Madeleine - Andreas Bahlmann - E-Book

Madeleine E-Book

Andreas Bahlmann

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Beschreibung

Gottfried lebt in Paris im 4. Stock hinter dem kleinen Bahnhof von La Garenne Colombes. Er arbeitet als Lieferwagen-Fahrer. Als Jugendlicher ist er nach einer gewaltvollen Kindheit aus seiner Familie nach Paris geflohen. Seine Vergangenheit mit dem trunksüchtigen Vater spielt weiter eine Rolle, auch wenn er sie vergessen möchte. Er kann niemandem vertrauen. Das wurde ihm zum Verhängnis, als er vor Jahren Madeleine in Biarritz traf. Er liebte sie, aber seine Angst vor der Nähe siegte, und er verließ sie. Seitdem wartet er, dass sie sich meldet. Das einzige Wesen, dem er nahesteht, ist seine Hündin Rubi. An einem heißen Sommertag erhält er einen Brief aus der Normandie von dem Vater Madeleines. Sie ist plötzlich aufgebrochen, er hat seit Wochen nichts von ihr gehört. Er bittet Gottfried, ihm zu helfen. Der macht sich mit seinem Hund und den Musikkassetten, die ihn immer begleiten, auf den Weg zum Vater. Er erzählt ihm von Madeleine und gibt ihm einen Hinweis auf ihre Brieffreundin Victoria, die in England lebt. Gottfried reist der Sehnsucht nach seiner großen Liebe hinterher, nach England, dann nach Belgien... Andreas Bahlmann knüpft an seinen Roman "Amour bleu" an. Er versteht es, Gottfried in seiner hingebungsvollen Liebe, seinem Enthusiasmus und seiner Verzweiflung lebendig werden zu lassen und uns durch die unterschiedlichen Landschaften mit ihren historischen Hinterlassenschaften zu führen, immer begleitet von der zur jeweiligen Stimmung passenden Musik.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Andreas Bahlmann

Madeleine

Roman

FUEGO

- Über dieses Buch -

Gottfried lebt in Paris im 4. Stock hinter dem kleinen Bahnhof La Garenne Colombe. Er arbeitet als Lieferwagen-Fahrer. Als Jugendlicher ist er nach einer gewaltvollen Kindheit aus seiner Familie nach Paris geflohen. Seine Vergangenheit mit dem trunksüchtigen Vater spielt weiter eine Rolle, auch wenn er sie vergessen möchte. Er kann niemandem vertrauen. Das wurde ihm zum Verhängnis, als er vor Jahren Madeleine in Biarritz traf. Er liebte sie, aber seine Angst vor der Nähe siegte, und er verließ sie. Seitdem wartet er, dass sie sich meldet. Das einzige Wesen, dem er nahesteht, ist seine Hündin Rubi. An einem heißen Sommertag erhält er einen Brief aus der Normandie von dem Vater Madeleines, die bei ihm wohnte. Sie ist plötzlich aufgebrochen, und er hat seit Wochen nichts von ihr gehört. Er bittet Gottfried, ihm zu helfen. Der macht sich mit seinem Hund und den Musikkassetten, die ihn immer begleiten, auf den Weg zum Vater. Er erzählt ihm von Madeleine und gibt ihm einen Hinweis auf ihre Brieffreundin Victoria, die in England lebt. Gottfried reist der Sehnsucht nach seiner großen Liebe hinterher, nach England, dann nach Belgien...

Vorwort

Ich drehe das Radio lauter.

... there’s a light, a certain kind of light ... that never shone on me ...

Ich liebe dieses Lied.

... You don’t know what it’s like ... baby, you don’t know what it’s like ...to love somebody ...to love somebody ... the way I love you … plärrt es blechern aus dem überforderten Lautsprecher unter dem Gitter neben dem Handschuhfach, als ich in die Rue Colbert einbiege.

Ein langer und anstrengender Tag endet hier, ich bin müde von der Plackerei im Lager.

Ich parke den Lieferwagen am Bordsteinrand, das Zündschloss klickt, als ich den Schlüssel drehe und herausziehe. Augenblicklich verstummt der mehrstimmige Satzgesang der Bee Gees, nur die Karosserie schüttelt sich noch dröhnend unter dem bockigen Nachstottern des Motors, bis sein Betrieb erstirbt. Die Zündung müsste vielleicht mal eingestellt werden, denke ich gleichgültig und schlage die Fahrertür hinter mir zu.

Ich stoße die Tür zum Hauseingang auf, quäle mich ächzend auf den ausgetretenen Treppenstufen die vier Stockwerke zu meiner Wohnung hinauf und zücke umständlich die Schlüssel aus meiner Hosentasche.

Endlich fällt die Tür hinter mir ins Schloss.

Mit dem gezielten Schwung der Erschöpfung lande ich auf meinem Bett und stöhne mich in einen Moment lang ausgestreckten Nichtstuns.

Für einen musikalischen Umweg zum Plattenspieler hat es nicht mehr gereicht.

Irgendwann zünde ich mir eine Zigarette an, mein schläfriger Blick begleitet die lautlos empor tänzelnden Rauchfäden meiner filterlosen Gauloise und folgt den bläulichen Qualm-Wölkchen, welche sich alsbald unter der Zimmerdecke verflüchtigen.

Inhaltsleer kleben meine Gedanken für eine Weile im Schattenwurf der nackt am Kabel einer schlichten Fassung leise baumelnden, brennenden Glühbirne, dann perlen sie träge an der Zimmerwand abwärts.

Das nasse Asphaltsummen der Reifen eines fahrenden Autos schiebt sich über das Rauschen in meinen Ohren, und alles wird plötzlich vom knatternden Auspuff eines durch die Straße lärmenden Mopeds geschluckt. Und ebenso rasch wie es auftauchte, verhallt das Knattern auch schon in einer Seitengasse zwischen den Häuserzeilen.

Ich versinke im Nichts einer bedrückenden Stille, selbst die enge Taktung der täglich am nahegelegenen Bahnhof ein- und ausfahrenden Züge scheint auf einmal zu ruhen.

Der Sog des Nichts ist beengend, die Stille schreit mir meine Trauer und Einsamkeit ins Gesicht und lenkt meine Gedanken auf Rubi.

Meine geliebte Hündin begrüßt und begleitet mich schon seit längerer Zeit nicht mehr.

Sie fehlt mir.

Ja, ich weiß, natürlich war Rubi älter geworden, außerdem wurde sie leider krank und irgendwann musste dann auch dieser Moment so kommen, wie er schließlich kam.

Nur hätte sich Irgendwann auch etwas weniger beeilen können, nachdem ich es gerade erst verstanden hatte, mich im Irgendwann einzurichten, im beruhigenden Klangder Hoffnung.

Natürlich währt nichts für die Ewigkeit oder gar unendlich, mal ganz abgesehen davon überfordern in meinen Augen Begriffe wie Ewigkeit und Unendlichkeit ohnehin die endlichen Grenzen des menschlichen Wissens.

Und wider jegliche Aufklärung und Vernunft verhält es sich oft so, dass irgendwann das Unausweichliche im gedanklichen Abseits verstaut, bis die Ereignisse im freien Fall ins Leben schmettern und vollstrecken.

Eines Morgens wachte ich auf und spürte sofort diese endgültige Stille.

Rubi lag regungslos auf ihrem Tuch in der Ecke. Ihr schönes, lockiges, schwarzes Fell glänzte nicht mehr.

Seit sie mir damals auf einem Rastplatz in der Nähe von Poitiers zulief, hatte sie mich bis auf wenige Tage, weniger als ich Finger an einer Hand habe, durch viele Jahre und Erlebnisse überallhin treu begleitet.

Ich liebte ihr freundliches, liebes Wesen, ihr einzigartiges Grinsen und ihre unkomplizierte Gesellschaft an meiner Seite.

Mein Herz weinte beim Anblick meiner toten Hündin, ihr trauriger Abschied füllte mein einsames Leben mit großer Leere.

Mein Blick streift auf dem Weg nach draußen in die Ferne, der dunstigen Kuppel der Abenddämmerung über den Dächern von Paris, das leuchtende Rot des Apfels auf dem Bild, das neben dem offenen Fenster an der Wand hängt. Und im Vorbeihuschen und der flüchtigen Wahrnehmung des zierlichen Bilderhakens sucht mich eine lange zurückliegende, längst auf den Pfad des Vergessens abgebogen geglaubte Erinnerung heim.

