Mädchen in Uniform - Christa Winsloe - E-Book

Mädchen in Uniform E-Book

Christa Winsloe

4,5

Beschreibung

Die vierzehnjährige Manuela von Meinhardis, Tochter eines Offiziers, wird nach dem Tod der Mutter auf ein Stift für verarmte höhere Töchter nach Potsdam geschickt. Der Erziehungsstil des Internats ist von preußischem Drill und dem Fehlen menschlicher Nähe geprägt. Die Auswirkungen dieses Preußentums auf das sensible junge Mädchen sind verheerend. Wärme und Verständnis geht allein von der jungen Lehrerin Fräulein von Bernburg aus, in die sich Manuela glühend verliebt. Die Internatsleiterin droht die junge Lehrerin zu entlassen. In ihrer Verzweiflung will sich Manuela in den Tod stürzen. Christa Winsloe (1888–1944) wurde als Tochter eines Offiziers in Darmstadt geboren. Sie kam 1903 ins Kaiserin-Augusta-Stift nach Potsdam, ein Internat für Offizierstöchter. Die Mädchen wurden dort mit militärischem Drill erzogen. 1909 zog sie nach München, um an der Königlichen Kunstgewerbeschule Bildhauerei zu erlernen. Ihr erster Bühnenerfolg wurde wenig später unter dem Titel Mädchen in Uniform (1931) verfilmt und machte die Autorin für kurze Zeit weltweit berühmt. Sie ging erst nach Italien und später in die Vereinigten Staaten. Schließlich kehrte Christa Winsloe nach Europa zurück, wo sie sich in Südfrankreich niederließ. Unter ungeklärten Umständen wurde sie bei Cluny am 10. Juni 1944 erschossen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 341

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
12
0
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christa Winsloe

Mädchen in Uniform

Roman

Saga

Erstes Kapitel

Manuela war ein ersehntes Kind, ein im voraus heiß geliebtes Kind. Manuela sollte geboren werden. Manuela sollte ein Mädchen sein. Ehe sie auf die Welt kam, stand ein Haus bereit. Ein schon ungeduldig werdender Vater. Eine Mutter, tief vertraut mit diesem Kinde, noch ehe sie es in den Armen hielt. Zwei Brüder waren gewisse Kameraden. Etwas gönnerisch, aber stolz auf sie – nun da sie wirklich da war.

Manuela mußte am Sonntag geboren werden – es mußte auch Weihnachten sein. Als die beiden Brüder vom Weihnachtskindertheater heimkehrten, lag sie in der Wiege. Sie war angekommen wie ein Weihnachtsgeschenk. Die beiden Brüder wunderten sich nicht. Soeben hatten sie ja das Christkind in der Wiege liegen sehen, im Stall von Bethlehem. So, daß der fünfjährige Bertram zum zehnjährigen Alfred in einer Vorstellungsverwirrung meinte: „Tragen wir sie in den Stall, das wird ihr Spaß machen.“ Nur der Einwand, daß weder Kühe noch ein Esel im Stall seien, sondern lauter Pferde, die es in Bethlehem gar nicht gab, ließ ihn von dem Vorhaben abstehen.

Obwohl jeder sagte, das Kind sei schön, entsprach das nicht der Wahrheit. Denn die dunklen Augen, deren Weißes blau war, entbehrten der Augenbrauen. Man stülpte dem Säugling ein Häubchen auf, um die Kahlheit des Schädels zu decken.

Ängstlich streichelte Frau Käte das haarlose Köpfchen, und als sich dann endlich einzelne seidige, dunkle Haare zeigten, wurde ein Familienfest daraus, und Herr von Meinhardis fand, man müsse eine Flasche Moselwein aufmachen.

Die ersten Jahre vergingen wie ein einziger Schlaf. Lela konnte über den Rand ihrer Wiege nicht hinaussehen. Nur manchmal öffnete sie groß ihre Kirschenaugen, wenn im Hof Vaters Pferde trappelten. Oder wenn die Brüder lärmend von der Schule kamen, ihren Ranzen in die Ecke warfen und „Mutter!“ riefen.

Mutter war sie, die immer da war. Sie, die kam, wenn Lela schrie, sie, die beruhigte, wenn Lela weinte. Lela – das war der Name, den das Kind bildete, nachdem es sich selbst als ein Wesen, gesondert von ihnen allen, erkannt hatte. Der feierliche Name Manuela war für ihr winzig kleines Mäulchen zu schwer. Sie nannte sich Lela, und dabei blieb es dann auch.

Später hat Lela ein Bettchen mit hohen Gittern, damit sie nicht hinausfallen kann. Es ist dunkel im Raum, nur durch die Türritze dringt von außen her ein Lichtstrahl. Der Raum ist hoch.

Lelas seidenweiche Haare sind fest zurückgebürstet und mit einem Band zusammengebunden. Fast schmerzt es. Draußen geht man hin und her. Unruhe im Haus. Rufen und Antworten und wieder Stille. Lela soll schlafen. Sie liegt auf dem Rücken. Mitten auf der Brust, von ihren beiden Händen umklammert, schläft ihr schwarzer Bär. Seine Schnauze hat schreckliche Schnurrbarthaare, wie Papa, wenn man ihn küßt. Aber Lela liebt „Bär“ doch und erst recht, wenn die anderen sagen, er sei abscheulich. Neben Bär rechts und links, mit den Köpfchen auf Lelas Achseln, schlafen die beiden Schnuckis. Zwei weiße Kaninchen. Das heißt, sie waren einmal weiß. Schnucki Nummer eins hat keine Ohren mehr, und die Lederschnauze ist kahl. Mutti hat mit roter Tinte ein Kreuz darauf gemacht, damit man weiß, was vorne ist. Schnucki zwei ist noch neu und mehr zum Streicheln da. Es hat „richtiges“ Fell. Es ist nicht leicht, alle drei auf einmal zu umarmen.

Jetzt trappeln draußen Pferde, und ein Wagen hält knirschend auf dem Sand. Lelas Herz klopft. Sie preßt die Augen zu. Sie weiß, jetzt werden Mutti und Papa die Treppe hinuntergehn, und dann werden sie beide draußen in den Wagen steigen, und dann wird eine Wagentür zuschlagen, und dann ist alles tot und das Haus leer.

