLeaks den Zugriff auf ihre Dienste: Amazon, Visa, Mastercard, PayPal … Da Julian Assanges Plattform gerichtlich keinerlei Verbrechen für schuldig befunden war, waren diese Firmen zu solcherlei Maßnahmen gesetzlich nicht verpflichtet, sie handelten in vorauseilendem Gehorsam. Sogar Elias, der Assange keinen Heldenrang zugestehen wollte, erkannte an, dass die USA einen Märtyrer aus ihm gemacht hatten.

Als die Anonymen eine Aktion aufzogen, um PayPal abzustrafen, war L mit der Wahl dieses neuen Feindes vollkommen einverstanden gewesen, und sie hatte mit ihnen und unter ihnen gekämpft, war mit den unsichtbaren Schlachtreihen verschmolzen. Das Heer bestand aus zwei Gruppen mit teils durchlässigen Trennlinien: den Ops (zuständig für Operationen) und den Props (zuständig für Propaganda). Unter den Props befanden sich Kunst- und Philosophiestudentinnen, Grafiker, Ästhetinnen und Intellektuelle, die eine Handvoll Designprogramme meisterhaft beherrschten und stets wussten, wie man seine Angriffe rechtfertigen musste, falls es von ihnen gefordert wurde (»Für euch ist es Piraterie. Für uns ist es Freiheit«). Ihr Problem war, dass sie noch nie programmiert hatten. Unter den Ops wiederum gab es – so sagte sich L – Fälle geradezu deprimierender Legasthenie. Oder es waren Ausländer. Oder den Leuten fehlten ein paar Finger. Man würde es nie herausfinden. Jedenfalls war es scheißschwer, sie zu verstehen. Arbeitsteilung war bei den Anons eine Notwendigkeit. Man brauchte die Props, um der Draußenwelt die Aktionen zu präsentieren und so neue Mitglieder zu werben: Sie drehten Videoclips, sie schrieben Texte, die man groß über verunstaltete Websites pappte. Die Ops dagegen … Wenn man L fragte, machten die Ops die echte Arbeit. Bestimmte Chaträume waren ihnen daher vorbehalten. Um hineinzugelangen, musste man in einer vorgegebenen Zeit drei fachliche Fragen beantworten. L hatte eine Panikattacke bekommen, bevor sie es versuchte; Atemlosigkeit, Angstschweiß, Ohrensausen. L hasste es, wenn man ihr direkte Fragen stellte (das hatte ihr bei den Bewerbungsgesprächen nach Abbruch ihres Studiums beträchtlich geschadet). Doch diesmal antwortete sie richtig, obwohl ihr Herz mit hunderttausend Schlägen pro Minute hämmerte. Sie hatte einen Raum der Ops betreten, sie hatten sich über mögliche Strategien ausgetauscht, verschiedene Vorgehensweisen diskutiert, niemand wurde sich mit dem anderen einig (einig wurde man sich niemals, Anonym, nicht angepasst, lautete einer ihrer Wahlsprüche), und doch hatten sie, sehr rasch, PayPal angegriffen (Deckname: Operation Payback). Damals nutzten sie noch die LOIC (low orbit ion cannon oder »Ionenkanone in niedriger Umlaufbahn«), um eine Website lahmzulegen. Dank dieser Anwendung konnten sich auch jene an den Angriffen beteiligen, die keine einschlägigen Informatikkenntnisse hatten: Sie mussten einfach nur die Internetadresse des Angriffsziels eingeben. Während der Operation Payback war die LOIC 116 988-mal heruntergeladen worden, und wenn L den Zeiten der anonymen Armee nachtrauerte, dann dachte sie an genau das: an die Dimension stiller Mobilmachung dieser Untiefen hinter den bläulichen Bildschirmen, Ende 2010. Zu den Freiwilligen kamen all jene hinzu, die gewaltsam, ohne ihr Wissen, eingespannt worden waren und deren Rechner sich den von L gelenkten Herden anschlossen. Bei jedem Zombierechner, den sie infizierte, sagte sich L, dass Elias in einem anderen Land, dessen Namen sie noch nicht kannte, das Gleiche tat. L wusste das, und er wusste das. Sie waren beide Hirten, Generäle und vollendete Anonyme. L war beinahe trunken vor Freude, und ihr schwirrte der Kopf, wenn sie sich völlig erschöpft aufs Bett fallen ließ.