Es ereignete sich gerade gestern, als ich vier, vielleicht aber auch schon fünf Jahre alt war.

Ein gutes, ein unbeschwertes Alter.

Eigentlich.

An einem Tag wie heute dagegen bin ich dreiundsiebzig Jahre alt, dafür aber an anderen Tagen wiederum nicht.

Das ist meistens der Fall.

Man ist so alt wie man sich fühlt, heißt es doch.

Aber mal ganz ehrlich, man fühlt sich doch selten so alt wie man wirklich ist – oder?

Heute fühle ich mich doppelt so alt.

Und es gibt diese Tage, an denen ich in Selbstmitleid zerfließe, aber an den übrigen versuche ich, mich an die Gründe dafür zu erinnern.

Nicht immer gelingen mir die Erinnerungen, manche verweigern sich, manche haben sich hinter Mauern verschanzt, fast alle sind kalt und schmerzhaft. Aber sie stießen diese Tür auf, die Tür zur Flucht durch die Kälte einer regennassen Nacht in mein neues Leben.

Doch ich schweife ab, also wieder zurück zu dem, was sich gestern, im eigentlich guten Kindesalter zarter Unbeschwertheit, ereignete ...

Ich hing an einem dicken, alten Wäscheleinen-Haken, der sich unter den obersten Knopf meines Mantels geschoben hatte.

Die gebogene, stumpfe Spitze dieses rostigen Massiveisens kitzelte bedrohlich und geduldig an meiner Kehle und meinem Zungenbein.

Aber es war nicht lustig kitzelig, darum ersparte ich mir das Lachen.

Regungslos verharrte ich in meiner Gefangenschaft.

Meine Gedanken bereiteten mich mit sanfter Vorsorge darauf vor, wie der Haken zuerst durch die Haut unter meinem Unterkiefer eindringen würde, um mich unmittelbar danach am Unterkieferknochen aufzuhängen, sobald der Knopf an meinem Mantelkragen abreißen oder aus dem Knopfloch rutschen würde.

Einige Momente fragte ich mich, was wohl das Schlimmste wäre: das Geräusch der platzenden Haut, das scheuernde Knirschen von abblätterndem Rost auf Knochen oder die Schmerzen wegen der abgebrochenen und herausgerissenen Zähne ...

Noch hielt der Mantelknopf das Gewicht meines baumelnden Körpers.

Natürlich war es ausdrücklich verboten, auf das Dach des alten Schuppens zu klettern, aber wer kann schon in unbeobachteten Momenten der verlockenden Anziehungskraft von Verboten widerstehen?

Wenig später genoss ich das winterliche, sonnendurchflutete Panorama der umliegenden Gärten, Bäume und Wiesen.

Ich fühlte mich großartig, riesig!

Die gefrorene, rissige Dachpappe knirschte und krachte verräterisch laut unter meinen Schritten, ich musste mich beeilen, mein Hochplateau des Glücks auf schnellstem Wege wieder zu verlassen, denn mit jedem Augenblick des längeren Verweilens wuchs das Risiko der Entdeckung mit anschließender Bestrafung.

Mit zielstrebiger Vorsicht ertastete mein Fuß den ersten Halt an der roten Backsteinmauer und rittlings wagte ich den blinden Abstieg. Ganz eng an die Mauer gepresst, rutschte ich, Stück für Stück, dem sicheren Boden entgegen, bis eben jener Haken die letzte Wegstrecke nach unten stoppte.

Hilflos zappelte ich im Niemandsland zwischen Dach und Erde, zwischen Nähgarn und Tod.

Ich versuchte, mich hochzuziehen, um mich aus den Fängen dieses verdammten Hakens zu befreien. Es knirschte nur einmal kurz, daraufhin zog ich es vor, mich am besten gar nicht mehr zu bewegen. Sollte ich beim Befreiungsversuch abrutschen oder fallen, würde der Knopf ganz sicher abreißen und die rostige Spitze des eisernen Killers mit ungebremster Gewalt ihren Weg in meinen Hals finden.

Mein Leben hing nur noch am Wollfaden des Mantelkragenknopfes, und der kalte Hauch des Todes näherte sich mit stummer Geduld, um meinem gerade erst begonnenen Leben den Atem zu nehmen...

Und hätte mich nicht die nette, ältere Dame entdeckt und mit einem ... Ogottogottogott ... Kindchen ... was machst du denn da bloß ...? vom Wäschehaken gepflückt, dann hätte ich womöglich nie Madeleine kennengelernt und mein Blick hätte vorhin auch nicht dieses kleine Bild gestreift, gleich an der Wand neben meinem Fenster...

Es ist lange her, als sie mit einfachen Buntstiften den Apfel malte und ihrem Bild, kaum größer als eine Postkarte, diese leuchtende Seele einhauchte.

Madeleine war besonders.

Nachdem ich sie das letzte Mal umarmte, verschwand Madeleine im Rückspiegel und mit ihr das ganze Leben meines halben Lebens.

Madeleine roch wunderschön.

Ich hörte auf zu atmen und zählte die Zeit nicht mehr.

Jeder Augenblick ohne sie war zu viel, und dann kam auch noch die Sinnlosigkeit dazu.

Ich liebte Madeleine, es war große Liebe.

Und trotzdem zerriss ich mir mein Herz. Damals in Biarritz.

Ich verstieß Madeleine, weil ich glaubte, nicht anders handeln zu können.

Warum nur konnte mein Leben es nicht dieses eine Mal beim fast belassen?

Das Leben ist voller Irrtümer und Fehler.

Mein Herz zu betrügen war mein größter Fehler, übrig blieb nur die Schneise stetig schrumpfender Hoffnung und wachsender Sehnsucht.

Unzählige Male besuchte ich den Jazzkeller Caveau de la Huchette, mitten im Herzen von Paris, doch Madeleine tauchte dort nie wieder auf.

Keine Spur von ihr.

Madeleine verschwand spurlos aus meinem Leben, nachdem ich sie verlassen hatte.

Ich habe nie angefangen, sie zu vergessen.

Bitte sehen Sie mir den kleinen Anflug von Pathos nach, aber die Empfindungen und Eindrücke der damaligen Umstände erlauben mir bis heute keine passendere Form des Ausdrucks.

Dürfte ich Ihnen vielleicht die ganze Geschichte erzählen?

Es würde vieles erklären und wäre von befreiender Bedeutung, Ihr Interesse, Ihre Geduld und Ihr Gehör zu finden, um Ihnen, aus meiner Sicht, die Fortsetzung der Ereignisse zu schildern, die sich nach meiner Liebesflucht schließlich überstürzten oder zumindest in Teilen so zugetragen haben könnten.

Nun gut, es mag hier und da vorkommen, dass sich im Laufe der gedanklichen oder erzählten Erinnerung einige Dinge verschieben, eintrüben, in die Grauzone des Vergessens drängen oder sogar in einer ausgeschmückten, nie tatsächlich so stattgefundenen Wirklichkeit erstrahlen.

Aber vielleicht sollten Sie sich darüber am Ende besser ihr eigenes Urteil bilden ...

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem diese ganze Geschichte mit einem Mal unaufhaltsam zu rollen begann.

. . .

„Was ist das nur mit euch beiden?" fragte Chandon in unser Schweigen hinein.

Ich schaute ihn an und zuckte wortlos mit den Schultern.

Eine bessere Antwort konnte ich ihm nicht geben, dann zog ich an meiner Zigarette und inhalierte tief.

Irgendwann hatte ich das Nichtrauchen aufgegeben.

Meine Zunge brannte angenehm, der harte Rauch durchschlug meine Kehle und breitete sich in meiner Lunge aus. Beim Ausblasen versuchte ich mit runden Lippen und pulsierenden Stößen meiner Zunge, den Qualm zu Ringen zu formen und meinen Zeigefinger hindurch zu stecken.

Es war ein Spätnachmittag, irgendwann im Juni, draußen herrschte eine schwüle Bruthitze, trotz des geöffneten Fensters stand die Luft in meinem Zimmer und es war stickig heiß.

Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf die Fensterbank und betrachtete gelangweilt das minimalistische Straßengeschehen unter mir, auf der Rue Pierre Brossolette.

Einer der vielen Pariser Vorstadtzüge rumpelte in den kleinen Bahnhof von La Garenne Colombes und kam mit quietschenden Bremsen am Bahnsteig B zum Stehen. Das stählerne Dach der metallenen Raupe blendete im grellen Sonnenlicht und die rußigen Abgase flirrten in der Hitze aus den kleinen Schornsteinen. Laut zischend öffneten sich die Waggontüren und ich fixierte die vereinzelten Fahrgäste, die dem Zug entstiegen, aber sie war wieder nicht unter ihnen.

Ich dachte an unser schicksalhaftes Zusammentreffen, damals, in dem kleinen Waschsalon in Biarritz. Die unvermutete Verkettung von Zufällen hatte mir bereits so viele unglaubliche Geschichten und Begegnungen beschert, also hätte es doch in genau diesem Augenblick wieder so kommen können, trotz - oder vielleicht auch gerade wegen - der schweißtreibenden klimatischen Rahmenbedingungen, die nicht unbedingt zu einer Fahrt nach La Garenne in einer überhitzten Pariser Vorstadtbahn einluden.

Vielleicht machte ich mir auch gehörig was vor und derlei Gedankenspiele waren nicht nur aussichtslos, sondern schlichtweg sinnlos, aber ich war noch nicht so weit, dieses letzte Ritual der Hoffnung endgültig der Hoffnungslosigkeit zu übergeben.

Von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Tod, so verlockend mir dieser auch in manchen Augenblicken zu sein schien.

Ich sah den Rücklichtern des in Richtung Gare St. Lazare auslaufenden Zuges nach, während in meinem inneren Gehör die Rolling Stones Love in vain spielten und die Textzeilen … when the train left the station … the blue light was my baby, and the red light was my mind ... in mich hinein bohrten.

Ich richtete mich auf, setzte mich auf die Fensterbank und wandte mich wieder Chandon zu. Er hatte hier in der Nähe zu tun und auf dem Heimweg einen Abstecher gemacht, um mich auf einen Kaffee zu besuchen.

Chandon war mit den Jahren mein einziger Freund geworden. Ich konnte gut mit ihm schweigen, außerdem nahm er mir meine trübsinnigen Momente nicht übel.

Wahrscheinlich wäre es sogar möglich gewesen, Chandon zu vertrauen, aber das blieb uns bisher erspart. Die Erfahrung meiner frühen Kindheit lehrte mich, mein angeborenes Urvertrauen zu versiegeln, ebenfalls begriff ich frühzeitig die unbedingte Notwendigkeit, nicht mehr umkehrbare Schritte der Entblößung des Vertrauens zu vermeiden, um mein Leben zu schützen - bis zu dem Tag, an dem ich Madeleine begegnete.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken...

Odysseus ließ sich auf seiner Irrfahrt am Mast seines Schiffes anbinden, um nicht dem verlockenden Gesang der Sirenen zu erliegen.

Madeleine saß alleine im Waschsalon auf der Bank, aus dem Kassettenrekorder neben ihr ertönte Harvest von Neil Young ... ihre Erscheinung und diese zarte, melancholisch betörende Melodie trafen mich augenblicklich und unvorbereitet.

Sofort erlag ich ihrer Magie und dann Madeleine.

Von einem Moment zum anderen war nichts mehr wie vorher, als ich nicht gerade glücklich war, aber zumindest geduldig und mit lethargischer Zufriedenheit die Sicherheit des Alleinseins ertrug, mein eigenes, leeres Leben leben zu können, geborgen in der einsamen Freiheit, zugedeckt unter der eisigen Erinnerung einer früh beendeten Kindheit aus Alkoholgestank und lallender Gewalt entkommen zu sein.

Zu einer Ausbildung oder einem gelernten Beruf hatte die Zeit bis zu meiner Flucht nicht mehr gereicht. Erst waren die Geschwister zu klein, die Verantwortung und ihre ängstlichen Augen zu groß, dann blieb nur noch die Zeit übrig, mich vom Urvertrauen zu befreien und gegen die Tortur aus ekelhaftem Gestöhne und Prügel zu wehren.

Ich schlug zurück und ging.

In mein neues Leben nahm ich nicht viel mehr mit als eine eilig gepackte Tasche und Hoffnung.

Gelegenheitsjobs halfen, diese Hoffnung zu bewahren.

Und plötzlich liebte ich Madeleine, doch ich ließ sie feige zurück, bedroht von meinen Gefühlen und meinem Verlangen, sie zu lieben und ihr zu vertrauen.

Doch fortan machte mich die Bequemlichkeit meines Alleinseins, meine sinnlose Freiheit, mein ödes Leben zu ertragen und zu leben, todunglücklich.

„Ich soll dich übrigens unbedingt von Veronique grüßen," holte mich Chandon aus meinen Gedanken, während er mit leise klingelndem Löffel langsam den Zucker in seinem Kaffee umrührte.

Chandon und Veronique waren seit einigen Jahren ein glücklich verheiratetes Paar, sie liebten sich sehr. Vorbei und vergessen die qualvolle Ehe, die Chandon mit Renate und ihrem apricot-farbenen Pudel durchlitten hatte.

Ab und an lockte die Versuchung, die beiden um ihr Glück zu beneiden, aber Veroniques Lachen vertrieb derlei Gedanken genauso schnell wie sie aufkamen.

Ich lächelte.

„Vielen Dank, Chandon. Bitte grüße sie herzlich von mir zurück und sage ihr auch, ich freue mich darauf, sie bald mal wiederzusehen," antwortete ich.

...oh ...what a lucky man ... he was ..., ertönte es vom Plattenspieler und diese, von schwülstigen Synthesizer-Klängen untermalte Textzeile von Emerson, Lake & Palmer passte in das trübsinnige, liebesentleerte Dasein, das ich in dem kleinen Vorort von Paris, dem Vorhof dieser einzigartigen Stadt der Liebe, führte. Wenigstens hatte ich, im Laufe der ungezählten verronnenen Ewigkeiten, durch das Hören von Musik ganz passable Englischkenntnisse erworben.

Ein kurzes Kratzen, dann hob die Plattennadel ab und der Tonarm schwenkte mit einem kräftigen Klack zurück in die Gabelhalterung, um dort bis zum nächsten musikalischen Einsatz zu ruhen.

Wortlos genossen wir den stark gebrühten Kaffee, er tat gut in dieser Hitze, in der jegliche Lust auf Unterhaltung dahinschmolz.

Chandon schwitzte und glänzende Schweißtropfen zogen ihre salzigen Bahnen an seinen Schläfen und am Hals herunter. Ich reichte ihm ein kalt angefeuchtetes Handtuch.

Dankbar wischte er sich damit über Stirn und Nacken und genoss mit einem erleichterten „... aaah!...“ diese wohltuende Erfrischung.

Chandon nutzte den kühlenden Antriebsschub und schickte sich an, zu gehen.

„Ich begleite dich nach unten," sagte ich.

„Du bist dir da sicher, ja? Vier Stockwerke sind bei der Hitze nicht unbedingt eine Kleinigkeit … aber okay, du bist alt genug für schwerwiegende Lebensentscheidungen, Gottfried," frotzelte Chandon.

Auf seiner Stirn hatten sich bereits neue Schweißperlen gebildet und ich merkte, dass auch mein T-Shirt allmählich an meinem schweißnassen Rücken zu haften begann.

„Los, geh einfach runter! Es ist zu heiß für eine anstrengende Diskussion," grinste ich und schubste ihn durch die geöffnete Wohnungstür.

Im Treppenhaus schlug uns der stehende Geruch von Essensdämpfen, erkaltetem Zigarettenrauch und Schmierseife entgegen, aber wenigstens waren die Temperaturen noch einigermaßen auszuhalten und im Vergleich angenehm kühl, was etwas an Schwere aus den Beinen nahm. Wir schwebten geradezu die Treppe hinunter, und ich grinste still in mich hinein über meine spontane gedankliche Vorstellung, wie die Hausbewohner zur Schlafenszeit - im wortlosen Einverständnis - ihre Betten auf die Fluretagen schieben würden, um der komatösen Sauna in ihren Schlafzimmern zu entkommen.