Lela krampft die kleinen Finger in das schwarze Plüschfell ihres Bären. „Mutti soll kommen, Mutti muß kommen und mir gute Nacht sagen.“ Heimlich betet sie, obwohl sie weiß, daß man den lieben Gott mit solchen Kleinigkeiten eigentlich nicht belästigen darf – sie betet: „Lieber Gott, mach, daß Mutti noch mal ’reinkommt!“

Da öffnet sich behutsam die Tür. Lela hält fest die Augen geschlossen. Eine sanfte Stimme sagt: „Sie schläft.“ Vorsichtig beugt die Mutter sich nieder. Lela ist plötzlich in schweren Blumenduft eingehüllt. Die kühlen Blüten an Mutters nackter Schulter streifen ihr Gesicht. Lela öffnet ein ganz klein wenig die Augen. Ein weißes Atlaskleid – eine glitzernde Brillantbrosche. Mutters schlanker Arm steckt in langen weißen Glacéhandschuhen, die sich unnatürlich anfühlen. Zart zeichnet die Hand ein Kreuz auf Lelas Stirn: „Gott segne dich, mein Liebling.“

Es knistert und rauscht eine Schleppe. Die Tür knarrt ein wenig. Auch durch die Türritze kommt jetzt kein Licht mehr. Lela reißt die Augen weit auf in der Finsternis.

Die Straße ist naß. Das Pflaster ist holprig. Die Laternen flackern und klirren im Wind. Menschenleer die Straße. Nur die eisenbeschlagenen Hufe lärmen. Im Wagen riecht es nach altem Leder. Wenn der Laternenschein einen Augenblick die Insassen streift, glitzert eine Ordensschnalle. Bunte Bänder dicht aneinandergereiht. Roter Kragen und silberne Borte. Hell geputzte Knöpfe.

„Was ist, Käte, warum seufzt du?“ kommt’s aus der Wagenecke.

„Ach, du weißt doch, mir sind diese Hofbälle eigentlich eine Qual.“

„Glaubst du, mir machen sie Spaß?“ fragt der Major von Meinhardis gekränkt. „Gott weiß, wen ich da wieder zu Tisch führe. Na, und das Essen. Diese Massenfütterungen sind furchtbar. Alles wird kalt serviert. Ein weißer, weichlicher Fisch, und dann Filet – immer Filet.“

Drüben schweigt es. Im Dunkel stiehlt sich ein trüb belustigtes Lächeln über Frau Kätes zartes Gesicht. Aber schon ist sie wieder ernst. Es wäre ja gut gewesen, still zu Hause zu bleiben, bei den Kindern. Zu stricken, einen Brief an Großmama zu schreiben und früh zu Bett zu gehen. Nicht all die fremden Menschen sehen zu müssen. Sie fürchtet sich ein wenig. Es ist dort alles sehr laut. Die Männer, die müde sind vom Dienst, pulvern sich mit Alkohol auf und haben bald rote Gesichter über ihren engen Kragen. Sie tanzen sich heiß und drücken einen an sich. Man wird schwindlig beim Walzer. Dennoch langweilen sich die meisten. Zu Hause ...

Lelas Mutter ist noch fremd in dieser Garnisonstadt Dünheim mit ihrem kleinen Hof. Offiziere werden wie Schachfiguren von unsichtbarer Hand gepackt und woanders hingesetzt. Weggenommen und weitergeschoben, ohne daß man ahnt, warum und wieso. Man zahlt ihnen die Umzugskosten, aber niemand fragt danach, ob sie Freunde verlassen, ob ihrer Frau das neue Klima bekommt – ob sie dort weit von ihrer Heimat ist, ob die Kinder in der neuen Schule weiterkommen oder nicht. Man wird „versetzt“, und dort sitzt man. So klammert sich das Herz einer Frau an die alte Heimat, weil man ihr nie Zeit läßt, sich eine neue zu schaffen. Überall ist’s wie auf Abbruch. Einmal – sicher wie der Tod – kommt die Versetzung. Bis dahin „macht man alles mit“, wo man gerade ist. Das Regiment ist die unweigerlich festgesetzte Gesellschaft. Ob du sie magst oder nicht, die Frau des Kommandeurs, des Majors, des Oberleutnants sind deine Freundinnen. Die werden eingeladen und laden ein und niemand anders. Du kannst unmöglich mit der Frau eines Arztes oder eines Bankiers verkehren – du kommst auch gar nicht in Versuchung, denn es ist durch Konvention gesorgt, daß du sie nicht kennenlernst.

Dann fährst du zum Hofball. Hofball ist Dienst. Da kann man nicht absagen. Wenn man todkrank ist, kann man allenfalls vorher bitten, nicht eingeladen zu werden. Aber einer Einladung – einem Befehl nicht Folge leisten, das gibt’s nicht. „Lieber zu Hause bleiben ...“ Frau Käte wagt es ja gar nicht zu sagen. Welch lächerliches Argument: lieber stricken, lieber einen Brief schreiben – lieber bei den Kindern bleiben. Und sie muß doch nach Pöchlin schreiben. Sie hat für die letzte Wurstsendung von Großmama noch nicht gedankt. Und der Sack Kartoffeln für den Winter und der Zentner Äpfel. Der Schinken reicht mindestens vierzehn Tage. Die Jungens kriegen davon aufs Brot für die Schule. Was die beiden jetzt viel essen. Eigentlich wie erwachsene Männer. Dabei sind sie erst acht und dreizehn Jahre. Aber sie wachsen eben. Alis Hosen sind schon wieder zu kurz. Die kann dann Berti tragen – aber Ali muß einen neuen Anzug haben. Diesen Monat geht’s nicht mehr – wenn nicht Großmama ... Freilich, Großmama hat auch Sorgen. In Pöchlin gibt es alles – nur kein Geld.

Es ist ein regenarmer Sommer gewesen. Gott weiß, wie die Ernte war. Frau Käte sieht im Geiste ihren Vater vor dem Regenmesser stehen, die Millimeter gefallenen Regens abzählend. Dieses Glas, an einem angesägten Baumstamm befestigt, ist der unheimlichste Feind ihrer Kindheit gewesen. Alles hing von diesem Glase ab. Dürre – der Schreck von Vater und Mutter. Dürre – die Angst des Hofgesindes. Dürre – Krankheit fürs Vieh. Dürre – Mißernte. Mißernte – Schulden.

Schulden – Hypotheken. Hypotheken – Ruin. Dann lagen weiße Staubdecken, von der Landstraße hergeweht, auf den Rosen und den Ilexbüschen. Dann welkten die Bäume gelb im Sommer. Dann riß die Erde. Dann spalteten sich die Hufe der Pferde. Dann gediehen die unnatürlichen, wie aus Blech gemachten Agaven vor dem Haus. Stockig und landfremd spotteten sie des Durstes der Geranien und Margeriten. Die Ähren im Feld blieben klein und öffneten ihre Hülsen und streuten ihre spärlichen Samen auf die harte Erde. Düster im prallen Sonnenschein lag das Haus, und düster und schweigend gingen die Bewohner aneinander vorüber ...

