Maigret und der Weinhändler - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der Weinhändler E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Oscar Chabut liegt erschossen vor einer Jugendstilvilla im eleganten 17. Arrondissement. Hier pflegte er sich, wie viele andere Gäste auf Diskretion bedacht, mit seiner Geliebten zu treffen. Während seiner Ermittlungen kämpft Maigret nicht nur gegen eine Grippe, sondern auch gegen die Kälte, die den reichen Weinhändler umgeben hat. Rücksichtslos hat er sich von ganz unten hochgearbeitet und sich dabei viele Feinde gemacht. Nicht nur die gehörnten Ehemänner seiner zahllosen Geliebten haben ein Motiv. Maigrets 71. Fall spielt im 17. Pariser Arrondissement.

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Der 71. Fall

Georges Simenon

Maigret und der Weinhändler

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1

»Du hast sie umgebracht, um sie zu bestehlen, nicht wahr?«

»Ich wollte sie nicht umbringen. Ich hatte nur eine Spielzeugpistole. Das ist doch der Beweis.«

»Wusstest du, dass sie viel Geld hatte?«

»Ich wusste nicht, wie viel. Sie hat ihr Leben lang gearbeitet, also musste sie mit zwei- oder dreiundachtzig Jahren ein paar Ersparnisse haben.«

»Wie oft bist du hingegangen und hast sie um Geld gebeten?«

»Ich weiß nicht. Mehrmals. Wenn ich kam, wusste sie gleich, warum. Sie war meine Großmutter und gab mir automatisch fünf Franc. Aber was soll man als Arbeitsloser mit fünf Franc anfangen?«

Maigret war ernst und ein wenig traurig. Es war eine banale Geschichte. Ein schäbiges Verbrechen, wie es fast jede Woche vorkam. Ein Junge von nicht einmal zwanzig Jahren, der eine alleinstehende alte Frau überfällt, um sie zu berauben. Der Unterschied bei Théo Stiernet war nur, dass das Opfer seine Großmutter war.

Der Bursche war viel ruhiger, als man hätte annehmen können, und beantwortete bereitwillig jede Frage. Er war ziemlich fett und weichlich, mit einem runden, fast kinnlosen Gesicht, hervortretenden Augen und dicken Lippen, so rot, dass sie auf den ersten Blick geschminkt wirkten.

»Fünf Franc! Wie einem Kind, das sich sonntags sein Taschengeld abholt!«

»Ihr Mann ist tot?«

»Schon seit fast vierzig Jahren. Sie hatte lange ein kleines Kurzwarengeschäft an der Place Saint-Paul. Erst in den letzten zwei Jahren konnte sie nicht mehr gut gehen und musste den Laden aufgeben.«

»Und dein Vater?«

»Er ist in Bicêtre bei den Verrückten.«

»Hast du noch eine Mutter?«

»Ich lebe schon lange nicht mehr mit ihr zusammen. Sie ist immer betrunken.«

»Geschwister?«

»Eine Schwester. Sie ist mit fünfzehn Jahren von zu Hause weg. Keiner weiß, was aus ihr geworden ist.«

Er sagte das alles ungerührt.

»Woher wusstest du, dass deine Großmutter ihr Geld bei sich zu Hause aufbewahrte?«

»Sie hat den Banken und sogar der Sparkasse misstraut.«

Es war neun Uhr abends. Der Mord war am Vortag um die gleiche Zeit begangen worden, und zwar in dem alten Haus in der Rue du Roi-de-Sicile, in dem Joséphine Ménard zwei Zimmer im dritten Stock bewohnte. Eine Mieterin aus dem vierten war Stiernet auf der Treppe begegnet, als er die Wohnung verließ. Sie kannte ihn gut. Sie hatten einander guten Abend gesagt.

Gegen halb zehn hatte eine andere Nachbarin, Madame Palloc, die im selben Stockwerk gegenüber wohnte, bei der alten Frau vorbeischauen wollen, wie sie es oft tat. Sie hatte geklopft, aber niemand hatte geantwortet. Die Tür war nicht abgeschlossen, also drückte sie die Klinke herunter. Joséphine Ménard war tot, lag gekrümmt auf dem Fußboden, mit zerschmettertem Schädel, das Gesicht zu Brei geschlagen.