„Wir hatten uns heute nicht viel zu sagen, nicht wahr?" meinte ich zu Chandon, als wir unten am Hauseingang angelangten.

„Es ist einfach zu heiß zum Reden …, mein Freund. Mach dir darüber keine Gedanken,“ zerstreute Chandon augenblicklich den aufkommenden Anflug eines schlechten Gewissens.

Wir umarmten uns freundschaftlich zum Abschied und ich beschloss, mein nun flächendeckend mit Schweiß vollgesogenes T-Shirt umgehend zu wechseln, sobald ich wieder zurück in meiner Wohnung wäre.

„Wir sehen uns," lachte Chandon und fügte mit freundschaftlichem Ton, aber ernsten Gesichtsausdruck hinzu:

„Pass auf dich auf, Gottfried, … deine Traurigkeit …"

Ich nickte nur stumm.

Bevor er um die nächste Straßenecke verschwand, winkte mein besorgter Freund noch ein letztes Mal. Ich hob kurz die Hand, dann wandte ich meinen Blick ab.

Im Umdrehen bemerkte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Djamal.

Er stand, den Rücken mir zugewandt, krumm gebeugt über die Verkaufsregale vor seinem kleinen Magazin und sortierte in den ausgestellten Holzkisten sein feilgebotenes Gemüse und Obst.

„Hallo Djamal, wie geht’s dir und deiner Familie? Wo sind denn deine Töchter?" grüßte ich.

Djamal richtete sich blinzelnd auf, holte sein zusammengeknülltes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn und aus den Augen.

„Oh, du bist es, Gottfried … Danke, es geht uns gut. Azzedine holt gerade die Mädchen von der Schule ab. Sie macht heute bei der Hitze mal eine Ausnahme, um ihnen die anstrengende Nachhausefahrt im vollen und heißen Bus zu ersparen. Aber zum Glück beginnen bald die Schulferien," antwortete er.

Seine Augen strahlten, so wie immer, wenn Djamal von seiner Familie, seinen vier Töchtern und seiner sehr schönen Frau Azzedine sprach.

„Ja, es ist wirklich drückend heiß heute, man mag gar nicht richtig rausgehen ... Gut, ich schaue dann später nochmal bei dir rein, um ein paar Dinge einzukaufen …, aber nur, falls ich nicht vorher einem Hitzschlag erliegen sollte," entgegnete ich.

„Ja, sehr gerne, ... dann pass mal gut auf dich auf ... bis später," lächelte Djamal.

Mit erhobener Hand blinzelte er prüfend in den Himmel und richtete den Sonnenschirm neu aus. Dann wandte er sich wieder seinen Obst- und Gemüsekisten zu und fuhr mit dem Sortieren fort.

Nach so vielen Jahren des Schattenspendens und Regenschutzes vor dem kleinen Magazin funktionierte der robuste Marktschirm immer noch tadellos, auch wenn das einst in bunten Farben strahlende Blumenmuster des Segeltuchs mittlerweile stark ausgeblichen und an manchen Stellen nur noch in Umrissen zu erahnen war.

Ich kehrte wieder ins Haus zurück.

Ich verspürte nicht die geringste Lust aufs Treppensteigen und schon der gedankliche Angriff auf die vier Stockwerke erschöpfte mich. Also warf ich noch einen Blick in meinen Briefkasten, was ich schon seit einigen Tagen nicht mehr getan hatte.

Es benötigte immer etwas Geduld und viel Fingerspitzengefühl, um mit dem antik anmutenden Bartschlüssel die hölzerne Klappe des betagten Briefkastens aufzubekommen.

Mit einem nachdrücklichen, zunehmend ungeduldigen und robusten, in der Summe aber erfolgreichen Ruckeln gab das Schloss seinen ungeölten, rostigen Widerstand auf. Wie die Zugbrücke einer eroberten Burg fiel die Klappe nach unten und brachte einen Brief zum Vorschein, welcher in lässiger Warteposition an der hölzernen Rückwand des Briefkastens lehnte und geduldig auf seine Abholung wartete.

Ich bekam äußerst selten, so gut wie nie Post, dennoch war dieser Brief ganz eindeutig an mich adressiert:

Mr. Gottfried Joseph

2 Rue Colbert

92700 La Garenne - Colombes

Ein Absender war auf dem vergilbten Briefumschlagpapier hingegen nicht zu finden, aber anhand des Poststempels auf der Briefmarke erkannte ich, dass der Brief ein paar Tage zuvor in Frankreich aufgegeben wurde.

Mein Herz pochte wild, und ich spürte, etwas für mich sehr Bedeutsames in den Händen zu halten.

Zu bedeutsam, um den Brief, trotz aller Neugier, sofort an Ort und Stelle aufzureißen und zu lesen.

Ich flog die vier Stockwerke hinauf, aber schwer keuchend und schwitzend stellte ich vor meiner geschlossenen Wohnungstür entsetzt fest, dass der Schlüsselbund noch unten im Briefkastenschloss steckte.

Überflüssigerweise hatte sich inzwischen die Hitze auch im Treppenhaus aufgestaut.

Ich war endgültig bedient, aber es nützte nichts, also noch einmal, mit vor Anstrengung zitternden Beinen, die vier Etagen abwärts, wo ich im Erdgeschoss erst einmal vor dem Briefkasten verweilte und, vornüber auf meine Knie gestützt, verzweifelt nach Luft japste, bevor ich - dieses Mal jedoch todsicher mit Schlüsselbund - nochmals den Vier-Stockwerke-Rückweg durchzustehen hatte.

Schwer schnaufend schloss ich endlich von innen die Wohnungstür hinter mir, doch augenblicklich schoss Rubi, soeben aus ihrem Hitze-Koma unter meinem Bett erwacht, auf mich zu.

Grinsend und gleich mit ihrem gesamten langen Körper schwanzwedelnd, überschlug sich meine Hündin fast vor lauter ungezügelter Begrüßungsfreude. Unmittelbar darauf bereute ich meinen unbedacht leichtsinnigen Versuch, mich erneut auf den Knien abgestützt zu haben, um kurz zu verschnaufen. Mit flinker Zunge und ungestümer Begeisterung leckte Rubi die salzigen Schweißtropfen aus meinem Gesicht.

Als die Vehemenz etwas nachließ, gelang es mir, mich von Rubi zu befreien. Zufrieden trank sie vom frischen, kalten Wasser, das ich in ihren Trinknapf gegossen hatte, und ich betrachtete den Brief, den ich bei der gelungenen Verteidigung gegen diese geballte Ladung tierischer Hingabe nicht aus der Hand verloren hatte.

Der Umschlag war ziemlich verknickt, das Papier zwischen meinen Fingern fühlte sich an manchen Stellen etwas durchweicht an, aber insgesamt hatte mein Brief die Turbulenzen weitgehend unbeschadet überstanden.

So gut es ging, trocknete ich meine schweißnassen Hände und das Gesicht; einige Schweißtropfen hatten bereits einzelne Buchstaben der mit Tinte geschriebenen Adresse unlesbar gemacht.

Dann öffnete ich endlich den Brief. Meine Finger zitterten leicht vor Aufregung, als ich das aus mehreren Seiten bestehende Schriftstück behutsam aus dem strapazierten Umschlag zog und entfaltete.

Der Brief war offensichtlich mit einem schon in die Jahre gekommenen Füllfederhalter geschrieben, denn einige kleinere und größere Tintenflecke zierten einzelne Wörter und Zeilen. Die Handschrift wirkte etwas ungeübt und aus der Zeit gefallen, zeugte aber dennoch von großer Sorgfalt beim Niederschreiben.

Ich begann zu lesen:

Lieber Monsieur Gottfried,

wir sind uns nie begegnet und Sie kennen mich nicht, aber Madeleine ...

- Madeleine! -

Ein gewaltiger, heiß-kalt glühender Blitz durchfuhr mich und mein Herz stolperte vor Aufregung.

Fieberhaft las ich weiter:

... Madeleine erwähnte häufiger Ihren Namen und sprach hin und wieder von Ihnen, wenn sie zu Besuch bei mir war.

Mein Name ist Albert Lopez und ich bin der Vater von Madeleine.

