Magic Kleinanzeigen - Ein Zauberrätsel kommt selten allein - Esther Kuhn - E-Book

Magic Kleinanzeigen - Ein Zauberrätsel kommt selten allein E-Book

Esther Kuhn

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Beschreibung

Wer hätte gedacht, dass Kleinanzeigen so magisch sein können? Ein fantastisches Kinderbuch ab 10 Jahren. Stell dir vor, es gäbe im Internet nicht nur gebrauchte Fahrräder und Computerspiele zu kaufen, sondern echte magische Hilfsmittel. Stifte, die deine Hausaufgaben erledigen, Cremes, die deine Pickel wegzaubern, oder Mützen, die dich unsichtbar machen. Das alles bietet Magic Kleinanzeigen. Eine magische Schnitzeljagd durch Linneberg! Oskar ist begeistert, denn der Sieg könnte seine Familie retten. Doch leider gibt es viele Konkurrenten und er muss einem der Clans im Portal Magic Kleinanzeigen angehören, um überhaupt mitmachen zu können. Als jedoch bei den Zornröschen ein Platz frei wird, wittert Oskar seine Chance. Die Mädels wollen allerdings absolut keine Jungs in ihrem Team. Das macht die Sache komplizierter, aber nicht unmöglich!

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Seitenzahl: 334

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Ähnliche


Für Joelle und alle anderen Kinder,die nicht wissen, dass sie ein Rechtauf eine unbeschwerte Kindheit haben

Inhalt

KATZENBREI

FILINES KRÄUTERKISTE

DIE SAGEN VON SOLIS

DAS MÄDCHEN VOM ANDEREN STERN

DIE ZORNRÖSCHEN UND ANDERE KATASTROPHEN

SO EIN NERVIGER HUND

EIN PLAN MUSS HER

PAPUNA

DER BRIEFUMSCHLAG

DOPPELMORD

MINGS ENTSCHEIDUNG

NINJAPOWER

DIE ERSTE AUFGABE

DER SCHOCK

DIE ERSTE QUEST

DIE FÜNF HEILIGEN

IMBISS NACH MITTERNACHT

SO EIN AFFENTANZ

DAS MILA–PROBLEM

NIX WIE WEG

MILAS AUSFLUG

AUF LOS GEHT‘S LOS

DIE PERLENKETTE DER KÖNIGIN

SPITZENREITER

WAS WIRKLICH GESCHAH: DER DOPPELMORD

QUEST NUMMER SIEBEN

VERZETTELT

STRAFE MUSS SEIN

UNERWARTETER BESUCH

FRIEDEL, WO BIST DU?

DIE SUCHE GEHT WEITER

DER ABSTURZ

DIE RETTUNG

DAS STECHEN

EINHORNPOWER

DIE ROSAROTE BRILLE

NEUSTART

DANKSAGUNG

Katzenbrei

»Eins, zwei, drei! Koche feinen Brei.«

Gebannt blicke ich in den kleinen, leeren Messingtopf, den ich extra auf den Herd gestellt habe, damit es nicht nach Zauberei, sondern nach echtem Kochen aussieht.

Eigentlich müsste es jetzt einfach losgehen, aber irgendwie passiert nichts. Ob ich den Herd vielleicht doch einschalten muss? Als ich gerade darüber nachdenke, noch einmal die Gebrauchsanweisung durchzulesen, wirft der Boden plötzlich Blasen, die sich in Sekundenschnelle in eine graubraune Masse verwandeln.

Es klappt. Unglaublich.

Ein Topf, der ohne Zutaten und ohne Hitze Brei kocht.

Wahnsinn. Und wie es duftet. Nach Vanille und Karamell.

»Oskar, das riecht aber lecker. Was kochst du denn da?«

Mila streckt ihre kleine Stupsnase zu mir in die Küche.

Verdammt. Ausgerechnet jetzt.

»Überraschung«, sage ich und beobachte, wie der Brei immer mehr und mehr wird. Eigentlich müsste ich den Zauber jetzt stoppen, wenn der Topf nicht überlaufen soll.

»Kannst du mir mal ganz schnell mein Handy bringen? Ich glaub, es hat geklingelt«, versuche ich, sie loszuwerden. Doch Mila guckt mich ungläubig an: »Echt? Hab nix gehört.«

»Schnell«, rufe ich mit Nachdruck und meine damit nicht nur, dass sie schnell verschwinden soll.

Als sie weg ist, sage ich laut: »Eins, zwei, drei, vier«, und klopfe dazu mit dem Löffel rhythmisch an den Rand. Fast läuft der Brei über, als ich ihn mit den Worten »Nur bis hier« aufhalten kann.

Ui. Das war knapp.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Voller Vorfreude tunke ich einen Löffel hinein und probiere. Mmh, schmeckt das super – viel besser, als es aussieht.

Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich Mila davon überzeugen kann, die graubraune Pampe zu essen. Das Auge isst schließlich mit. Das Zeug hängt zäh und klebrig an meinem Löffel. Es erinnert mich an selbst gemachte Knete. Plötzlich habe ich eine Idee.

»Mach die Augen zu«, befehle ich, als Mila zurückkommt, um mir mein Handy zu bringen. Meine Schwester gehorcht mit einem breiten Vorfreude-Grinsen im Gesicht. Dann verteile ich den Brei auf zwei Tellern.

Während Mila schon ganz unruhig neben mir herumhibbelt, forme ich aus der Masse Tierskulpturen. Es sollen Katzen sein. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man es erkennen kann.

»Jetzt darfst du gucken.«

Mila reißt sofort die Augen auf und ich präsentiere ihr die essbaren Kunstwerke.

»Katzenbrei«, ruft sie aus. »Wie cool. Meine hat drei Augen.« Ups, das war keine Absicht.

»Sie kommen von einem anderen Stern«, erkläre ich grinsend und drücke ihr einen Löffel in die kleine Hand. Ohne Murren schaufelt sie drauflos – und verputzt alles, bis zum letzten Bröckchen. Ich bin auch begeistert. Der Topf war nicht nur ein echtes Schnäppchen, der Brei schmeckt superlecker und zu meiner Überraschung muss ich ihn nicht einmal spülen. Er hat sich irgendwie von alleine gereinigt. Unglaublich!

Nachdem wir unsere Teller und Löffel gemeinsam in die Spülmaschine geräumt haben, sagt Mila: »Weißt du was, Oskar? Es fehlt noch was auf meiner Schultüte. Hilfst du mir?«

Dann zieht sie mich mit sich ins Wohnzimmer. Dort liegen immer noch unsere Bastelsachen auf dem Tisch verteilt. Eigentlich dachte ich, wir wären fertig.