Da hält der Wagen mit einem Ruck. Ein galonierter Lakai reißt den Wagenschlag auf – ein Spalier von Neugierigen rechts und links glotzt auf Frau Kätes schmalen Fuß im weißen Atlasschuh. Aber sie tritt nicht auf nasses Trottoir – ein dicker roter Teppich ist aufs Straßenpflaster gelegt, und über ihr schützt sie ein Baldachin vor der Feuchtigkeit leisen Regens, zu dem sie dankbar aufblickt. Einen Augenblick zögert sie, um auf ihren Mann zu warten. Er entsteigt dem Wagen mit Umständlichkeit – die Sporen an den Lackstiefeln zwingen ihn, seitwärts auf die Wagenstufen zu treten. Der pelzgefütterte, hellgraue Umhang mit dem Biberkragen liegt in reichen Falten wie eine Schleppe auf den Stufen des Wagens. Seine braune, knochige Hand rafft den Mantel zusammen. Einen Augenblick unwillig und dann lachend, streifen seine schwarzen, lebendigen Augen die Zuschauer. Leicht legt er die rechte Hand an die Mütze, um dem dienernden Lakai zu danken, dann geht er ohne jede Befangenheit, fast wohlig berührt von den bewundernden und neidischen Blicken der Umstehenden, auf die Wartende zu, bietet ihr den Arm und führt sie die Stufen zum Portal hinauf.

Diese Unbefangenheit gehörte zu Major von Meinhardis wie seine rechte Hand. Sie war ihm eigen und angeboren. Er gefiel sich und gefiel anderen. Er ließ gern durchblicken, daß er von einer spanischen Großmutter „was abgekriegt“ hatte. Seine gelbe Hautfarbe, sein hoher Spann, seine dunklen, weichen Haare waren undeutsch. Seine Regimentskameraden nannten ihn manchmal: „alter Exote“ – dann konnte er ein kleines eitles Lächeln nicht unterdrücken. Liebevoll beschützerisch führt er seine Frau die Stufen hinauf, wie immer in ähnlichen Fällen leise gerührt von ihrer offenbaren Schüchternheit und Fremdheit. Dieser Zug an ihr hatte ihn ja gefangengenommen damals – komisch, wie man in solchen Momenten daran denken mußte: an früher.

Es war Manöverzeit gewesen. Einquartierung. Hitze, Staub und Müdigkeit. Fremde Männer auf müden Pferden, mit staubigen Stiefeln und braunen Gesichtern, ritten sie in die Lindenallee von Pöchlin ein. Das große, weiße, kühle Haus öffnete sich, und drei schüchterne junge Mädchen führten die unbekannten Gäste auf ihre Zimmer. Man riß die Uniform vom Leib, man badete und fiel aufs Bett zu totenähnlichem Schlaf. Fliegen summten am Lüster, brummten an den Scheiben. Der Leutnant von Meinhardis zwinkerte in das grünschattige Licht uralter Kastanien vor dem Fenster. Die Kleine, die Jüngste, wie hieß sie? Käte – er lächelt – Käte. Große Augen – gesagt hat sie, glaube ich, nichts – Mädchen vom Land – wie kommst du dazu, lieber Meinhardis? Du bist wohl verrückt geworden. Wenn das die Prinzessin Schuwaloff hört – na, und die Schermetjeff in Baden-Baden – Meinhardis und eine Käte. Sie lachen mich ja aus. Hier riecht’s nach Äpfeln – denkt er weiter –, sogar nach Goldparmänen und Reinetten. Reinetten schrumpfen wie alte Weiber. Käte – sie wäscht sich mit Lavendel – das habe ich gerochen, ob das weiße Kleid oder ihr Haar oder ihre Hände: deutlich Lavendel. Bittersauber. Komisch ...

„Der Teufel hole diese Einquartierung. Diese leichtsinnigen Husaren kann ich überhaupt nicht leiden“, sagt der alte Pöchliner und klopft an seinem Barometer. Aber dann kommt doch ein Tag, wo alle weißen Türen in Pöchlin mit dicken Girlanden aus blauen Kornblumen bekränzt sind. Roter Mohn stand auf dem Tisch und Kerzen mit weißen Manschetten. Und die weißen Tüllvorhänge waren gestärkt, und das Parkett spiegelte glatt. Der Pfarrer im schwarzen Talar und dem weißen Beffchen sprach zu Tisch den ersten Trinkspruch, und dann stellten sich die Kameraden im roten Rock und dem blauen Dolman über der Schulter vor die Türe mit hochgekreuzten Säbeln und ließen Braut und Bräutigam darunter weg schreiten, hinaus ins Leben – unter Säbeln.

Das alles blitzt vorbei, während Meinhardis langsam die teppichbelegten Stufen hinaufschreitet. Frau Käte fröstelt. Sie zieht den Umhang fester um sich.

Vor den Garderoben trennt man sich. Die Herren werden von Lakaien, die Damen von Beschließerinnen in weißen Häubchen und Kleidern aus starrer schwarzer Seide in Empfang genommen. Hohe, goldgerahmte Spiegel an den Wänden sind dazu da, den zaghaften Neulingen Selbstbewußtsein einzuflößen und die sicheren Blicke schöner Frauen mit stolzen Tiaren aus blitzenden Brillanten aufzufangen. Erst hier lassen die ängstlichen Hände die langen, vor Schmutz zu hütenden Schleppen los. Erst hier knöpfelt man mit kleinen Knöpfern die engen Handschuhe endgültig zu. Dicke Nähkissen mit Nadel und Faden stehen bereit für Unfälle aller Art. Hastiges Begrüßen von Bekannten, inoffiziell sozusagen, denn das eigentliche Guten-Tag-Sagen beginnt erst oben im Saal. Es herrscht eine nervöse Stille im Raum. Man flüstert unterdrückt.

Drüben bei den Herren ist es anders. Da stöhnt man laut über enge Röcke, man reckt vor dem Spiegel den Hals aus zu hohen Kragen, man flucht über einen Riß, den das Rasiermesser in eiliger Hand über das Kinn gezogen hat. Man beklagt sich über Schuster, die nicht mehr verstehen, hohe Lackstiefel zu machen – man fragt, wer von auswärtigen Gästen kommen wird, und bürstet mit kleinen Bürstchen den Schnurrbart vorm Spiegel. Einige befrackte Herren fühlen sich bedrückt in ihrer Farblosigkeit, die sie kaum mit einem roten Ordensbändchen erheitern können. Sie kommen nicht auf gegen diese roten Kragen, grünen Uniformen, blauen Röcke und weißen Kragen, gegen Silber und Gold, Lack und buntes Tuch. Sie sind blaß mit ihrer Stubenfarbe gegen die wetterroten und braunen Gesichter der Reiter. Den Claque unterm Arm stehlen sie sich an ihnen vorüber – die Minister und die Kammerherren vom Kabinett, von denen man keine Ahnung hat, wo und wie sie eigentlich ihren Tag verbringen.