Am 8. Dezember waren die Seiten von Mastercard und Visa vorübergehend außer Betrieb gegangen. Am 9. kündigte PayPal seine Absicht an, das für WikiLeaks bestimmte Geld wieder freizugeben. Elias schlug vor, nach Paris zu kommen und mit L den Sieg zu feiern. Sie hatten sich in jenem Winter erstmals in real life getroffen, und als L feststellte, dass Elias keine Ähnlichkeit mit Elias hatte, begriff sie, dass man das Fleisch nur schwer vollends ausblenden konnte – sie hatte sich den Körper eines Wesens aus Programmcode vorgestellt, und ein solches Wesen stand nicht vor ihr. In diesen zwei Tagen passierte nichts zwischen ihnen. Sie hatten geglaubt, dass nichts passierte.

Zwei Wochen später wurde im Morgengrauen eine winzige Randgruppe von Teilnehmern an der Operation Payback in den USA vom FBI und in England vom MI6 verhaftet. L blieb in ihrem Pariser Schlupfwinkel unbehelligt. Dennoch zitterte sie in ihrer kleinen Wohnung und ließ Tag und Nacht die Fensterläden geschlossen. Die alten Chaträume waren verwaist. Die neuen füllten sich mit rechtlichen Pseudoratschlägen und Vergeltungsakten. In den ruhigen Momenten verbreiteten einige Anons die relevanten Informationen. In den Vereinigten Staaten waren etwa fünfzehn Mitglieder der Operation des »Vandalismus« und der »Verschwörung zur Beschädigung eines geschützten Computersystems« angeklagt worden, Verbrechen, für die man zusammengenommen bis zu fünfzehn Jahre Haft und 250 000 Dollar Geldstrafe bekommen konnte. PayPal forderte über fünfeinhalb Millionen »Entschädigung« von ihnen.

In all der Panik zertrümmerte L ihre Festplatte mit dem Hammer und steckte die Bruchstücke dann in die Mikrowelle. Anschließend wechselte sie ihren Internetanbieter, ihren Computer und – da diese die Sache nicht überlebt hatte – ihre Mikrowelle. Um die neue Ausrüstung bezahlen zu können, jobbte sie bei Zara in einer Uniform, die sie Elias gegenüber als »halb Sportlehrerin, halb Beerdigungsgast« beschrieb und deren Nähte ihre Haut reizten und längliche Flecken roten Ausschlags hinterließen. Es war eine seltsame Zeit gewesen. L hasste das Draußen ebenso sehr wie das Drinnen. Draußen legte sie Klamotten zusammen und ertrug die Bemerkungen ihrer Kolleginnen. Drinnen hielt sie bloß noch Wache, oder fast, da sie eine Verhaftung fürchtete: Sie lauerte auf das Auftauchen von kleinen Tyrannen, Beschneidern der Freiheit, doch sie wagte es nicht mehr, sie anzugreifen. L hatte das Gefühl, dass man die Welt in den Pausenmodus versetzt und das Standbild eine schlechte Auflösung hatte. Dennoch: Am Ende jener vernebelten Monate, im Frühjahr 2011, zog Elias bei ihr ein.

