Madame Bovary - Gustave Flaubert - E-Book

Madame Bovary E-Book

Gustave Flaubert

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Beschreibung

Der 1857 veröffentlichte Roman schildert die Lebensgeschichte der gelangweilten Arztgattin Emma Bovary, ihre Liebesaffären und ihren Selbstmord. Der Roman ist im 19. Jahrhundert angesiedelt und spielt in Frankreich in der normannischen Provinz

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Madame Bovary

Inhaltsverzeichnis
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil 2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Teil 3
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel
Kapitel
Kapitel

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Impressum

Public Domain

Teil 1

 

Kapitel      1

 

EswarArbeitsstunde.DatratderRektorein,ihmzurSeiteein»Neuer«,ingewöhnlichem Anzuge. Der Pedell hinter den beiden, Schulstubengerät in den Händen. Alle Schüler erhoben sich von ihren Plätzen, wobei man so tat, als sei man aus seinen Studien aufgescheucht worden.Wereingenicktwar,fuhr mitauf.

Der Rektor winkte ab. Man setzte sich wieder hin. Darauf wandte er sich zu dem die Aufsicht führenden Lehrer.

»HerrRoger!«lispelteer.»DiesenneuenZöglinghierempfehleichIhnenbesonders.Er kommt zunächst in die Quinta. Bei löblichem Fleiß und Betragen wird er aber in die Quarta versetzt, in die er seinem Alter nachgehört.«

Der Neuling blieb in demWinkelhinter der Türe stehen. Man konnte ihn nicht ordentlich sehen, aber offenbar war er ein Bauernjunge, so ungefähr fünfzehn Jahre alt undgrößeralsalleandern.DieHaaretrugermitSimpelfransenindieStirnhinein,wieein Dorfschulmeister. Sonst sah er gar nicht dumm aus, nur war er höchst verlegen. So schmächtig erwar,beengte ihn sein grüner Tuchrock mit schwarzen Knöpfen doch sichtlich, und durch den Schlitz in den Ärmelaufschlägen schimmerten rote Handgelenke hervor, die zweifellos die freie Luft gewöhnt waren. Er hatte gelbbraune, durch dieTrägerübermäßig hochgezogene Hosen an und blaue Strümpfe. Seine Stiefel waren derb, schlecht gewichst und mit Nägelnbeschlagen.

Man begann die fertigen Arbeiten vorzulesen. Der Neuling hörte aufmerksamst zu, mit wahrer Kirchenandacht, wobei er es nicht einmal wagte, die Beine übereinander zu schlagen noch den Ellenbogen aufzustützen. Um zwei Uhr, als die Schulglocke läutete,

mußte ihn der Lehrer erst besonders auffordern, ehe er sich den andern anschloß.

Es war in der Klasse Sitte, beim Eintritt in das Unterrichtszimmer die Mützen wegzuschleudern, um die Hände frei zu bekommen. Es kam darauf an, seine Mütze gleich von der Tür aus unter die richtige Bank zu facken [Fußnote], wobei sie unter einer tüchtigen Staubwolke laut aufklatschte. Das war so Schuljungenart.

Sei es nun, daß ihm diesesVerfahrenentgangen war oder daß er nicht gewagt hatte, es ebenso zu machen, kurz und gut: als das Gebet zu Endewar,hatte der Neuling seine Mütze noch immer vor sich auf den Knien. Das war ein wahrerWechselbalgvon Kopfbedeckung. Bestandteile von ihr erinnerten an eine Bärenmütze, andre an eineTschapka,wieder andre an einen runden Filzhut, an ein Pelzbarett, an ein wollnes Käppi, mit einemWorte:an allerlei armselige Dinge, deren stumme Häßlichkeit tiefsinnig stimmt wie das Gesicht eines Blödsinnigen. Sie war eiförmig, und Fischbeinstäbchen verliehen ihr den inneren Halt; zu unterst sah man drei runde Wülste, darüber (voneinander durch ein rotes Band getrennt) Rauten aus Samt und Kaninchenfell und zuoberst eine Art Sack, den ein vieleckiger Pappdeckel mit kunterbunter Schnurenstickerei krönte und von dem herab an einem ziemlich dünnen Faden eine kleine goldne Troddel hing. Diese

 

Kopfbedeckung war neu, was man am Glanze des Schirmes erkennen konnte.

»Steh auf!« befahl der Lehrer.

Der Junge erhob sich. Dabei entglitt ihm sein Turban, und die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, das Mützenungetüm aufzuheben. Ein Nachbar stieß mit dem Ellenbogen daran, so daß es wiederum zu Boden fiel. Ein abermaliges Sich-darnach- bücken.

»Leg doch deinen Helm weg!« sagte der Lehrer, ein Witzbold.

Das schallende Gelächter der Schüler brachte den armen Jungen gänzlich aus der Fassung, und nun wußte er gleich gar nicht, ob er seinen »Helm« in der Hand behalten oder auf dem Boden liegen lassen oder aufsetzen sollte. Er nahm Platz und legte die Mütze über seine Knie.

»Steh auf!« wiederholte der Lehrer, »und sag mir deinen Namen!« Der Neuling stotterte einen unverständlichen Namen her.

»Noch mal!«

Dasselbe Silbengestammel machte sich hörbar, von dem Gelächter der Klasse übertönt.

»Lauter!« rief der Lehrer. »Lauter!«

Nunmehr nahm sich der Neuling fest zusammen, riß den Mund weit auf und gab mit voller Lungenkraft, als ob er jemanden rufen wollte, das Wort von sich: »Kabovary!«

Höllenlärm erhob sich und wurde immer stärker; dazwischen gellten Rufe. Man brüllte, heulte, grölte wieder und wieder: »Kabovary! Kabovary!« Nach und nach verlor sich der Spektakel in vereinzeltes Brummen, kam mühsam zur Ruhe, lebte aber in den Bankreihen heimlich weiter, um da und dort plötzlich als halbersticktes Gekicher wieder aufzukommen, wie eine Rakete, die im Verlöschen immer wieder noch ein paar Funken sprüht.

Währenddem ward unter einem Hagel von Strafarbeiten die Ordnung in der Klasse allmählich wiedergewonnen, und es gelang dem Lehrer, den Namen »Karl Bovary« festzustellen, nachdem er sich ihn hatte diktieren, buchstabieren und dann noch einmal im ganzen wiederholen lassen. Alsdann befahl er dem armen Schelm, sich auf die Strafbank dicht vor dem Katheder zu setzen. Der Junge wollte den Befehl ausführen, aber kaum hatte er sich in Gang gesetzt, als er bereits wieder stehen blieb.

»Was suchst du?« fragte der Lehrer.

»Meine Mü…«, sagte er schüchtern, indem er mit scheuen Blicken Umschau hielt.

»Fünfhundert Verse die ganze Klasse!«

Wie dasQuos egobändigte die Stimme, die diese Worte wütend ausrief, einen neuen Sturm im Entstehen.

»Ich bitte mir Ruhe aus!« fuhr der empörte Schulmeister fort, während er sich mit seinem Taschentuche den Schweiß von der Stirne trocknete. »Und du, du Rekrut du, du schreibst mir zwanzigmal den Satz auf:Ridiculus sum!« Sein Zorn ließ nach. »Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden. Die har dir niemand gestohlen.«

 

Alleswardwiederruhig.DieKöpfeversankenindenHeften,undderNeulingverharrte zwei Stunden lang in musterhafter Haltung, obgleich ihm von Zeit zu Zeit mit einem Federhalter abgeschwuppte kleine Papierkugeln ins Gesicht flogen. Erwischte sich jedesmalmitderHandab,ohnesichweiterzubewegennochdieAugenaufzuschlagen.

Abends, im Arbeitssaal, holte er seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seine Habseligkeiten in Ordnung und liniierte sich sorgsam sein Schreibpapier. Die andern beobachteten, wie er gewissenhaft arbeitete; er schlug alle Wörter im Wörterbuche nach und gab sich viel Mühe. Zweifellos verdankte er es dem großen Fleiße, den er an den Tag legte, daß man ihn nicht in der Quinta zurückbehielt; denn wenn er auch die Regeln ganz leidlich wußte, so verstand er sich doch nicht gewandt auszudrücken. Der Pfarrer seines Heimatdorfes hatte ihm kaum ein bißchen Latein beigebracht, und aus Sparsamkeit war er von seinen Eltern so spät wie nur möglich auf das Gymnasium geschickt worden.