Schon um sechs Uhr morgens fand man Théo Stiernet. Er schlief auf einer Bank in der Gare du Nord.

»Was hat dich auf die Idee gebracht, sie umzubringen?«

»Ich hatte das nicht vor. Sie hat mich angegriffen, und da habe ich es mit der Angst bekommen.«

»Hast du deine Spielzeugpistole auf sie gerichtet?«

»Ja. Sie hat nicht mit der Wimper gezuckt. Vielleicht hat sie sofort gesehen, dass es nur ein Spielzeug war.

›Raus mit dir, du Lümmel!‹, hat sie gesagt. ›Wenn du glaubst, du könntest mir einen Schrecken einjagen …‹

Sie hat eine Schere vom runden Tisch genommen, ist auf mich zugekommen und hat immer wieder gesagt:

›Verschwinde! Verschwinde, sage ich dir, wenn du es nicht dein Leben lang bereuen willst …‹

Sie war klein und von zartem Aussehen, aber sehr zäh.

Ich hatte Angst. Ich dachte, sie würde mir mit der Schere die Augen ausstechen. Ich habe mich nach etwas umgesehen, womit ich mich verteidigen könnte. Neben dem Ofen lag ein Feuerhaken, den habe ich genommen.«

»Wie oft hast du zugeschlagen?«

»Ich weiß nicht. Sie wollte einfach nicht umfallen und hat mich die ganze Zeit angestarrt.«

»Hatte sie Blut im Gesicht?«

»Ja. Ich wollte nicht, dass sie leidet. Ich weiß nicht. Ich habe weiter auf sie eingeschlagen.«

Maigret glaubte, den Generalstaatsanwalt vor dem Schwurgericht sagen zu hören:

Stiernet hat sich dann wie besessen auf sein unglückliches Opfer gestürzt …

»Und als sie hingefallen ist?«

»Ich habe sie angesehen, ohne etwas zu begreifen. Ich wollte sie nicht töten. Ich schwöre es Ihnen. Sie können mir glauben.«

»Du warst aber kaltblütig genug, um die Schubladen zu durchwühlen.«

»Nicht sofort. Erst bin ich zur Tür gegangen. Dann fiel mir ein, ich hatte nur noch einen Franc fünfzig in der Tasche, und man hatte mich aus der Pension hinausgeworfen, weil ich drei Wochen keine Miete gezahlt hatte.«

»Bist du wieder umgekehrt?«

»Ja. Ich habe nicht alles durchwühlt, wie Sie anscheinend glauben. Ich habe nur ein paar Schubladen aufgezogen. Ich habe ein altes Portemonnaie gefunden und es in meine Tasche gesteckt. Dann habe ich eine Pappschachtel an mich genommen, in der zwei Ringe und eine Kamee lagen.«

Die Schmuckstücke lagen auf Maigrets Schreibtisch neben den Pfeifen, ebenso das abgewetzte Portemonnaie.

»Den Haufen Geld hast du nicht gefunden?«

»Ich habe nicht danach gesucht. Ich wollte bloß weg, sie nicht mehr sehen. Wo ich auch in dem Zimmer war, sie schien mich zu beobachten. Auf der Treppe bin ich Madame Menou begegnet. Ich bin in eine Bar gegangen und habe einen Cognac getrunken und drei von den Sandwiches gegessen, die es am Tresen gab.«

»Hattest du Hunger?«

»Wahrscheinlich. Ich habe gegessen, Kaffee getrunken, und dann bin ich durch die Straßen gelaufen. Ich war keinen Schritt weitergekommen, denn in dem Portemonnaie waren nur acht Franc fünfundzwanzig.«

Ich war keinen Schritt weitergekommen.

Er hatte das gesagt, als wäre es das Natürlichste von der Welt, und Maigret musterte ihn nachdenklich, konnte den Blick nicht von ihm wenden.

»Warum bist du gerade zur Gare du Nord gegangen?«

»Das war keine Absicht. Ich bin zufällig dort gelandet. Es war sehr kalt.«

Es war der fünfzehnte Dezember. Ein heftiger Wind wehte, und winzige Schneeflocken wirbelten durch die Luft, bevor sie sich wie Staub auf das Pflaster legten.