Aber Mila schnappt sich sofort einen Stift und legt los. Offensichtlich ist sie von meinem Breikunstwerk inspiriert. Denn das, was sie jetzt malt, sieht nach Weltraumkatzen aus – mit drei Augen und Antennen auf den Köpfen.

Nach und nach schneide ich die tierischen Aliens aus und klebe sie zwischen die selbst gemalten Planeten, Sterne und Raumschiffe auf ihrer Schultüte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es das jetzt schöner macht, aber Mila ruft stolz: »Fantatastisch. Das muss ich sofort Papa zeigen.«

Das allerdings ist eine Idee, die ich verhindern muss: »Nicht jetzt. Lass ihn schlafen. Er hatte doch Nachtschicht.«

Mila schmollt: »Immer schläft er. Das nervt. Blöde Nachtschicht, blödes Seniorenheim.« Sie boxt in eines der Kissen auf dem Sofa neben ihr. »Weißt du noch im Kino? Da hat er so laut geschnarcht, dass alle gelacht haben. Und sogar im Freibad ist er eingepennt. Mittags in der Sonne.«

»Ja, Sekundenschlaf ist voll seine Superkraft«, sage ich und meine es witzig, aber Mila guckt ganz unglücklich. »Doofe Superkraft.« Ich bin überrascht. Bisher wusste ich gar nicht, dass es ihr so viel ausmacht. Ehrlich gesagt, schäme ich mich auch immer, wenn es passiert. »Ich finde es auch doof«, gebe ich daher zu. »Am Schlimmsten ist es, wenn fremde Leute einen angucken und lachen«, sagt Mila.

»Geht mir auch so«, bestätige ich.

Plötzlich stelle ich mir vor, wie Papa morgen bei Milas Einschulung einfach zwischen allen Leuten einnickt. Richtig peinlich wird es, wenn er dann auch noch schnarcht. Das Geräusch, das er dabei fabriziert, ist nicht nur ein leises Röcheln, sondern ein lauter Nasenrap in ganz verschiedenen Tonlagen.

In meinem Kopf höre ich die anderen Eltern und Kinder laut lachen. Dann sehe ich Milas traurige Augen.

Der erste Schultag! Unvergesslich schrecklich.

Oh Gott.

Das darf morgen auf keinen Fall passieren.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragt Mila und reißt mich aus meinen Gedanken.

»Ich überlege mir was Schönes«, antworte ich, »aber zuerst muss ich noch was Wichtiges erledigen.«

Damit sie mir ganz sicher nicht folgt, drücke ich ihr das Familientablet mit ihrer Lieblingsserie in die Hand. Das ist wie Hypnose und funktioniert immer. Sie verschwindet vollkommen in der Geschichte und rührt sich nicht mehr. So kann ich mich ungestört in unser gemeinsames Kinderzimmer absetzen. Dort ziehe ich den Hokus Lokus aus meiner Hosentasche und stecke ihn in das Schloss meines Kleiderschranks. Dann versuche ich, ihn zu drehen.

Aber der magische Schlüssel klemmt.

Nee. Nicht schon wieder.

In letzter Zeit weigert er sich immer öfter. Als ich ihn gekauft habe, stand zwar dabei, dass er gebraucht ist und auch mal hakt, aber so unzuverlässig wie in letzter Zeit war er am Anfang nicht.

Vielleicht funktioniert er an einer anderen Tür. Ich gehe zum Badezimmer. Das ist zwar nicht optimal, falls Papa wach wird und mal muss, aber ich versuche es trotzdem.

Doch hier will der goldene Bart noch nicht mal ins Schloss passen.

Das ist voll die Katastrophe. Denn wenn der Zauberschlüssel streikt, komme ich nicht in meine geheime Kammer. Und wenn ich dort nicht hineinkomme, dann bin ich von all meinen Zaubersachen abgeschnitten, die dort lagern.

Nach dem Kinobesuch mit Papas Schnarchattacke hatte ich extra getrocknetes Eisenbohnenkraut besorgt. Für alle Fälle. Und jetzt ist ja offensichtlich so ein Fall.

Man muss es nur portionsweise in die Teemischung geben, so wie man es braucht. Es ist eine Art Fitmachzauber! Und soll ganz ungefährlich sein, wie Kaffee, nur stärker. Aber was nützt es, wenn ich nicht drankomme?

Natürlich könnte der Hokus Lokus morgen früh schon wieder funktionieren. Aber was, wenn nicht? Darauf kann ich mich auf keinen Fall verlassen.

Hektisch logge ich mich über mein Handy bei Magic Kleinanzeigen ein. Dann muss ich jetzt eben neues Eisenbohnenkraut besorgen. Sicher ist sicher.

Kurz scrolle ich durch die neuesten Angebote. Mal sehen, was es heute alles gibt. Ein Amulett, das angeblich Krankheiten fernhält. Interessant! Oder einen Freundlichkeitstrank. Ich kenne einige, die den nötig hätten.

Irrlicht-Essenz? Wozu braucht man denn so was?

Cool. Ein magischer Lappen mit Nie-mehr-Staub-Garantie. Oh. Im nächsten Moment erscheint ein »Verkauft«-Button über der Anzeige. Schon weg.

Das nächste Angebot ist ein Stift, der Hausaufgaben erledigt. Morgen geht die Schule wieder los. Den muss ich haben.

Was kostet der?

Neunundneunzig M-Coin!

Schade. Ich hab nur noch fünfundsiebzig auf meinem Account-konto. Bevor ich mir den leisten kann, muss ich zuerst wohl ein paar Gegenstände aus unserer Welt verkaufen und mir so digitale magische Währung dazuverdienen. Dafür ist jetzt aber wirklich keine Zeit.

Über die Suchmaske gebe ich deshalb »Eisenbohnenkraut« ein.

Entertaste!

Spannung steigt.

Mist.

Kein Treffer.

Vielleicht gibt es Alternativen mit ähnlicher Wirkung? So ein Pech, dass ich kein Experte für magische Pflanzen bin.

Plötzlich fällt mir etwas ein. Aus meinem Geldbeutel friemle ich eine Visitenkarte. »Filines Kräuterkiste – fantastische Pflanzen, Tränke und Tinkturen« steht darauf geschrieben. Auf der Rückseite ist eine Telefonnummer aufgedruckt. Ich kenne diese Filine zwar nicht persönlich, aber sie geht mit Elif in eine Klasse. Daher denke ich, dass der Kontakt vertrauenswürdig ist. Also schreibe ich ihr in einer Nachricht, wer ich bin und worum es geht.