SeinVater,Karl Dionys BarthelBovary,war Stabsarzt a.D.; er hatte sich um 1812 bei den Aushebungen etwas zuschulden kommen lassen, worauf er den Abschied nehmen mußte. Er setzte nunmehr seine körperlichenVorzügein bare Münze um und ergatterte sich im Handumdrehen eine Mitgift von sechzigtausend Franken, die ihm in der Person derTochtereines Hutfabrikanten in denWegkam. Das Mädchen hatte sich in den hübschen Mann verliebt. Er war ein Schwerenöter und Prahlhans, der sporenklingend einherstolzierte, Schnurr- und Backenbart trug, die Hände voller Ringe hatte und in seiner Kleidung auffällige Farben liebte. Neben seinem Haudegentum besaß er das gewandte Getue eines Ellenreiters. Sobald er verheiratetwar,begann er zwei, drei Jahre auf Kosten seinerFrauzuleben,aßundtrankgut,schliefbisindenhalbenTaghineinundrauchteaus langen Porzellanpfeifen. Nachts pflegte er sehr spät heimzukommen, nachdem er sich in Kaffeehäusern herumgetrieben hatte. Als sein Schwiegervater starb und nur wenig hinterließ, war Bovary empörtdarüber.Er übernahm die Fabrik, büßte aber Geld dabei ein, und so zog er sich schließlich auf das Land zurück, wovon er sich goldne Berge erträumte. Aber er verstand von der Landwirtschaft auch nicht mehr als von der Hutmacherei,rittlieberspazieren,alsdaßerseinePferdezurArbeiteinspannenließ,trank seinen Apfelwein flaschenweiseselber,anstatt ihn in Fässern zu verkaufen, ließ das fetteste Geflügel in den eignen Magen gelangen und schmierte sich mit dem Speck seiner Schweine seine Jagdstiefel. Auf diesemWegesah er zu guter Letzt ein, daß es am tunlichsten für ihn sei, sich in keinerlei Geschäfte mehreinzulassen.

Für zweihundert Franken Jahrespacht mietete er nun in einem Dorfe im Grenzgebiete von Caux und der Pikardie ein Grundstück, halb Bauernhof, halb Herrenhaus. Dahin zog er sich zurück fünfundvierzig Jahre alt, mit Gott und derWeltzerfallen, gallig und mißgünstig zu jedermann.Vonden Menschen angeekelt, wie er sagte, wollte er in Frieden für sich hinleben.

Seine Frau war dereinst toll verliebt in ihn gewesen. Aber unter tausend Demütigungen starb ihre Liebe doch rettungslos.

Ehedemheiter,mitteilsam und herzlich, war sie allmählich (just wie sich abgestandnerWeinzu Essig wandelt) mürrisch, zänkisch und nervös geworden. Ohne zu klagen, hatte sievielgelitten,wennsieimmerwiedersah,wieihrMannhinterallenDorfdirnenherwar und abends müde und nach Fusel stinkend aus irgendwelcher Spelunke zu ihr nach Haus kam.IhrStolzhattesichzunächstmächtiggeregt,aberschließlichschwiegsie,würgte

 

ihren Grimm in stummem Stoizismus hinunter und beherrschte sich bis zu ihrem letzten Stündlein. Sie war unablässig tätig und immer auf dem Posten. Sie war es, die zu den Anwälten und Behörden ging. Sie wußte, wennWechselfällig waren; sie erwirkte ihreVerlängerung.Sie machte alle Hausarbeiten, nähte, wusch, beaufsichtigte die Arbeiterund führte dieBücher,während der Herr und Gebieter sich um nichts kümmerte, aus seinem Zustande griesgrämlicher Schläfrigkeit nicht herauskam und sich höchstens dazu ermannte, seiner Frau garstige Dinge zu sagen. Meist hockte er am Kamin, qualmte und spuckte ab und zu in die Asche.

Als ein Kind zurWeltkam, mußte es einer Amme gegeben werden; und als es wieder zu Hausewar,wurde das schwächliche Geschöpf grenzenlos verwöhnt. Die Mutter nährte es mit Zuckerzeug. DerVaterließ es barfuß herumlaufen und meinte höchst weise obendrein, der Kleine könne eigentlich ganz nackt gehen wie die Jungen derTiere.Im Gegensatz zu den Bestrebungen der Mutter hatte er sich ein bestimmtes männliches Erziehungsideal in den Kopf gesetzt, nach welchem er seinen Sohn zu modeln sich Mühe gab.ErsollterauhangefaßtwerdenwieeinjungerSpartaner,damitersichtüchtigabhärte. Er mußte in einem ungeheizten Zimmer schlafen, einen ordentlichen Schluck Rum vertragen und auf den »kirchlichen Klimbim« schimpfen. Aber der Kleine war von friedfertiger Natur und widerstrebte allen diesen Bemühungen. Die Mutter schleppte ihn immer mit sich herum. Sie schnitt ihm Pappfiguren aus und erzählte ihm Märchen; sie unterhielt sich mit ihm in endlosen Selbstgesprächen, die von schwermütiger Fröhlichkeit und wortreicher Zärtlichkeit überquollen. In ihrerVerlassenheitpflanzte sie in das Herz ihres Jungen alle ihre eigenen unerfüllten und verlorenen Sehnsüchte. ImTraumesah sie ihn erwachsen, hochangesehen, schön, klug, als Beamten beim Straßen- und Brückenbau oder in einer Ratsstellung. Sie lehrte ihn Lesen und brachte ihm sogar an dem altenKlavier,das sie besaß, das Singen von ein paar Liedchen bei. Ihr Mann, der von gelehrten Dingen nicht viel hielt, bemerkte zu alledem, es sei bloß schade um die Mühe; sie hätten dochniemalsdieMittel,denJungenaufeinehöhereSchulezuschickenoderihmeinAmt oder ein Geschäft zu kaufen. Zu was auch? Dem Kecken gehöre dieWelt!Frau Bovary schwieg still, und der Kleine trieb sich im Dorfe herum. Er lief mit den Feldarbeitern hinaus,scheuchtedieKrähenauf,schmausteBeerenandenRainen,hütetemiteinerGerte die Truthähne und durchstreifteWaldundFlur.Wennes regnete, spielte er unter dem Kirchenportal mit kleinen Steinchen, und an den Feiertagen bestürmte er den Kirchendiener, die Glocken läuten zu dürfen. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Strang der großen Glocke und ließ sich mit emporziehen. So wuchs er auf wie eine Lilie auf dem Felde, bekam kräftige Glieder und frischeFarben.

Als er zwölf Jahre alt gewordenwar,setzte es seine Mutter durch, daß er endlich etwas Gescheites lerne. Er bekam Unterricht beimPfarrer,aber die Stunden waren so kurz und so unregelmäßig, daß sie nicht viel Erfolg hatten. Sie fanden statt, wenn der Geistliche einmal gar nichts anders zu tun hatte, in der Sakristei, im Stehen, in aller Hast in den Pausen zwischen denTaufenund Begräbnissen. Mitunter, wenn er keine Lust hatte auszugehen, ließ der Pfarrer seinen Schüler nach demAve-Mariazu sich holen. Die beidensaßendannobenimStübchen.MückenundNachtfaltertanztenumdieKerze;aber es war so warm drin, daß der Junge schläfrig wurde, und es dauerte nicht lange, da schnarchte der biederePfarrer,die Hände über dem Schmerbauche gefaltet. Es kam auchvor,daßderSeelensorgeraufdemHeimwegevonirgendeinemKrankeninderUmgegend,

 

dem er das Abendmahl gereicht hatte, den kleinenVagabundenim Freien erwischte; dann rief er ihn heran, hielt ihm eine viertelstündige Strafpredigt und benutzte die Gelegenheit, ihn im Schatten eines Baumes seine Lektion hersagen zu lassen. Entweder war es der Regen,derdenUnterrichtstörte,oderirgendeinBekannter,dervorüberging.Übrigenswar der Lehrer durchweg mit seinem Schüler zufrieden, ja er meintesogar,der »junge Mann« habe ein gar trefflichesGedächtnis.

So konnte es nicht weitergehen. Frau Bovary ward energisch, und ihr Mann gab widerstandslos nach, vielleicht weil er sich selber schämte, wahrscheinlicher aber aus Ohnmacht. Man wollte nur noch ein Jahr warten; der Junge sollte erst gefirmelt werden.

Darüber hinaus verstrich abermals ein halbes Jahr, dann aber wurde Karl wirklich auf das Gymnasium nach Rouen geschickt. Sein Vater brachte ihn selber hin. Das war Ende Oktober.

Die meisten seiner damaligen Kameraden werden sich kaum noch deutlich an ihn erinnern. Er war ein ziemlich phlegmatischer Junge, der in der Freizeit wie ein Kind spielte, in den Arbeitsstunden eifrig lernte, während des Unterrichts aufmerksam dasaß, im Schlafsaal vorschriftsmäßig schlief und bei den Mahlzeiten ordentlich zulangte. SeinVerkehraußerhalb der Schule war ein Eisengroßhändler in der Handschuhmachergasse, derallervierWocheneinmalmitihmausging,anSonntagennachLadenschluß.Erliefmit ihmamHafenspazieren,zeigteihmdieSchiffeundbrachteihnabendsumsiebenUhrvor dem Abendessen wieder in das Gymnasium. Jeden Donnerstag abend schrieb Karl mit roterTintean seine Mutter einen langen Brief, den er immer mit drei Oblaten zuklebte. Hernach vertiefte er sich wieder in seine Geschichtshefte, oder er las in einem alten Exemplar von Barthelemys »Reise des jungen Anacharsis«, das im Arbeitssaal herumlag. Bei Ausflügen plauderte er mit dem Pedell, der ebenfalls vom Landewar.