»Wolltest du nach Belgien?«

»Mit den paar Franc?«

»Was hattest du vor?«

»Erst mal schlafen.«

»Hast du vorausgesehen, dass man dich verhaften würde?«

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Woran denn?«

»An gar nichts.«

Die Polizei hatte das Geld in Packpapier eingewickelt auf dem Spiegelschrank gefunden. Es waren zweiundzwanzigtausend Franc. »Was hättest du getan, wenn du das Geld gefunden hättest?«

»Ich weiß nicht.«

Die Tür öffnete sich, und Lapointe kam herein.

»Inspektor Fourquet hat gerade angerufen. Er hätte Sie gern gesprochen, aber ich habe ihm gesagt, Sie seien beschäftigt.«

Fourquet gehörte zum 17. Arrondissement, einem reichen, großbürgerlichen Viertel, in dem Verbrechen selten vorkamen.

»In der Rue Fortuny, zweihundert Meter vom Park Monceau entfernt, ist ein Mann erschossen worden. Seinen Papieren nach war er ein ziemlich großes Tier, ein bekannter Weinhändler.«

»Weiß man weiter nichts?«

»Er muss auf dem Weg zu seinem Wagen gewesen sein, als er von vier Kugeln getroffen wurde. Es gibt keine Zeugen. In der Straße ist wenig los, und zu der Zeit war niemand dort.«

Maigret blickte zu Stiernet und zuckte mit den Schultern.

»Ist Lucas da?«

Er ging zur Tür und sah Lucas am Schreibtisch sitzen.

»Würdest du bitte mal einen Moment kommen?«

Stiernet beobachtete sie einen nach dem anderen mit seinen hervortretenden Augen, als ginge ihn das alles nichts an.

»Fang mit dem Verhör noch einmal von vorn an, und schreib seine Antworten mit. Er soll dann das Protokoll unterzeichnen, und du bringst ihn ins Untersuchungsgefängnis. Du, Lapointe, kommst mit mir.«

Er zog seinen dicken schwarzen Mantel an und band sich den marineblauen Wollschal um, den Madame Maigret ihm gestrickt hatte. Ehe er das Zimmer verließ, stopfte er sich eine Pfeife und zündete sie dann, nach einem letzten Blick auf den Mörder, im Flur an.

Obwohl es noch nicht spät war, waren nur wenige Leute unterwegs. Der eisige Wind ließ einem das Gesicht gefrieren und drang noch durch die wärmste Kleidung. Die beiden Männer setzten sich in eines der kleinen schwarzen Autos der Kriminalpolizei und fuhren in Rekordzeit durch halb Paris.

In der Rue Fortuny wurde der Verkehr angehalten. Polizisten hinderten Schaulustige daran, sich einer Leiche zu nähern, die man auf dem Gehsteig liegen sah. Vier oder fünf Männer liefen geschäftig hin und her.

Fourquet war da und kam auf Maigret zu.

»Der Kommissar des Viertels ist gerade gekommen. Der Arzt auch.«

Maigret schüttelte dem Kommissar, den er gut kannte, die Hand. Er war ein eleganter, liebenswürdiger Mann.

»Kennen Sie Oscar Chabut?«

»Müsste ich ihn kennen?«

»Ein ziemlich wichtiger Mann, einer der größten Weinhändler von Paris. Der Mönchswein, Vin des Moines. Das haben Sie bestimmt schon auf Lastwagen und Plakaten gelesen. Er hat auch Frachtkähne und Tankwagen.«

Der Mann, der auf dem Gehsteig lag, war korpulent, aber nicht fett. Er hatte eher den Körperbau eines Rugbyspielers. Der Arzt richtete sich auf und klopfte sich pudrigen Schnee von den Knien.

»Er hat höchstens noch zwei oder drei Minuten gelebt. Die Autopsie wird uns Genaueres sagen.«

Maigret betrachtete die starren hellblauen, fast blassgrauen Augen, das grob geschnittene Gesicht, den kräftigen Kiefer, der sich zu lösen begann.

Der Wagen vom Erkennungsdienst hielt am Gehsteig, und die Männer luden ihre Geräte aus, ähnlich wie ein Film- oder Fernsehteam.