Eine breite Treppe, wieder mit roten Läufern belegt, führt nach oben. Blumen säumen die Stufen. Oben steht ein Kammerherr des Großherzogs. In Vertretung des Hausherrn empfängt er die Gäste. Jeder erhält hier einen kleinen, zusammengefalteten Karton mit eingepreßter goldener Krone. Die Tanzkarte. An seidener Schnur ist ein kleiner Bleistift bereit, die Namen der Tänzer vorzumerken. Das Programm steht fest: Walzer, Polka, Rheinländer. Souper. Walzer, Lancier, Polka, Walzer, Rheinländer, Française und Kotillon.

Alle Räumlichkeiten des alten Schlosses sind an diesem Abend geöffnet. In Gängen, an Türen stehen Lakaien in roten Livreen, goldene Schnüre über der Brust, mit Kniehosen und Eskarpins. Lüster mit Hunderten von warm rotleuchtenden Kerzen geben mildes Licht, beleben die Gesichter und machen die Augen erglänzen. Niemand drängt. Trotz Enge ergibt sich ein sachtes Hin und Her. Ein Grüßen und Begrüßen. Frau Käte gesellt sich zu einigen Damen, während Meinhardis eifrig bemüht ist, seinen Namen auf die Tanzkarten der besten Tänzerinnen einzutragen.

Ein Klopfen bringt das summende Geräusch der Stimmen zum Schweigen. Man tritt zurück, und der Großherzog in Paradeuniform, die Großherzogin führend, schreitet vorüber in den großen Saal.

Dort beginnt der Empfang. Neue Gäste werden vorgestellt. Leise setzt unterdessen ein Walzer ein, und der erste Tanz beginnt. Die alten Damen gruppieren sich langsam an den Wänden entlang auf den Sofas, ältere Herren ziehen sich in die Rauchzimmer zurück. Noch friert man ein wenig, noch steht man herum, noch fühlt man sich wenig heimisch. Man muß so vielen Leuten guten Tag sagen, weil es sich so gehört. Frau Käte sucht die Frau des Kommandeurs auf, sie begrüßt die Hofdamen, die sie huldvollst, als seien sie ihre Vorgesetzten, nach ihren Kindern fragen. Frau Käte darf niemand beleidigen, und so, wie sie ihrerseits ihren Pflichten nachkommt, so melden sich die jüngeren Offiziere, die ihrem Mann unterstellt sind, bei ihr. Freilich sehen sie dabei gar nicht aus, als falle diese Pflicht ihnen schwer. Sie strahlen sie förmlich an. Man führt Käte zum Tanz – man führt sie ans Büfett zu einem Glas Sekt. Allmählich wird es wärmer im Raum. Schon sind die Spitzen einer Schleppe von den Sporen eines Tänzers gerissen. Die Kerzen haben höhere Flammen und betropfen tückisch die ahnungslos unter ihnen stehenden Uniformen.

Frau Käte fliegt von Arm zu Arm. Ermüdet läßt sie sich zu einer Gruppe älterer Damen führen und setzt sich zu ihnen. Gern mischt sie sich in das Gespräch.

„Nein, ich lasse die Butter aus Norddeutschland kommen. Ich finde es sparsamer. Sie hält sich auch gut. Ich quetsche sie in einen großen irdenen Topf und gieße Wasser drauf. Fünf Kilo kommen so bedeutend billiger.“

„Ja, aber zum Kochen verwenden Sie sie nicht?“

„Manchmal doch.“ Sie schämte sich ob ihrer Verschwendung, und wie um sich zu entschuldigen: „Ich bin ja vom Land, Exzellenz. Da ist man so verwöhnt mit Fett ...“

Und die alte Exzellenz nickt verständnisinnig.

Aber man läßt Frau Käte keine Ruhe. Ein eleganter großer Offizier kommt auf sie zu, und sie erhebt sich.

„Was machen Sie denn da bei den alten Schachteln? Da gehören Sie doch nicht hin ...“ Frau Käte senkt den Kopf. Sie spürt die harte, silberne Stickerei der Uniformmanschette an ihrem Nacken. Es tut weh. Er hält sie fester als nötig.

„Wissen Sie denn gar nicht, daß Sie sehr großen Charme haben?“

Diese männliche Stimme, die da so von oben her auf sie einredet, ist ihr peinlich. Sie wünscht, daß die Musik zu Ende gehe. Sie ist auch etwas rot geworden.

„Sie verstecken sich viel zuviel. Sie gehen zuwenig aus, eine junge Frau wie Sie.“

„Ach, das ist doch nichts für mich.“

„Das ist für jede Frau etwas“, und der Mann führt sie, nun die Musik endet, in einen Seitensalon unter eine Stehlampe. Frau Käte hat das nicht gewollt. Aber es ist ihr nicht gelungen, zu entrinnen.

Oberleutnant von Kaisersmark setzt sich nah zu ihr. Das altmodische Sofa ist sehr tief, und Kaisersmark sitzt so, daß sein linkes Knie den Boden berührt, das gibt ihm eine fast kniende Stellung. Er sagt kein Wort, sondern seufzt nur.

„Fehlt Ihnen etwas“, fragt Käte besorgt. Sie sieht, wie schlaff die Falten sind, die sich in Kaisersmarks Gesicht von der Nasenwurzel zum Mund herabziehen. – Schade um das schöne Gesicht, denkt sie.

„Liebe gnädige Frau, eigentlich fällt es mir schwer, Sie mit etwas zu erschrecken, wovon Sie lieber nichts wissen sollten. Aber ich glaube, ich werde ein besserer Mensch sein, wenn ich es Ihnen gesagt habe. Ich habe Schulden gemacht und keine Aussicht, sie jemals bezahlen zu können. Der Kommandeur hat mich verwarnt, aber ich kann ihm nicht helfen.“

„Und Ihr Vater?“

„Er verkauft das Gut, das überlastet ist.“

„Ihre Freunde ...“

„Das ist das Schlimmste. Denen schulde ich allen.“

„Es gibt doch Bankiers ...“

„Auch denen schulde ich!“

„Und nun ...“

„Ja, also liebe, schöne, kleine Frau, Sie sehen mich heute zum letzten Mal. Heute abend ziehe ich die Uniform aus“ – er blickt auf die gestickten Tressen –, „und morgen fahre ich mit einem Handkoffer in einen anderen Erdteil.“

„Nach Amerika? Und was wollen Sie denn dort tun?“

„Ich weiß es nicht. Teller waschen, wahrscheinlich.“

Einen Augenblick ist es still. Einige junge Paare gehen durchs Zimmer, und ein alter Lakai bietet Bowle, Bier und Mineralwasser an. Kaisersmark ergreift ein Glas Wasser und schüttet es hinunter. Käte beginnt von neuem:

„Ich verstehe nicht – verzeihen Sie – wie kam es denn so – dazu.“

Kaisersmark zuckt die Achseln.

