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Diethard Sawicki

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Diethard Sawicki

Magie

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Inhalt

Grundriss1. Was ist Magie?2. Funktioniert Magie?3. Ritual, Ekstase, Trickster4. Das magische Universum5. Magie des Volkes – Magie der Gelehrten6. Ursprungsmythos und höchstes Ziel der Magie7. Eine kurze Geschichte der Magie8. Magie – Christentum – KircheVertiefungenKabbalaAstrologieBaphomet und die TemplerAlchimieSpiritismus heuteVoodoo und die Magie afroamerikanischer ReligionenAleister CrowleyHexen, Hexenverfolgung, WiccaTarotAnhangGlossarLiteraturhinweiseAbbildungsnachweise:

Grundriss

1. Was ist Magie?

Magie ist das Wissen um Praktiken, die es den darüber unterrichteten Personen ermöglichen sollen, mit Hilfe übernatürlicher Mächte etwas Erwünschtes zu erreichen. Dieses Erwünschte kann höhere Erkenntnis und eine Veredelung der Seele des Magiers sein, aber auch eine ganz zweckmäßig gedachte Wirkung in der materiellen Welt: Schädigung eines anderen, Abwehr von Schaden, Erwerb von Reichtümern, Wecken von Liebe bei einer anderen Person. Solche zweckgerichtet eingesetzte Magie wird gemeinhin auch Zauber genannt. Personen, die über magisches Wissen verfügen, werden als Magier, Zauberer, Hexen oder Schamanen bezeichnet, um einige der verbreitetsten Begriffe zu nennen. ›Magier‹ oder auch ›Magus‹ unterstellt dabei über den Zauber hinaus auf Höheres abzielende Absichten einer Person. ›Hexe‹ und ›Hexer‹ fanden ursprünglich nur Anwendung auf Menschen, die sich dem Schadenzauber widmen. Die auf ein tungusisches Wort zurückgehende Bezeichnung ›Schamane‹ hat sich erst im Zuge der New Age-Bewegung in der Umgangssprache etabliert und dient gemeinhin im Kontext von Naturreligionen zur Bezeichnung einer als Heiler und Ratgeber handelnden Person, die in Trance mit Geistern und Göttern Kontakt aufnimmt, häufig auch von ihnen besessen wird.

Diese knappen Definitionen sollen am Ausgangspunkt einer Reise in ein Universum des Denkens und Handelns stehen, das vielfach als Gegenwelt zu unserer naturwissenschaftlich-technisch geprägten, an Zweckmäßigkeit und Vernunft orientierten Zivilisation gilt. Der Sozialwissenschaftler Max Weber (1864–1920) prägte gar die Formel von der »Entzauberung der Welt«, um das weltgeschichtlich Besondere der europäisch-nordamerikanischen Moderne zu beschreiben. Folgt man seiner These, reduziert sich das Reich der Magie auf vermeintlich primitive außereuropäische Völker und solche Winkel der westlichen Welt, an denen die Moderne vorbeigezogen ist. Die seit den späten 1960er Jahren aufblühende, von magischen Vorstellungen durchsetzte neue Esoterik kann von den gedanklichen Erben Webers eigentlich nur als bedauerlicher Ausdruck der Schwäche all jener Menschen gedeutet werden, die mit den Unannehmlichkeiten und Nöten im »stahlharten Gehäuse« (Weber) der (post)modernen Welt nicht mehr zurechtkommen. Eine fragwürdige These, wie dieses Buch zeigen wird.

Magie steht zwischen Wissenschaft und Religion. Ihre zweckgerichteten, auf Wirkung und Erfolg abzielenden Elemente verweisen auf Wissenschaft und Technik. Die spirituellen Ziele der Hohen Magie grenzen dagegen an das Feld des Religiösen. Magie, Religion und Wissenschaft stehen nicht gegensätzlich zueinander, sondern ergänzen sich. Keine der drei kann im Leben des Einzelnen wie auch innerhalb einer sozialen Gemeinschaft den Part der anderen übernehmen. Deshalb existiert Magie auch in unserer hochentwickelten technischen Zivilisation des 21. Jahrhunderts. Es ist unzutreffend, magisches Denken vor allem mit einer primitiven oder vormodernen Denkweise in Verbindung zu bringen. Diese Auffassung wurde insbesondere durch die neuere Ethnologie in Frage gestellt. Überraschende Resultate erbrachten beispielsweise die Forschungen Jeanne Favret-Saadas, die um 1970 in Nordwestfrankreich den dortigen Hexenglauben erforschte. Naturwissenschaftlich-rationalistische Weltsicht und Magie erwiesen sich bei den Bewohnern der Region als zwei Denk- und Handlungssysteme, zwischen denen die Menschen hin und her wechseln konnten. Magie kam ins Spiel, wenn es um die Bewältigung erschütternder und existentiell bedrohender Erfahrungen ging. Ähnliches hat Thomas Hauschild unlängst in Italien beobachtet.