»Haben Sie das Büro des Staatsanwalts benachrichtigt?«

»Ja. Er schickt einen Vertreter und einen Untersuchungsrichter.«

Maigret schaute sich nach Fourquet um, entdeckte ihn dann wenige Schritte entfernt. Er schlug sich auf seine langen Arme, um sich aufzuwärmen.

»Welcher ist sein Wagen?«

Es standen fünf oder sechs am Bordstein, lauter teure Wagen. Der von Chabut war ein roter Jaguar.

»Haben Sie ins Handschuhfach gesehen?«

»Ja. Eine Sonnenbrille, ein Guide Michelin, zwei Straßenkarten der Provence und eine Dose Hustenpastillen.«

»Er ist höchstwahrscheinlich aus einem Haus hier in der Straße gekommen.«

Die war kurz, und als Maigret sich umdrehte, sah er die Jugendstilvilla, vor der die Leiche noch immer lag. Die Fenster waren mit Steinarabesken verziert. Er meinte, das vergitterte Guckfenster in der eisenbeschlagenen Eichentür habe sich gerade bewegt.

»Komm bitte mit, Lapointe.«

Er ging zu der Tür und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür einen Spaltbreit öffnete. Eine Frau, von der man nur ein Auge und eine Schulter sah, stand im dunklen Flur.

»Was ist?«

Maigret hatte sie erkannt.

»Guten Abend, Blanche.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Kommissar Maigret. Erinnern Sie sich nicht? Richtig, es ist immerhin gut zehn Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.«

Unaufgefordert stieß er die Tür auf.

»Geh hinein«, sagte er zu Lapointe. »Du bist noch zu jung, um Madame Blanche zu kennen, wie alle sie nennen.«

Da er sich in vertrauter Umgebung befand, drehte Maigret den Schalter, um Licht zu machen, und öffnete eine Flügeltür, die in einen großen Salon führte. Er war voll von Teppichen, Wandbehängen, bunten Kissen und Lampen, deren Licht durch seidene Schirme gedämpft wurde.

Madame Blanche wirkte wie fünfzig, obwohl sie bestimmt die Sechzig überschritten hatte. Sie war eine kleine, rundliche Frau, die manche als vornehm bezeichnet hätten. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und eine zwei- oder dreireihige Perlenkette.

»Immer noch so eifrig und diskret?«

Er hatte sie vor dreißig Jahren kennengelernt, als sie auf dem Boulevard de la Madeleine auf den Strich ging. Sie war hübsch und sanft gewesen und hatte ein einnehmendes Lächeln gehabt, mit zwei Grübchen in den Wangen.

Später hatte sie ein Bordell in der Rue Notre-Dame-de-Lorette geleitet, wo man immer hübschen Mädchen begegnet war.

Sie war weiter aufgestiegen. Heute war sie Besitzerin dieser Villa, in der Gelegenheitspärchen ein elegantes Refugium sowie erstklassigen Champagner und Whisky fanden.

»Wie ist es passiert?«, fragte der Kommissar, während sie sich um Haltung bemühte.

»Hier drinnen ist nichts passiert. Was draußen geschehen ist, weiß ich nicht. Ich habe nur ein Kommen und Gehen bemerkt.«

»Sie haben keine Schüsse gehört?«

»Das waren Schüsse? Ich hatte das für ein Auto gehalten.«

»Wo waren Sie?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe in der Küche gerade etwas gegessen. Nur Brot und Schinken. Ich esse nie richtig zu Abend.«

»Wer ist im Haus?«

»Niemand. Warum?«

»Mit wem war Oscar Chabut zusammen?«

»Wer ist Oscar Chabut?«

»Sie täten besser daran, etwas guten Willen zu zeigen. Sonst muss ich Sie zum Quai des Orfèvres mitnehmen.«

»Ich kenne meine Gäste nur mit Vornamen. Das sind fast alles wichtige Leute.«

»Und Sie öffnen die Tür erst, nachdem Sie durch das kleine Fenster gesehen haben.«

»Das ist ein anständiges Haus. Ich lasse nicht jeden Beliebigen rein. Darum lässt uns die Sittenpolizei in Frieden.«

»Haben Sie auch durch das Fenster gesehen, als Chabut gegangen ist?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Lapointe, fahr sie zum Quai. Dort wird sie sich vielleicht gesprächiger zeigen.«

»Ich kann das Haus nicht verlassen. Ich sage Ihnen alles, was ich weiß. Ich glaube, der Herr namens Chabut ist der Kunde, der vor etwa einer halben Stunde gegangen ist.«

»War er Stammkunde? Kam er oft?«

»Von Zeit zu Zeit.«

»Einmal im Monat? Einmal in der Woche?«

»Ich möchte sagen, einmal in der Woche.«

»Immer mit derselben Frau?«

»Nein, nicht immer.«

»War Ihnen seine heutige Begleiterin neu?«

Sie zögerte und zuckte schließlich mit den Schultern.