Prompt kommt eine Antwort: »Lieber Oskar, schön, dich als neuen Kunden begrüßen zu dürfen. Ich hab genau das Richtige für dich. Treffpunkt: in einer Stunde. Spielplatz am Koppelwäldchen auf dem Kletterturm.«

Ich bin aufgeregt. Es klingt nach Rettung! Dann nix wie los.

Filines Kräuterkiste

Da Papa immer noch schläft, lege ich ihm eine Nachricht auf den Küchentisch und mache mich gemeinsam mit Mila auf den Weg. Im Hausgang laufen wir fast in Halima, die gerade aus der Tür nebenan kommt. Sie stammt aus Syrien, lebt aber schon einige Jahre in Deutschland und wohnt seit ein paar Monaten auf unserer Etage. Witzigerweise kannte ich sie schon vorher, denn sie trainiert die Jugendgruppen im Kletterzentrum.

»Hi, ihr beiden«, begrüßt sie uns. »Na, unterwegs in die Sonne?«

»Auf einen Spielplatz«, krakeelt Mila voller Vorfreude. »Und wo gehst du hin? Zum Klettern?«

»Nein, heute treffe ich mich mit Studienkolleginnen zum Lernen«, sagt sie lachend. »Training ist erst wieder nächsten Dienstag und Donnerstag. Willst du nicht auch mal wieder vorbeikommen, Oskar? Wir vermissen dich.«

Ob sie mit »wir« auch Elif meint, denke ich mit einem stechenden Schmerz in der Brust. Aber nein. Bestimmt vermisst mich Elif nicht. Deshalb sage ich nur beiläufig: »Mal sehen. Hab aktuell wenig Zeit.«

Zum Glück kommt der Aufzug und Halima stellt keine weiteren Fragen. Gemeinsam fahren wir nach unten und verlassen das Haus.

Vor der Tür treffen wir auf Frau Krusche, die ein bisschen verloren aussieht.

»Hallo Kirk«, begrüßt sie mich und zwinkert mir zu. »Hat er nicht genauso ein schönes Lächeln und dieses Grübchen am Kinn wie der Douglas?«

Ich hasse den Vergleich mit Kirk Douglas. Der Typ ist irgend so ein Hollywood-Schauspieler aus dem letzten Jahrhundert. Hab ihn mal gegoogelt. Erstens ist er schon tot. Und zweitens ähnele ich ihm kein Stück. Na ja. Bis auf das Grübchen am Kinn.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragt Halima Frau Krusche, statt auf ihre Bemerkung über mich einzugehen.

»Einkaufen«, sagt die alte Dame, und beim Blick auf ihre Füße fällt mir auf, dass sie rosa Plüsch-Pantoffeln trägt. Halima hat es wohl ebenfalls bemerkt.

»Heute ist Sonntag«, erklärt sie. »Da sind die Geschäfte zu. Ich bringe Sie lieber mal rein.«

Während sich die eine Nachbarin um die andere kümmert, sehe ich, wie der Bus, den ich eigentlich noch erwischen wollte, auf der Ringstraße bereits in Richtung City fährt.

So ein Pech.

Dann müssen wir jetzt wohl zu Fuß gehen.

Im Zickzack laufen wir die Pfade zwischen den Hochhäusern hindurch und nehmen die Abkürzung durch den kleinen Bürgerpark.

Ein fataler Fehler, wie sich herausstellt. Denn es wimmelt hier nur so von Leuten, denen ich nicht begegnen will.

Als Erstes sehe ich Elif.

War ja klar. Eben noch an sie gedacht, und jetzt steht sie da, nur ein paar Meter entfernt, und spielt Tischtennis gegen Ming. Jessy ist auch da und vollführt mit ihrem Skateboard verrückte Stunts auf der Halfpipe. Sophie und Imani sitzen auf einer Bank daneben, starren gemeinsam auf ein Handydisplay und kichern. Die Zornröschen in voller Mannschaftsstärke. Darauf hätte ich gut verzichten können. Leider bringt es nichts mehr umzukehren, denn Elif hat mich bereits bemerkt. Als ich zu ihr hinüberblicke, schaut sie natürlich sofort weg. So ist es immer, wenn sie mit den Mädels zusammen ist. Dabei war sie mal meine beste Freundin.

Aber seit dieser Sache vor ein paar Monaten reden wir kaum noch miteinander. Eigentlich nur noch, wenn wir uns mal zufällig alleine treffen, wie letzte Woche in der Fußgängerzone in der Altstadt, als sie mir Filines Karte zugesteckt hat. Für einen Moment war es fast so wie früher.

»Da ist Elif«, ruft Mila freudestrahlend und zieht mich in Richtung Tischtennisplatte.

»Nicht jetzt«, sage ich und zerre sie in die andere Richtung. Mila protestiert.

Genau in diesem Moment wird es noch unangenehmer, denn vom Teich her kommen ein paar Jungs aus unserer Schule mit Skateboards und steuern auf die Halfpipe zu. Die Kobras, wie sie sich selbst nennen, gehen schon in die achte Klasse. Was treiben die denn hier? Keiner von ihnen wohnt in unserem Viertel.

Ich sehe, wie Imani auf der Bank versteinert. Sophie lächelt dümmlich. Die anderen Mädels lassen sich die Verwunderung über den ungewöhnlichen Besuch auf dem Buchenberg nicht anmerken.

»Elif, Elif«, ruft Mila jetzt. Als die nicht reagiert, brüllt meine Schwester durch den ganzen Park: »Mädchen sind Piraten. Jungs sind Kakerlaken.«

Jetzt hebt Elif doch ihren Blick. Ganz sicher erinnert sie sich an den Tag auf dem Spielplatz, als ihr dieser Schlachtruf beim Fangenspielen einfach aus dem Mund geflutscht ist. Mila fand es so witzig, dass sie tagelang nichts anderes mehr von sich gegeben hat. Auch im Kindergarten! Inzwischen gibt es kein Kind mehr im Viertel, das den Spruch nicht kennt. Geht übrigens auch umgekehrt. Da sind dann die Mädchen die Kakerlaken.

Zart hebt Elif nun die Hand und winkt Mila zu.

Jetzt weiche ich ihrem Blick aus.

Ich will nur noch weg hier. Und zwar schnell.

Gerade noch rechtzeitig schaffen wir es zum vereinbarten Termin auf dem Spielplatz am Koppelwäldchen. Mila reißt sich sofort los und kapert die Nestschaukel.

