Madonna Stories - Gary Paulsen - E-Book

Madonna Stories E-Book

Gary Paulsen

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In seinen Erzählungen beschreibt Gary Paulsen immer wieder die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens. Wie ein roter Faden zieht sich ein geradezu kindliches Erstaunen durch seine Texte – ein Erstaunen über die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seinem Schicksal, das er glaubt, lenken und bestimmen zu können. Es sind harte, knapp erzählte Geschichten über Liebe, Einsamkeit und Tod, die in ihrer Dichte eine ungeheure Sogkraft entwickeln. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 74

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gary Paulsen

Madonna Stories

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit

FISCHER Digital

Inhalt

Für RuthDie MadonnaDas CampSexDie TodesrampeVergewaltigungDie GrotteDas Gesicht des TigersTante CarolineDer SoldatLiberty ShipDie Bücherei

Für Ruth

Die Madonna

In der Zeit, als es nur noch Granaten vom Himmel regnete, Tag für Tag, Stunde um Stunde, als sie ständig explodierten, während er in den Unterständen hockte und den feuchten Schlammsand in den Säcken ringsum roch und die harten Erschütterungen der Detonationen spürte, in der Zeit fing er an zu trinken.

Das wußte er.

In der Zeit, als er dem Tode näher war als dem Leben, fing er an zu trinken, und er trank immer mehr, damit das Ganze endlich aufhörte.

Aber natürlich hörte es nicht auf. Das tat es erst, als sie ihn genug zerrüttet hatten, um ihn in die Welt zurückzuschicken, in die wirkliche Welt, doch da trank er schon zu viel, um aufhören zu können.

Das war ihm klar. Er wußte genau, wann er damit angefangen hatte. Es war in jener Zeit. Und dann schickte man ihn zurück und ließ ihn nach Kalifornien ziehen, in die wirkliche Welt, und da er nicht zu denen gehörte, die sich selbst umbringen, trank er immer weiter, verließ schließlich Kalifornien und zog in eine kleine Stadt in New Mexico. Er hatte gehört, dort könne er billig leben.

Und es war gar nicht so übel. Am Anfang gab es ein paar Schlägereien, weil man ihn für einen Hippie hielt. Aber da er nicht zurückschlug und nur trinken wollte, da er nicht zurückpöbelte und nur trinken wollte, da er ihnen nichts entgegensetzte, sondern nur trinken wollte, lachten sie ihn erst aus, dann hatten sie Mitleid mit ihm, und schließlich ließen sie ihn in Ruhe. Vielleicht war es auch kein Mitleid, aber er empfand es als solches, und daß man ihn in Ruhe ließ, war alles, was zählte. Betrunken in Taos, New Mexico, in Ruhe gelassen zu werden, das allein zählte für ihn und, so fand er, für alle anderen.

Bis zu dem Tag, an dem er Christus entband.

Das nämlich war es für ihn, wenn er klar denken konnte, oder wenigstens klarer als meistens: die Entbindung von Christus. Und wenn er morgens aufwachte oder nach oben ging und die Flasche neben dem Bett fand, versuchte er oft, sich daran zu erinnern, wie die Sache eigentlich abgelaufen war.

Sie waren nicht sehr erfolgreich, seine Erinnerungsversuche, aber er gab erst auf, wenn er Kopfschmerzen bekam und der Inhalt der Flasche seine Wirkung zeigte, und dann konnte er sich kurz erinnern, wie es sich abgespielt hatte.

Oder wie er glaubte, daß es sich abgespielt hatte.

 

Der Abend hatte angefangen wie fast alle Abende, an denen er seinen Scheck bekam, den ihm die Armee für seine Beschädigung schickte – er nannte ihn seinen »Reparaturscheck«. Jeden Monat erhielt er den Scheck, und sobald er ihn hatte, ging er in die Cantina am Marktplatz und versuchte Pool zu spielen. Er spendierte allen Drinks, bis der Scheck weg war. Dann wurden ihm Drinks spendiert, und wenn er zu fertig war, um weiterzutrinken, ging er.

Draußen lief er über den Platz und suchte die kleine Straße, in der er ein Zimmer gemietet hatte, und dort sank er in das feuchte Nest seines Bettes und beschloß den Tag.

Dieser Abend verlief ganz ähnlich, nur daß er Sara zum Tanzen zu überreden versuchte, bevor er ging. Sara malte Schilder, und es machte Spaß, ihr beim Tanzen zuzusehen, aber sie lehnte ab und sagte, er sei zu betrunken. Das sagte sie allerdings auf eine Art, die ihn glücklich machte, eine lächelnde Art, und so ging er an jenem Abend in glücklicher Stimmung über den Platz. Aus diesem Grund beschloß er auch, das Grab von Kit Carson auf dem alten Friedhof hinter dem Hotel zu besuchen und über das Glücklichsein nachzudenken.

Und da er glücklich war und beschloß, auf den Friedhof zu gehen und an Kits Grab nachzudenken, war er derjenige, der Christus entband.

So jedenfalls hatte er es in Erinnerung.

Ein Schrei ließ ihn stehenbleiben und niederkauern, bis er zu Boden fiel.