»Ich wüsste nicht, warum ich mich in Kalamitäten bringen sollte. Sie war in einem Jahr an die dreißig Mal hier.«

»Hat er Sie angerufen, um Ihnen seinen Besuch anzukündigen?«

»So wie alle es tun.«

»Wann sind die beiden gekommen?«

»Gegen sieben.«

»Zusammen oder getrennt?«

»Zusammen. Ich habe den roten Wagen sofort erkannt.«

»Haben sie Getränke bestellt?«

»Der Champagner stand schon in einem Eiskübel bereit.«

»Wo ist die Frau?«

»Aber … Sie ist gegangen.«

»Nachdem Chabut erschossen wurde?«

Er las ein Zögern in ihrem Blick.

»Natürlich nicht.«

»Sie behaupten, die Frau sei als Erste gegangen?«

»So war es.«

»Ich glaube Ihnen nicht, Blanche.«

Im Lauf seiner Tätigkeit bei der Kriminalpolizei hatte er oft mit solchen Etablissements zu tun gehabt, und er kannte die Sitten. So wusste er, dass der Mann immer als Erster geht und seiner Begleiterin die Zeit lässt, sich wieder herzurichten.

»Zeigen Sie mir das Zimmer, in dem sich die beiden aufgehalten haben. Du, Lapointe, bewachst den Flur, damit niemand das Haus verlässt. Also, wo waren sie?«

»Im ersten Stock. Das rosa Zimmer.«

Die Wände waren getäfelt, das Treppengeländer geschnitzt, der Läufer, auf jeder Stufe von einer Messingstange gehalten, hellblau und weich.

»Als ich Sie kommen sah …«

»Denn Sie lauerten hinter dem kleinen Fenster?«

»Ist das nicht ganz natürlich? Ich wollte wissen, was los war. Als ich Sie erkannte, ahnte ich sofort, dass ich Scherereien bekommen würde …«

»Geben Sie zu, Sie kannten seinen Namen.«

»Ja.«

»Und den seiner Begleiterin?«

»Von der weiß ich nur den Vornamen, ich schwöre es. Anne-Marie. Ich nenne sie die Heuschrecke.«

»Warum?«

»Weil sie groß und mager ist und lange Beine und Arme hat.«

»Wo ist sie?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, sie ist als Erste gegangen.«

»Und ich glaube Ihnen nicht.«

Sie stieß eine Tür auf. In dem Zimmer, dessen Boden ganz mit Teppichen bedeckt war, war eine Frau dabei, das Baldachinbett frisch zu beziehen. Auf einem runden Tischchen standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Eines hatte Spuren von Lippenstift und enthielt noch einen Rest Sekt.

»Da, Sie sehen doch, dass …«

»Dass sie weder in diesem Zimmer noch im Badezimmer ist, richtig. Wie viele Zimmer haben Sie?«

»Acht.«

»Sind welche besetzt?«

»Nein. Meine Gäste kommen am Nachmittag oder dann viel später. Ich erwartete jemanden um neun Uhr. Er hat gewiss die vielen Menschen draußen gesehen und …«

»Zeigen Sie mir die anderen Zimmer.«

Im ersten Stock waren es vier, alle mehr oder weniger im Empirestil eingerichtet, mit schweren Möbeln und einer Fülle verblichener Wandbehänge.

»Sie sehen, hier ist niemand.«

»Gehen wir weiter.«

»Warum sollte sie ins obere Stockwerk hinaufgegangen sein?«

»Ich möchte es trotzdem sehen.«

In den beiden ersten Zimmern war tatsächlich niemand, aber im dritten saß eine junge Frau ganz steif auf einem granatroten Samtsessel.

Sie sprang auf. Ihr Körper war lang und schmal, sie hatte kaum Busen und Hüften.