„Gott, wie es eben immer kommt. Mein Vater hat mich da in das teure Regiment gesteckt und gedacht, ich würde ja doch bald eine reiche Partie machen – das Geld für die ersten Uniformen hat er sich gepumpt. Na ja, aber eine Kasino-Rechnung hat man doch – und standesgemäß wohnen muß man auch. Und – zugegeben – man braucht nach dem stumpfsinnigen Dienst und der vielen albernen, langweiligen Geselligkeit auch mal was anderes. Gott, ich habe mich verliebt – und das kostet eben auch Geld. Das Gehalt? Das reicht für Zigaretten.“

„Ja, aber ...“

„Sie meinen, ich war leichtsinnig? Da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber machen Sie mir das mal vor! Wasser trinken, wenn vierundzwanzig Kameraden beim Mosel sitzen. Oder mit einem schlechten Pferd vor dem Regiment herreiten. Oder alte Uniformen und geplatzte Lackstiefel tragen. Das kann keiner. Und dann so ein reiches Mädel überfallen. – Nee, ich habe es nicht fertiggebracht. Die Kameraden haben mir einen geladenen Revolver hingelegt ...“

Käte reißt entsetzt die Augen auf.

„Aber ich habe ihn nicht genommen. Ich erschieß’ mich nicht, ich will leben.“

„Natürlich sollen Sie leben, und vielleicht drüben – wer weiß...“ Kaisersmark nimmt Kätes Hand, beugt sich darauf nieder:

„Wollen wir jetzt tanzen gehen?“

Sie nimmt seinen Arm, und er führt sie der Walzermelodie entgegen.

Im Rauchzimmer ist die Luft blau. Auf dem Tisch stehen dicke Rotweinflaschen und viele Zigarrenkisten. Die Gesichter glänzen und sind rot angelaufen.

„Nee, das kann er nicht machen, wenn er noch so verliebt in das Mädel ist.“

„Gott, Axelstern, das sind doch sehr ordentliche Leute, die Löwensteins, und reich.“

„Na ja, gut und schön, aber Juden! Und er mit seiner Stellung bei Hof. Nee, ausgeschlossen. Wenn er so was macht, fliegt er hier ’raus und sitzt übermorgen in einem scheußlichen Grenznest, in einem Linienregiment.“

„Aber hübsch ist sie, sogar schön. Eigentlich ...“

„Ja“, lächelt Axelstern. „Sie haben ja was, diese Judenmädels – Temperament und – na, prost.“

In einer anderen Ecke beugt sich ein ganz junger Leutnant hinüber zu seinem Kameraden.

„Aber du, Stellungskrieg? Das wär’ doch gar kein Krieg. Denk doch bloß mal, du kriegst den Feind gar nicht zu sehen und wirst totgeschossen.“

„Hm, zugegeben, schön ist das nicht.“

„Sieh mal, mein Vater hat den Siebziger Krieg mitgemacht, da haben sie Attacken geritten, Nahkampf und so. Da müßte man eben ein Kerl sein. Aber Schützengraben? Unritterlich.“

Auf der nassen Straße draußen fuhren die Wagen an. Sie waren pünktlich bestellt, denn es wurde Rücksicht darauf genommen, daß die Herren früh aufstehen mußten zum Dienst. Aber nicht alle gingen nach Hause. Viele schlenderten, den Säbel hängenlassend, noch einer kleinen Kneipe zu, um in Gemütlichkeit die Ballereignisse zu besprechen.

Meinhardis schloß Frau Käte die Tür auf, küßte sie: „Gute Nacht.“

„Komm nicht so spät, bitte.“

„Aber Käte, ich will ja nur noch einen Schoppen trinken. Von der Tanzerei kriegt man einen elenden Durst.“

Frau Käte legt die vielen Blumen, die ihr der Kotillon gebracht hat, in ein Waschbecken. Liebevoll löst sie Schnur und Draht und besprengt sie vorsichtig. Die Mimosen duften stark und die weißen Narzissen fremdartig. Geräuschlos öffnet sie eine Tür und steht vor Lelas Bett. Lela atmet ruhig, beide kleinen Hände vergraben in Bärs struppigem Fell.

Lela schleicht in ihren roten Pantöffelchen leise zur Tür und öffnet sie behutsam. Es ist noch dunkel drin bei Mutti. Die Vorhänge sind zugezogen. Aber die Tür hat ein wenig gequietscht, und vom Bett her kommt die verschlafene Stimme Frau Kätes: „Ja, Schätzchen?“ und von der Tür ängstlich: „Mutti, darf ich zu dir kommen?“ und von drüben: „Ja, mein Liebling.“

Auf den Zehenspitzen tastet sich Lela im Dämmerlicht des Zimmers hin zum Bett. Die Bettdecke hebt sich, und wie ein Küken unter die Glucke schlüpft, so kriecht Lela in die Wärme. Dicht hin zu Mutti, die ihren Arm um sie schlingt. Lelas unordentliches Köpfchen liegt an ihrer Brust.

Eine Zeitlang ist es still. Dann Lela: „Mutti, war es schön gestern?“

„Ja, mein Herzchen, sehr schön.“

„Mutti, waren die anderen Damen auch so schön wie du?“

„Ach, viel schöner, Liebling!“

„Aber Mutti, du bist doch schön, ich weiß das.“

„Ich bin nicht schön, Lela. Ich will auch gar nicht. Ich will gut sein.“

Eine Weile ist Ruhe, dann kommt es zögernd von Lela:

„Ja, Mutti ...“

Draußen auf der Straße ist Pferdegetrappel. Es rast ein Wagen vorbei. Im Hause ist Stille. Die Buben sind schon in der Schule, und das Kinderfräulein ist in der Kirche.

„Mutti, warum geht Fräulein Anna jeden Morgen in die Kirche?“

„Weil sie katholisch ist.“

„Warum gehen wir nur Sonntag morgens?“

„Wir sind evangelisch.“

„Ist Fräulein Anna frommer als wir?“

„Nein, wir gehen ja auch manchmal wochentags nachmittags.“

„Ja – aber Mutti, eigentlich muß es schön sein morgens, wenn es noch dunkel ist in der Kirche, oder abends, wenn Lichter brennen.“

„Der liebe Gott ist immer da, Lela, auch am Tag.“

„Ja, Mutti.“

Dies, daß der liebe Gott immer da war, war für Lela ein bißchen unheimlich. Lieber sollte er in der katholischen Kirche sein, von der sie nun einmal nicht loskam.