Vor einiger Zeit ist der Kontakt zu ihr leider abgerissen und nun mache ich mir große Sorgen um sie, weil es für ihr spurloses Verschwinden keine schlüssige Erklärung gibt. Madeleine ist meine einzige Tochter, und sie ist alles, was mir, seit dem frühen Tod meiner Frau und ihrer Mutter, von unserer Familie geblieben ist. Und mit jedem weiteren Tag der Ungewissheit über ihren Verbleib, vielleicht sogar Schicksal, wächst in mir die Sorge, Madeleine könnte etwas zugestoßen sein.

Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen gegenüber jetzt ins Persönliche gehe, aber Sie müssen wissen, dass ich meine Tochter über alles liebe.

Und ich weiß, dass Madeleine Sie sehr liebte, und ich vermute, es ist immer noch so, Monsieur Gottfried.

Nicht nur damals war Madeleine über ihre fluchtartige Abreise aus Biarritz ziemlich unglücklich. Und sie bemühte sich wirklich, ihren Kummer darüber in meiner Gegenwart zu verbergen. Wir redeten eigentlich nie darüber, aber ein Vater spürt einfach, wenn es seiner Tochter nicht gut geht ...

Ich setzte den Brief kurz ab und schluckte.

Die letzten Sätze stachen wie peinigende Nadeln mitten ins Herz und rissen mit ihren Widerhaken neue Wunden durch die alten Narben meiner Seele. Solcherart väterliche Gefühle der Sorge waren mir vollkommen unbekannt, in meiner Erinnerung lösten sich väterliche Sorgen fast immer in Prügel auf. Wie benommen setzte ich mich auf den einzigen Stuhl in meinem Zimmer, griff nach der zerknautschten Zigarettenpackung auf dem Tisch und klopfte eine Gauloise heraus.

Erst im dritten Versuch gelang es mir, ein Streichholz an der Reibefläche zu entzünden. Ich zog den ungefilterten Rauch tief hinein in meine Lungen, meine Augen begannen zu tränen und ich versuchte, es auf den beißenden Qualm zu schieben.

Doch es war zwecklos, mir etwas vorzumachen und erneut davonzulaufen.

Madeleine kehrte mit Wucht in mein Leben zurück, ohne es jemals verlassen zu haben. Als es mir gelang, die Tränen zu stoppen, nahm ich den Brief wieder auf und las weiter:

... Bestimmt hatte aus Ihrer Sicht alles seine berechtigten Gründe und ich versichere Ihnen, dass ich Ihr damaliges Handeln aus tiefster Überzeugung respektiere. Alles andere ginge zu weit, die Beziehung zwischen meiner Tochter und Ihnen geht mich ja auch nichts an. Das ist eine ganz persönliche Sache zwischen euch beiden und bitte, Sie müssen mir glauben, lieber Gottfried, es liegt mir fern, mich da in irgendeiner Weise einzumischen.

Dennoch werden Sie sich jetzt - und auch berechtigt - fragen, was ausgerechnet Madeleines Vater von Ihnen will.

Ich möchte es Ihnen erklären:

Vor ein paar Tagen, ich war dabei, aufzuräumen und die Wäsche zu sortieren, fiel aus dem Regal ein zerknittertes Stück Papier auf den Fußboden. Ich hob den Zettel auf, um zu sehen, ob vielleicht etwas Wichtiges darauf geschrieben stand oder ob ich ihn wegwerfen könne.

Sie müssen wissen, mich treibt nicht die Neugierde, sondern ich machte mir das Nachschauen zur Gewohnheit, seit mir einmal aus Unachtsamkeit der Fehler passierte, eine Zeichnung von Madeleine in den Papierkorb zu werfen, die sie auf ein zerknittertes Stück Papier gezeichnet hatte, welches dann versehentlich auf den Boden gefallen war. Es war ein spontaner Entwurf, eine skizzierte Idee für ein Bild, die Madeleine auf einem Papierfetzen festgehalten hatte, bevor sie losging, um sich einen neuen Zeichenblock zu besorgen.

Sie wissen sicherlich, Madeleine zeichnet und malt sehr gerne und viel, ihre große Leidenschaft.

Nun ja, die Aufregung war natürlich groß und auch berechtigt, als sie mit dem Zeichenblock zurückkam und die Skizze, nach langem Suchen, ausgerechnet im Papierkorb wiederfand ...

Seitdem schaue ich jedes Mal genau hin, bevor ich etwas in den Papierkorb werfe.

So also auch dieses Mal.

Und dann las ich auf dem heruntergefallenen Zettel Ihre mit Bleistift geschriebene Adresse, Monsieur Gottfried.

Und es schien mir auf einmal ein Wink des Schicksals zu sein oder vielleicht nennen Sie es auch einfach nur Zufall, dass nun ausgerechnet Ihre Adresse zu diesem Zeitpunkt in meine Hände fiel.

Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein, ohne Sie persönlich zu kennen.

Madeleines Erzählungen war mehr als deutlich zu entnehmen, dass Sie kein schlechter Mensch sein können, sie hätte Sie sonst nie geliebt.

Außerdem spüre ich, nicht nur als alter Mann, sondern ganz besonders als Vater, wann und wem ich vertrauen kann, wenn es um meine Tochter geht.

Deshalb wende ich mich nun vertrauensvoll mit der Bitte um einen Gefallen an Sie ...

Ich schluckte.

Diese letzten Worte wogen tonnenschwer, und aus der Nische meiner Vergangenheit zischte augenblicklich diese eiskalte Stimme wieder ihr zynisches ... Vertrauen macht dich nur erpressbar ... in mein Innerstes.

Wie konnte das sein?

Dabei musste ich doch die Prügel auf mein kindliches Urvertrauen im alkoholgeschwängerten Gestank seiner Worte schon lange nicht mehr ertragen.

Das alles war noch nicht vorbei, hatte aber nach meinem Weggang ohne Abschied wenigstens ein Ende. Als er dann später, so einsam wie er es verdient hatte, endlich aus dem Leben geschieden war, erfüllte mich eine tiefe Erleichterung und befreiende Gewissheit, ihm nicht wieder zu begegnen.

Dann erhielt ich eines Tages ein Paket von einem ehemaligen Bekannten, der auf irgendwelchen Umwegen die Adresse meines neuen Lebens herausgefunden hatte.

In dem Paket schickte er mir einen verschlossenen, alten Schuhkarton, in dem sich teilweise schon vergilbte Fotos und Briefe und sonstige kleine Erinnerungsstücke meines Vaters befanden, so stand es jedenfalls auf der am Kartondeckel befestigten Karte geschrieben.

Der Bekannte hatte es wohl gut gemeint.

Sollte ich es mal gut meinen, würde ich so etwas niemandem antun.

Ausgerechnet auf dem Postweg folgte mir die nostalgische Nachsendung der Vergangenheit, vollgestopft mit Andenken an die gute alte Zeit unerträglicher Verletzungen und Kälte, nachdem ich es endlich geschafft hatte, dieser Gewaltorgie zu entkommen.

Die Grenzen meiner Neugier waren dementsprechend eng gesteckt.

Ich schob das Paket mit dem ungeöffneten Schuhkarton auf unbestimmte Zeit in die Ecke.

Doch die Vergangenheit ließ sich nicht so einfach verschließen und beiseite räumen wie dieser Karton.

In einem der schönsten Augenblicke meines neuen Lebens, als ich es am wenigsten gebrauchen konnte, schlug sie rücksichtslos zu und seine lallende Stimme höhnte mit unerträglichem Atem wieder und wieder ... Du machst dich nur erpressbar ..., bis ich meinem tiefen Verlangen, Madeleine zu vertrauen, schließlich den Rücken zukehrte.

Ich vertraute der Flucht - das hatte mir schon mal geholfen, nicht der Gemeinsamkeit und Liebe, dem Vertrauen - das kannte ich nicht.

Und was hatte ich damit erreicht?

Nichts! Nichts! Absolut gar nichts!

Was für einen Mist habe ich damals nur gemacht, dachte ich.

Und dann schrieb mir ausgerechnet dieser alte Mann, dass er mir sein Vertrauen schenkte, obwohl er mich überhaupt nicht kannte und ich noch dazu seine geliebte und einzige Tochter mit meinem feigen Verhalten unglücklich gemacht hatte.