Er kam nur mit einem Rucksack, als hätte er ihrer Wohnung, im Bewusstsein des begrenzten Platzes, nichts weiter als seinen Körper hinzufügen wollen. Dann begann er, ganz behutsam, den Balkon zu beleben, stellte eine Reihe mehr oder minder struppiger Pflanzen auf, die er in seinem Anfängerfranzösisch als »Bäume« bezeichnete. Zuletzt unternahm er eine Reise nach Berlin, um den Großteil seiner Habe zu holen, und seine Rückkehr ähnelte einer langen Partie Tetris. Elias stellte elektronische Musikinstrumente her, zierliche Kästchen mit noch zierlicheren, darin installierten Programmen. Er hatte sein Material hinten in einen Kleintransporter gestapelt, in einem Heer von Kisten und Kartons, die Ls Wohnung niemals würde aufnehmen können. Sie hatten sich nie deswegen gezofft, ihr logistischer Alltag verlief gelassen. Ein unbeteiligter Beobachter hätte das Adjektiv »gelassen« vielleicht nicht gewählt, denn L funktionierte mithilfe einer heftigen Mischung aus Kaffee, Zigaretten und Aufputschmitteln, während Elias die exotischere Kombination aus Mate und Ritalin bevorzugte, doch ihre Rhythmen waren in perfektem Einklang. Sie schliefen, wie sie aßen, urplötzlich und exzessiv, sobald sie eines dieser Bedürfnisse nicht länger ignorieren konnten. Und auf dieselbe Weise liebten sie sich auch, wenn die anhaltende körperliche Nähe des anderen im eigenen Körper, überall auf der Haut, schließlich einen störenden Schauer verursachte, der gestillt werden wollte. Während der übrigen Stunden im Draußen hörten sie auf dem Bett liegend Noise oder guckten Tierdokus. So hatten sie acht Jahre verbracht, ohne dass einer die Art, wie der andere das Draußen bewohnte, je kritisiert hätte. Nur wenn sie über das Drinnen diskutierten, wurden ihre Stimmen schneidend, und die Sprachen gerieten durcheinander, zerhacktes Englisch, Französisch und Deutsch in dem Verlangen, dem anderen zu beweisen, dass er im Unrecht war. Elias war bei L eingezogen, gerade als sich ihre Vorgehensweisen voneinander zu entfernen begannen, und manchmal dachte sie, dass er zu spät gekommen war. Nach der Operation Payback hatte L nicht mehr an Aktionen der anonymen Armee teilgenommen. Sie war nicht bei OpTunisia dabei gewesen, als das Land sich Anfang Januar 2011 erhob. Die anderen griffen ohne sie eine Regierung an, zum ersten Mal seit der Geburt von Anonymous. We are the angry avatar of free speech. Als Elias bei ihr einzog, waren das die ersten Dinge, die er ihr erzählte: defekte Seiten der tunesischen Regierung, die kläglich im Netz herumdümpelten, der Versand von Datenpaketen an Demonstranten zur Anonymisierung, damit sie der Cyberüberwachung des Regimes entgehen konnten. L war blass geworden vor Neid, doch sie hatte weiter für sich allein gearbeitet. Sie wollte nicht länger bei Aktionen mitmachen, die Hunderte, wenn nicht Tausende Beteiligte erforderten. Sie wollte keine Botnets mehr nutzen und auch keine Zombierechner mehr einspannen müssen. Vor allem hatte L begriffen, dass der verlängerte Arm des Gesetzes von nun an geduldig das Internet durchforsten würde und man sich darauf einstellen musste. Also agierte sie an den Rändern; es war schwer zu sagen, ob ihr Handeln nun illegal war oder nicht. L hatte sich zwanghaft und enthusiastisch dem Doxing verschrieben und empfand ein diebisches Vergnügen dabei, private Informationen ihrer Feinde offenzulegen (Sozialversicherungsnummer, Adresse, Privatfotos, Telefonnummer). Das Doxing stellte eine rechtliche Grauzone dar, denn der Großteil der von L auf verschiedenen Fake-Profilen auf ausländischen Servern veröffentlichten Informationen war bereits auf ungeschützten Websites zu finden. Man musste gar nicht hacken, sondern nur wissen, wo man zu suchen hatte, und seine Funde dann zusammenstellen; Doxing nutzte auf heimtückische Weise das Gedächtnis des Internets aus. L hatte ihre Lieblingsziele, handelte nie wahllos: Sie doxte die Faschosphäre, die im Innersten des Netzes still und heimlich ihre Metastasen streute, um dann im Rudel aus den Untiefen hervorzuquellen. L wollte sie um ein Hauptquartier bringen, in dem die Faschos ihre Streitmacht nähren konnten. Elias fand, das Ziel ändere nichts am Grundproblem: Doxing war ein unschönes, schäbiges Vorgehen. Alle Welt konnte doxen, und alle Welt tat es übrigens auch: Die Incels doxten Feministinnen, die sie für ihr Dasein als unfreiwillig sexuell Abstinente oder involuntary celibates (daher der Name) verantwortlich machten, und die Russen doxten amerikanische Politiker. Anonymous doxte Angehörige des IS, erwiderte L und berief sich damit auf die Armee, deren Geburtsstunde sie miterlebt hatten, als könnte der Name Elias’ kritischen Verstand ausbremsen. Und auch ehemalige Häftlinge, die sich wieder eingliedern wollten, konterte Elias, der im Namen einer gemeinsamen Vergangenheit nicht den kleinsten Ausrutscher verzeihen mochte. L führte diese schon hundertmal begonnene Diskussion niemals zu Ende. Sie ließ Elias stehen, mitten in der Küche, zwischen Herd und Wasserkocher. L glaubte, dass er recht hatte, dass Doxing ein ihr unwürdiges Vorgehen war, wollte es aber nicht zugeben. Beide hatten sie sich eine Hierarchie zu eigen gemacht, die an das Prinzip der do-ocracy angelehnt war, dem ihre Hackergruppe folgte: Offiziell gab es weder Anführer noch Kontrolle noch Abstimmungen. Jeder tat, was in seiner Macht stand, und versuchte, die anderen nur dann von seiner Sache zu überzeugen, wenn er Hilfe benötigte. Dieses Prinzip wahrte ihnen ihre Unabhängigkeit, ihre Handlungsfreiheit, ihr Anrecht auszusprechen, dass die anderen nichts als Scheiße oder reinste faggotry fabrizierten. Allerdings ergaben sich auch ohne jeden organisatorischen Überbau neue Machtverhältnisse durch unterschiedliche Fachkenntnisse. Wenn man technisch etwas draufhatte (m4d sk1llz), stand man über der Masse, weil man jederzeit allein handeln konnte.