Durch seinen Fleiß gelang es ihm, sich immer in der Mitte der Klasse zu halten; einmal errang er sich sogar einen Preis in der Naturkunde. Aber gegen Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern vom Gymnasium fort und ließen ihn Medizin studieren. Sie waren der festen Zuversicht, daß er sich bis zum Staatsexamen schon durchwürgen würde.

Die Mutter mietete ihm ein Stübchen, vier Stock hoch, nach der Eau-de-Robec zu gelegen, im Hause eines Färbers, eines alten Bekannten von ihr. Sie traf Vereinbarungen über die Verpflegung ihres Sohnes, besorgte ein paar Möbelstücke, einen Tisch und zwei Stühle, wozu sie von zu Hause noch eine Bettstelle aus Kirschbaumholz kommen ließ. Des weiteren kaufte sie ein Kanonenöfchen und einen kleinen Vorrat von Holz, damit ihr armer Junge nicht frieren sollte. Acht Tage darnach reiste sie wieder heim, nachdem sie ihn tausend-und abertausendmal ermahnt hatte, ja hübsch fleißig und solid zu bleiben, sintemal er nun ganz allein auf sich selbst angewiesen sei.

VordemVerzeichnisderVorlesungenauf dem schwarzen Brette der medizinischen Hochschule vergingen dem neubackenen Studenten Augen und Ohren. Er las da von anatomischen und pathologischen Kursen, von Kollegien über Physiologie, Pharmazie, Chemie, Botanik, Therapeutik und Hygiene, von Kursen in der Klinik, von praktischen Übungenusw.AllediesevielenNamen,überderenHerkunftersichnichteinmalklarwar,standensorechtvorihmwiegeheimnisvollePfortenindasHeiligtumderWissenschaft.

 

Er lernte gar nichts. So aufmerksam er auch in denVorlesungen war,er begriff nichts. Um so mehr büffelteer.Er schrieb fleißig nach, versäumte kein Kolleg und fehlte in keinerÜbung.ErerfüllteseintäglichesArbeitspensumwieeinGaulimHippodrom,derin einem fort den Hufschlag hintrottet, ohne zu wissen, was für ein Geschäft er eigentlich verrichtet.

ZuseinerpekuniärenUnterstützungschickteihmseineMutterallwöchentlichdurchden Botenmann ein Stück Kalbsbraten. Das war sein Frühstück, wenn er aus dem Krankenhause auf einen Husch nach Hause kam. Sich erst hinzusetzen, dazu langte die Zeit nicht, denn er mußte alsbald wieder in ein Kolleg oder zur Anatomie oder Klinik eilen, durch eine Unmenge von Straßen hindurch. Abends nahm er an der kargen Hauptmahlzeit seiner Wirtsleute teil. Hinterher ging er hinauf in seine Stube und setzte sich an seine Lehrbücher, oft in nassen Kleidern, die ihm dann am Leibe bei der Rotglut des kleinen Ofens zu dampfenbegannen.

An schönen Sommerabenden, wenn die schwülen Gassen leer wurden und die Dienstmädchen vor den Haustüren Ball spielten, öffnete er sein Fenster und sah hinaus. Unten floß der Fluß vorüber, der aus diesemViertelvon Rouen ein häßliches Klein-Venedigmachte.Seinegelben,violettundblauschimmerndenWasserkrochenträgzudenWehrenund Brücken. Arbeiter kauerten am Ufer und wuschen sich die Arme in der Flut. An Stangen, die aus Speichergiebeln lang hervorragten, trockneten Bündel von Baumwolle in der Luft. Gegenüber, hinter den Dächern, leuchtete der weite klare Himmel mitdersinkendenrotenSonne.WieherrlichmußteesdadraußenimFreiensein!Unddort im Buchenwald wie frisch! Karl holte tief Atem, um den köstlichen Duft der Felder einzusaugen, der doch gar nicht bis zu ihmdrang.

Er magerte ab und sah sehr schmächtig aus. Sein Gesicht bekam einen leidvollen Zug, der es beinahe interessant machte. Er ward träge, was gar nicht zu verwundernwar,und seinen gutenVorsätzenmehr und mehr untreu. Heute versäumte er die Klinik, morgen ein Kolleg, und allmählich fand er Genuß am Faulenzen und ging gar nicht mehr hin. Er wurde Stammgast in einer Winkelkneipe und ein passionierter Dominospieler. Alle Abende in einer schmutzigen Spelunke zu hocken und mit den beinernen Spielsteinen auf einem Marmortische zu klappern, das dünkte ihn der höchste Grad von Freiheit zu sein, und das stärkte ihm sein Selbstbewußtsein. Es war ihm das so etwas wie der Anfang eines weltmännischen Lebens, dieses Kosten verbotener Freuden.Wenner hinkam, legte er seine Hand mit geradezu sinnlichemVergnügenauf die Türklinke. Eine Menge Dinge, die bis dahin in ihm unterdrückt worden waren, gewannen nunmehr Leben und Gestalt. Er lernte Gassenhauer auswendig, die er gelegentlich zum besten gab. Béranger, der Freiheitssänger, begeisterte ihn. Er lernte eine gute Bowle brauen, und zu guter Letzt entdeckteerdieLiebe.DankdiesenVorbereitungenfielerimmedizinischenStaatseramen glänzenddurch.

Man erwartete ihn am nämlichen Abend zu Haus, wo sein Erfolg bei einem Schmaus gefeiert werden sollte. Er machte sich zu Fuß auf denWegund erreichte gegen Abend seine Heimat. Dort ließ er seine Mutter an den Dorfeingang bitten und beichtete ihr alles. Sie entschuldigte ihn, schob den Mißerfolg der Ungerechtigkeit der Examinatoren in die Schuhe und richtete ihn ein wenig auf, indem sie ihm versprach, die Sache ins Lot zu bringen.ErstvollefünfJahredarnacherfuhrHerrBovarydieWahrheit.Dawardie

 

Geschichte verjährt, und so fügte er sich drein. Übrigens hätte er es niemals zugegeben, daß sein leiblicher Sohn ein Dummkopf sei.

Karl widmete sich von neuem seinem Studium und bereitete sich hartnäckigst auf eine nochmalige Prüfungvor.Alles, was er gefragt werden konnte, lernte er einfach auswendig. In derTatbestand er das Examen nunmehr mit einer ziemlich guten Note. Seine Mutter erlebte einen Freudentag. Es fand ein großes Festmahlstatt.

Wo sollte er seine ärztliche Praxis nun ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen und zwar sehr alten Arzt. Mutter Bovary wartete schon lange auf sein Hinscheiden, und kaum hatte der alte Herr das Zeitliche gesegnet, da ließ sich Karl Bovary auch bereits als sein Nachfolger daselbst nieder.

Aber nicht genug, daß die Mutter ihren Sohn erzogen, ihn Medizin studieren lassen und ihmeinePraxisausfindiggemachthatte:nunmußteeraucheineFrauhaben.Selbigefand sie in derWitwedes Gerichtsvollziehers von Dieppe, die neben fünfundvierzig Jährlein zwölfhundert Franken Rente ihr eigen nannte. Obgleich sie häßlichwar,dürr wie eine HopfenstangeundimGesichtsovielPickelwieeinKirschbaumBlütenhatte,fehlteesderWitweDubuc keineswegs an Bewerbern. Um zu ihrem Ziele zu gelangen, mußte Mutter Bovary erst alle diese Nebenbuhler aus dem Felde schlagen, was sie sehr geschickt fertig brachte. Sie triumphierte sogar über einen Fleischermeister, dessen Anwartschaft durch die Geistlichkeit unterstütztwurde.

KarlhatteindieHeirateingewilligtinderErwartung,sichdadurchgünstigerzustellen. Er hoffte, persönlich wie pekuniär unabhängiger zu werden. Aber Heloise nahm dieZügel in ihre Hände. Sie drillte ihm ein, was er vor den Leuten zu sagen habe und was nicht. Alle Freitage wurde gefastet. Er durfte sich nur nach ihrem Geschmacke kleiden, und die Patienten, die nicht bezahlten, mußte er auf ihren Befehl hin kujonieren. Sie erbrach seine Briefe, überwachte jeden Schritt, den er tat, und horchte an der Türe, wenn weiblicheWeseninseinerSprechstundewaren.JedenMorgenmußtesieihreSchokoladehaben,und die Rücksichten, die sie erheischte, nahmen kein Ende. Unaufhörlich klagte sie über Migräne,BrustschmerzenoderVerdauungsstörungen.WennvielLeutedurchdenHausflur liefen, ging es ihr auf die Nerven.WarKarl auswärts, dann fand sie die Einsamkeit gräßlich; kehrte er heim, so war es zweifellos bloß, weil er gedacht habe, sie liege im Sterben.Wenner nachts in das Schlafzimmer kam, streckte sie ihm ihre mageren langen Arme aus ihren Decken entgegen, umschlang seinen Hals und zog ihn auf den Rand ihres Bettes. Und nun ging die Jeremiade los. Er vernachlässige sie, er liebe eine andre! Man habe es ihr ja gleich gesagt, diese Heirat sei ihr Unglück. Schließlich bat sie ihn um einen Löffel Arznei, damit sie gesund werde, und um ein bißchen mehrLiebe.