Seltsam berührt las ich diesen erstaunlichen Brief weiter:

... Ich möchte Sie einladen, mich zu besuchen. Es würde mich wirklich freuen, wenn es für Sie möglich wäre, meiner Einladung zu folgen und ich Sie in meinem Haus als mein Gast begrüßen dürfte, lieber Gottfried.

Ich bin inzwischen ein alter Mann und leider etwas müde und unbeweglich geworden, aber das soll nicht als Ausrede dienen. Ich war nie besonders gut im Reisen. Ich bin zwar mein Leben lang als Hirte mit meinen Schafen gewandert, aber diese Region habe ich nie verlassen.

Madeleine wusste immer, wo sie mich finden kann, und sie musste nie lange nach mir suchen, und nun warte ich vergeblich auf ein Lebenszeichen von ihr.

Als ich den Zettel mit Ihrer Adresse in meinen Händen hielt, wuchs in mir die Hoffnung, Sie wären vielleicht bereit, mir zu helfen und herauszufinden, was mit Madeleine seit ihrem letzten Abschied geschehen ist, wo sie sich gerade aufhält und ob es ihr gut geht, was das Allerwichtigste von allem ist.

Sollten Sie sich zur Hilfe entschließen, würde ich mich glücklich schätzen, Sie persönlich kennenzulernen, außerdem werde ich Ihnen natürlich sehr gerne Rede und Antwort stehen und alles an Informationen geben, was Ihnen irgendwie bei der Suche nach Madeleine von Nutzen sein könnte.

Natürlich sind mir die für Sie damit verbundenen Umstände und Kosten bewusst und ich werde deshalb selbstverständlich für Ihre finanziellen Auslagen und Unannehmlichkeiten aufkommen.

Ich erwarte keine Antwort von Ihnen. Sie werden mich zu Hause antreffen und die Tür steht Ihnen offen, wann immer Sie sich zu einem Besuch entschließen. Sollte ich mal unterwegs und die Haustür verschlossen sein, so liegt der Schlüssel unter der Fußmatte.

Auf dem beigefügten Zettel erhalten Sie eine Wegbeschreibung, wie Sie zu mir gelangen können.

Ich möchte Sie herzlich darum bitten, über mein Angebot nachzudenken, ob Sie meiner Einladung folgen wollen.

Mit herzlichen Grüßen,

Ihr Albert Lopez

Ich legte den Brief auf den Tisch, meine Gedanken und Gefühle zerwühlten die klare Sicht, und durch den salzig tropfenden Schleier vor meinen Augen erahnte ich die silbrige Silhouette der Stadt am dämmernden Horizont.

Die blaue Zigarettenpackung mit dem Gallierhelm knisterte lautstark unter meinen grabenden Fingern, ich riss ein Streichholz über die Reibefläche, zündete eine Gauloise an und überkreuzte meine Beine auf der Tischplatte,

Ich stieß den inhalierten Rauch tief in die stehende Hitze und Totenstille meines Zimmers. Die eng getakteten An- und Abfahrten ruhten, keine Züge, auch keine Musik vom Plattenspieler, ein schlichter Moment betroffener Besinnung nach dieser emotionalen Urgewalt, die diese simple Briefmarke zu mir befördert hatte.

Eigentlich gab es nicht viel zu überlegen, doch dieser unerwartete, möglicherweise schicksalhafte Brief hebelte den Rest meines Seelenlebens mit einem Schlag vollends aus den Angeln. Ausgerechnet ein zusammengeknülltes Stück Papier mit meiner Adresse, sowie die leise Hilflosigkeit aus einer, mir persönlich gänzlich unbekannten, väterlichen Sorge heraus, sollten meinem Leben den hauchdünnen, seidenen Faden der Hoffnung reichen, Madeleine wiederzusehen.

Mein Zögern war nur von kurzer Dauer, denn ich fand keinen überzeugenden Grund gegen die Einsicht, weitaus mehr zu verlieren, wenn ich es nicht täte, also zog ich auch die Wegbeschreibung aus dem Umschlag und entfaltete den Zettel:

 

Mein lieber Monsieur Gottfried,

 

aus Madeleines Erzählungen ist mir bekannt, Sie bevorzugen die Straßen abseits der Autobahnen, und ich werde versuchen, das zu berücksichtigen.

Planen Sie für die Fahrt mit dem Auto ungefähr drei Stunden ein.

Verlassen Sie Paris in nordwestlicher Richtung Normandie, am besten suchen Sie zur ersten Orientierung auf der Karte die Stadt Caen.

Wenn Sie auf der Landkarte eine Linie von Paris nach Caen ziehen, finden Sie auf gut Zweidrittel der Wegstrecke den Ort Lisieux.

Fahren Sie nach Lisieux, das ist Ihr erstes Ziel.

Wenn Sie dort angekommen sind, folgen Sie der Ausschilderung nach

Le Havre / Pont l’Évêque.

Nehmen Sie die Landstraße.

Nach ungefähr 20 Minuten, noch einige Kilometer vor Pont l’Évêque, erreichen Sie Blangy-le-Château. Verlassen Sie die Landstraße, fahren Sie in den Ort hinein, folgen Sie im Kreisel der Ausschilderung nach Le Brévedent. Sie haben es bald geschafft, Gottfried, vor Ihnen liegen nur noch wenige Kilometer Fahrt.

Der Rest des Weges führt Sie nun durch eine weniger stark befahrene und besiedelte Gegend, und wenn Sie Glück haben, werden Sie auf den Hügeln oder in den Weiden sogar einen Fuchs erspähen können... aber das sei nur nebenbei erwähnt.

Kurz nach dem Ortsschild von Brévedent fahren Sie an einer kleinen Straßenkreuzung auf eine alte Mauer aus Felssteinen zu. Diese umschließt das großzügige Anwesen eines ehemaligen Landsitzes einer alteingesessenen Familie, die dort heute einen Campingplatz betreibt.

Suchen Sie den Campingplatz auf, bleiben sie auf der Hauptstraße, der Eingang liegt ein kleines Stück weiter geradeaus, direkt an der Route Du Pin.

Sie können Ihr Auto hinter dem Eingangstor parken, gehen Sie in die Rezeption und fragen Sie nach Antoine.

Die Leute im Büro der Rezeption sind sehr freundlich und hilfsbereit, sie werden informiert sein, für den Fall, dass Sie kommen sollten.

Antoine ist ein alter Freund von mir, er arbeitet auf dem Campingplatz und pflegt den Park und die Außenanlagen.

Er wird Sie zu meinem Haus bringen oder Ihnen erklären, wie Sie zu mir finden. Ich wohne etwas versteckt im Wald, aber nicht weit vom Campingplatz entfernt. Vor Ort werden Sie die kleine Geheimniskrämerei schon verstehen, der Einfachheit halber hinterlegt auch der Postbote meine Post bei der Rezeption.

Lieber Gottfried, nun hoffe ich ganz einfach, Ihnen vielleicht bald persönlich zu begegnen und Sie als mein Gast zu begrüßen.

Ihr

Albert Lopez

 

Meine Augen verweilten noch eine Weile auf der Wegbeschreibung, langsam ließ ich meine Hände in den Schoß sinken.

Natürlich gab es da nicht mehr viel hin und her zu überlegen.

Natürlich nicht!

Mein Blick wanderte zum Türrahmen, wo der Bund mit meinen Autoschlüsseln an einem Nagel hing.

Dieser Brief hatte nicht nur an meiner Neugier gezündelt, mein Herz stand lichterloh in Flammen.

Und trotzdem spürte ich diesen verfluchten inneren Knoten, der mit beständig enger ziehender Schlinge an meinem Lebensmut würgte, gleichzeitig mit seiner Eiseskälte meine Liebe abzukühlen versuchte. Die Geißel der Vergangenheit drängte heimtückisch in die Umklammerung mit der Gegenwart, aus deren grauer Asche dann kaum mehr ein Entrinnen möglich wäre.

Doch mein Zaudern und Trödeln entblößten auch die Bequemlichkeit, in der sich mein Leben mittlerweile im Leiden mit meiner Vergangenheit eingebettet hatte.

Die Kälte der Erinnerungen, gepaart mit verlorener Liebe und unstillbarer Sehnsucht nach Madeleine, waren zu einer trügerischen Komfortzone meiner Identität verkommen, innerhalb der ich meinen Alltag gefahrlos erleiden und ohne Überraschungen meistern konnte.