Währenddessen steige ich, wie verabredet, auf den Kletterturm. Gleich werde ich diese Filine treffen.

Doch oben am Eingang zur Röhrenrutsche drängeln sich nur ein paar Minis. Kurz bin ich versucht, ebenfalls eine Runde zu rutschen, da höre ich eine Stimme hinter mir: »Sorry, hab nicht so weit gedacht, dass ja Sonntag ist. Da ist hier immer viel zu viel los.«

Ich drehe mich um. Das Mädchen, das jetzt vor mir steht, sieht mich mit großen, fröhlichen Augen an: »Du bist doch Oskar, oder?«

Ich nicke nur, denn ich muss erst mal klarkommen. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte, aber das nicht. Filine trägt eine pinke Bommelmütze auf dem Kopf. Darunter schauen zwei rotbraune, geflochtene Zöpfe heraus. Dazu passend hat sie sich einen viel zu langen Schal um den Hals gewickelt. Bei ihrem Anblick beginne ich, in meinem T-Shirt zu schwitzen. Klar, Ende August ist kein Hochsommer mehr, aber für Wolle ist es wirklich noch zu warm.

Plötzlich riecht es sehr streng. Das bin hoffentlich nicht ich.

Die Kinder um uns herum rümpfen schon die Nasen.

»Was mieft denn hier so?«, fragt ein kleines Mädchen und flieht.

»Bäh«, ruft ein Junge und folgt ihr über die Rutsche.

Filine lächelt. Jetzt sehe ich den Parfümflakon in ihrer Hand, mit dem sie kleine Dosen einer Substanz um sich herum versprüht. »Stinkmorchel-Extrakt. Ich weiß, es riecht nach totem Tier im Straßengraben. Sorry. Es ist Notwehr. Aber wir müssen die kleinen Kröten für einen Moment loswerden.«

»Ist wirklich eklig. Ich glaub, mir wird schlecht«, sage ich. Dann sehe ich ihren Zeigefinger vor meinem Gesicht herumfuchteln, und ohne mich zu fragen, reibt sie mir etwas Cremiges unter die Nasenflügel, das nach Kakao und Sonnencreme duftet.

»Besser?«, fragt sie.

Ich nicke.

»Gut. Dann kommen wir zum Geschäftlichen. Getrocknetes Eisenbohnenkraut hatte ich keins. Aber ich hätte mein Wachmachwunder im Angebot. Es ist eine von mir selbst gebraute Tinktur.« Dann zeigt sie mir eine kleines braunes Glasfläschchen, das mich an Nasentropfen erinnert. »Nicht mehr als drei Tropfen mit der Pipette in das Getränk deiner Wahl und in den nächsten sechs Stunden ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Also nicht zu viel und nicht spätabends nehmen, okay?«

»Verstanden«, antworte ich, stecke Filines Wachmachwunder ein und zücke meinen Geldbeutel: »Wie viel kostet es?«

»Zwanzig M-Coin«, antwortet Filine.

»Hä? Wie soll das denn gehen?« Ich bin irritiert. »M-Coins gibt es doch nicht in echt.«

»Natürlich nicht«, antwortet Filine. »Du musst dich einloggen.« Ich fühle mich ein bisschen wie ein Doofi, als sie mir bei Magic Kleinanzeigen den Button »Überweisung« im Menü zeigt. Den habe ich noch nie wahrgenommen.

»Man kann sich gegenseitig jede Summe an M-Coins einfach überweisen, wie von einem Bankkonto auf ein anderes«, erklärt sie. »Am Anfang habe ich andere magische Produkte als Gegenleistung angenommen, aber so ist es für alle einfacher.«

Ich zahle und sehe mit Schrecken, wie mein Kontostand weiter bedenklich schrumpft. Jetzt sind nur noch fünfundfünfzig M-Coin übrig. Aber es ist ja für einen guten Zweck. So wird mein Vater wenigstens nicht morgen bei der Einschulung einschlafen, und ich habe eine glückliche kleine Schwester, die sich nicht schon am ersten Tag schämen muss.

»Oh«, sagt Filine noch, nachdem ich mich bedankt und wir uns eigentlich schon verabschiedet haben. »Willst du vielleicht meinen Newsletter abonnieren?«

Wieso nicht?

Also diktiere ich ihr meine Mailadresse.

Eine Sekunde später fiept mein Handy und ich habe eine Info in meinem Postfach. »Magische Schnitzeljagd durch Linneberg – Jetzt anmelden«, lautet der Betreff.

»Noch bis Donnerstag kannst du dich entscheiden. Ich habe eine 48-Stunden-Stadtrallye mit coolen Quests vorbereitet. Das wird ein riesiger Spaß. Los geht es am Freitag um 18 Uhr und es dauert bis Sonntag um 18 Uhr. Die Teilnahmegebühr beträgt fünfzig M-Coin pro Spieler! Ich denke, das ist fair. Mein Ziel ist es, dass mindestens zehn Clans mitmachen, dann gibt es am Ende zweitausendfünfhundert M-Coin für den Gewinnerclan. Also fünfhundert pro Nase. Mega, oder? Fünfzig investieren und fünfhundert gewinnen. Weißt du, ich will an dem Event gar nix verdienen, es soll eine kleine Werbeaktion für meinen Laden werden. Und es soll allen Spaß machen.«

Sie schnappt nach Luft, ihre Wangen glühen, so begeistert ist sie von ihrer Aktion: »Aber das ist noch nicht alles: Obendrauf verschenke ich noch fünf Gutscheine für einen Zaubertrank, den ich höchstpersönlich braue.«

Als ich nicht sofort laut »Yippie yeah« rufe, setzt sie nach: »Du kannst das ja mal mit deinen Leuten besprechen. Ach, in welchem Clan bist du eigentlich?«

»In keinem«, antworte ich. »Ich bin Einzelspieler.«

»Oh. Sorry«, sagt sie und winkt entschuldigend ab: »Es können nur Clans mitmachen. Tut mir echt leid. So viele Worte für nichts.«

»Kein Ding«, antworte ich noch, als ich ein Weinen höre, das mir sehr bekannt vorkommt.

Shit. Mila.

Wie der Blitz rutsche ich vom Turm und scanne den Spielplatz.

Im Gewimmel sehe ich sie erst gar nicht, doch dann entdecke ich meine Schwester auf einer Bank neben einem fremden Mann, der ihr gerade die Nase mit einem Taschentuch putzt.

