Maigret und Monsieur Charles - Georges Simenon - E-Book

Maigret und Monsieur Charles E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Der renommierte Pariser Notar Gérard Sabin-Levesque wird vermisst - eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn der lebenslustige 48-Jährige ist nicht zum ersten Mal für ein paar Tage verschwunden. Der Grund: außereheliche Eskapaden. Doch nun ist er schon seit einem Monat fort, und seine Frau Nathalie fürchtet, er könne einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Die Ermittlungen führen Kommissar Maigret durch die angesagtesten Nachtlokale von Paris, und er muss erkennen: Levesque hat gleich in zweifacher Hinsicht ein Doppelleben geführt. Die Animierdamen der Nachtlokale kannten den ehrenwerten Notar nämlich unter dem Namen »Monsieur Charles« …Maigrets 75. Fall spielt im 6. und 9. Arrondissement von Paris.

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Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Der 75. Fall

Georges Simenon

Maigret und Monsieur Charles

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Svenja Tengs Mit einem Nachwort von Andrea Maria Schenkel

Kampa

1

Maigret spielte in der strahlenden Märzsonne, die noch ein wenig kühl war, jedoch nicht mit Bauklötzen wie früher als Kind, sondern mit Pfeifen.

Es lagen immer fünf oder sechs davon auf seinem Schreibtisch. Jedes Mal, wenn er eine stopfen wollte, wählte er sie je nach Stimmung sorgfältig aus.

Mit leerem Blick und hängenden Schultern saß er da. Gerade eben hatte er über seine restliche Laufbahn entschieden. Er bereute nichts, aber ein bisschen wehmütig war er schon.

Mechanisch und mit größtem Ernst schob er die Pfeifen auf seiner Schreibunterlage herum, sodass sie mehr oder weniger geometrische Figuren ergaben oder an dieses oder jenes Tier erinnerten.

Rechts auf seinem Schreibtisch stapelte sich die Morgenpost, aber er hatte keine Lust, sich damit zu befassen.

Als er um kurz vor neun am Quai des Orfèvres angekommen war, hatte er eine Aufforderung vorgefunden, den Polizeipräsidenten aufzusuchen, was nur selten vorkam. Er hatte sich zum Boulevard du Palais begeben, während er sich fragte, was das zu bedeuten hatte.

Der Polizeipräsident hatte ihn sofort mit einem herzlichen Lächeln empfangen.

»Können Sie sich nicht denken, worum es geht?«

»Ich muss gestehen, nein.«

»Setzen Sie sich. Stecken Sie Ihre Pfeife an.«

Der Polizeipräsident war noch jung, kaum vierzig, und hatte an den besten Universitäten studiert. Er war elegant, vielleicht ein wenig zu elegant.

»Wie Sie wissen, wird der Leiter der Kriminalpolizei nächsten Monat nach zwölf Jahren auf diesem Posten in den Ruhestand treten. Ich habe mich gestern mit dem Innenminister über seine Nachfolge unterhalten. Wir sind übereingekommen, Ihnen dieses Amt anzubieten.«

Wahrscheinlich rechnete der Polizeipräsident damit, Freude im Gesicht seines Gesprächspartners zu sehen.

Maigrets Miene verfinsterte sich jedoch.

»Ist das ein Befehl?«, fragte er fast mürrisch.

»Nein, natürlich nicht. Aber Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es eine bedeutende Beförderung ist, die wichtigste, auf die ein Beamter am Quai des Orfèvres hoffen kann.«

»Ich weiß, aber ich würde doch lieber Kommissar der Kriminalpolizei bleiben. Bitte nehmen Sie mir diese Entscheidung nicht übel. Ich bin nun schon seit vierzig Jahren als Polizeibeamter im Dienst. Es wäre mir unerträglich, meine Tage im Büro zu verbringen, Akten zu wälzen und mich mit mehr oder weniger verwaltungstechnischen Angelegenheiten zu befassen.«

Der Polizeipräsident konnte seine Überraschung nicht verbergen.

»Finden Sie nicht, Sie sollten sich Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, und mir Ihre Antwort in ein paar Tagen mitteilen? Vielleicht möchten Sie sich auch mit Ihrer Frau besprechen?«

»Sie würde mich verstehen.«

»Ich verstehe Sie auch und möchte Sie nicht drängen …« Dennoch war ihm ein gewisser Unwille anzusehen. Er verstand, ohne zu verstehen. Maigret brauchte die Kontakte, die mit seinen Ermittlungen einhergingen. Man hatte ihm oft vorgeworfen, dass er diese nicht vom Büro aus leitete, sondern selbst aktiv wurde und sich mit Aufgaben befasste, für die normalerweise die Inspektoren zuständig waren.