Elias war begabt, schätzte L, überdurchschnittlich begabt, und sie hatte immer geglaubt, dass sein Know-how im Drinnen ihn auch im Draußen schützen würde – oder vielleicht dachte sie eigentlich gar nicht ans Draußen, nicht genug jedenfalls, vielleicht hatte ihre Tante Faiza recht, und sie hatte Löcher im Hirn, die sie daran hinderten, ihre Welt in Gänze zu erfassen oder die von Elias. Was er mit einem Rechner alles anstellen konnte, war bewundernswert, sagte sich L, bevor sie am 4. Dezember 2018 erkennen musste, dass die Technik einen keineswegs davor schützte, in aller Herrgottsfrühe im eigenen Zuhause verhaftet zu werden.

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1. Dezember 2018 bis 17. März 2019

Ja, sie scheinen den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate zu begreifen.

Spinoza,Ethik, III

Während der ersten Demonstrationen im Herbst hatte der Abgeordnete seine zwei Assistentinnen im Wahlkreis auf eine Zusammenkunft der Gelbwesten geschickt. Er hatte sie gebeten, »die Temperatur zu messen« und abzuschätzen, ob deren Forderungen sich den Punkten des Parteiprogramms annäherten, das die PS bei der letzten Präsidentschaftswahl vertreten hatte. Selbst war er nicht hingefahren, denn – so erklärte er – er hatte nicht die geringste Lust zu bekunden, dass er das Leid dieser Menschen verstand oder gar kannte. Er glaubte, sich seiner Klassenprivilegien absolut bewusst zu sein, und wenn es am Monatsende einmal eng für ihn geworden war, dann stets nur, weil er sich zu Beginn desselben Monats horrende Ausgaben erlaubt hatte.

»Ich werde mich nicht am Reigen zerknirschter Mienen all der Politiker beteiligen, die glauben machen wollen, sie seien nicht abgehoben. Ich bin abgehoben. Aber ich bezweifle, dass es mir in diesen unruhigen Zeiten irgendwelche Sympathien einbringen wird, das zuzugeben.«

Am 1. Dezember hatte er entschieden, dass Antoine sich ebenfalls in den Wahlkreis begeben sollte. Was überhaupt Unfug war, da Antoine als sein Mitarbeiter in der Assemblée eigentlich keine Feldforschung betreiben musste, und auch, weil Samstag war und Antoine samstags immer freihatte. Doch der Abgeordnete wollte diese Einwände nicht gelten lassen. Er erwiderte, dass ihm ein Mitarbeiter fehle, der als Bindeglied zwischen Paris und seinem Wahlkreis fungiere, dass er das schon immer gewusst und immer bekräftigt habe, dass er sich diesen jedoch verwehre, um den anderen nicht das Gehalt kürzen zu müssen. Außerdem sagte er Antoine, dass dessen erbsenzählerische Argumente keinerlei innere Logik hätten, zuvörderst für einen aktiven Sozialisten und noch dazu im Rahmen einer nationalen Krise. Widerwillig war Antoine nach Soissons gefahren, wäre lieber in Paris geblieben. Er hatte die Videos gesehen, die Camille und Léna, die Assistentinnen im Wahlkreis, an den vorherigen Samstagen gedreht hatten, und darin sah man Horden von Gelbwesten, die (schlecht) tanzten und (ziemlich miese) Parolen schrien (das allerdings ziemlich gut). In Laon war Tränengas eingesetzt worden – das hatte er in Le Courrier picard gelesen –, aber erst gegen Ende der Demo, als Camille und Léna beide schon weg waren. Wie auch immer, es war jedenfalls weder ein Aufstand noch eine Revolution – und Antoine hielt sich auf diesem Gebiet für recht beschlagen, da er bereits an Aufständen teilgenommen hatte, die Revolutionen ähnelten.