Oh no! Wie oft hab ich ihr schon gesagt, sie soll nicht mit Fremden reden. Auf den ersten Blick sieht der Typ zwar echt nett aus. Doch das verdankt er nur seinen braunen Locken und den sanften Augen hinter seiner Nickelbrille, die ihn wie einen harmlosen, kleinen Terrier in Menschengestalt aussehen lassen. Aber fremd bleibt fremd. Und Männer ohne Kinder auf Spielplätzen sind immer sehr verdächtig.

Voller Wut rase ich auf ihn zu. »Hände weg von meiner Schwester.«

»Hey. Mal langsam«, bellt der Mann sofort zurück. »Ich helfe ihr nur. Sie ist von der Schaukel gefallen.«

»Ach so«, sage ich verdattert und bemerke jetzt erst das Kleinkind, das direkt vor seinen Füßen sitzt und mit den Kieselsteinen am Boden spielt. Offensichtlich ist er doch nur ein Vater, der mit seinem Sohn Zeit auf einem Spielplatz verbringt.

Ups.

Mila schnieft und zeigt mir die Beule an ihrer Stirn.

»Das muss gekühlt werden«, sagt der Mann. »Wo sind denn eure Eltern?«

»Mama ist tot. Und Papa … der schläft«, antwortet Mila.

Der Mann schaut jetzt entsetzt drein. Mit dieser Antwort hat er wohl nicht gerechnet: »Aha. Und wer passt auf euch auf?«

»Ich. Ich passe auf«, entgegne ich.

Der Mann rümpft die Nase: »Hat ja super geklappt.«

»Kann ich auch einen Muffin haben?«, fragt Mila ganz unverblümt und zeigt auf eine offene Tupperdose mit Kuchen, die auf der Bank steht.

»Hast du Hunger?«

Mila nickt. »Ich hab großen Hunger.«

»Gab es denn nichts zum Mittagessen?«

»Doch«, antwortet meine Schwester. »Katzenbrei.«

Das macht es nicht besser. Der Herr runzelt verwundert die Stirn: »Am besten gibst du mir mal die Nummer deines Vaters. Dann rufe ich ihn an und er kann euch hier abholen. Es geht ja auch nicht, dass ihr so ganz alleine unterwegs seid.« Dann murmelt er etwas von »Aufsichtspflicht«.

Zum Glück krabbelt genau in diesem Moment sein Kind in affenartiger Geschwindigkeit in Richtung Sandkasten, und er muss aufstehen, um es einzufangen.

Ich nutze die Gelegenheit, schnappe mir Mila, die noch zwei Muffins mitgehen lässt, und wir laufen davon, ohne uns noch mal umzudrehen. In was sich diese blöden Erwachsenen immer einmischen. Geht gar nicht. So ein Idiot.

Die Sagen von Solis

»Da sind ja meine kleinen Streuner. Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken.« Papa lächelt, als er uns mit diesen Worten begrüßt. Damit ist klar, dass er nicht sauer ist, sondern nur Spaß macht.

»Ich hab dir doch eine Nachricht hinterlassen«, bemerke ich vorsichtshalber. »Wir wollten dich nicht wecken.«

»Hab ich ja gesehen. Alles gut«, antwortet Papa und wuschelt mir durch die Haare. »Ich weiß ja, dass du immer gut aufpasst.«

»Dazu muss ich noch was sagen«, fange ich an, aber Mila neben mir quakt bereits was von »Aua« und »Kühlen« und schiebt mit der Hand ihren lockigen Pony zur Seite, sodass man die fette Beule mitten auf ihrer Stirn wunderbar sehen kann. Sie ist noch dicker als eben.

»Oha«, bemerkt Papa und inspiziert die Verletzung.

»Sie ist von der Schaukel gefallen«, gebe ich kleinlaut zu.

»Ja, aber ich war noch nie sooo hoch«, erklärt Mila stolz.

»Kann ja mal passieren«, sagt Papa zu mir gewandt, dann besorgt er aus dem Eisfach ein blaues Kühlkissen, das sich Mila klaglos an die Stirn presst. Zum Glück erzählt sie nichts von dem Mann, der sich um sie gekümmert hat, sonst müsste ich zugeben, dass ich sie tatsächlich aus den Augen gelassen habe. Dann würde Papa fragen, wo ich denn war, als es passiert ist, und das könnte ich ihm ja sowieso nicht erzählen. Schließlich ist die ganze Zaubersache megageheim. Niemand darf davon wissen, der nicht bei Magic Kleinanzeigen als Nutzer registriert ist. Daher verstecke ich auch alle Zauberprodukte immer sorgsam vor meiner Familie.

»Was ist das hier eigentlich für ein seltsames Teil?«

Papa hält den magischen Topf in die Höhe. Mir wird heiß und kalt. Wie konnte ich den nur in der Küche vergessen?

Ich druckse schon rum, da rettet mich Mila, ohne es zu wollen, indem sie sagt: »Darin hat Oskar mir heute einen Katzenbrei gekocht.«

Papa grinst: »Ach so. Jetzt verstehe ich.«

Anscheinend denkt er, dass wir damit Kochen gespielt haben.

»Und wie schmeckt Katzenbrei so?«, hakt er nach.

»Fantatastisch«, ruft Mila aus. Dabei fällt ihr wohl ihre Schultüte ein, denn sie lässt das Kühlkissen fallen, läuft ins Wohnzimmer und präsentiert sie eine Minute später. Während Papa ihr Kunstwerk bewundert, nutze ich die Gelegenheit, den Topf und das Wachmachwunder in Sicherheit zu bringen.

Kurz probiere ich noch mal am Kleiderschrank aus, ob der Hokus Lokus wieder funktioniert. Aber nein, der streikt immer noch.

Daher platziere ich einfach alles zwischen meinen Strümpfen in der untersten Schublade meiner Kommode. Dabei fällt mir ein ganz besonderer Kauf in die Hände, den ich bisher nicht in der Kammer versteckt habe, weil ich eigentlich abends mal darin lesen wollte, es aber bisher nicht geschafft habe.

Es ist das schönste Buch, das ich besitze. Der Einband ist ganz schwarz, der Titel »Die Sagen von Solis« ist in silbrig weißen, geschwungenen Buchstaben darauf geschrieben und von Gräsern umrahmt.

Vor drei Tagen habe ich es bei Magic Kleinanzeigen erstanden. Es war totaler Zufall. Beim Scrollen durch die Angebote bin ich drüber gestolpert. Plötzlich war es da. Dann hab ich sofort auf »Kaufen« geklickt, und bingo! Normalerweise sind die besonderen Sachen auf Level Beta immer sofort weg. Aber dieses Mal hatte ich die schnellsten Finger. Vielleicht lese ich heute darin, nehme ich mir vor und lege es einfach schon mal unter mein Kopfkissen, damit ich später daran denke.