Man kann Magie definieren und die Vielfalt ihrer subjektiv wahrgenommenen Bedeutungsdimensionen zu erfassen versuchen. Man kann ihre soziale Funktion in einer bestimmten Gesellschaft beschreiben. Immer wieder ist in den Kulturwissenschaften die Forderung erhoben worden, die Definition und nähere Klassifizierung magischer Vorstellungen und Praktiken dürfe nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Kultur oder unter Berücksichtigung der Gesamtheit eines gegebenen sozialen Systems erfolgen. Denn in unterschiedlichen Gesellschaften ist auch die Rolle der Magie verschieden. Zudem übt das Bezeichnungssystem, mit dessen Hilfe sich die Menschen in einer Gesellschaft über ihre eigene Magie verständigen, einen Einfluss auf die magischen Wissensbestände aus. Vor allem Ethnologen haben bislang versucht, diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen und die Feinheiten solcher Wechselbeziehungen zu erforschen. Ihre Studien verhelfen auch zu einem besseren Verständnis der Rolle von Magie in unserer eigenen Kultur.

Bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galt das zwischen 1890 und 1915 erschienene Monumentalwerk The Golden Bough (Der goldene Zweig) des britischen Völkerkundlers James G. Frazer (1854–1941) als Standardwerk für Forschungen zur Magie. Heute spielt es nur noch wegen der schieren Masse des gesammelten Materials eine gewisse Rolle, während die zeitgebundenen Deutungen Frazers kritisch gesehen werden. Dennoch kann der weitreichende wissenschaftsgeschichtliche Einfluss seiner Studien kaum unterschätzt werden: Sigmund Freud etwa bezog sich auf Frazer, als er – durchaus bestreitbar – behauptete, das magische Denken der ›Wilden‹, die kindliche Vorstellungswelt und die Wahnwelten der Neurotiker funktionierten nach dem gleichen Mechanismus (Totem und Tabu, 1915). Kernstück von Frazers Magietheorie ist ein recht schematisches Kulturmodell. Die magische Deutung der Welt gilt ihm als die primitivste mögliche Form, die im Laufe der Kulturentfaltung durch Religion ersetzt werde. Zuletzt löse die moderne Wissenschaft nicht nur die Religion ab, sondern werde auch zur Nachfolgerin der Magie, weil sie deren vergeblich erstrebte Ziele tatsächlich realisieren könne. Magie ist bei Frazer das Ergebnis fehlerhaften Denkens: Wenn die ›Wilden‹ glaubten, durch Sprüche und Rituale die Außenwelt in ihrem Sinne beeinflussen zu können, begingen sie den Fehler, eine gedankliche Beziehung mit einer realen zu verwechseln. Magie erscheint bei Frazer somit als eine unzulängliche Technik, um Macht über die Natur zu gewinnen, als eine Art noch nicht funktionierender Naturwissenschaft. Die Regeln des sozialen Zusammenlebens der Menschen werden nach Frazers Theorie auf die Außenwelt angewandt: Indem man sich mit Bitten, Geschenken und Beschwörungen an die Naturkräfte oder für sie zuständige Geistwesen wendet, sollen sie das Gewünschte geschehen lassen. Zudem setzte Frazer voraus, dass Magie grundsätzlich mit Ethik oder Religion nichts zu tun habe. Da aber seiner Auffassung nach der Grad der Ausarbeitung ethischer Vorstellungen die Entwicklungshöhe einer Kultur bestimmt, kann Magie nur die niedrigste ihrer Stufen repräsentieren.