 

Kapitel      2

 

Einmal nachts gegen elf Uhr wurde das Ehepaar durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor der Haustüre zum Stehen kam. Anastasia, das Dienstmädchen, klappte ihr Bodenfenster auf und verhandelte eine Weile mit einem Manne, der unten auf der Straße stand. Er wolle den Arzt holen. Er habe einen Brief an ihn.

Anastasia stieg frierend die Treppen hinunter und schob die Riegel auf, einen und dann denandern.DerBoteließseinPferdstehen,folgtedemMädchenundbetratohneweiteres das Schlafgemach. Er entnahm seinem wollnen Käppi, an dem eine graue Troddel hing, einen Brief, der in einen Lappen eingewickeltwar,und überreicht ihn dem Arzt mit höflicher Gebärde. Der richtete sich im Bett auf, um den Brief zu lesen. Anastasia stand dicht daneben und hielt denLeuchter.Die Frau Doktor kehrte sich verschämt derWandzu und zeigte denRücken.

In dem Briefe, den ein niedliches blaues Siegel verschloß, wurde Herr Bovary dringend gebeten, unverzüglich nach dem Pachtgut Les Bertaur zu kommen, ein gebrochenes Bein zu behandeln. Nun braucht man vonTostesüber Longueville und SanktVictorbis Bertaur zu Fuß sechs gute Stunden. Die Nacht war stockfinster. Frau Bovary sprach die Befürchtungaus,eskönneihremManneetwaszustoßen.Infolgedessenwardbeschlossen, daß der Stallknecht vorausreiten, Karl aber erst drei Stundenspäter,nach Mondaufgang, folgen solle. Man würde ihm einen Jungen entgegenschicken, der ihm denWegzum Gute zeige und ihm den Hofaufschlösse.

Früh gegen vier Uhr machte sich Karl, fest in feinen Mantel gehüllt, auf denWegnachBertaur.NochganzverschlafenüberließersichdemZotteltrabseinesGaules.Wenndieser von selber vor irgendeinem imWegeliegenden Hindernis zum Halten parierte, wurde der Reiter jedesmal wach, erinnerte sich des gebrochnen Beines und begann in seinem Gedächtnisse alles auszukramen, was er von Knochenbrüchenwußte.

Der Regen hörte auf. Es dämmerte. Auf den laublosen Ästen der Apfelbäume hockten regungslose Vögel, das Gefieder ob des kühlen Morgenwindes gesträubt. So weit das Augesah,dehntesichflachesLand.AufdieserendlosengrauenFlächehobensichhieund da in großen Zwischenräumen tiefviolette Flecken ab, die am Horizonte mit des Himmels trüben Farben zusammenflossen; das waren Baumgruppen um Güter und Meiereien herum.VonZeit zu Zeit riß Karl seine Augen auf, bis ihn die Müdigkeit von neuem überwältigte und der Schlaf von selber wiederkam. Er geriet in einen traumartigen Zustand, in dem sich frische Empfindungen mit alten Erinnerungen paarten, so daß er ein Doppelleben führte. Er war noch Student und gleichzeitig schon Arzt und Ehemann. Im nämlichen Moment glaubte er in seinem Ehebette zu liegen und wie einst durch den Operationssaal zu schreiten. Der Geruch von heißen Umschlägen mischte sich in seiner PhantasiemitdemfrischenDuftedesMorgentaus.Dazuhörteer,wiedieMessingringean den Stangen der Bettvorhänge klirrten und wie seine Frau im Schlafeatmete…

Als er durch das Dorf Vassonville ritt, bemerkte er einen Jungen, der am Rande des

 

Straßengrabens im Grase saß.

»Sind Sie der Herr Doktor?«

Als Karl diese Frage bejahte, nahm der Kleine seine Holzpantoffeln in die Hände und begann vor dem Pferde herzurennen. Unterwegs hörte Bovary aus den Reden seines Führersheraus,daßHerrRouault,derPatient,derihnerwartete,einerderwohlhabendsten Landwirte sei. Er hatte sich am vergangenen Abend auf dem Heimwege von einem Nachbar, wo man dasDreikönigsfest gefeiert hatte, ein Bein gebrochen. Seine Frau war schon zwei Jahre tot. Er lebte ganz allein mit »dem gnädigen Fräulein«, das ihm den Haushaltführte.

Die Radfurchen wurden tiefer. Man näherte sich dem Gute. Plötzlich verschwand der Junge in der Lücke einer Gartenhecke, um hinter der Mauer eines Vorhofes wieder aufzutauchen, wo er ein großes Tor öffnete. Das Pferd trat in nasses rutschiges Gras, und Karl mußte sich ducken, um nicht vom Baumgezweig aus dem Sattel gerissen zu werden. Hofhunde fuhren aus ihren Hütten, schlugen an und rasselten an den Ketten. Als der Arzt in den eigentlichen Gutshof einritt, scheute der Gaul und machte einen großen Satz zur Seite.

Das Pachtgut Bertaur war ein ansehnliches Besitztum. Durch die offenstehenden Türen konnte man in die Ställe blicken, wo kräftige Ackergäule gemächlich aus blanken Raufen ihr Heu kauten. Längs der Wirtschaftsgebäude zog sich ein dampfender Misthaufen hin. Unter den Hühnern und Truthähnen machten sich fünf bis sechs Pfauen mausig, der Stolz der Güter jener Gegend. Der Schafstall war lang, die Scheune hoch und ihre Mauern spiegelglatt. Im Schuppen standen zwei große Leiterwagen und vier Pflüge, dazu die nötigen Pferdegeschirre, Kumte und Peitschen; auf den blauen Woilachs aus Schafwolle hatte sich feiner Staub gelagert, der von den Kornböden heruntersickerte. Der Hof, der nach dem Wohnhause zu etwas anstieg, war auf beiden Seiten mit einer Reihe Bäume bepflanzt. Vom Tümpel her erscholl das fröhliche Geschnatter der Gänse.

An der Schwelle des Hauses erschien ein junges Frauenzimmer in einem mit dreiVolantsbesetzten blauen Merinokleide und begrüßte den Arzt. Er wurde nach der Küche geführt, wo ein tüchtiges Feuer brannte. Auf dem Herde kochte in kleinenTöpfen von verschiedener Form das Frühstück des Gesindes. Oben im Rauchfang hingen naßgewordene Kleidungsstücke zum Trocknen. Kohlenschaufel, Feuerzange und Blasebalg,allemiteinandervonriesigerGröße,funkeltenwievonblankemStahl,während längs der Wände eine Unmenge Küchengerät hing, über dem die helle Herdflamme um dieWettemit den ersten Strahlen der durch die Fenster huschenden Morgensonne spielte undglitzerte.

Karl stieg in den ersten Stock hinauf, um den Kranken aufzusuchen. Er fand ihn in seinem Bett, schwitzend unter seinen Decken. Seine Nachtmütze hatte er in die Stube geschleudert.EswareinstämmigerkleinerMann,einFünfziger,mitweißemHaar,blauen Augen und kahler Stirn. Er trug Ohrringe. Neben ihm auf einem Stuhle stand eine große KaraffevollBranntwein,ausderersichvonZeitzuZeiteinGläscheneinschenkte,um

»Mumm in die Knochen zu kriegen«. Angesichts des Arztes legte sich seine Erregung. Statt zu fluchen und zu wettern – was er seit zwölf Stunden getan hatte – fing er nunmehr an zu ächzen und zu stöhnen.

 

Der Bruch war einfach, ohne jedwede Komplikation. Karl hätte sich einen leichteren Fall nicht zu wünschen gewagt. Alsbald erinnerte er sich der Allüren, die seine LehrmeisterandenKrankenlagernzurSchaugerragenharten,undspendetedemPatienten ein reichliches Maß der üblichen gutenWorte,jenes Chirurgenbalsams, der an das Öl gemahnt, mit dem die Seziermesser eingefetter werden. Er ließ sich aus dem Holzschuppen ein paar Latten holen, um Holz zu Schienen zu bekommen.Vonden gebrachtenStückenwählteereinsaus,schnittdieSchienendarauszurechtundglättetesie mit einer Glasscherbe. Währenddem stellte die Magd Leinwandbindenher,und Fräulein Emma, dieTochterdes Hauses, versuchte Polster anzufertigen. Als sie ihren Nähkasten nicht gleich fand, polterte derVaterlos. Sie sagte keinWort.Aber beim Nähen stach sie sich in denFinger,nahm ihn in den Mund und sog das Blutaus.

Karl war erstaunt, was für blendendweiße Nägel sie hatte. Sie waren mandelförmig geschnitten und sorglich gepflegt, und so schimmerten sie wie das feinste Elfenbein. Ihre Hände freilich waren nicht gerade schön, vielleicht nicht weiß genug und ein wenig zu mager in den Fingern; dabei waren sie allzu schlank, nicht besonders weich und in ihren Linien ungraziös. Was jedoch schön an ihr war, das waren ihre Augen. Sie waren braun, aber im Schatten der Wimpern sahen sie schwarz aus, und ihr offener Blick traf die Menschen mit der Kühnheit der Unschuld.