Er spielte geistesabwesend mit seinen Pfeifen. Sie waren jetzt so angeordnet, dass sie an einen Storch erinnerten.

Das Fenster glitzerte im Sonnenlicht. Der Polizeipräsident hatte ihn noch bis zur Tür gebracht und ihm herzlich die Hand gegeben. Maigret wusste dennoch, dass man ihm die Sache an höherer Stelle übelnehmen würde.

Langsam steckte er sich eine seiner Pfeifen an und rauchte in kleinen Zügen.

Innerhalb weniger Minuten hatte er über seine Zukunft entschieden, die gar nicht mehr so lang war, denn in drei Jahren würde man ihn in den Ruhestand versetzen. Verdammt noch mal, da sollte man ihn diese drei Jahre doch wenigstens so verbringen lassen, wie er es wollte!

Er musste aus seinem Büro herauskommen, die frische Luft draußen atmen, bei jeder neuen Ermittlung eine andere Welt entdecken. Er brauchte die Bistros, in denen er so oft an der Theke warten musste und wo er ein Bier oder einen Calvados trank, je nach den Umständen.

Er musste die Gelegenheit haben, in seinem Büro geduldig mit einem Verdächtigen zu ringen, der nichts sagen wollte und manchmal nach Stunden ein dramatisches Geständnis ablegte.

Ihm war mulmig zumute. Er fürchtete, dass man ihn nach längerer Überlegung auf die eine oder andere Art dazu zwingen würde, diese Beförderung anzunehmen. Aber er wollte sie um keinen Preis, auch wenn sie eine Art Marschallstab war.

Er starrte auf die Pfeifen, die er gelegentlich hin und her schob wie die Figuren eines Schachspiels, und zuckte zusammen, als es leise an der Tür klopfte, die sein Büro mit dem der Inspektoren verband.

Ohne auf eine Antwort zu warten, trat Lapointe ein.

»Entschuldigen Sie, dass ich störe, Chef.«

»Du störst mich überhaupt nicht.«

Es war jetzt fast zehn Jahre her, dass Lapointe zur Kriminalpolizei gestoßen war. Man hatte sich angewöhnt, ihn den kleinen Lapointe zu nennen. Damals war er lang und dürr gewesen, aber inzwischen hatte er ein bisschen zugelegt. Er hatte geheiratet und zwei Kinder. Trotzdem war er der kleine Lapointe geblieben. Manche nannten ihn auch: Maigrets Liebling.

»In meinem Büro ist eine Frau, die Sie unbedingt persönlich sprechen möchte. Mir will sie nichts sagen. Sie sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl, rührt sich nicht und ist fest entschlossen, sich durchzusetzen.«

Das kam oft vor. Wegen der Artikel, die in den Zeitungen erschienen, beharrten die Leute darauf, ihn persönlich zu sprechen. Es war oft schwer, sie davon abzubringen. Manche hatten sogar Gott weiß woher seine Privatadresse und klingelten am Boulevard Richard-Lenoir.

»Hat sie dir ihren Namen genannt?«

»Hier ist ihre Karte.«

Madame Sabin-Levesque

207a, Boulevard Saint-Germain

»Sie kommt mir seltsam vor«, sagte Lapointe. »Ihr Blick ist starr. Sie hat so einen nervösen Tick, bei dem sich ihr rechter Mundwinkel nach unten zieht. Sie hat ihre Handschuhe nicht ausgezogen, aber man sieht, dass sich ihre Finger die ganze Zeit verkrampfen.«

»Bring sie rein und bleib hier. Nimm für alle Fälle deinen Stenoblock mit.«

Maigret betrachtete seine Pfeifen und seufzte mit Bedauern. Die Pause war vorbei.

Als die Frau eintrat, stand er auf.

»Setzen Sie sich, Madame.«

Sie starrte ihn an.

»Sie sind doch Kommissar Maigret?«

»Ja.«

»Ich habe Sie mir kräftiger vorgestellt.«

Sie trug einen Pelzmantel und eine passende Mütze. War sie aus Nerz? Maigret kannte sich mit diesen Dingen nicht aus, denn die Frau eines Kommissars musste sich in der Regel mit Kaninchen oder bestenfalls Bisam oder Biberratte zufriedengeben.