Diese katholische Kirche war das Aufregendste, was es für Lela in Dünheim gab. Den Mittelpunkt der kleinen sauberen Stadt in Süddeutschland bildete das neue Schloß, das sich der Großherzog erbaut hatte. Davor lag ein großer Platz mit Bäumen und Promenaden. Jeden Mittag spielte dort eine Militärkapelle, und die Leute, die Zeit hatten, gingen da auf und ab. Von dort führte eine schöne breite Straße zu dem Denkmal eines alten Großherzogs. Am Hoftheater und am alten Schloß vorbei kam man in die sogenannte Altstadt. Winkelige kleine Straßen, in deren Mitte der Markt lag. Zwischen dem neuen Schloß aber und demjenigen Stadtteil, wo einzelne Häuser in Gärten lagen und auch Manuelas Elternhaus stand, lag die katholische Kirche. Lelas Weg in die Stadt führte stets daran vorüber oder vielmehr darum herum. Es war ein sonderbares rundes Gebäude. Die Wand war vollkommen kahl und fensterlos. Ohne jeden Schmuck. Nur dünne Linien, dort, wo ein Quader auf dem anderen stand, waren sichtbar. Das Ganze war gedeckt von einer ziemlich flachen Kuppel aus kaltem Schiefer und mutete eher an wie ein Gasometer oder eine Riesenschachtel als eine Kirche. Wäre nicht über dem bescheidenen Eingang ein Kreuz angebracht gewesen, hätte man es auch für eine Art Zirkus halten können.

Die Undurchdringlichkeit dieser feindlichen Mauer, dieses fensterlos verschlossenen Hauses, aus dem eintöniger Gesang und Orgelklänge ertönten – wenn man sehr viel Glück hatte, konnte man ganz von weitem Kerzenschimmer im Dunkeln ahnen –, erregte Lelas Phantasie. Fräulein Anna hätte sie ganz gewiß gern mitgenommen. Aber Mutti würde das nie und nie erlauben. Das wußte Lela. Und fühlte es an dem Ton, in dem Mutti antwortete, wenn Lela sie nach der runden Kirche fragte.

Lela forscht, als sie vorübergehen:

„Fräulein Anna, wie ist es da drin?“

„Ach, sehr, sehr schön, Lela!“

„Fräulein Anna, ich möchte doch so furchtbar gerne einmal ...“

„Mutti will das nicht haben – du hast ja auch eine Kirche, nicht wahr?“

„Ja, Fräulein Anna.“

„Na siehst du. Und wenn du brav bist, dann geht Mutti mit dir Sonntag morgen in die Garnisonkirche – nicht wahr?“

„Ja, Fräulein Anna.“

Schweigend gehen sie nach Hause.

Im Augenblick, wo sie in den Garten treten wollen, wird Papas schwarzer Hengst herausgeführt – und Papa neben dem Pferd winkt: Lela, Lela! Und Lela stürzt sich in seine Arme, die sie emporheben in einem Riesenschwung und auf das Pferd setzen. Der Araber tänzelt ein wenig, aber Papa bringt ihn zur Ruhe und schickt sich an, das Pferd über die Straße hinüber zur Reitbahn zu führen.

Lela strahlt. Das hat sie sich immer gewünscht. Fräulein Anna flüstert: „Herr Major, die gnädige Frau ...“ Aber Meinhardis hört nichts, er ist ja so stolz auf seine Tochter, er will sie zeigen!

Die Reitbahn, eine große dämmerige Halle, ist voller Menschen. Damen in Reitkleidern stehen herum, Herren in Uniform oder roten Röcken sind schon aufgesessen. Plötzlich ein jäher glücklicher Schreck: Musik setzt ein. Der Donauwalzer. Lela wird von irgend jemand auf die Tribüne geführt und auf die Rampe gesetzt. Als ob die Pferde nur darauf gewartet hätten, fangen sie an, sich im Galopp im Walzertakt zu wiegen. Es bilden sich Paare: Immer ein Herr und eine Dame. Ganz dicht bei Lela kommen sie vorüber. Da ist Papa – oh, eine hübsche Dame ist das, die mit ihm reitet! Sie hat dicke weiße Perlen in den Ohren und einen kleinen Dreispitz auf und ganz helle blonde Haare und rote Backen. Das Reitkleid ist eng zugeknöpft, aber doch sehr schön, denkt Lela, und Papa, er reitet eigentlich gar nicht – er spricht und lacht mit der Dame, und es ist so, als ob das Lachen ihn schüttelte und gar nicht das Pferd, auf dessen Rücken er den Takt des Schwebens gelassen mitmacht. Beide, Papa und die Dame, grüßen jedesmal zu Lela hinauf, wenn sie vorüberreiten. – Die Pferde fangen an zu dampfen. Ihre Hufe schlagen dumpf an die Bretterbohlen der Rampe. Die Nüstern schnauben. In der Mitte der Bahn steht ein Mann und gibt Kommandos. Da trennen sich die Pferde an der einen Seite, und dann treffen sie sich wieder. Sie ziehen Kreise, große und kleine, einmal schnell, einmal langsam. Lela ist wie im Traum – und mitten darin Papa und die schöne, schöne Dame.

Beim Mittagessen ist es heute sehr still. Ali und Berti löffeln schweigend ihre Suppe. Papa spricht kein Wort, und Ali sieht verstört zu Mutter hinüber. Sie versucht so zu sein wie immer, aber ihre Unterlippe zittert, und sie ißt nicht. Lela hat ein unklares Gefühl, als sei sie schuldig, als habe sie etwas verbrochen. Es war so schön – aber vielleicht darf man es nicht tun? Vielleicht ist es so etwas Ähnliches wie mit der katholischen Kirche? Stumm geht sie hinauf und wagt nicht, wie Alfred es tut, Mutti zu umarmen, nachdem Papa die Türe hinter sich zugeschlagen hat.

Lela geht zu Laura. Laura ist ihre Taube. Sie steckt ihre kleine Nase in die Flügel hinein und küßt Laura ins Genick, da, wo sie ein schwarzes Ringelchen aus Federn hat. Lauras rote Krallenfüße klammern sich um ihre kleinen Finger, Lauras Federn riechen so lau und gut.

„Laura, ich hab’ dich so lieb!“ sagt sie leise, und eine dicke Träne rollt auf die Federn nieder.