Der französische Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) unterscheidet ebenfalls zwischen Moral und Religion einerseits und Magie andererseits. Allerdings führt er ein weiteres Kriterium ein, das zwar auch nicht immer für Trennschärfe sorgen kann, aber doch einen wichtigen Aspekt in die Theoriedebatte einführt: Magie setze sich aus Vorstellungen und Praktiken zusammen, die nicht innerhalb kirchlicher Gemeinschaften stattfinden und oft in einem Gegensatz zu ihnen stehen. Die These Durkheims deutet an, dass die Unterscheidung zwischen Religion und Magie offenbar gar nichts mit bestimmten Inhalten, Glaubensvorstellungen oder Weltbildern zu tun hat. Offenbar hängt sie vielmehr davon ab, was von wem an welchem sozialen Ort getan wird.

Einen qualitativen Sprung für das Verständnis der sozialen Bedeutung von Magie bedeutete die Erkenntnis, dass Magie eine bedeutsame Rolle bei der Organisation des Alltagslebens von Gesellschaften spielen kann, insbesondere bei der Bewältigung von Konflikt- und Unglücksfällen. So stellte Bronislaw Malinowski (1884–1942) in seiner Studie über die Trobriand-Insulaner im Pazifik dar, wie die gesamte landwirtschaftliche Arbeit des Jahres durch magische Rituale strukturiert wird, die das Gedeihen der Pflanzen und gute Ernten garantieren sollen (Coral Gardens and their Magic, 1935). Edward E. Evans-Pritchard (1902–1973) veröffentlichte 1937 sein Maßstäbe setzendes Werk über die Magie bei den südsudanesischen Zande (Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande). Er zeigte, dass der Glaube an Hexerei und Magie unter den Zande deren Zusammenleben stabilisierte. Jedes individuelle Unglück wurde von ihnen als Folge von Hexerei, also der Ausübung eines Schadenzaubers, gedeutet. Zur Abwendung der Folgen der Hexerei standen Orakel und Magie zur Verfügung. Entgegen der naheliegenden Erwartung, die Zande lebten angesichts der vermeintlichen Allgegenwart von Hexerei ständig in Angst und Bedrückung, erlebte Evans-Pritchard heitere und keineswegs trübsinnige Menschen. Denn die Orakel und die Magie ermöglichten es ihnen, die Hexerei zu kontrollieren. Orakel verhalfen dazu, drohende Hexerei zu erkennen und zu vereiteln, Magie wiederum schützte vor Hexerei. Thomas Hauschild hat bei seinen Feldforschungen in Süditalien entdeckt, dass Magie auch dort dazu dient, den Alltag zu stabilisieren, die traumatischen Erfahrungen von Krankheit und Tod kontrollierbar zu machen und soziale Energie freizusetzen.

Grundtypen von Magie kann man unterscheiden nach der Art der magischen Handlung, der vorausgesetzten Wirkungsweise der verwendeten Gegenstände oder hinsichtlich der beabsichtigten Ergebnisse. Mögliche Elemente magischer Handlungen sind Sprachformeln, Gesänge, Schriften, gezeichnete Symbole, Symbolhandlungen und Berührungen. Die bei magischen Praktiken verwendeten Gegenstände gelten oft als mit einer besonderen magischen Wirkungskraft aufgeladen. Je nach Art des vorgestellten Zusammenhangs zwischen der magischen Handlung und ihrem Ziel lassen sich nach Frazer drei – zum Teil nicht ganz eindeutig trennbare – Typen magischer Wirkung unterscheiden:

analogische Magie – Wirkung durch Entsprechung. Beispiele: Schädigung des Ebenbildes einer Person, um ihr etwas zuleide zu tun. Einfluss eines Planeten auf eine Krankheit oder einen Körperteil, dem er im Sinne der Parallelität von Mikro- und Makrokosmos (s. Kapitel 4) zugeordnet ist.

imitative Magie – Wirkung durch Nachahmung. Beispiel: Regen erzeugen, indem man das Aufziehen von Wolken, den Fall von Niederschlag nachahmt.

kontagiöse Magie – Wirkung durch Berührung/Teilhabe. Beispiele: Die Klinge eines Messers wird mit Heilsalbe bestrichen, damit sich die Wunde nicht entzündet, die es verursacht hat. Handlungen, die an abgeschnittenen Haaren einer Person durchgeführt werden, bewirken etwas bei der betreffenden Person.