Madame Sabin-Levesque ließ ihren Blick langsam durch das Büro schweifen, als wollte sie eine Bestandsaufnahme machen. Als sich Lapointe mit Block und Bleistift ans Schreibtischende setzte, fragte sie:

»Bleibt der junge Mann hier?«

»Ja, natürlich.«

»Schreibt er unser Gespräch mit?«

»Das ist so üblich.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich. Ihre Finger umklammerten die Handtasche aus Krokodilleder.

»Ich dachte, ich könnte vertraulich mit Ihnen reden.«

Maigret antwortete nicht. Er beobachtete seine Besucherin und fand sie, wie Lapointe, zumindest sonderbar. Mal starrte sie einen so intensiv an, dass es unangenehm war, mal wirkte sie abwesend.

»Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin.«

»Ich habe Ihren Namen auf Ihrer Visitenkarte gelesen.«

»Wissen Sie, wer mein Mann ist?«

»Er heißt wahrscheinlich genauso wie Sie.«

»Er ist einer der bedeutendsten Notare von Paris.«

Immer dieser Tick, dieser nach unten zuckende Mundwinkel. Sie schien nur mit Mühe einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Fahren Sie bitte fort.«

»Er ist verschwunden.«

»In dem Fall sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Es gibt eine Sonderabteilung, die sich mit Vermissten befasst.«

Sie lächelte spöttisch, freudlos und machte sich nicht die Mühe, zu antworten.

Ihr Alter war schwer zu schätzen. Wahrscheinlich war sie kaum älter als vierzig, höchstens vierundvierzig, doch sie hatte markante Gesichtszüge und Tränensäcke unter den Augen.

»Haben Sie getrunken, bevor Sie herkamen?«, fragte Maigret unvermittelt.

»Ist das wichtig?«

»Ja. Sie wollten unbedingt mit mir sprechen, nicht wahr? Da müssen Sie schon auf Fragen gefasst sein, die Sie vermutlich indiskret finden.«

»Ich habe Sie mir anders vorgestellt, verständnisvoller.«

»Gerade weil ich zu verstehen versuche, muss ich manche Dinge wissen.«

»Ich habe zwei Cognac getrunken, um mir Mut zu machen.«

»Nur zwei?«

Sie blickte ihn stumm an.

»Wann ist Ihr Mann verschwunden?«

»Vor fast einem Monat. Am 18. Februar. Heute ist der 21. März.«

»Hat er Ihnen gesagt, er wolle verreisen?«

»Kein Sterbenswörtchen.«

»Und Sie melden sein Verschwinden erst jetzt?«

»Ich bin daran gewöhnt.«

»Woran?«

»Dass er mehrere Tage fort ist.«

»Ist das schon lange so?«

»Seit Jahren. Es fing kurz nach unserer Hochzeit an, vor fünfzehn Jahren.«

»Hat er Ihnen nie gesagt, warum er verreist?«

»Ich glaube nicht, dass er verreist.«

»Ich verstehe nicht.«

»Er bleibt in Paris oder in der Umgebung.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich ihn die ersten Male von einem Privatdetektiv verfolgen ließ. Ich habe das dann aber gelassen, denn es war immer dasselbe.«

Es fiel ihr offensichtlich schwer zu sprechen. Sie hatte es nicht bei den beiden Cognac belassen und sich auch keinen Mut angetrunken, denn an ihrem verlebten Gesicht und ihren Schwierigkeiten, Haltung zu bewahren, erkannte man, dass sie häufig trank.

»Sie müssen mir das schon etwas genauer erklären.«

»Mein Mann ist nun mal so.«

»Wie?«

»Er ist sehr begeisterungsfähig. Er lernt eine Frau kennen, die ihm gefällt, und hat das Bedürfnis, ein paar Tage mit ihr zu verbringen. Bisher hat seine längste Liebschaft, wenn man das so nennen kann, zwei Wochen gedauert.«

»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass er sie auf der Straße aufliest?«

»Doch, so ungefähr. Meistens in Nachtclubs.«

»Ging er allein aus?«

»Ja, immer.«

»Hat er Sie nie mitgenommen?«

»Wir bedeuten einander schon lange nichts mehr.«

»Aber Sie machen sich trotzdem Sorgen?«

»Um ihn.«

»Nicht um sich selbst?«

Ihr Blick verhärtete sich, wurde herausfordernd.

»Nein.«

»Lieben Sie ihn nicht mehr?«

»Nein.«

»Und er Sie?«

»Schon gar nicht.«

»Aber Sie leben zusammen.«

»Die Wohnung ist groß. Wir haben nicht dieselbe Routine und sehen uns nur selten.«

Lapointe stenographierte mit, während sich weiter Verwunderung in seinem Gesicht spiegelte.