Nach dem Abendessen bringt Papa uns ins Bett, früher als die letzten Wochen. Es ist echt doof, wenn die Ferien vorbei sind und man plötzlich wieder mit den Vögeln aufstehen muss.

»Ich bin morgen früh rechtzeitig da, um Frühstück zu machen und euch zu wecken«, sagt er.

Ich liege oben in unserem Hochbett und höre, wie Papa Mila einen Kuss auf die Wange schmatzt. »Dein Bart kitzelt«, beschwert sich Mila.

»Ich rasiere mich morgen extra für dein Fest, versprochen«, sagt Papa und seufzt: »Nur einmal schlafen, und dann bist du ein Schulkind, Mila. Verrückt. Es kommt mir so vor, als wärst du gerade erst auf die Welt gekommen. Freust du dich denn schon?«

»Und wie«, antwortet meine Schwester. »Alle werden Augen machen, wenn sie meine Schultüte sehen. Nicht wahr, Oskar?«

»Die Gesichter würde ich auch zu gerne sehen«, sage ich lachend und muss an die dreiäugigen Katzen denken.

Papas Kopf erscheint vor einer Lücke im Fallschutz-Geländer.

»Wieso eigentlich nicht«, sagt er. »Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Gleich morgen früh.«

»Echt jetzt?«

»Ja. Diesen besonderen Tag gibt es nur einmal im Leben deiner Schwester. Du solltest dabei sein.«

Mila und ich quieken gemeinsam vor Freude, wie zwei kleine Schweinchen.

Dann ist es so weit. Papa holt das Telefon von der Station im Flur und legt es auf den Nachttisch, damit wir ihn jederzeit direkt im Seniorenheim erreichen können. Die Nummer seiner Abteilung ist als Kurzwahl gespeichert. Mila hat ja noch kein Handy und ich muss meins über Nacht ausschalten. Dann verabschiedet er sich und geht.

Ich höre noch das Klimpern der Schlüssel, bevor er sie einsteckt, gefolgt von der Wohnungstür, die ins Schloss fällt. Dann sind wir allein.

Es ist zwar nicht das erste Mal, aber ich finde es immer noch seltsam, nachts ohne einen Erwachsenen zu sein.

In diesem Moment vermisse ich Dani. Obwohl ich sie gleichzeitig hasse. Schließlich hat sie uns verlassen. Einfach so, von heute auf morgen. Ihren Sohn Friedel vermisse ich nicht. Er ist eine kleine Nervensäge. Wäre er jetzt hier auf der Gästematratze, so wie noch vor drei Monaten, dann würde er die ganze Zeit im Dunkeln labern und Geschichten von Lego Ninjago erzählen, was Meister Wu Schlaues sagt oder was Zane, der Elementarmeister des Eises, getan hat. Aber zum Glück ist er ja nicht mehr da und es ist ganz still im Zimmer.

Na ja, nicht ganz still, denn jetzt höre ich ein leises Jammern von unten.

»Mila? Was ist los?«

»Weiß nicht«, antwortet sie. »Ich kann nicht schlafen.«

Das passiert oft, wenn Papa Nachtschicht hat. Also werfe ich erst meine Decke und dann mein Kissen über die Balustrade nach unten. Dabei lege ich mein neues Buch frei.

Wow.

Es leuchtet im Dunkeln. Also die Schrift und die Gräser. Und irgendwie sieht es so aus, als würden sich die Halme ganz sanft im Wind wiegen. Schade, ich bin so neugierig, was da drinsteht, aber jetzt geht Mila vor. Daher klettere ich über die Leiter an der Seite nach unten und kuschele mich zu meiner Schwester.

»Ich muss an Mama denken«, sagt Mila plötzlich. Es ist ein Stich in mein Herz. Mila redet fast nie über sie. »Ich suche ihr Gesicht in meinem Kopf, aber es ist weg.«

Obwohl ich schon neun Jahre alt war und Mila erst drei, als unsere Mama plötzlich gestorben ist, geht es mir auch manchmal so. Wenn ich versuche, sie mir vorzustellen, ist alles im Nebel. Dann packt mich auch die Angst, dass ich sie langsam vergesse.

»Warte«, sage ich, knipse die Nachttischlampe an und laufe zum Bücherregal. Von dort hole ich ein Fotobuch, das direkt vorne auf dem Cover uns alle zeigt: Mila als Baby mit dicken Pausbacken, Papa viel jünger, ohne Stoppelbart und Augenringe, mich mit ungefähr sieben und Mama mit dunklen, langen Locken und großen braunen Augen. Mila ähnelt ihr sehr.

Ich sehe mehr wie Papa aus. Wir haben die gleichen hellbraunen, struppigen Haare, blaue Augen, ein charmantes Lächeln (fand zumindest Dani) und diese unverkennbare Falte im Kinn wie Kirk Douglas.

Mila streichelt Mamas Gesicht und atmet auf. »Ja. So sieht sie aus. Jetzt weiß ich es wieder.«

Ich spüre ihre Erleichterung. Mit großen Augen sieht sie mich an. Sie ist noch hellwach.

»Soll ich dir was vorlesen?«

Mila nickt. Also hole ich die »Sagen von Solis« von oben.

»Ja, aber du musst die Augen zumachen«, sage ich streng und meine es auch so, denn es wäre fatal, wenn Mila die wogenden Gräser sehen würde.

Mila blinzelt noch mal.

»Augen zu. Sonst lese ich nicht«, drohe ich. Meine Schwester nimmt ihre Plüschrobbe Elmar in den Arm und dreht sich zur Seite. Dann schlage ich die erste Geschichte auf und beginne zu lesen:

Es geschah in einer mondlosen Nacht. Der Himmel war so finster wie sonst nur die schwarzen Seen im entfernten Tenebris. Gequält von Albträumen, erwachte ein Junge, drehte sich mit rasendem Herzen zu seinem Vater und weckte ihn.

»Was ist los, Tosari?«, fragte dieser und ließ mit einem kleinen Kristall die Jurte erleuchten, nur so hell, dass er die ängstlichen Augen seines Kindes erkennen konnte.

»Sie kommen. Ich habe es im Traum gesehen«, hauchte Tosari, und sein Vater, Herr über die westlichen Grasländer am Flusse Gonba, drückte seinen Handballen an die Stirn des Jungen. Dann schloss er die Lider und trat in die Erinnerung seines Kindes ein, um die letzten Fetzen des Traumes, die der Junge mit aller Kraft für ihn festhielt, selbst mit eigenen Augen zu sehen.