Klassifiziert man magisches Handeln nach den beabsichtigten Effekten, ist die auf eine bestimmte Wirkung zielende Magie von der apotropäischen Magie zu unterscheiden, die Schaden abwenden soll. Zudem wird häufig zwischen heilsamer, positive Wirkungen hervorrufender weißer Magie und schädigender schwarzer Magie differenziert. Neben diesen allesamt dem Zauber zuzurechnenden Praktiken tritt noch als in seiner Vielfalt kaum überschaubares Gebiet die Erforschung der Zukunft durch Wahrsagerei. Die Zahl der Verfahren und verwendeten Materialien ist nahezu unbegrenzt.

2. Funktioniert Magie?

Magie funktioniert – aber nicht immer und nur unter bestimmten Bedingungen. Wie dieses Funktionieren vorzustellen ist, wird dann einsichtig, wenn man sich von einer Einschätzung der Magie löst, die wir von den Naturwissenschaftlern und Rechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts übernommen haben und heute gern mit dem ›gesunden Menschenverstand‹ gleichsetzen. Diese Perspektive setzt voraus, dass Magie eben nicht funktioniert. Folglich sind die an magischen Praktiken beteiligten Personen entweder von Scharlatanen arglistig Getäuschte oder bedauernswerte Verblendete, vielleicht sogar psychisch Kranke, die sich selbst etwas vormachen. Diese etwas schlichte Auffassung widerspricht allerdings grundlegenden Resultaten ethnologischer Forschungen über Magie. Ein bemerkenswertes Ergebnis einschlägiger Studien ist die Feststellung, dass auch in vermeintlich primitiven außereuropäischen Gesellschaften keineswegs alle Magier an die Wirksamkeit der Rituale glauben, die sie praktizieren. Claude Lévi-Strauss (geb. 1908) hat beispielsweise dargelegt, dass die innere Überzeugung eines Zauberers und empirisch feststellbare Ergebnisse seiner Bemühungen nicht dafür ausschlaggebend sind, ob er in seiner Gruppe akzeptiert wird. Eine Person wird vielmehr nur dadurch zum Magier, dass ihr diese Funktion von ihrem sozialen Umfeld im Konsens zugewiesen wird. Es handelt sich um eine soziale Stellung, die niemand aus eigenem Entschluss und innerer Überzeugung übernehmen kann, sondern die ihm wie ein Amt übertragen wird. Eine Person mit den vermeintlichen Fähigkeiten eines Magiers wird überhaupt nur deshalb ausfindig gemacht, weil der Glaube an magische Fähigkeiten in der jeweiligen Gruppe bereits vorhanden ist. Es besteht daher durchaus die Möglichkeit, dass eine Person diese Rolle entgegen ihrem Willen übernehmen muss und der so designierte Magier nicht an die ihm beigemessenen Fähigkeiten glaubt. Er sieht sich dann gezwungen, die Rituale und zauberischen Effekte wie ein Schauspieler oder Täuschungskünstler zu simulieren. Bei einer solchen Sachlage wird die Frage, ob der Magier nun ein Betrüger ist, vermutlich nicht einmal mehr von ihm selbst zuverlässig entschieden werden können. Eines der klassischen Fallbeispiele zu dieser eigentümlichen Position des Magiers bietet Franz Boas in seiner Studie über die Religion der Kwakiutl-Indianer an der nördlichen Pazifikküste (The Social Organization and the Secret Societies of the Kwakiutl Indians, 1897). Der Zauberer Ouesalid glaubte ursprünglich nicht an die Macht der Schamanen, ließ sich aber aus Neugierde in deren Geheimnisse einweihen und lernte auf diesem Wege unter anderem eine Reihe von Verfahren kennen, mit deren Hilfe man seine magische Kompetenz den Unwissenden eindrucksvoll vor Augen führen konnte: Simulation von Ohnmachten, kontrolliertes Erbrechen, Einsatz von Spionen, um an vertrauliche Informationen zu kommen. Zur hohen Kunst des Kwakiutl-Schamanen gehörte das Wissen um die Durchführung eines theatralischen Heilverfahrens: Der Zauberer musste ein kleines Federbüschel im Mund verbergen, das er während des entsprechenden Heilrituals durch einen Biss in die Zunge mit Blut