Als derVerbandfertigwar,lud Herr Rouault den Arzt feierlich »einen Bissen zu essen«, ehe er wieder aufbräche. Karl ward in das Esszimmer geführt, das zu ebener Erde lag. Auf einem kleinenTischewar für zwei Personen gedeckt; neben den Gedecken blinkten silberneBecher.Aus dem großen Eichenschranke, gegenüber demFenster,strömte Geruch von Iris und feuchtem Leinen. In einer Ecke standen aufrecht in Reih und Glied mehrere Säcke mit Getreide; sie hatten auf der Kornkammer nebenan keinen Platz gefunden, zu der drei Steinstufen hinaufführten. In der Mitte derWand,deren grüner Anstrich sich stellenweise abblätterte, hing in einem vergoldeten Rahmen eine Bleistiftzeichnung: der Kopf einer Minerva. In schnörkeliger Schrift stand darunter geschrieben. »Meinem liebenVater!«

Sie sprachen zuerst von dem Unfall, dann vomWetter,vom starken Frost, von den Wölfen,dienachtsdieUmgegendunsichermachen.FrauleinRouaultschwärmtegarnicht besonders von dem Leben auf dem Lande, zumal jetzt nicht, wo die ganze Last der Gutswirtschaftfastalleinaufihrruhe.DaesimZimmerkaltwar,frösteltesiewährendder ganzen Mahlzeit. Beim Essen fielen ihre vollen Lippen etwas auf.Wenndas Gespräch stockte, pflegte sie mit den Oberzähnen auf die Unterlippe zubeißen.

Ihr Hals wuchs aus einem weißen Umlegekragen heraus. Ihr schwarzes, hinten zu einem reichen Knoten vereintes Haar war in der Mitte gescheitelt; beide Hälften lagen so glatt auf dem Kopfe, daß sie wie zwei Flügel aus je einem Stücke aussahen und kaum die Ohrläppchen blicken ließen. Über den Schläfen war das Haar gewellt, was der Landarzt noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Ihre Wangen waren rosig. Zwischen zwei Knöpfen ihrer Taille lugte – wie bei einem Herrn – ein Lorgnon aus Schildpatt hervor.

NachdemsichKarlobenbeimaltenRouaultverabschiedethatte,traternochmalsindasEßzimmer.Er fand Emma am Fenster stehend, die Stirn an die Scheiben gedrückt. Sie schaute in den Garten hinaus, wo derWinddie Bohnenstangen umgeworfen hatte. Sich umwendend, fragtesie:

 

»Suchen Sie etwas?«

»Meinen Reitstock, wenn Sie gestatten!«

Er fing an zu suchen, hinter den Türen und unter den Stühlen. Der Stock war auf den Fußboden gefallen, gerade zwischen die Säcke und dieWand.Emma entdeckte ihn. Als siesichüberdieSäckebeugte,wollteKarlihrgalantzuvorkommen.WieerseinenArmin dernämlichenAbsichtwiesieausstreckte,berührteseineBrustdengebücktenRückendes jungenMädchens.Siefühltenesbeide.EmmafuhrraschindieHöhe.Ganzrotgeworden, sah sie ihn über die Schulter weg an, indem sie ihm seinen Reitstockreichte.

Er hatte versprochen, in drei Tagen wieder nachzusehen; statt dessen war er bereits am nächsten Tag zur Stelle, und von da ab kam er regelmäßig zweimal in der Woche, ungerechnet die gelegentlichen Besuche, die er hin und wieder machte, wenn er

»zufällig in der Gegend«war.Übrigens ging alles vorzüglich; die Heilung verlief regelrecht, und als man nach sechs und einer halbenWocheVaterRouault ohne Stock wieder in Haus und Hof herumstiefeln sah, hatte sich Bovary in der ganzen Gegend den RufeinerKapazitäterworben.DeralteHerrmeinte,besserhättenihndieerstenÄrztevonYvetotoder selbst von Rouen auch nicht kurierenkönnen.

Karldachtegarnichtdaran,sichzubefragen,warumersogernnachdemRouaultschen Gute kam. Und wenn er auch darüber nachgesonnen hätte, so würde er den Beweggrund seines Eifers zweifellos in die Wichtigkeit des Falles oder vielleicht in das in Aussicht stehende hohe Honorar gelegt haben.Warendies aber wirklich die Gründe, die ihm seine Besuche des Pachthofes zu köstlichen Abwechselungen in dem armseligen Einerlei seines tätigen Lebens machten? An solchenTagenstand er zeitig auf, ritt im Galopp ab und ließ den Gaul die ganze Strecke lang kaum zu Atem kommen. Kurz vor seinem Ziele aber pflegte er abzusitzen und sich die Stiefel mit Gras zu reinigen; dann zog er sich die braunen Reithandschuhe an, und so ritt er kreuzvergnügt in den Gutshof ein. Es war ihm einWonnegefühl,mit der Schulter gegen den nachgebenden Flügel des Hoftores anzureiten,denHahnaufderMauerkrähenzuhörenundsichvonderDorfjugendumringt zu sehen. Er liebte die Scheune und die Ställe; er liebte den Papa Rouault, der ihm so treuherzig die Hand schüttelte und ihn seinen Lebensretter nannte; er liebte die niedlichen Holzpantoffeln des Gutsfräuleins, die auf den immer sauber gescheuerten Fliesen der Küche so allerliebst schlürften und klapperten. In diesen Schuhen sah Emma viel größer aus denn sonst.WennKarl wieder ging, gab sie ihm jedesmal das Geleit bis zur ersten StufederFreitreppe.WarseinPferdnochnichtvorgeführt,dannwartetesiemit.Siehatten schon Abschied voneinander genommen, und so sprachen sie nichtmehr.Wennes sehr windigwar,kam ihr flaumiges Haar im Nacken in wehendenWirrwarr,oder die Schürzenbänder begannen ihr um die Hüften zu flattern. Einmal warTauwetter.An den Rinden der Bäume rannWasserin den Hof hinab, und auf den Dächern der Gebäude schmolz aller Schnee. Emma war bereits auf der Schwelle, da ging sie wieder ins Haus, holte ihren Sonnenschirm und spannte ihn auf. Die Sonnenlichter stahlen sich durch die taubengraue Seide und tupften tanzende Reflexe auf die weiße Haut ihres Gesichts. Das gab ein so warmes und wohliges Gefühl, daß Emma lächelte. EinzelneWassertropfenprallten auf das Schirmdach, laut vernehmbar,einer,wiedereiner,noch einer…

Im Anfang hatte Frau Bovary häufig nach Herrn Rouault und seiner Krankheit gefragt, auch hatte sie nicht verfehlt, für ihn in ihrer doppelten Buchführung ein besondres Konto

 

einzurichten. Als sie aber vernahm, daß er eineTochterhatte, zog sie nähere Erkundigungen ein, und da erfuhr sie, daß Fräulein Rouault imKloster,bei den Ursulinerinnen, erzogen wordenwar,sozusagen also »eine feine Erziehung genossen« hatte, daß sie infolgedessen Kenntnisse imTanzen,in der Erdkunde, im Zeichnen, Sticken und Klavierspielen haben mußte. Das ging ihr über die Hutschnur, wie man zu sagen pflegt.

»Also darum!« sagte sie sich. »Darum also lacht ihm das ganze Gesicht, wenn er zu ihr hinreitet! Darum zieht er die neue Weste an, gleichgültig, ob sie ihm vom Regen verdorben wird! Oh dieses Weib, dieses Weib!«

InstinktivhaßtesieEmma.ZuersttatsiesicheineGüteinallerhandAnspielungen.Karl verstand das nicht. Darauf versuchte sie es mit anzüglichen Bemerkungen, die er aus Angst vor einer häuslichen Szene über sich ergehen ließ. Schließlich aber ging sie im Sturmvor.Karl wußte nicht, was er sagen sollte.Weshalbrenne er denn ewig nachBertaur,wo doch der Alte längst geheilt sei, wenn die Rasselbande auch noch nicht berappt habe? Na freilich, weil es da ›eine Person‹ gäbe, die fein zu schwatzen verstünde, einWeibsbild,das sticken könne und weiter nichts, ein Blaustrumpf! In die sei er verschossen! Ein Stadtdämchen, das sei ihm ein gefundenesFressen.

»Blödsinn!« polterte sieweiter.»DieTochterdes alten Rouault, die und eine feine Dame!Ojeh!IhrGroßvaterhatnochdieSchafegehütet,undeinVettervonihristbeinahe vor den Staatsanwalt gekommen, weil er bei einem Streite jemanden halbtot gedroschen hat! So was hat gar keinen Anlaß, sich was Besonders einzubilden und Sonntags aufgedonnert in die Kirche zu schwänzeln, in seidnen Kleidern wie eine Prinzessin. Und der Alte, der arme Schluder!Wennim vergangenen Jahre die Rapsernte nicht so unverschämt gut ausgefallen wäre, hätte er seinen lumpigen Pacht nicht mal blechen können!«

Die Freude war Karl verdorben. Er stellte seine Ritte nach Bertaur ein. Seine Frau hatte ihn nach einer Flut von Tränen und Küssen und unter tausend Zärtlichkeiten auf ihr Meßbuch schwören lassen, nicht mehr hinzugehen. Er gehorchte. Aber in seiner heimlichen Sehnsucht war er kühner; da war er empört über seine tatsächliche eigne Feigheit. Und in naivem Machiavellismus sagte er sich, gerade ob dieses Verbots habe er ein Recht auf seine Liebe. Was war die ehemalige Witwe auch für ein Weib: sie war spindeldürr und hatte häßliche Zähne; Sommer wie Winter trug sie denselben schwarzen Schal mit dem über den Rücken herabhängenden langen Zipfel; ihre steife Figur stak in den immer zu kurzen Kleidern wie in einem Futteral, und was für plumpe Schuhe trug sie über ihren grauen Strümpfen.