»Wer ist das?«, fragte er.

»Die, die auf den Gast um neun Uhr gewartet hat.«

»Kennen Sie sie?«

»Nein.«

Doch die junge Frau zuckte mit den Schultern. Sie schien noch keine zwanzig zu sein und strahlte eine gewisse Gleichgültigkeit aus.

»Er bekommt es ja doch heraus. Er ist von der Polizei, nicht wahr?«

»Kommissar Maigret.«

»Ach, wirklich?«

Sie musterte ihn neugierig.

»Kümmern Sie sich selbst um diesen Fall?«

»Wie Sie sehen.«

»Ist er tot?«

»Ja.«

Sie wandte sich an Madame Blanche und sagte vorwurfsvoll:

»Sie haben gesagt, er ist nur verletzt. Warum haben Sie mich belogen?«

»Ich konnte es nicht wissen. Ich bin nicht zu ihm hingegangen.«

»Wer sind Sie, Mademoiselle?«

»Anne-Marie Boutin, seine Privatsekretärin.«

»Sind Sie oft mit ihm hergekommen?«

»Für gewöhnlich einmal die Woche. Immer am Mittwoch, weil ich da angeblich an einem Englischkurs teilnehme.«

»Gehen wir hinunter«, knurrte Maigret.

Er war ein bisschen angewidert von all den Pastelltönen und dem gedämpften Licht, in dem die Gesichter verschwommen wirkten.

 

Sie waren im Salon angekommen, aber keiner setzte sich. Man hörte Stimmen, ein Kommen und Gehen auf dem Gehsteig, wo immer noch der eisige Wind wehte, während es im Haus so warm wie in einem Treibhaus war. Wie in einem Treibhaus standen auch überall riesige Grünpflanzen in chinesischen Vasen herum.

»Was wissen Sie von der Ermordung Ihres Chefs?«

»Was sie mir erzählt hat«, antwortete die Heuschrecke, auf Madame Blanche deutend. »Dass jemand auf ihn geschossen und ihn verletzt hat. Dass die Concierge aus dem Nachbarhaus herausgekommen ist und offenbar die Polizei gerufen hat, denn die war schon ein paar Minuten später da.«

Das Kommissariat befand sich ganz in der Nähe, in der Avenue de Villiers.

»War er auf der Stelle tot?«

»Ja.«

Es sah aus, als würde sie noch etwas blasser, aber sie begann nicht zu weinen. Sie schien bloß unter Schock zu stehen.

Mechanisch fuhr sie fort:

»Ich wollte sofort gehen, aber sie ließ das nicht zu.«

»Warum nicht?«, fragte Maigret Madame Blanche.

»Sie wäre Ihrem Kollegen in die Arme gelaufen. Ich wollte sie und mein Haus aus all dem heraushalten. Wenn sich die Zeitungen erst einmischen, muss ich wohl schließen.«

»Erzählen Sie mir genau, was Sie gesehen haben. Wo stand der Mann, der geschossen hat?«

»Zwischen zwei Autos, genau gegenüber der Tür.«

»Konnten Sie ihn deutlich erkennen?«

»Nein. Die Laterne ist ein ganzes Stück entfernt. Ich habe nur eine Gestalt gesehen.«

»War er groß?«

»Eher klein. Breitschultrig und dunkel gekleidet. Er hat drei- oder viermal geschossen. Ich habe die Schüsse nicht gezählt. Monsieur Oscar hat sich an den Bauch gefasst, ist kurz getaumelt und dann nach vorn gefallen.«

Maigret beobachtete die junge Frau. Sie wirkte mitgenommen, zeigte aber keine Spur von Verzweiflung.

»Haben Sie ihn geliebt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Waren Sie schon lange seine Geliebte?«

Das Wort schien sie zu überraschen.

»Es war nicht ganz so, wie Sie glauben. Wenn er Lust hatte, gab er mir das zu verstehen. Aber von Liebe sprach er nie. Und auch für mich war er kein Geliebter.«

»Wann erwartet Ihre Mutter Sie?«

»Zwischen halb zehn und zehn.«

»Wo wohnen Sie?«

»In der Rue Caulaincourt, bei der Place Constantin-Pecqueur.«

»Wo ist das Büro von Oscar Chabut?«

»Am Quai de Charenton, hinter den Lagerhäusern von Bercy.«

»Sind Sie morgen Vormittag dort?«

»Sicher.«

»Möglich, dass ich Sie brauche. Lapointe, bring sie zur Metro, damit sie nicht belästigt wird. Vielleicht haben die Zeitungen schon Wind von der Sache bekommen.«

Er spielte mit seiner Pfeife, als zögerte er, sie in dieser Situation zu stopfen und anzustecken. Schließlich tat er es doch.