Hunderte Reiter erschienen in seinem Geist, die vom ewigen Berg herunterpreschten und in alle Himmelsrichtungen über die weiten Ebenen des Landes ausschwärmten, als peitschte eine dunkle Macht ihre Pferde. Das Trampeln ihrer Hufe dröhnte in seinen Ohren, so donnernd, dass Derion eines klar wurde. Es war kein Traum, sondern eine Vision, wie Tosari sie schon öfters gehabt hatte. Weshalb ihn das Volk der Grasläufer auch den Sehenden nannte.

»Sie suchen etwas«, sagte Derion und schob den Kopf seines Jungen von sich, hielt ihn dann aber noch einen Moment zwischen seinen warmen, großen Händen.

»Du gehst sofort und bringst alle Kinder, die schon laufen können, in Sicherheit.« Dabei warf er einen Blick auf seine Frau, die neben ihnen auf dem Bett aus Stroh lag, einen Säugling im Arm haltend, und schlief.

»Wohin soll ich sie bringen?«

»Zu den Graswichteln, dort, wo sich der Gonba-Fluss teilt. Sie werden euch in ihre unterirdischen Höhlen lassen, wenn du ihnen das hier gibst.«

Hastig nahm Derion die Kette mit dem schwarz-weißen Feuerstein ab und legte sie um Tosaris Hals.

»Frag nach Kijani. Er wird euch helfen.«

Tosari zögerte nicht und stellte auch keine weiteren Fragen. Zu oft schon hatten die Alten im Dorf die Geschichte von den verlorenen Kindern erzählt. Hatten die Priester sie erst in ihren Fängen, dann kamen sie nie wieder nach Hause zurück. Sie wurden eins mit dem ewigen Berg und lebten dort für immer als Köche, Mägde, Diener, Handwerker oder Krieger.

Als Sohn des Herrn Derion und der Hexe Raya war Tosari genau das, wonach die Reiter am dringlichsten suchten: Kinder magischen Geblüts, die unterrichtet und irgendwann in die Bruderschaft aufgenommen werden konnten. Es würde ihm kein Leid geschehen, auch das wusste Tosari, aber er würde sich an nichts mehr erinnern, nicht an die warmen Hände seines Vaters, nicht an die weisen Worte und das Lächeln seiner Mutter, nicht an das zufriedene Brabbeln seiner kleinen Schwester und nicht an sein Dorf.

Sie durften ihn nicht bekommen. Ihn nicht und die anderen auch nicht.

Eine Gänsehaut, die über meinen Körper rollt, holt mich zurück in die echte Welt. In meinem Kopf war ich bis eben in einer Jurte bei einem Jungen, dessen Herzklopfen ich bis hierher spüren konnte. Jetzt aber bin ich zurück im Kinderzimmer.

»Mila?«

Keine Antwort, nur ein gleichmäßiges Atmen.

Auch wenn ich unbedingt wissen will, wie es weitergeht, schließe ich die Buchdeckel und folge ihr ins Land der Träume.

Das Mädchen vom anderen Stern

Ding, dong, dong! Die Schulklingel. Oh nein. Ich komme zu spät. Und das am ersten Schultag nach den Ferien.

Klingeling, klingeling – nee. Das ist gar nicht die Schulklingel, das ist Harrys Eiswagen. Mmh. Jetzt ein Erdbeereis.

Dring, drrrrinng – seltsam. Irgendwas stimmt nicht.

Ganz langsam verstehe ich, was hier gerade los ist. Das Klingeln, das mich in meinen Träumen erreicht, ist nicht die Schulklingel und auch nicht Harrys Eiswagen.

Nein! Es ist das Notfalltelefon.

Aufwachen, Oskar, los.

Meine Augen weigern sich noch, aber immerhin finden meine Finger den Weg zum Telefon auf dem Nachttisch, und ich schaffe es irgendwie, den grünen Knopf zu drücken, während Mila neben mir noch tief und fest schläft.

»Oskar? Ich bin’s, Papa«, höre ich meinen Vater am anderen Ende. Er klingt gestresst. »Es tut mir leid, aber es wird ein bisschen später. Es gibt ein Problem bei der Frühschicht. Über Nacht sind zwei Kolleginnen krank geworden. Ich müsste noch bleiben, bis der Ersatz geregelt ist. Könntest du euch selbst Frühstück machen und gucken, dass Mila sich anzieht? Sie hat doch so ein schönes Blumenkleid. Das könntest du ihr rauslegen. Und sie soll sich die Haare kämmen.«

»Hhmm«, antworte ich. Immerhin ist jetzt schon ein Auge offen. »Okay. Ich hole euch gegen halb acht ab«, ist das Letzte, was er sagt. Dann legt er auf.

Plötzlich bin ich hellwach, denn ein Gedanke schießt mir durch den Kopf. Wenn Papa nicht beim Frühstücken dabei ist, wie soll ich ihm dann das Wachmachwunder verabreichen?

Manno, man kann sich einfach nicht auf ihn verlassen. Erst ist es so, dann ist alles wieder anders.

Missmutig stehe ich auf, ziehe mich an und decke den Frühstückstisch. Währenddessen überlege ich mir, wie ich ihn vielleicht doch dazu bringen kann, noch schnell etwas zu trinken, wenn er uns abholt, sozusagen zwischen Tür und Angel.

Ich beschließe, ihn mit seinen eigenen Worten auszutricksen, und werde ihm sagen, dass es ja sooo wichtig ist, genug zu trinken, und dass ich ihm extra einen Tee gekocht habe. Dann kann er gar nicht anders, als das Zeug noch schnell runterzuspülen. Hoffentlich kann man die Tinktur nicht herausschmecken.

Nachdem ich seinen Lieblingskräutertee mit Ingwer und Zitrone in seiner Lieblingstasse mit FC-Linneberg-Logo aufgebrüht habe, besorge ich die Zauberessenz aus meiner Strumpfschublade. Kurz muss ich überlegen, was Filine noch mal genau gesagt hat. Drei Tropfen für sechs Stunden oder sechs Tropfen für drei Stunden? Ich glaube, es war das Zweite. Dann lasse ich die Tinktur in die Kräutermischung tropfen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Fertig.