Die Leute ließen mich weitgehend in Ruhe, mein bester Freund Chandon sorgte sich um mich, also machte ich mir keine Sorgen mehr um mich, und so konnte ich unbehelligt weiter vor mich hin leiden.

Die ganze ungezählte Zeit lang.

Diese Unschlüssigkeit, meine gewohnte Schutzzone zu verlassen, lähmte und nervte mich, aber irgendetwas musste ich doch tun.

Die Musik musste mir die Lösung bringen.

Ich beugte mich über meine ohne Ordnung aufgereihten Schallplatten, schloss die Augen und traf eine blinde Wahl.

Ich vermied den Blick auf das Cover, zog die Schallplatte heraus, platzierte sie mit tastenden Fingern auf dem Dorn in der Mitte des Plattentellers und ließ den Tonarm an einer beliebigen Stelle in die Rille auf dem Rund aus schwarzem Vinyl niedersinken.

... You gotta move ... you gotta move ... you gotta move, child ... you gotta move .... nölte Mick Jagger mit schnoddrig näselnder Stimme zu den bluesig gleitenden Slideklängen von Keith Richards, der seine Gitarre mit einem Bottleneck bearbeitete.

Volltreffer!

Ausgerechnet You gotta move von den Rolling Stones ...

Die Verkettung von Zufällen wurde zusehends zwingender und trieb mich in die Enge.

Unruhig sprang mein Blick hin und her zwischen Autoschlüsseln und Wegbeschreibung.

Es war vielleicht diese eine Möglichkeit, den Weg aus der Umklammerung der Vergangenheit und in mein weiteres Schicksal selbst zu bestimmen.

Den Fahrplan dazu hielt ich in meinen Händen.

Aber die Aussicht, die Gewohnheit meines Leidens zu durchbrechen oder auch unwillkommene Antworten ertragen zu müssen, verunsicherte mich zutiefst.

Was war mit Madeleine geschehen?

War ihr etwas zugestoßen?

Was, wenn sie mich schroff wegschickte, selbst wenn ich ihr gegenüberstände?

Oder – viel schlimmer noch – vielleicht hatte sie sogar jemanden kennengelernt, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Welch ein unerträglicher Gedanke!

Es zerriss mein Innerstes.

Wie in Trance griff ich nach meinen Zigaretten und fischte eine Gauloise aus dem zerknitterten Päckchen.

Es war die letzte.

Aus der Ferne vernahm ich das Knistern, welches das einhändige Zusammendrücken der leeren Zigarettenschachtel zwischen meinen Fingern erzeugte.

... nur wenn ich den Papierkorb treffe, fahre ich ... murmelten meine Gedanken und ich erschrak im selben Augenblick.

Was hatte ich da gesagt?

Doch es war zu spät, nun gab es kein Zurück mehr.

Die Bedingungen standen unmissverständlich formuliert im Raum und nicht mehr zur Debatte.

Die Zukunft meines Lebens war unwiderruflich verknüpft mit dieser zusammengeknüllten Zigarettenpackung.

Aus Angst schloss ich die Augen.

Aber davon wurde es auch nicht besser.

Ich behielt die Augen trotzdem zu und dachte an sie ... nur an Madeleine ... und zuckte jäh zusammen.

Rubis raue, feuchte und warme Zunge leckte plötzlich behutsam, aber gierig den Schweiß von der Haut meines Handrückens.

Ich lachte und tätschelte meiner Hündin liebevoll den Kopf.

Rubi ließ noch nicht locker und genoss die Streicheleinheit mit wedelndem Schwanz, bis sie schließlich hechelnd von mir abließ.

Die Hitze setzte ihr sichtlich zu.

Ich nahm das Handtuch, mit dem sich bereits Chandon erfrischt hatte, und breitete es auf dem Boden aus. Rubi legte sich sogleich auf das angefeuchtete Stück Stoff, ließ sich mit einem wohlig tiefen Grunzen auf die Seite fallen und verschmolz mit der Horizontalen zu einer untrennbaren Einheit, während in der Ecke noch immer das Unausweichliche auf meine Ausführung wartete.

Ich taxierte den Papierkorb und schloss die Augen.

Mein Ellenbogen pendelte das geschmeidige Wippen meines Handgelenks aus. Hochkonzentriert balancierte ich die zerknitterte Kugel zwischen meinen Fingern.

Es gab nur einen, nur den einen einzigen Versuch...

Für die Liebe … für Madeleine! stieß ich heiser hervor, bevor die Kugel meine Hand verließ.

Danach gab es kein Zurück mehr.

Im nächsten Moment hörte ich einen leisen, dumpf klingenden Aufprall, dann ein knappes, federndes Rascheln.

Ich öffnete die Augen: ich hatte getroffen!

Somit stand der Einladung von Albert Lopez nichts mehr im Weg.

Gottfried, du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! schimpfte ich mit mir selbst.

Natürlich, die Sinnlosigkeit derartiger Ego-Wettenwar mir schon bewusst, dennoch war ich froh und erleichtert über den glücklichen Ausgang, hätte doch, im Falle eines schlechten Omens, die Fahrt zu Madeleines Vater von Anfang an unter einem ungünstigen Stern gestanden.

Nachdenklich entzündete ich ein Streichholz und steckte mir diese letzte Zigarette an, die die Entscheidung meines weiteren Schicksals eingeleitet hatte.

Eigentlich war ich sogar froh darüber, die schwüle Tristesse in meinen vier Wänden für eine Weile aufzugeben und ein Ziel zu haben, auch wenn meine einzig sichere Gewissheit aus der vor mir liegenden Ungewissheit bestand.

Ein wenig neugierig war ich aber auch.

Zufrieden sog ich den Rauch ein und betrachtete durch den Zigarettenqualm den Himmel, der sich in den Abend senkte.

Ich stand auf, drückte meine nur halb gerauchte Zigarette auf einer herumstehenden Untertasse aus und schnipste mit den Fingern.

Mit tickelnden Schritten trabte Rubi freudig zur Wohnungstür, als ich die Leine vom Haken nahm. Aufgeregt hüpfte sie im Kreis umher und wartete darauf, dass ich endlich die Tür öffnete.

Ich ließ sie eine Weile in ihrer Aufgeregtheit zappeln.

Als ich endlich die Klinke herumdrehte, drückte Rubi mit ihrer Schnauze den Spalt auf und stürmte ins Treppenhaus. Mit der ihr eigenen sportlichen Eleganz flog sie, so schnell es ihre kurzen, kräftigen Beine gestatteten, vor mir die Stufen hinunter.

Mit aufgeregt hechelnder Zunge stoppte sie bei jeder Halbetage, wo sie bis zu meinem Eintreffen, ungeduldig auf dem Treppenabsatz zappelnd, verharrte.

Unten im Erdgeschoss, auf dem kühleren Fliesenboden, war es noch einigermaßen auszuhalten, aber beim unvermeidlichen Öffnen der Haustür streckte mich die Schwüle auf der Straße wie eine Keule nieder.

Rubis Elan ermattete ebenfalls schlagartig, ich nahm sie an die Leine.

Sie folgte meinem leichten, aber beharrlichen Ziehen mit äußerst trägen Schritten und dem ganzen Körper watschelnd, auf dem Bürgersteig in Richtung Bahnhof.

In der Hitze schien die Zeit überall stillzustehen.

Ich warf einen Blick ins Friseurgeschäft, eigentlich saßen um diese Tageszeit immer Leute auf den Stühlen am Schaufenster und warteten darauf, bis sie mit ihren Haarschnitten an der Reihe waren. Doch auf den Plätzen vor den großen Frisierspiegeln herrschte gähnende Leere.

Eine Tür weiter, im kleinen Einraum-Bäckerladen, putzte die Verkäuferin mit Lappen, Sprühschaum, energischen Kreisbewegungen und vor Anstrengung hochrotem Gesicht die Glasscheiben der ausgeräumten Auslagen-Vitrine.

Bereits der Anblick war schweißtreibend, ich ging zügig weiter.

Ich überquerte die Straße und stieg die Stufen der Eisenbahnbrücke am Bahnhof hinauf, die über die Gleise führte und die Bahnsteige miteinander verband.