Lela hat einen Lappen in der Hand und eine blaue Schürze um, und Mutti auch, und der ganze Tisch steht voll Silber. Leuchter, die man zusammen- und auseinanderschrauben kann, Teller mit lustigen Rändern. Viele, viele Gabeln und Messer. Aber die soll Lela nicht anrühren – sie hat einen silbernen Brotkorb vor sich, der ringsherum ein ganz dünnes Gitter hat, da können ihre kleinen Fingerchen schön hinein und sauber machen. Auf den meisten Tellern steht etwas geschrieben. Zum Beispiel: Unserm lieben Meinhardis zum Abschied von seinem Regiment oder: Erster Preis im Flachrennen. Gedächtnisrennen von Ziethen. Und ein Datum. Von einem liest Mutti vor: „Meiner lieben Kammerkatze“. – „Mutti, was heißt denn das ‚Kammerkatze‘?“

„Kammerkatze? Das war ein Pferd, ein sehr gutes Pferd. Aber Papa hat es verkauft.“

„Warum, Mutti?“

„Weil Papa nicht soviel Pferde haben kann.“

„Warum kann er nicht soviel Pferde haben?“

„Weil das zuviel kostet. Die fressen zuviel.“

„Sie fressen doch bloß Hafer, Mutti.“

„Ach Kleines, das verstehst du nicht!“ – und ein tiefer Seufzer entringt sich Muttis Brust.

Lela fühlt, daß sie nicht weiterfragen soll. Still putzt sie ihr Körbchen. Dann kommt was anderes. „Wir müssen den Tisch ausziehen“, sagt Mutti, und da müssen immer alle helfen.

Da wird der Eßtisch gepackt und einfach nach zwei Richtungen auseinandergezogen. Lela zieht mit, und Flink bellt. Flink ist ein brauner Hund unbestimmter Rasse, der gerne mitredet, wenn etwas Besonderes geschieht, und heute ist es so besonders, denn es kommen Gäste.

Es werden viele Bretter eingelegt zwischen die auseinandergerissenen Tischteile, sie werden von unten gestützt, und Lela und Flink krabbeln unter den Tisch, wo es dunkel ist, und gucken nach, ob alles stimmt, und dann kommt eine grüne Filzdecke drüber und dann ein riesiges langes Damasttischtuch.

Mutti geht mit Lela zum Wäscheschrank. Lela sieht aufmerksam zu, wie Muttis Hände die hohen Stapel der Servietten abzählen. Mutti hat lange, ganz weiße Finger – Lela hat die Hände so gern. – Wenn Muttis Hand sich doch mal zwischendurch auf meinen Kopf verirrte, denkt sie, oder so zwischen Kleid und Hals – bei Mutti ist das so gut! Papa tut das zwar auch manchmal, aber da kitzelt es bloß. Es ist schrecklich, denkt Lela weiter, von unten her zu ihrer Mutter aufsehend, daß Mutti sich morgens immer so glatt frisiert. Wenn das Haar ein bißchen locker und gebrannt ist, sieht Mutti viel hübscher aus, und dann kommt manchmal Besuch, und der Besuch sieht Mutti so mit der festen engen Frisur, und das ist dann so schlimm, daß Lela sich versteckt, als sei sie selber nicht gut frisiert. Aber Mutti hat im Augenblick gar keine Zeit für Lela. Lela muß Servietten schleppen. Jetzt klirrt es. Mutti ist am Büfett – sie nimmt eine Kristallschale nach der anderen heraus. Die darf Lela auswischen, und dann öffnet Mutti Kompottgläser, und dicke grüne Früchte ergießen sich in die glitzernden Schalen. Von oben sieht’s nicht so lustig aus, aber von der Seite, wo das Glas geschliffen ist. Und jetzt kleine gelbe Mirabellen – und rote Kirschen in ein anderes und schwarze Nüsse in das nächste. Einzeln werden sie auf den Tisch gestellt. Jetzt kommt die Obstschale – Lela darf die Tüten öffnen. Orangen, Trauben, Äpfel, Nüsse, Mandeln, Datteln – wie zu Weihnachten.

„Mutti, warum haben wir das nur für Gäste und nie für uns?“

„Weil wir arme Leute sind, Kind.“

Lela schweigt. Wie traurig das ist, denkt sie, daß wir arme Leute sind. Aber warum sind wir arm? Papa hat Pferde – arme Leute haben keine Pferde. Mutti hat Ballkleider – arme Frauen haben doch keine Ballkleider. Und Silber haben wir auch, und viele Tischtücher, und einen Diener. –

„Mutti, haben arme Leute immer einen Diener?“

„Du bist ein kleines Dummchen, mein Liebling. Das verstehst du nicht.“

Die Kinder werden heute früher als sonst zu Bett geschickt. Mutters Schlafzimmer ist Damengarderobe. Da steht die Waschfrau in ihrem Sonntagskleid. Und bei Papa legen die Herren ab. Es ist kalt draußen, und die Sporen der Herren klirren auf der Treppe. Zwei Lohndiener sind aufgenommen worden. Sie gießen roten und goldgelben Wein in Glaskaraffen. Lela schleicht zur Tür und späht hinaus. Wie ein Märchen sieht der Tisch aus. Kerzen brennen in den silbernen Leuchtern, viele Blumen liegen auf den Tisch gestreut, ganz ohne Wasser. Das Kerzenlicht macht Sternchen in den geschliffenen Gläsern und läßt sie glitzern. Die Diener ziehen sich Handschuhe an und verabreden untereinander, wie sie servieren werden. Sie müssen da anfangen, wo die Frau des Kommandeurs sitzt, und dann zu der nächsthohen Dame gehen und zuletzt zu Mutter. Warum zuletzt zu Mutter? Das kränkt Lela.

Auf jedem Platz liegt eine Karte mit dem Namen derjenigen Person, die da sitzen soll. Papa hat zwei dicke Zigarren geraucht, bis er die Tischordnung fertig hatte, und Mutti war ganz böse, weil das die Gästezigarren waren, und Papa hat gesagt, wenn er für die Gäste arbeitet, verdient er auch die Zigarren, und Mutti hat nicht gesagt, daß sie den ganzen Tag und den Tag nachher und die ganze Woche schon für die Gäste arbeitet und abends nur Bratkartoffeln und Spiegelei gegessen hat. Mutti sagt überhaupt nie etwas, wenn Papa in einem bestimmten Ton antwortet. Und Papa scheint dann gar nicht zufrieden zu sein, er wirft meistens dann die Tür sehr laut zu.

Die Gäste sprachen zuerst sehr wenig, als sie sich niedersetzten. Lela hörte von ihrem Bettchen aus die vielen Suppenlöffel klirren und nur einzelne Stimmen. Dann wurde die Suppe abserviert. Erst nach und nach kam ein Gespräch in Gang; gegen Ende war ein Riesenlärm, der fürchterlich aufflammte, wenn die Diener die Tür öffneten.