Karls Mutter kam von Zeit zu Zeit zu Besuch. Dann wurde es noch schlimmer; dann hackten sie alle beide auf ihn ein. Das viele Essen bekäme ihm schlecht. Warum er dem ersten besten immer gleich ein Glas Wein vorsetze? Und es sei bloß Dickköpfigkeit von ihm, keine Flanellwäsche zu tragen.

Zu Beginn des Frühlings begab es sich, daß derVermögensverwalterder Frau verwitweten Dubuc, ein Notar in Ingouville, samt allen ihm anvertrauten Geldern übers MeerdasWeitesuchte.NunbesaßsieallerdingsaußerdemeinenSchiffsanteilinderHöhe von sechstausend Franken und ein Haus in Dieppe. Aber von allen diesenvielgepriesenen

 

Besitztümern hatte man nie etwas Ordentliches zu sehen bekommen. DieWitwehatte nichts mit in die Ehe gebracht als ein paar Möbel und etliche Nippsachen. Nunmehr ging man der Sache auf den Grund, und da stellte sich denn heraus, daß besagtes Haus bis an dieFeueressemitHypothekenbelastet,daßkeinMenschwußte,wievielGeldwirklichmit dem Notar zumTeufelgegangen, und daß die Schiffshypothek keine tausendTalerwertwar.Folglich hatte die liebe Frau Heloise geflunkert. In seinem Zorn warf der alte Bovary einen Stuhl gegen dieWand,daß er in tausend Stücke ging, und machte seiner Frau denVorwurf,sie habe den Jungen in das Unglück gestürzt und ihn mit einer alten Kracke eingespannt, die des Futters nicht einmal mehr wertsei.

Sie fuhren nach Tostes. Es kam zu einer Auseinandersetzung und zu heftigen Szenen. Heloise warf sich weinend in die Arme ihres Gatten und beschwor ihn, sie den Eltern gegenüber in Schutz zu nehmen. Karl wollte die Partei seiner Frau ergreifen. Aber das nahmen ihm die Alten übel. Sie reisten ab.

Diesen Schlag vermochte Heloise nicht zu verwinden. Acht Tage darnach, als sie dabei war, Wäsche im Hofe aufzuhängen, bekam sie einen Blursturz, und am andern Morgen war sie tot.

Als Karl vom Friedhofe zurückkam, fand er im Erdgeschoß keinen Menschen. Er stieg die Treppe hinauf. Wie er in das Schlafzimmer trat, fiel sein Blick auf einen Rock Heloisens, der am Bette hing. Er lehnte sich gegen das Schreibpult und blieb da hocken, bis es dunkel wurde, in schmerzliche Träumereien versunken. Alles in allem hatte sie ihn doch geliebt …

 

Kapitel      3

 

Eines Vormittags erschien Vater Rouault und brachte das Honorar für den behandelten Beinbruch: fünfundsiebzig Franken in blanken Talern und eine Truthenne. Er hatte Karls Unglück erfahren und tröstete ihn, so gut er konnte.

»Ich weiß, wie einem da zumute ist!« sagteer,indem er demWitwerauf die Schulter klopfte. »Habs ja selber mal durchgemacht, ganz so wie Sie! Als ich meine Selige begraben hatte, da lief ich hinaus ins Freie, um allein für mich zu sein. Ich warf mich imWaldehin und weinte mich aus. Fing an, mit dem lieben Gott zu hadern, und machte ihm die dümmstenVorwürfe.An einem Aste sah ich einen verreckten Maulwurf hängen, dem der Bauch von Würmern wimmelte. Ich beneidete den Kadaver! Und wenn ich daran dachte, daß im selben Augenblicke andre Männer mit ihren netten kleinen Frauen zusammen waren und sie an sich drückten, schlug ich mit meinem Stocke wild um mich. Es war sozusagen nicht mehr ganz richtig mitmir.Ich aß nichtmehr.Der bloße Gedanke, ineinKaffeehauszugehn,ekeltemichan.GlaubenSiemirdas!Na,undsonachundnach im Gang der Zeiten, wie so der Frühling demWinterund der Herbst dem Sommer folgte, da gings eins, zwei, drei, und weg war der Jammer!Weg!Hinunter! Das ist das richtigeWort:hinunter! Denn ganz kriegt man ja so was im ganzen Leben nicht los. Da tief drinnen in der Brust bleibt immer was stecken. Aber Luft kriegt man wieder! Sehen Sie, das ist nun einmal unser aller Schicksal, und deshalb darf man nicht gleich die Flinte ins Kornwerfen.Mandarfnichtsterbenwollen,weilanderegestorbensind.AuchSiemüssen sich aufrappeln, Herr Bovary! Es geht alles vorüber! Besuchen Sie uns! Sie wissen ja, meine Emma denkt oft an Sie. Sie hätten uns vergessen, meint sie. Es wird nun Frühling. Zerstreuen Sie sich ein bißchen bei uns. Schießen Sie ein paar Karnickel auf meinem Revier!«

Karl befolgte seinen Rat. Er kam wieder nach Bertaux und fand da alles wie einst, das heißt wie vor fünf Monaten. Die Birnbäume hatten schon Blüten, und der treffliche Vater Rouault war wieder mordsgesund und von früh bis abend auf den Beinen. Und im ganzen Gut war mächtiger Betrieb.

Es war ihm eine Ehrensache, den Arzt mit der erdenklichsten Rücksicht auf sein Leid zu behandeln. Er bat ihn, sichs so bequem wie nur möglich zu machen, sprach im Flüstertone mit ihm wie mit einem Genesenden, und er war sichtlich außer sich, wenn man des Gastes wegen nicht, wie befohlen, die leichtverdaulichsten Gerichte auf den Tisch brachte, zum Beispiel feine Eierspeisen oder gedünstete Birnen. Er erzählte Anekdoten und Abenteuer. Zu seiner eignen Verwunderung lachte Karl. Aber mir einem Male erinnerte er sich seiner Frau und wurde nachdenklich. Der Kaffee ward gebracht, und da vergaß er sie wieder.

Je mehr er sich an sein Witwertum gewöhnte, um so weniger gedachte er derVerstorbenen.Das angenehme, ihm neue Bewußtsein, unabhängig zu sein, machte ihmdie Einsamkeitbalderträglicher.JetztdurfteerdieStundenderMahlzeitenselberbestimmen,

 

konnte gehen und kommen, ohne Rechenschaft darüber geben zu müssen, und wenn er müdewar,alle vier von sich strecken und sich in seinem Bette breit machen. Er hegte und pflegtesichundließalleTröstungenübersichergehen.ÜbrigenshattederTodseinerFrau keineungünstigeWirkungaufseinenBerufalsArzt.Indemmanwochenlangineinemfort sagte: »Der armeDoktor.Wietraurig!« blieb sein Name im Munde der Leute. Seine Praxis vergrößerte sich. Und dann konnte er nun nach Bertaux reiten, wann es ihm beliebte.EineunbestimmbareSehnsuchtwuchsinihmauf,einnamenlosesGlücksgefühl.

Wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich den Bart Strich, fand er sich gar nicht übel.

Eines schönenTageskam er nachmittags gegen drei Uhr im Gute angeritten. Alles war draußen auf dem Felde. Er betrat die Küche. Emma war drinnen, aber er bemerkte sie zunächst nicht. Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes stachen die Sonnenstrahlen mit langen dünnen Nadeln auf die Fliesen, oder sie brachen sich an den Kanten der Möbel entzwei und wirbelten hinauf zur Decke. Auf dem Küchentische krabbeltenFliegenandenGläsernhinauf,purzeltensummendindieApfelweinneigenund ertranken. Das Sonnenlicht, das durch den Kamin eindrang, verwandelte die rußige Herdplatte in eine Samtfläche und färbte den Aschehaufen blau. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herd und nähte. Sie hatte kein Halstuch um, und auf ihren entblößten Schultern glänzten kleineSchweißperlen.

NachländlichemBrauchbotsiedemAnkömmlingeinenTrunkan.Alserihnausschlug nötigte sie ihn, und schließlich bat sie ihn lachend, ein Gläschen Likör mit ihr zu trinken. Sie holte aus dem Schranke eine Flasche Curaçao, suchte zwet Gläser heraus, füllte das eine bis zum Rande und goß in das andre ein paar Tropfen. Sie stieß mit Karl an und führte dann ihr Glas zum Munde. Da soviel wie nichts drinwar,mußte sie sich beim Trinken zurückbiegen. Den Kopf nach hinten gelegt, die Lippen zugespitzt, den Hals gestrafft, so stand sie da und lachte darüber, daß ihr nichts auf die Zunge lief, obgleich diese mit der Spitze aus den feinen Zähnen herausspazierte und bis an den Boden des Glases mehreremals suchendvorstieß.