Anschließend wecke ich Mila, die mir wie ein Zombie in die Küche folgt. Unglaublich. Sie ist so ein Morgenmuffel. Noch schlimmer als ich. Um sie wach zu bekommen, frage ich sie, wie ihr die Geschichte gefallen hat. Mehr als einen »Daumen hoch« bekomme ich nicht. Ich bin schon total gespannt, wie es weitergeht, und frage mich, ob die Sagen in dem Buch erfunden sind oder ob es Solis wirklich gibt, dort, wo auch die Zauberprodukte herkommen, auf der anderen Seite des Portals. Genau darüber denke ich nach, während ich erst Mila, dann mir ein paar Cornflakes in eine Schüssel schütte.

Als ich gerade noch die Milch aus dem Kühlschrank hole, ist es auch schon passiert. Meine Augen sehen, wie Mila Papas Tasse greift, aber bis die Information mein Gehirn erreicht, ist es schon zu spät.

»Hey, das ist nicht deiner«, rufe ich empört aus und entreiße ihr die Tasse, bevor sie alles leer getrunken hat.

»Grrr«, faucht sie. Mehr kann sie noch nicht sprechen.

Ich gucke in die Tasse. Sie ist schon halb leer. Sofort beißt mich mein schlechtes Gewissen. Ob man Kindern so was geben darf? Ein Schluck wird ja hoffentlich nicht so schlimm sein, rede ich mir ein.

Allerdings kann ein bisschen Wachmachwunder bei Mila nicht schaden. Schließlich muss ich sie noch dazu bringen, ein Kleid anzuziehen und sich die wilden Locken zu zähmen. Im aktuellen Zustand ist das undenkbar. Völlig abwesend sitzt sie am Küchentisch mit dem Löffel in der Hand. Doch statt ihn zum Mund zu führen, starrt sie durchs Fenster ins Laub der Baumkronen und wartet auf das Eichhörnchen, das uns ab und zu besucht.

Plötzlich jedoch beginnt sie zu schaufeln und schiebt sich die Cornflakes in solch einer affenartigen Geschwindigkeit rein, dass ich sie ermahnen muss: »Kauen nicht vergessen!«

Wow! Die Tinktur wirkt, denn anschließend teilt sie mir mit, dass sie sich jetzt für die Schule fertig macht, und zwar alleine. Das Blümchenkleid, das ich nach längerem Suchen im Wäschekorb finde, will sie nicht tragen. Ist vielleicht auch besser so, denn es ist ganz zerknittert. Als ich ihr mitteile, dass sie sich bitte die Locken, die verknotet in alle Richtungen stehen, kämmen soll, hält sie sich die Ohren zu, streckt mir die Zunge raus und läuft weg – so schnell wie ein Blitz.

Kurz darauf kommt Papa nach Hause. Er sieht echt fertig aus, wie immer nach zwei Tagen Nachtschicht. Ganz blass ist er und die Augenringe sind noch dunkler als sonst.

»Wo ist sie?«, fragt Papa flüsternd, als ich ihn im Flur begrüße.

»Im Bad«, antworte ich, genauso leise, und zeige auf die Tür.

»Gut. Du musst mir helfen. Ich hab vergessen, Milas Schultüte zu füllen. Du besorgst ein paar Süßigkeiten, ich den Rest, okay?«

Dann verschwindet er in seinem Schlafzimmer und ich laufe in die Küche. Die Süßigkeiten, die Papa meint, sind ganz oben im Hängeschrank. Das ist typisch Erwachsene. Als ob uns die Höhe abschrecken würde. Selbst Mila schafft es, auf die Anrichte zu klettern, und kann dann die Schranktür öffnen. Und ich komme schon so dran, wenn ich mich ein bisschen auf die Zehenspitzen stelle. Mit einem Ruck ziehe ich die Metallkiste heraus, hebe sie herunter und streife dabei so unglücklich Papas Teetasse, dass sie umfällt.

Gerade noch so kann ich die heilige Fußballtasse mit einer Hand vorm Abgrund abfangen. Aber der kostbare Inhalt rinnt über die Arbeitsplatte an den Schubladenfronten herunter bis auf den Boden und bildet dort eine Pfütze. So ein Pech. Ich blicke auf die Uhr am Backofen. Mist! Es ist keine Zeit für einen neuen Tee.

Schnell nehme ich den Lappen aus der Spüle und wische alles auf.

»Wo bleibst du denn?«

Papa steht hinter mir mit Milas Schultüte in der Hand. Gemeinsam befüllen wir sie im Eiltempo. Zuerst ein paar Tütchen mit Orangen-Bonbons nach unten, dann die Geschenke. Papa hat Glitzerstifte, einen Miniatur-Kran und einen Krankenwagen für ihre Fahrzeugsammlung besorgt.

Und das Beste: ein Schlüsselband mit Milas Namen darauf gedruckt und Papas Telefonnummer. Da kommt dann der Haustürschlüssel dran. Den wird sie dann, so wie ich früher, um den Hals tragen, damit sie auch alleine nach Hause kommen kann. Falls Papa arbeitet und ich mal länger in der Schule bin.

Plötzlich hab ich eine Eingebung und entferne heimlich meinen Anhänger vom Schlüsselbund in meiner Hosentasche.

»Was machst du da?«, fragt Papa, als er sieht, wie ich das kleine schlafende Einhorn aus Silber am Schlüsselring befestige.

»Es hat ja mal Mama gehört«, antworte ich. »Das klingt vielleicht seltsam, aber so bekommt Mila heute irgendwie auch etwas von ihr geschenkt.«

Papas Augen werden feucht, aber er wischt sich die Tränen direkt weg und sagt: »Das ist eine ganz wundervolle Idee.«

»Tadaa. Kann losgehen«, hören wir Mila aus dem Flur rufen. Sie ist startklar. Und wie.

»Blümchenkleid und Haare kämmen. Das hatte ich doch am Telefon gesagt, oder?«, flüstert er mir zu, und ich sehe, wie sein Lächeln im Gesicht gefriert.

»Sorry, aber sie war nicht zu stoppen«, hauche ich zurück und weiß selbst nicht, was ich dazu noch sagen soll, denn Mila trägt eine weiße Leggings mit grünen Grasflecken auf den Knien, darüber einen lilafarbenen Glitzertüllrock und darauf mein altes Superman-Shirt mit einem roten S als Symbol. Das ergibt Sinn, denn sie hat auch meinen alten Superheldenranzen geerbt. Von daher passt es zusammen.

Ihre Frisur ist ebenfalls außerirdisch. Statt ihre Haare zu kämmen, hat sie sie einfach mit bunten Spängchen geschmückt. Und dabei ihren Pony so zur Seite geklemmt, dass die Beule leuchtend blau zu sehen ist.