Ich wollte auf die andere Seite des Bahngeländes, zur Rue de l’Arrivée, um mit Rubi einen kleinen Rundgang um den Place de la Liberté und zurück zu machen.

Auf halbem Wege verweilte ich für einige Momente auf der Brücke, ich mochte dieses immer wieder aufs Neue großartige Erlebnis der ein- und ausfahrenden Güter- und Personenzüge.

Auf den Gleisen unter mir wartete eine sichtlich betagte Lok auf das Signal zur Weiterfahrt. Die Dieselmotoren dröhnten heiser und tief, ihr kraftvoll lauernder Klang erinnerte mich an ein Raubtier vor dem explosiven Beutesprung.

Beim Durchqueren der bläulichen, nach verbranntem Öl riechenden Abgaswolken nieste Rubi ein paarmal.

Wir stiegen die Treppe zur Rue de l’Arrivée hinab und schlugen den Weg über die Avenue Joffre und Avenue Foch zum Place de la Liberté ein.

Der als kleine Aufmunterung gedachte Spaziergang gestaltete sich mit jedem Meter Wegstrecke zunehmend mühselig, mittlerweile schleppte ich Rubi eher hinter mir her, als dass sie mir noch folgte.

Aus Mitgefühl für meine hitzegepeinigte Hündin schmiss ich meinen Rundgang-Reiseplan kurzerhand über den Haufen und kehrte nur wenige hundert Meter weiter, nach der nächsten Straßenüberführung, zur Rue Pierre Brossolette zurück.

Mich beschlich sogar ein Gefühl von leiser Dankbarkeit gegenüber Rubi, denn die andere Seite der Bahngleise war ein optisch wenig ansprechendes, lieblos funktional gestaltetes, verkehrsgerechtes Niemandsland, was für einen schönen Spaziergang nicht allzu viel hergab.

Als Rubi die günstige Kehrtwende ihres Leidensweges erfasste, erwachte sie augenblicklich aus ihrer Lethargie. Eilig trabte sie an mir vorbei und ihre ungeduldigen Schritte in Richtung Wohnung spannten die Leine bis an die Zerreißgrenze.

...du alte Schlawinerin …, grinste ich über das Aufblühen meiner Spaziergang-faulen Wegbegleiterin und strich ihr kurz über das schwarz glänzende Fell.

Die Sonne ging allmählich im Abendrot unter und tauchte die Häuserfassaden an der Rue Pierre Brossolette noch einmal kräftig in ihr gleißendes Licht.

Im Vorbeigehen warf ich einen Blick durchs Schaufenster des kleinen Bäckerladens.

Ich sah die Verkäuferin allein im Raum stehen. Einige Haarsträhnen hatten sich aus der Pferdeschwanzfrisur gelöst und klebten wie nasse Spinnenfäden auf ihrem immer noch stark geröteten Gesicht.

Sie hatte ihre anstrengende Tätigkeit beendet und erfrischte sich nach getaner Arbeit mit Wasser aus der Flasche.

Das Friseurgeschäft eine Tür weiter hatte inzwischen geschlossen.

Ich erreichte die Rue Colbert, überquerte die Straße, band Rubi am Fuß des Sonnenschirms an und betrat Djamals Magazin.

„Hallo Gottfried, da bist du ja wieder. Warst du spazieren?“ begrüßte mich Djamal hinter dem kleinen Tresen seines Geschäfts.

„Ja, Rubi brauchte etwas Auslauf. Weit gekommen sind wir aber nicht, nur bis zur Brücke und dann über die Gleise. Es ist kein gutes Wetter für einen Hund mit dickem Fell. Rubi liegt draußen angebunden, ich möchte eben ein paar Dinge bei dir besorgen, “ antwortete ich.

„Ja, wir Zweibeiner können uns schon glücklich schätzen, keine Felle mehr zu tragen,“ scherzte Djamal und bot mir seine Mithilfe an.

„Ruf mich, wenn du was nicht findest oder ich dir etwas aus dem Lager holen soll, ja?“

Ich nickte und ging in dem verwinkelten, überall mit Waren vollgestopften, kleinen Laden auf Entdeckungsrunde.

Ich brauchte etwas Hundefutter und wurde in der Ecke neben dem Ladeneingang fündig, einem anderen Regal entnahm ich einen Sechser-Träger Perrier, sowie eine Tüte geröstete Erdnüsse, eine große Packung Frühstückskekse, dazu etwas Frischkäse und gesalzene Butter aus dem Kühlregal.

Ich legte die Sachen vor Djamal auf den Tresen und deutete auf das Regal hinter dem Verkaufstisch: „Gibst du mir noch drei Schachteln Zigaretten und Streichhölzer?“

Djamal nahm drei Packungen filterlose Gauloises aus dem Tabakwarenregal und legte sie, zusammen mit den gewünschten Streichholzpäckchen, zu meinen anderen Einkäufen.

„Brauchst du noch etwas, Gottfried? Vier Stockwerke könnten bei der Hitze schon mal anstrengend werden, wenn man etwas vergisst,“ fragte Djamal schmunzelnd.

Sofort dachte ich an die gerade überlebten Strapazen mit dem vergessenen Briefkastenschlüssel, behielt es aber für mich.

„Danke nein, Djamal, ich denke, ich habe jetzt alles, was ich für den Abend und morgen früh brauche," entgegnete ich und bat um einen leeren Karton.

„Selbstverständlich, Gottfried,“ sagte Djamal und verschwand durch den Vorhang ins Lager. Kurz darauf vernahm ich ein gedämpftes Rumpeln, wenig später kehrte er mit einem stabilen Obstkarton aus Pappe zurück und reichte ihn mir.

„Der ist perfekt,“ bedankte ich mich und packte meine Sachen hinein.

„Gerne,“ lächelte Djamal und rechnete die Einkaufsumme zusammen.

„Halt, da ist doch noch etwas …hättest du ein Baguette für mich?“ fiel es mir noch rechtzeitig ein. Djamal gab mir mit einem Lächeln eine Brotstange.

„Na...Gottfried, … denk nochmal scharf nach..., “ frotzelte er in freundschaftlichem Ton.

Aber es blieb bei meinem Kopfschütteln, und ich zählte den Geldbetrag passend auf den Tresen. Mit einem Nicken zog er die Kassenschublade unter der Tischplatte hervor und wischte mit einer Handbewegung das Geld hinein.

Etwas fahrig griff ich nach meinem Karton,„... gut, ich geh dann mal, Djamal … wir sehen uns ...",ächzte ich beim Anheben wie ein altersschwacher Greis.

„Warte Gottfried, ich begleite dich noch nach draußen,“ trat Djamal um den Tresen herum. Draußen schlug uns das grelle Gegenlicht der tiefstehenden Sonne entgegen. Ich stellte meinen Karton ab, entnahm ein Päckchen Gauloises, riss ein Loch in das Aluminiumpapier neben der Banderole, klopfte einige Zigaretten hoch und bot Djamal eine an.

„Oh ja, gerne,“ bedankte er sich und gab uns beiden Feuer.

Schweigend standen wir nebeneinander an der Straßenecke und genossen die ersten Züge.

Ich schaute zu meiner Hündin hinüber und lächelte. Im Schatten unter dem Schirm lag Rubi, lang ausgestreckt wie eine Schranke, quer auf dem Bürgersteig.

„Dein Hund macht’s richtig,“ kommentierte Djamal den Anblick und ich nickte stumm.

Djamal musterte mich.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Gottfried? Du wirkst etwas abwesend."

Ich sah ihn an.

„ ...ich werde morgen für ein paar Tage, vielleicht auch länger, wegfahren. Das hat sich heute ganz unerwartet für mich so ergeben, Djamal.“ antwortete ich zögerlich.

„Unerwartet ergeben? Was ist passiert, Gottfried?“

Ich hatte Djamals Neugierde geweckt, und da uns im Laufe der Zeit mittlerweile so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis verband, erzählte ich ihm von dem Brief und der Einladung in die Normandie zu Madeleines Vater.

Djamal hörte aufmerksam zu, bis ich meine Ausführungen beendet hatte, dann sagte er mit sanfter, aber bewegter Stimme:

„Mein lieber Gottfried, ich wünsche dir von ganzem Herzen Glück, und dass du endlich das findest, wonach du schon so lange suchst...“