Emma nahm wieder Platz und begann sich von neuem ihrer Handarbeit zu widmen. Ein weißer baumwollener Strumpf war zu stopfen. Mit gesenkter Stirn saß sie da. Sie sagte nichts und Karl erst recht nichts. Der Luftzug, der sich zwischen Tür und Schwelle eindrängte, wirbelte ein wenig Staub von den Fliesen auf. Karl sah diesemTanzeder Atome zu. Dabei hörte er nichts als das Hämmern seines Blutes im eignen Hirne und aus der Ferne das Gackern einer Henne, die irgendwo im Hofe ein Ei gelegt hatte. Hin und wiederhieltEmmadieHandflächenihrerHändeaufdenkaltenKnaufderHerdstangeund preßte sie dann an ihreWangen,um diese zukühlen.

Sie klagte über die Schwindelanfälle, von denen sie seit Frühjahrsanfang heimgesucht wurde, und fragte, ob ihr wohl Seebäder dienlich wären. Dann plauderte sie von ihrem Aufenthalt im Kloster und er von seiner Gymnasiastenzeit. So gerieten sie in ein Gespräch.SieführteihninihrZimmerundzeigteihmihreNotenheftevondamalsunddie niedlichenBücher,die sie als Schulprämien bekommen hatte, und die Eichenlaubkränze, dieimunterstenSchrankfacheihrDaseinfristeten.DannerzähltesievonihrerMutter,von deren Grabe, und zeigte ihm sogar im Garten das Beet, wo die Blumen wüchsen, die sie derTotenjedenerstenFreitagimMonathintrug.DerGärtner,densiehatten,verstünde

 

nichts. Mit dem seien sie schlecht dran. IhrWunschwäre es, wenigstens während der Wintermonate in der Stadt zu wohnen. Dann aber meinte siewieder,an den langen Sommertagen sei das Leben auf dem Lande noch langweiliger. Und je nachdem, was sie sagte, klang ihre Stimme hell oder scharf; oder sie nahm plötzlich einen mattenTonan, undwennsiewiemitsichselbstplauderte,wardsiewiederganzanders,wieflüsterndund murmelnd. Bald war Emma lustig und hatte große unschuldige Augen, dann wieder schlossen sich ihre Lider zur Hälfte, und ihr schimmernder Blick sah teilnahmslos und traumverlorenaus.

Abends auf dem Heimritt wiederholte sich Karl alles, was sie geredet hatte, bis ins einzelne, und versuchte den vollen Sinn ihrer Worte zu erfassen. Er wollte sich damit eine Vorstellung von der Existenz schaffen, die Emma geführt, ehe er sie kennen gelernt hatte. Aber es gelang ihm nicht, sie in seinen Gedanken anders zu erschauen als so, wie sie ausgesehen hatte, als er sie zum ersten Male erblickt, oder so, wie er sie eben vor sich gehabt hatte. Dann fragte er sich, wie es wohl würde, wenn sie sich verheiratete, aber mit wem? Ja, ja, mit wem? Ihr Vater war so reich und sie … so schön!

Und immer wieder sah er Emmas Gesicht vor seinen geistigen Augen, und eine Art eintönige Melodie summte ihm durch die Ohren wie das Surren eines Kreisels: »Emma, wenn du dich verheiratetest! Wenn du dich nun verheiratetest!« In der Nacht konnte er keinen Schlaf finden. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er verspürte Durst, stand auf, trank ein Glas Wasser und machte das Fenster auf. Der Himmel stand voller Sterne. Der laue Nachtwind strich in das Zimmer. Fern bellten Hunde. Er wandte den Blick in die Rötung nach Bertaux.

Endlich kam er auf den Gedanken, daß es den Hals nicht kosten könne, und so nahm er sichvor,bei der ersten besten Gelegenheit um Emmas Hand zu bitten. Aber sooft sich diese Gelegenheit bot, wollten ihm vor lauter Angst die passendenWortenicht über die Lippen.VaterRouault hätte längst nichts dagegen gehabt, wenn ihm jemand seineTochtergeholt hätte. Im Grunde nützte sie ihm in Haus und Hof nicht viel. Er machte ihr keinenVorwurfdaraus: sie war eben für die Landwirtschaft zu geweckt. »Ein gottverdammtes Gewerbe!« pflegte er zu schimpfen. »Das hat auch noch keinen zum Millionär gemacht!« Ihm hatte es in derTatkeine Reichtümer gebracht; im Gegenteil, er setzte alle Jahre zu. Denn wenn er auch auf den Märkten zu seinem Stolz als gerissener Kerl bekanntwar,so war er eigentlich doch für Ackerbau undViehzuchtdurchaus nicht geschaffen. Er verstand nicht zu wirtschaften. Er nahm nicht gern die Hände aus den Hosentaschen, und seinem eigenen Leibe war er keinStiefvater.Er hielt auf gut Essen und Trinken, einen warmenOfenundausgiebigenSchlaf.EingutesGlasLandwein,einhalbdurchgebratenes Hammelkotelett und ein Täßchen Mokka mit Kognak gehörten zu den Idealen seines Lebens. Er nahm seine Mahlzeiten in der Küche ein und zwar allein für sich, in der Nähe des Herdfeuers an einem kleinenTische,der ihm – wie auf der Bühne – fix und fertig gedeckt hereingebracht werdenmußte.

Als er die Entdeckung machte, daß Karl einen roten Kopf bekam, wenn er Emma sah, war er sich sofortklar,daß früher oder später ein Heiratsantrag zu erwartenwar.Alsobald überlegteersichdieGeschichte.BesondersschneidigsahjaKarlBovarynichtgeradeaus, und Rouault hatte sich ehedem seinen künftigen Schwiegersohn ein bißchen anders gedacht,abererwardochalsanständigerKerlbekannt,sparsamundtüchtiginseinem

 

Berufe. Und zweifellos würde er wegen der Mitgift nicht lange feilschen.VaterRouault hatte gerade eine Menge großer Ausgaben. Um allerlei Handwerker zu bezahlen, sah er sich gezwungen, zweiundzwanzig Acker von seinem Grund und Boden zu verkaufen. Die Kelter mußte auch erneuert werden. Und so sagte er sich:»Wenner um Emma anhält, soll er sie kriegen!«

Zur Weinlese war Karl drei Tage lang da. Aber Tag verging auf Tag und Stunde auf Stunde, ohne daß Karls Wille zur Tat ward. Rouault gab ihm ein kleines Stück Wegs das Geleite; am Ende des Hohlwegs vor dem Dorfe pflegte er sich von seinem Gaste zu verabschieden. Das war also der Moment! Karl nahm sich noch Zeit bis zuallerletzt. Erst als die Hecke hinter ihnen lag, stotterte er los:

»Verehrter Herr Rouault, ich möchte Ihnen gern etwas sagen!« Weiter brachte er nichts heraus. Die beiden Männer blieben stehen.

»Na, raus mit der Sprache! Ich kann mirs schon denken!« Rouault lachte gemütlich.

»Vater Rouault! Vater Rouault!« stammelte Karl.

»Meinen Segen sollen Sie haben!« fuhr der Gutspächter fort. »Meine Kleine denkt gewiß nicht anders als ich, aber gefragt werden muß sie. Reiten Sie getrost nach Hause. Ich werde sie gleich mal ins Gebet nehmen.Wennsie Ja sagt, – wohlverstanden! – brauchen Sie jedoch nicht umzukehren.Wegender Leute nicht, und auch weil sie sich erst ein bißchen beruhigen soll. Damit Sie aber nicht zu lange Blut schwitzen, will ich Ihnen ein Zeichen geben: ich werde einen Fensterladen gegen die Mauer klappen lassen.WennSie da oben über die Hecke gucken, können Sie das ungesehen beobachten!«

Damit ging er.

Karl band seinen Schimmel an einen Baum; kletterte die Böschung hinauf und stellt sich auf die Lauer, die Taschenuhr in der Hand. Eine halbe Stunde verstrich – und dann noch neunzehn Minuten … Da gab es mit einem Male einen Schlag gegen die Mauer. Der Laden blieb sperrangelweit offen und wackelte noch eine Weile.

Am andern Morgen war Karl vor neun Uhr in Bertaux. Emma wurde über und über rot, als sie ihn sah. Sie lächelte gezwungen ein wenig, um ihre Fassung zu bewahren. Rouault umarmte seinen künftigen Schwiegersohn. Die Besprechung der geschäftlichen Punkte wurde verschoben. Übrigens war noch viel Zeit dazu, da die Hochzeit anstandshalber vor Ablauf von Karls Trauerjahr nicht stattfinden konnte, das hieß, nicht vor dem nächsten Frühjahr.

In dieser Erwartung verging derWinter.Fräulein Rouault beschäftigte sich mit ihrerAussteuer.EinTeildavon wurde in Rouen bestellt. Die Hemden und Hauben stellte sie nach Schnitten, die sie sich lieh, selbsther.WennKarl zu Besuch kam, plauderte das Brautpaar von denVorbereitungenzur Hochzeitsfeier. Es wurde überlegt, in welchem Raume das Festmahl stattfinden, wieviel Platten und Schüsseln auf dieTafelkommen und was fürVorspeisenes geben solle.