Madame Blanche hielt die Hände vor ihrem runden Bauch gefaltet und blickte ihn so unbefangen an wie jemand, der sich nichts vorzuwerfen hat.

»Sind Sie sicher, dass Sie den Schützen nicht erkannt haben?«

»Ich schwöre es Ihnen.«

»Kam Ihr Gast manchmal mit verheirateten Frauen?«

»Ich nehme es an.«

»Kam er häufig?«

»Manchmal mehrmals in einer Woche, dann wieder habe ich zehn oder vierzehn Tage nichts von ihm gehört. Das war eher selten.«

»Hat niemand Sie seinetwegen angerufen?«

»Nein.«

Der Vertreter des Staatsanwalts und der Untersuchungsrichter waren gegangen. Die Kälte war noch grimmiger als zuvor, und die Männer vom Gerichtsmedizinischen Institut, die den Leichnam des Weinhändlers auf eine Bahre gelegt hatten, schoben diese gerade in den Leichenwagen. Die Leute vom Erkennungsdienst stiegen wieder in ihr Auto.

»Habt ihr etwas gefunden?«

»Patronenhülsen. Vier. Kaliber 6,35.«

Ein kleines Kaliber. Eine Waffe für eine Frau oder einen Amateur, eine Pistole, mit der man aus nächster Nähe schießen muss.

»Keine Journalisten?«

»Es waren zwei da, die sind aber ziemlich bald wieder gegangen, damit sie die Nachricht noch in der Lokalausgabe bringen können.«

Inspektor Fourquet wartete geduldig, wobei er mit den Füßen stampfte. Er hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht, damit seine Nase wieder warm wurde.

»Ist er aus diesem Haus gekommen?«

»Ja«, grummelte Maigret.

»Wollen Sie es der Presse mitteilen?«

»Mir wäre viel lieber, es würde nicht veröffentlicht, wenn irgend möglich. Haben Sie seine Papiere, seine Brieftasche?«

Fourquet reichte sie Maigret.

»Seine Privatadresse?«

»Place des Vosges. Die Hausummer finden Sie auf dem Ausweis. Benachrichtigen Sie seine Frau?«

»Ja, das ist besser, als wenn sie morgen früh aus den Zeitungen davon erfährt.«

An der Ecke Avenue de Villiers war der Eingang zur Metrostation Malesherbes zu sehen, von wo Lapointe mit großen Schritten zurückkam.

»Vielen Dank für Ihren Anruf, Fourquet. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange habe warten lassen. Es ist wirklich verdammt kalt.«

Er stieg in das kleine Auto, das gut vor der Kälte schützte. Lapointe setzte sich ans Steuer und sah den Chef fragend an.

»Zur Place des Vosges.«

Eine ganze Weile schwiegen sie. Das Gitter mit den goldenen Spitzen am Park Monceau war bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, und es schneite weiter. Sie fuhren über die Champs-Élysées, dann über die Quais und hielten dann an der Place des Vosges.

Die Concierge, in ihrer dunklen Loge nicht zu sehen, schaltete das Licht im Flur ein, und Maigret murmelte im Vorbeigehen:

»Zu Madame Chabut …«

Sie fragte ihn nichts. Die beiden Männer gingen in den ersten Stock hinauf. An der massiven Eichentür stand auf einem kleinen Messingschild der Name Oscar Chabut. Es war erst halb elf. Maigret klingelte. Eine Minute später wurde die Tür geöffnet, und ein Mädchen mit Schürze und Leinenhaube sah sie fragend an. Sie war brünett und hübsch, das schwarze Seidenkleid betonte vorteilhaft ihre Figur.

»Ich möchte zu Madame Chabut.«

»Wen darf ich melden?«

»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«

»Einen Moment bitte.«

In der Wohnung lief das Radio oder der