»Warum sind Sie hergekommen?«

»Damit Sie ihn suchen.«

»Haben Sie sich schon vorher Sorgen gemacht?«

»Einen Monat, das ist lange. Er hat nichts mitgenommen, nicht mal einen kleinen Koffer oder Wäsche zum Wechseln. Er hat auch keinen der Wagen genommen.«

»Besitzen Sie mehrere Wagen?«

»Zwei. Den Bentley, den er meistens benutzt, und den Fiat, der mehr oder weniger für mich reserviert ist.«

»Fahren Sie selbst?«

»Vittorio, der Chauffeur, fährt mich, wenn ich ausgehe.«

»Gehen Sie oft aus?«

»Fast jeden Nachmittag.«

»Um Freundinnen zu besuchen?«

»Ich habe keine Freundinnen.«

Er war selten einer Frau begegnet, die so verbittert und schwer zu durchschauen war.

»Gehen Sie einkaufen?«

»Ich hasse Geschäfte.«

»Machen Sie Spaziergänge im Bois de Boulogne oder anderswo?«

»Ich gehe ins Kino.«

»Jeden Tag?«

»Fast. Wenn ich nicht zu müde bin.«

Wie bei Drogensüchtigen kam der Moment, da sie den Rausch brauchte. Dieser Augenblick war nun gekommen. Man spürte, sie hätte viel für einen Cognac gegeben, aber der Kommissar konnte ihr wohl kaum einen anbieten, auch wenn er für bestimmte Fälle eine Flasche in seinem Schrank aufbewahrte. Sie tat ihm ein wenig leid.

»Ich versuche zu verstehen, Madame Sabin.«

»Sabin-Levesque«, verbesserte sie ihn.

»Wie Sie wünschen. Ist Ihr Mann öfter für längere Zeit verschwunden?«

»Nie einen ganzen Monat.«

»Das haben Sie mir schon gesagt.«

»Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Inwiefern?«

»Ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

»Haben Sie einen Grund dafür, das anzunehmen?«

»Nein. Man braucht keinen Grund, um ein ungutes Gefühl zu haben.«

»Sie sagen, Ihr Mann sei ein bedeutender Notar.«

»Sagen wir, er hat eine bedeutende Kanzlei und eine der größten Klientelen in Paris.«

»Wie kann er dann regelmäßig verschwinden?«

»Gérard arbeitet so wenig wie möglich als Notar. Er hat die Kanzlei von seinem Vater übernommen, aber eigentlich kümmert sich sein Kanzleileiter um alles.«

»Sie wirken erschöpft.«

»Ich bin immer erschöpft. Ich bin gesundheitlich angeschlagen.«

»Und Ihr Mann?«

»Trotz seiner achtundvierzig Jahre benimmt er sich wie ein junger Mann.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, könnte man in den Nachtclubs eine Spur von ihm finden.«

»Ich denke schon.«

Maigret wurde nachdenklich. Seine Fragen schienen ins Leere zu gehen und die Antworten, die er bekam, zu nichts zu führen.

Einen Augenblick fragte er sich, ob er es hier nicht mit einer Verrückten oder zumindest einer Nervenkranken zu tun hatte. Solche Leute waren schon öfter in seinem Büro gelandet. Die meisten hatten ihm nichts als Ärger gemacht.

Ihre Worte klangen normal und plausibel, aber zugleich hatte man den Eindruck, dass eine tiefe Kluft sie von der Wirklichkeit trennte.

»Denken Sie, dass er viel Geld bei sich hatte?«

»Soweit ich weiß, hat er vor allem sein Scheckheft benutzt.«

»Haben Sie mit dem Kanzleileiter darüber gesprochen?«

»Wir reden nicht miteinander.«

»Warum nicht?«

»Weil mein Mann mir vor etwa drei Jahren verboten hat, in seine Kanzlei zu kommen.«

»Hatte er einen Grund dafür?«

»Ich weiß es nicht.«

»Auch wenn Sie sich nicht mit dem Kanzleileiter verstehen, müssen Sie ihn doch kennen?«

»Lecureur – so heißt er – hat mich immer so böse angesehen.«

»War er schon vor dem Tod Ihres Schwiegervaters in der Kanzlei?«

»Er hat mit zweiundzwanzig dort angefangen.«

»Vielleicht weiß er mehr über den Aufenthaltsort Ihres Mannes?«

»Schon möglich. Aber selbst wenn ich ihn frage, würde er mir nichts sagen.«

Immer wieder dieser Tick, der Maigret allmählich auf die Nerven ging. Mehr und mehr spürte er, dass dieses Gespräch eine Qual für seine Besucherin war. Aber warum war sie dann gekommen?