Lela wartete gespannt, denn jetzt würde Papas Pferdebursche kommen, der Karl, und ihr von der süßen Speise bringen. Einen ganzen Haufen rosa gesponnenen Zucker brachte er. Das sah wie ein Märchen aus. Eis, gelbes Eis mit einem sonderbaren Geschmack. Karl kniete neben ihrem Bett am Boden und hielt ihr den Teller. Sie stand im Bettchen auf und freute sich über den hohen Rand. Nur wenig Licht vom Korridor drang herein.

„Nach was schmeckt das, Karl?“

„Das ist Maskino“, sagte Karl, und dann kam er wieder auf den Zehenspitzen und brachte ihr furchtbar heimlich ein dünnes hohes Glas. Als sie trinken wollte, prickelte etwas an ihrer Nase.

„Was ist denn das, Karl?“

„Champagner.“

Und Lela trank.

Dann schlich Karl leise hinaus, vorsichtig nach rechts und links spähend, ob man ihn auch nicht gesehen hatte. Vor der Gnädigen war man zwar sicher, aber Fräulein Anna würde so etwas wahrscheinlich auch nicht gebilligt haben. Plötzlich entstand ein Riesenlärm im Eßzimmer. Stühle wurden abgerückt, man wünschte sich laut eine gesegnete Mahlzeit und schob mit rotem Kopf, erhitzt und erleichtert, die Treppe hinauf, dem Mokka, den guten Zigarren und den bunten Likörflaschen zu.

Frau Käte lächelte alle an und fühlte sich wie nach gewonnener und unverwundet überstandener Schlacht. Meinhardis sprach schon ein bißchen laut – aber man klopfte ihm auf die Schulter: Der gute Meinhardis, was der für Witze erzählt – ein reizender Mann!

Lela ist fest eingeschlafen, nachdem die Gäste hinaufgegangen sind. Später sind Wagen vorgefahren, und allerhand fremde Diener sind hereingekommen, um ihre Herrschaften abzuholen. Einer nach dem anderen hat sich mit höflichem Dank verabschiedet. Auch Frau Käte hat sich todmüde niedergelegt. Nur Meinhardis ist mit ein paar Herren sitzen geblieben. Die leeren Flaschen sind zu Batterien gewachsen, und die Aschbecher sind bis zum Rande gefüllt. Aber es ist so gemütlich. Jetzt ist’s erst richtig. Jetzt ist man unter sich, kann sich erzählen, was man will. Wie immer kommt man von Pferden und Frauen nicht los. Meinhardis läßt sich Schönes über Frau Käte sagen und schmunzelt dazu.

Lela schläft fest, als die Türe leise geöffnet wird. Sie erwacht auch gar nicht, als Papa sie aus dem Bett nimmt und sie samt der Bettdecke hinaufträgt. Sie sieht nur auf einmal lauter hübsche Herren in grünen Uniformen und roten Kragen, die sie anlachen.

Einer nimmt sie auf den Schoß. Lela zieht ihre nackten Füßchen unter sich, sie reibt sich die Augen, man lacht. Sie sitzt auf dem Schoß von Rittmeister Sellner, den kennt sie, den mag sie, der hat ein sehr schönes Gesicht.

„Gib mir einen Kuß“, sagt Sellner, und Lela tut es.

Aber warum lachen die anderen so? Jetzt wollen alle einen Kuß haben – aber Lela will nicht mehr. „Nein – die anderen nicht“, erklärt Lela.

Mutti hat am Morgen Migräne. Es muß sehr still sein. Papa bringt aber am Mittag ein Veilchensträußchen, und Mutti muß darüber lächeln, obwohl sie so furchtbare Kopfschmerzen hat.

Im Gebüsch haben die Kinder sich eine Indianerburg gebaut. Papas Manöverzelt ist mit Hilfe von Karl sachgemäß aufgepflockt worden. Ein paar Nachbarkinder in großer Kriegsbemalung sind da. Berti ist Winnetou mit gewaltigem buntem Hauptschmuck und Tomahawk im Gürtel, selbst Ali, der bald 16 jährige, spielt heute mit, aber wohl nur, weil Lela ihn so sehr darum gebeten hat.

Lela hat man auch eine Hahnenfeder auf den Kopf gesteckt und mit einem Stirnband befestigt. Sie ist die Squaw und hat zu Hause zu bleiben und zu kochen, während die Männer sich auf den Kriegspfad begeben. Mit Riesengeschrei stürmen sie von dannen, um mit Skalps und Jagdtrophäen, Triumphgeheule ausstoßend, heimzukehren. Lela sitzt verlassen in dem Zelt. Einer der Jungens, Bertis Freund Gerhard, hat lange Indianerhosen an mit Fransen, die ganzen Seitennähte hinunter, sehr ernst und zum Fürchten sieht sich das an. Lela ist traurig, daß sie bloß eine Squaw ist. Wieder einmal grübelt sie über das Unglück nach, daß sie ein Mädchen ist und keine Indianerhosen tragen darf. Warum dürfen Mädchen keine Hosen tragen, höchstens zum Turnen? Fräulein Anna sagt, es ist nicht passend. Aber es muß doch wunderbar sein, so wie ein Mann daherschreiten zu können, eine Waffe im Gürtel und...

Sie schrickt zusammen. Einer der Rothäute hat sich herangeschlichen und hält mit teuflischer Gebärde seinen langen Speer vor sie hin, an dessen Spitze als Beute aufgespießt Lelas Bär steckt. Lela stößt einen furchtbaren, herzzerreißenden, gellenden Schrei aus. Aber schon ist Ali zur Stelle. Er packt den ahnungslosen Jungen, entreißt ihm Bär, der Sägespäne blutet, haut dem Jäger ein paar kräftige Ohrfeigen und nimmt die zitternd schreiende Lela in die Arme. Vom Hause her hat man den Lärm gehört. Mutter und Fräulein Anna sind schon da.

„Das ist doch nicht so schlimm, Lela“, meint tröstend Fräulein Anna. „Wir nähen das Loch wieder zu.“

Aber Lela schreit nur um so gellender, gefoltert von dieser Vorstellung:

„Nicht nähen, bitte, bitte, nicht nähen!“

Mutter nimmt sie in die Arme.

„Nein, mein Liebling“, sagt sie beruhigend, „das brauchen wir ja auch gar nicht, das wächst von selber wieder zu.“

Ali und Mutti müssen beide neben Lelas Bett sitzen bleiben, bis sie eingeschlummert ist. Noch im Schlaf zuckt sie zusammen. Ihre kleine Hand hält sie fest über Bärs Wunde, bis Ali heimlich der tief Schlafenden das Spielzeug entwenden kann und Mutti den Schaden beim Lampenlicht repariert. Erst als Bär, nur etwas schlanker geworden vom starken Blutverlust, wieder auf seinem Platz an Lelas Brust liegt, kann Ali sich mit gutem Gewissen zu Bett legen.