Am liebsten hätte es Emma gehabt, wenn die Trauung auf nachts zwölf Uhr bei Fackelschein festgesetzt worden wäre; aber für solche Romantik hatte Vater Rouault kein Verständnis. Man einigte sich also auf eine Hochzeitsfeier, zu der dreiundvierzig Gäste

 

Einladungen bekamen. Sechzehn Stunden wollte man bei Tisch sitzen bleiben. Am nächsten Tage und an den folgenden sollte es so weitergehen.

 

Kapitel      4

 

Die Hochzeitsgäste stellten sich pünktlich ein, in Kutschen, Landauern, Einspännern, Gigs, Kremsern mit Ledervorhängen, in allerlei Fuhrwerk moderner und vorsintflutlicher Art.DasjungeVolkausdennächstenNachbardörfernkamtüchtigdurchgerütteltimTrabein einem Heuwagen angefahren, aufrecht in einer Reihe stehend, die Hände an den Seitenstangen, um nicht umzufallen. Etliche eilten zehnWegstundenweit herbei, aus Goderville, Normanville undCany.DieVerwandtenbeider Familien waren samt und sonders geladen. Freunde, mit denen man uneins gewesen, versöhnte man, und es war an Bekanntegeschriebenworden,vondenenmanwerweißwielangenichtsgehörthatte.

ImmerwiedervernahmmanhinterderGartenheckePeitschengeknall.EineWeilespäter erschien derWagenimHoftor.Im Galopp ging es bis zur Freitreppe, wo mit einem Rucke gehalten wurde. Die Insassen stiegen nach beiden Seiten aus. Man rieb sich die Knie und turnte mit den Armen. Die Damen, Hauben auf dem Kopfe, trugen städtischeKleider,goldne Uhrketten, Umhänge mit langen Enden, die sie sich kreuzweise umgeschlagen hatten, oder Schals, die mit einer Nadel auf dem Rücken festgesteckt waren, damit sie hinten den Hals frei ließen. Die Knaben, genau so angezogen wie ihreVäter,fühlten sich in ihren Röcken sichtlich unbehaglich; viele hatten an diesemTagegar zum ersten Male richtige Stiefel an. Ihnen zur Seite gewahrte man vierzehn- bis sechzehnjährige Mädchen, offenbar ihre Basen oder älteren Schwestern, in ihren weißen Firmelkleidern, die man zur Feier desTagesum ein Stück länger gemacht hatte, alle mit roten verschämten Gesichtern und pomadisiertemHaar,voller Angst, sich die Handschuhe nicht zu beschmutzen. Da nicht Knechte genug da waren, um all dieWagengleichzeitig abzuspannen, streiften die Herren die Rockärmel hoch und stellten ihre Pferde eigenhändig ein. Je nach ihrem gesellschaftlichen Range waren sie in Fräcken, Röcken oder Jacketts erschienen. Manche in ehrwürdigen Bratenröcken, die nur bei ganz besonderen Festlichkeiten feierlich aus dem Schranke geholt wurden; ihre langen Schöße flatterten imWinde,die Kragen daran sahen aus wie Halspanzer, und dieTaschenhatten den Umfang von Säcken. Es waren auch Jacken aus derbemTuchzumVorscheingekommen, meist imVereinmit messingumränderten Mützen; fernerhin ganz kurze Röcke mit zwei dicht nebeneinandersitzenden großen Knöpfen hinten in derTailleund mit Schößen, die so ausschauten, als habe sie der Zimmermann mit einem Beile aus dem Ganzen herausgehackt. Ein paar (einige wenige) Gäste – und das waren solche, die dann an der Festtafel gewiß am alleruntersten Ende zu sitzen kamen – trugen nur Sonntagsblusen mit breitem Umlegekragen und Rückenfalten unter demGürtel.

Die steifen Hemden wölbten sich über den Brüsten wie Kürasse. Durchweg hatte man sichunlängstdasHaarschneidenlassen(umsomehrstandendieOhrenvondenSchädeln ab!),undallewarenordentlichrasiert.Manche,dienochimDunkelnaufgestandenwaren, hattenoffenbarbeimRasierennichtLichtgenuggehabtundhattensichunterderNasedie Kreuz und die Quer geschnitten oder hatten am Kinn Löcher in der Haut bekommen, groß wieTalerstücke.Unterwegs hatten sich dieseWundenin der frischen Morgenluft gerötet,

 

und so leuchteten auf den breiten blassen Bauerngesichtern große rote Flecke.

Das Gemeindeamt lag eine halbe Stunde vom Pachthofe entfernt. Man begab sich zu Fuß dahin und ebenso zurück, nachdem die Zeremonie in der Kirche stattgefunden hatte. Der Hochzeitszug war anfangs wohlgeordnet gewesen.Wieein buntes Band hatte er sich durch die grünen Felder geschlängelt. Aber bald lockerte er sich und zerfiel in verschiedeneGruppen,vondenensichdieletztenplauderndverspäteten.Ganzvornschritt ein Spielmann mit einer buntbebänderten Fiedel. Dann kamen die Brautleute, darauf dieVerwandten,dahinter ohne besondre Ordnung die Freunde und zuletzt dieKinder,die sich damit vergnügten, Ähren aus den Kornfeldern zu rupfen oder sich zu jagen, wenn es niemand sah. Emmas Kleid, das etwas zu langwar,schleppte ein wenig auf der Erde hin.VonZeit zu Zeit blieb sie stehen, um den Rock aufzuraffen. Dabei las sie behutsam mit ihrenbehandschuhtenHändendiekleinenstacheligenDistelblätterab,dieanihremKleide hängen geblieben waren. Währenddem stand Karl mit leeren Händen da und wartete, bis sie fertigwar.VaterRouault trug einen neuen Zylinderhut und einen schwarzen Rock, dessen Ärmel ihm bis an die Fingernägel reichten. Am Arm führte er Frau Bovarysenior.Der alte HerrBovary,der im Grunde seines Herzens die ganze Sippschaft um sich herum verachtete, war einfach in einem uniformähnlichen einreihigen Rock erschienen. Ihm zur Seite schritt eine junge blonde Bäuerin, die er mir derben Galanterien traktierte. Sie hörte ihm respektvoll zu, wußte aber in ihrerVerlegenheitgar nicht, was sie sagen sollte. Die übrigen Gäste sprachen von ihren Geschäften oder ulkten sich gegenseitig an, um sich in fidele Stimmung zu bringen.Weraufhorchte, hörte in einem fort das Tirilieren des Spielmannes, der auch im freien Felde weitergeigte. Sooft er bemerkte, daß die Gesellschaft weit hinter ihm zurückgebliebenwar,machte er Halt und schöpfte Atem. Umständlich rieb er seinen Fiedelbogen mit Kolophonium ein, damit die Saiten schöner quietschen sollten, und dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er hob und senkte den Hals seines Instruments, um recht hübsch imTaktezu bleiben. Die Fidelei verscheuchte die Vögel schon vonweitem.

Die Festtafel war unter dem Schutzdache desWagenschuppensaufgestellt. Es prangten daraufvierLendenbraten,sechsSchüsselnmitHühnerfrikassee,einePlattemitgekochtem Kalbfleisch, drei Hammelkeulen und in der Mitte, umgeben von vier Leberwürsten in Sauerkraut, ein köstlich knusprig gebratenes Spanferkel. An den vier Ecken desTischesbrüsteten sich Karaffen mit Branntwein, und in einer langen Reihe von Flaschen wirbelte perlender Apfelweinsekt, während auf derTafelbereits alle Gläser im voraus bis an den Rand vollgeschenkt waren. GroßeTellermit gelber Creme, die beim leisesten Stoß gegen denTischzitterte und bebte, vervollständigten die Augenweide. Auf der glatten Oberfläche dieses Desserts prangten in umschnörkelten Monogrammen von Zuckerguß die Anfangsbuchstaben der Namen von Braut und Bräutigam. Für dieTortenund Kuchen hatte man einen Konditor ausYvetotkommen lassen. Da dies sein Debüt in der Gegendwar,hatte er sich ganz besondre Mühe gegeben. Beim Nachtisch trug er eigenhändig ein Prunkstück seiner Kunst auf, das ein allgemeines ›Ah!‹ hervorrief. Der Unterbau aus blauer Pappe stellte ein von Sternen aus Goldpapier übersätesTempelchendar,mit einem Säulenumgang und Nischen, in denen Statuen aus Marzipan standen. Im zweiten Stockwerk rundete sich ein Festungsturm aus Pfefferkuchen, umbaut von einer Brustwehr aus Bonbons, Mandeln, Rosinen und Apfelsinenschnitten. Die oberste Plattform aber krönte über einer grünen Landschaft ausWiesen,Felsen undTeichenmit

 

Nußschalenschiffchen darauf (alles Zuckerwerk): ein niedlicher Amor, der sich auf einer Schaukel aus Schokolade wiegte. In den beiden kugelgeschmückten Schnäbeln der Schaukel steckten zwei lebendige Rosenknospen.