Er befand sich in der Gasse hinter dem Hotel, nicht allzu weit vom Grab entfernt, als er den Schrei hörte. Ein hoher Schrei, wie er ihn oft gehört hatte und gut kannte, ein Schmerzensschrei, der sich in Tonfetzen verlor, vermischt mit Atem und Speichel, und auch das kam ihm vertraut vor.

Zuerst dachte er, es sei etwas passiert und er wäre wieder in diesem Land und zu Boden gefallen, um sich vor dem gierigen Tod zu verstecken, der die Schreie offenbar immer begleitet hatte. Aber selbst im betrunkenen Zustand begriff er, daß das nicht sein konnte, also stand er wieder auf. Eine Zeitlang war nichts zu hören. Er glaubte schon, alles nur geträumt zu haben, denn er träumte oft beim Gehen, doch dann folgte dem Schrei ein zweiter, und er verstand, daß es eine Frau war, die Hilfe brauchte.

Auch dieser Laut kam ihm vertraut vor, aber er dachte nicht gern daran.

Nach wenigen Schritten wurde ihm klar, daß der Schrei von Kit Carsons Grab kam, oder irgendwo in dessen Nähe, und er ging in die Richtung. Vielleicht, dachte er, wird eine Frau vergewaltigt. Als er jedoch das Grab erreichte, sah er nur eine junge Frau, sie lag auf dem Rücken neben dem Grab und ihre Hände zerrten an dem kleinen Zaun, der das Grab umgab.

»Hilf mir«, sagte sie, oder besser, er glaubte, daß sie das sagte. Vielleicht dachte sie es nur, und er entnahm es lediglich ihrem gekrümmten Körper. »Hilf mir jetzt.«

Sie war schwanger, hochschwanger, und trotzdem begriff er die Sache nicht.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, antwortete er.

»Was ist denn los?«

Durch den Alkohol verdoppelten sich die Wörter in seinem Kopf, und alles hallte wider.

»Es ist soweit. Hilf mir.«

Ach so, dachte er. Sie meint das Baby.

»Da kann ich nichts machen.« Er meinte es wörtlich. Da konnte er nichts machen. Er hätte es gern für sie aufgehalten, aber er konnte nicht. Er konnte nichts tun. Offenbar war es wie immer und bei allem, er konnte nichts tun.

»Bitte«, sagte sie. Ein dünner Ton. Bitte.

Da war es wieder. Das sagten sie immer, wenn man nichts tun konnte. Immer sagten sie mit dünner Stimme bitte.

Er kniete sich neben sie, legte die Hände in den Schoß und wartete. Das hatte er früher auch getan. Wenn sie die schwachen Laute von sich gaben, hatte er sich neben sie gesetzt und gewartet, bis sie starben, und er dachte, das käme auch jetzt. Er kannte das.

Doch statt zu sterben, schrie sie und bäumte sich auf, ihr Bauch verdoppelte sich in großen schweren Schüben. Sie drückten Schmerz aus, aber auch mehr. Die Schübe kamen aus ihrem Inneren, aus der Erde unter ihr und aus etwas, das er weder verstand noch kannte. Die Schübe führten ihn in die Vergangenheit, in die Zeit, als er neben einem anderen Menschen gekniet hatte, der sich aufbäumte.

Sie schrie erneut, und der Schrei drang in seine Gedanken und verwob sich mit der Erinnerung; er war nicht hier, nicht an Kit Carsons Grab und beobachtete, wie das Hippiemädchen ein Baby zur Welt brachte, sondern weit weg, in der Zeit, als er zu trinken anfing, in der Zeit, als Wendell an einem Baum lehnte und sich den Bauch hielt, wenn die Schübe kamen. Wendell, der im Sterben lag, der mit dünner Stimme bitte gesagt hatte, als er es nicht aufhalten konnte.

In diese Zeit fühlte er sich zurückversetzt, als das Mädchen sich wieder aufbäumte. Sie erstarrte, wand sich, und ihr Kleid rutschte hoch, und der Kopf kam zum Vorschein, aber er nahm ihn nicht als Kopf wahr, vielmehr sah er Wendells Gekröse vor seinen Augen, er dachte, es wäre das gleiche und griff nach unten, um es zurückzuschieben, wie er es bei Wendell gemacht hatte. Aber sie bäumte sich erneut auf, und das Baby glitschte heraus und auf den Boden, in einer Hülle aus Blut und Plazenta rutschte es zwischen ihren Beinen hervor, noch ehe er es zurückschieben konnte.

In seinem Kopf vermischte sich alles, Wendell und das graue Gekröse und die kurzen Schmerzenslaute und der Babykopf. Er faßte nach unten, hob das Baby auf und legte es dem Mädchen auf den Bauch, so zärtlich wie er Wendells Gekröse aufgehoben und es dem sterbenden Mann auf den Bauch gelegt hatte.

Im selben Moment sah sie ihn lächelnd an und sagte »Christus«.

Und er dachte: Natürlich ist das Christus.

 

So traf er die Madonna und entband Christus. Aber er ließ sie dort liegen, er verließ sie und ging nach Hause.

Eines Abends stand er wieder in der Cantina und versuchte dem Mann an der Bar zu erzählen, wie er den zweiten Christus entbunden hatte, doch der Mann ließ ihn einfach stehen.