Das Problem der Gelbwestenbewegung in den Provinzstädten war, dass die Demos sich fast nie im Zentrum abspielten. Man musste die gesperrten Kreisverkehre finden, sofern die Blockaden nicht schon an einer kilometerweit entfernten Tankstelle oder einer Autobahnmautstelle stattfanden. Man musste in der Kälte vom Bahnhof aus hinlaufen und hatte natürlich seine Handschuhe vergessen. Und endlich vor Ort, kam Antoine sich albern vor, weil man einer Straßensperre nur schwer zuschauen konnte. Entweder man war dabei, oder man machte sich aus dem Staub. Zum Beispiel nach Paris. Er war sich sicher, dass viele Gelbwesten aus Aisne zum Demonstrieren in die Hauptstadt fuhren. Nur ein Vollidiot machte die Reise in die entgegengesetzte Richtung.

Er trat von einem Fuß auf den anderen und wagte nicht, sich zwanglos einer Feuerschale zu nähern, als auf seinem Handy plötzlich Fotos von den Champs-Élysées im dichten Rauch einer Nebelkerze eintrafen (Guillaume), dann zersplitterte Schaufenster im 8. Arrondissement (Salma) mit der Nachricht: »Endlich trifft es die richtigen Viertel«, dann ein Blutfleck auf dem Bürgersteig (wieder Guillaume, ohne jede Erklärung, ein dramatisch stummes Bild). Er begriff, dass man die Phase der Polonaisen auf den Kreisverkehren hinter sich gelassen hatte (was die Stadt Soissons nicht zu wissen schien, da Antoine sich eindeutig auf einem Kreisverkehr befand und meinte, irgendwo den Anfang einer Menschenkette erspäht zu haben).

Wenige Minuten später klingelte sein Handy.

»Antoine? Es wäre gut, wenn Sie zurück ins Büro kämen. Sofort. Und wenn Sie im Zug bereits über eine kurze Ansprache nachdenken könnten, die ein wenig origineller klingt als die Verurteilung der Gewalt im Namen der staatlichen Ordnung, wäre ich Ihnen dankbar. Fernsehauftritt um 22 Uhr.«

Im Regionalzug, den er nach fünfundvierzig Minuten Wartezeit auf einem eisigen Bahnsteig bestiegen hatte, saßen auch einige Demonstranten, die zurück nach Hause fuhren und an den ersten Bahnhöfen entlang der Strecke nach Paris ausstiegen. Sie versuchten, sich aufzuwärmen, indem sie die Beine gegen die Gebläse unter den grauen Sitzen drückten oder sich kräftig den Rücken rieben. Antoine fragte sie, wofür sie demonstriert hatten, und erhielt eine Liste von Forderungen auf Lokalebene, für die er sich nicht sonderlich zuständig fühlte, aber doch voller Empathie. Als er nach Soissons aufgebrochen war, hatte er sein Ladekabel liegen lassen, und er sah regelmäßig aufs Handy, dessen Akku immer schwächer wurde, konnte sich jedoch die Angst nicht erklären, die der schrumpfende Balken in ihm auslöste, wo er das Gerät gerade jetzt doch gar nicht brauchte. Der gegen null fortschreitende Akkuschwund verschmolz mit der jenseits der Zugfenster hereinbrechenden Nacht und gab ihm das Gefühl, ins Unbekannte vorzustoßen.

Als er im Büro an der Rue de l’Université ankam, saß Bertrand bereits über einen Papierstapel gebeugt, schrieb und strich mit weit ausholenden Gesten wieder durch und umkreiste das eine oder andere Wort. Er begrüßte Antoine mit einem lapidaren »Wir sagen nichts zu Marianne«. Und da sein Kollege nicht zu begreifen schien, setzte er hinzu: »Die Statue am Triumphbogen mit dem ausgeschlagenen Auge?«

Der Abgeordnete schmunzelte genüsslich und murmelte, dass das Vandalismus vom Feinsten sei, nahe am Erhabenen, dieses gähnende Loch mitten im Gesicht, auf der einen Seite das Auge, auf der anderen das Grab, geradezu ein Gedicht von Hugo. Bertrand seufzte. Er musste das Lob auf die verstümmelte Marianne[1] in Antoines Abwesenheit bereits gehört haben. Oder es reichte ihm einfach mit Victor Hugo, den der Abgeordnete mehrmals täglich zitierte.

Ende der Leseprobe