durchtränkte. Nach dem Ausspeien musste das blutige, wurmförmige Bündel als das krankmachende Ding präsentiert werden, das mit Hilfe des Magiers aus dem Körper des Kranken befreit worden war. Obwohl er sich bewusst war, dass all dies eigentlich nur fauler Zauber war, begann Ouesalid Kranke zu behandeln – und hatte Erfolg. Seine anfängliche Überzeugung, alle magischen Heilkünste seien letztlich nur Betrug, geriet ins Wanken, als er feststellte, dass es andere schamanistische Heilverfahren gab, die deutlich weniger erfolgreich waren als sein eigenes. So spuckten die Schamanen des benachbarten Volks der Koskimo bei ihren Heilungen nur ein wenig Speichel in ihre Hand und behaupteten, dies sei die aus dem Leib entfernte Krankheit – ein ungleich matteres Schauspiel, als es das blutige Federbüschel bot. Da das Koskimo-Verfahren in einem Fall auch noch erfolglos gewesen war, durfte Ouesalid seine eigene Technik an dem Erkrankten ausprobieren – wiederum mit Erfolg. Nach längerer, erfolgreicher Heilpraxis hatte sich die ursprünglich skeptische Haltung des Schamanen verwandelt. Er hatte inzwischen viele andere Zauberer getroffen, die offensichtlich ebenfalls nur Taschenspielertricks anwandten. Seine eigenen Heilverfahren aber übte Ouesalid gewissenhaft aus, da er ja stolz auf seine Erfolge sein konnte und die Überlegenheit seiner eigenen Methode immer wieder bestätigt bekam. Claude Lévi-Strauss, der in seiner Strukturalen Anthropologie dem Fall Ouesalid einige Seiten widmet, stellt heraus, dass es sich bei magischen Handlungen mit Wahrheit und Betrug ganz anders verhält, als man zunächst vermuten würde: »Ouesalid ist nicht ein großer Zauberer geworden, weil er seine Kranken heilte, sondern er heilte seine Kranken, weil er ein großer Zauberer geworden war.« Der Ethnologe Marcel Mauss (1872–1950) brachte diesen Sachverhalt mit noch etwas anderen Worten ebenfalls auf den Punkt: Der Magier »ist ernst, weil er ernstgenommen wird, und er wird ernst genommen, weil man ihn braucht. (…) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass seine Überzeugung in dem Maße aufrichtig ist, als sie die Überzeugung seiner Gruppe ist.« Dieses soziale Wesen der Magie bedingt, dass die besondere Erwartungshaltung, die Ängste und gesteigerten Emotionen, die dem Magier entgegengebracht werden, zu den unverzichtbaren Bestandteilen von Magie zählen. Mauss verweist in diesem Zusammenhang auf die bezeichnende Weigerung der Spiritisten (siehe Kapitel 7) bei ihren Séancen Skeptiker zuzulassen: Die sympathetische Gruppe mit ihren Erwartungen ist eine notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Ablauf der spiritistischen Sitzungen. Wird Magie als eine soziale Erscheinung erkannt, die auf wechselseitigen Erwartungen und Rollenzuweisungen basiert, lassen sich magische Handlungen aus einem neuen Blickwinkel betrachten: Magie kann dann als ein Netz von Handlungs- und Kommunikationsprozessen verstanden und untersucht werden. Somit steht weniger das Problem im Vordergrund, wie es dieser oder jener Person gelingen konnte, ihre Anhänger durch vorgetäuschte Effekte des Wunders zu blenden, sondern die Frage, welchen Druck die Anwesenden ausübten, was sie wahrnahmen und wie sie es für sich deuteten.

Die sympathetische Gruppe als klassische Konstellation der Totenbeschwörung: Spiritistenzirkel bei einer Séance (aus Fritz Langs Film Dr. Mabuse, der Spieler, 1922).

Welche Faktoren eine Rolle für ein so erlebtes Funktionieren von Magie spielen, lässt sich in der Regel nur durch ganz genaue Beobachtungen ermitteln. Evans-Pritchard hat aufgrund seiner Forschungen bei den Zande die Mechanik skizziert, die bewirkt, dass Magie für dieses Volk etwas ist, das funktioniert:

Magie wird vor allem gegen andere magische Wirkungen angewandt.

Hexerei, Orakel und Magie bilden ein zusammenhängendes System. Jeder Teil des Systems erklärt und beweist den anderen: Tod ist ein Beweis für die Wirksamkeit von Hexerei. Er wird durch Magie gerächt. Den Erfolg des magischen Racheaktes bestätigt ein Orakel. Die Korrektheit des Orakels bestätigt das Orakel des Königs, das über jeden Zweifel erhaben ist.

Wenn eine magische Handlung versagt, wird dies nicht auf alle magischen Handlungen generell verallgemeinert.

Zweifel an der Wirksamkeit bestimmter magischer Handlungen und am Erfolg bestimmter Zauberer werden ausdrücklich zugelassen. Der Kontrast bestätigt die generelle Wirksamkeit umso deutlicher.

Magie wird vornehmlich zur Erzielung von Ergebnissen eingesetzt, die gewöhnlich auch ohne Magie eintreten.

Das System von Hexerei, Magie und Orakeln wird nie in seiner Gesamtheit wahrgenommen, sondern immer nur zum Teil und in bestimmten Situationen. Widersprüche bleiben so unerkennbar.

Magie wird im Verborgenen praktiziert, so dass man jeweils nur die eigenen magischen Maßnahmen kennt und niemals die der anderen. So kann das gleiche Ereignis – ein Todesfall etwa – für die einen Folge von Hexerei und für die anderen das Ergebnis von Rachemagie gegen einen Hexer sein.

Schlägt eine magische Handlung fehl, können dafür immer magische Gründe gefunden werden.

Es wird nicht behauptet, Magie könne allein für das Gelingen eines Vorhabens verantwortlich sein, sie garantiert nur einen besseren Erfolg.

Alle diese Faktoren wirken zusammen, so dass der Glaube an Hexerei und Magie fest gefügt ist und unerschüttert bleibt, auch wenn eine Zauberhandlung sich als wirkungslos erweisen oder von außen Gegenargumente gegen das ganze Gedankengebäude vorgebracht werden sollten. Magie ist also nicht falsifizierbar und erweist sich als ein geschlossenes System. Darin unterscheidet sie sich von der Wissenschaft, denn die Wissenschaft versteht ihre Erkenntnisse niemals als endgültig, sondern grundsätzlich als revidierbar.

3. Ritual, Ekstase, Trickster

Magische Praktiken sollten in erster Linie als inszeniertes Wechselspiel zwischen dem Magier und den Personen, die ihn aufsuchen, verstanden werden. Zwar sind auch für Einzelpersonen magische Praktiken möglich – etwa Pendeln oder Kartenlegen. Doch die intensivsten Erfahrungen mit dem Magischen werden in Gruppen gemacht. Die wichtigste Rahmenbedingung ist das Vorhandensein eines Rituals, das allen Beteiligten vertraut ist und den Ablauf der Ereignisse ordnet. Innerhalb des Rituals findet ein Wechselspiel zwischen dem Magier und den anderen Anwesenden statt, das auf gegenseitigen Erwartungen beruht und keine unbeteiligten Zuschauer zulässt. So kommt es zur Steigerung von Emotionen, die gleichsam durch ihre soziale Energie dafür sorgen, dass der Erregungsgrad in der Gruppe steigt und Begegnungen mit scheinbar Übernatürlichem möglich werden.

Im Mittelpunkt magischer Rituale steht häufig das Phänomen der Ekstase oder Trance, von der eine oder mehrere der anwesenden Personen ergriffen werden können. Ekstase bedeutet, in einen anderen Bewusstseinszustand einzutreten, in dem der Mensch gegenüber der Umwelt andere als die sonst üblichen Reaktionen zeigt und dabei in der Regel unempfänglich für Reize von außen wird. Ekstase kann einen Menschen plötzlich überkommen oder durch Verhaltensbeeinflussung – Meditation, besondere Atemtechniken, Einnahme von Rauschmitteln – herbeigeführt werden. Der ekstatische Zustand kann dem Schlaf ähneln, sich aber auch in heftigen, unbeherrschbaren Bewegungen äußern.