»In welchem Güterstand leben Sie?«

»In Gütertrennung.«

»Haben Sie eigenes Vermögen?«

»Nein.«

»Gibt Ihr Mann Ihnen alles Geld, das Sie brauchen?«

»Ja. Er macht sich nichts aus Geld. Ich kann es zwar nicht beschwören, aber ich denke, er ist sehr reich.«

Maigret stellte seine Fragen ohne bestimmte Hintergedanken. Er suchte in allen Richtungen, doch bisher hatte er nichts gefunden.

»Hören Sie, Sie sind müde. Das ist verständlich. Wenn Sie erlauben, komme ich heute Nachmittag zu Ihnen.«

»Wie Sie wollen.«

Sie stand noch nicht auf, umklammerte weiter ihre Handtasche.

»Was denken Sie über mich?«, fragte sie schließlich in gedämpftem Ton.

»Noch denke ich gar nichts.«

»Sie finden mich schwierig, nicht wahr?«

»Nicht unbedingt.«

»Schon in der Schule fanden meine Klassenkameradinnen mich kompliziert. Ich hatte eigentlich nie Freundinnen.«

»Sie sind aber sehr intelligent.«

»Finden Sie?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln, begleitet vom Zucken ihrer Lippen.

»Das hat mir nichts genützt.«

»Sind Sie nie glücklich gewesen?«

»Nie. Ich weiß gar nicht, was das Wort bedeutet.«

Sie deutete auf Lapointe, der immer noch stenographierte.

»Muss dieses Gespräch wirklich zu Protokoll genommen werden? Es ist schwer, offen zu sprechen, wenn jemand jedes Wort mitschreibt.«

»Wenn Sie mir etwas anzuvertrauen haben, können wir damit aufhören.«

»Ich habe gerade nichts weiter zu sagen.«

Sie erhob sich mühsam und ließ die Schultern hängen. Ihr Rücken war etwas gekrümmt, ihre Brust eingefallen.

»Muss er heute Nachmittag mitkommen?«

Maigret zögerte, wollte ihr eine Chance geben.

»Ich komme allein.«

»Wann?«

»Wann es Ihnen am besten passt.«

»Ich halte meistens Mittagsschlaf. Passt es Ihnen um vier?«

»Sehr gut.«

»Es ist im ersten Stock. In der Toreinfahrt nehmen Sie die Tür rechts.«

Sie hielt ihm nicht die Hand hin. Sehr steif ging sie zur Tür, als hätte sie Angst zu fallen.

»Ich danke Ihnen trotzdem, dass Sie mich empfangen haben«, murmelte sie leise.

Nach einem letzten Blick auf Maigret wandte sie sich der großen Treppe zu.

 

Die beiden Männer blickten einander an, als wollte jeder den Augenblick hinauszögern, in dem man etwas sagte und den anderen nach seiner Meinung fragte. Allerdings wirkte Lapointe verblüfft, der Kommissar hingegen eher ernst, wenn auch mit einem leicht schalkhaften Funkeln in den Augen.

Er öffnete das Fenster, suchte sich eine ziemlich große Pfeife aus und stopfte sie. Lapointe konnte nicht mehr an sich halten.

»Was denken Sie, Chef?«

Diese Frage wagten seine Mitarbeiter ihm nur selten zu stellen, denn meistens antwortete er darauf mit einem vertrauten Brummen: »Ich denke gar nichts.«

Stattdessen fragte er seinerseits:

»Über die Geschichte von dem verschwundenen Ehemann?«

»Vor allem über sie.«

Maigret zündete seine Pfeife an und stellte sich vor das Fenster. Während er die sonnigen Quais betrachtete, sagte er:

»Eine sonderbare Frau …«

Nichts weiter. Er versuchte nicht, seine Eindrücke zu analysieren, und erst recht nicht, sie in Worte zu fassen. Lapointe begriff, dass der Kommissar verwirrt war, und bereute es, seine Frage so unbedacht gestellt zu haben.

»Vielleicht ist sie verrückt«, murmelte er trotzdem.

Der Kommissar blickte ihn ernst an, ohne ein Wort zu sagen.

Er blieb eine Weile am Fenster stehen und fragte dann:

»Kommst du mit mir mittagessen?«

»Gern, Chef. Zumal meine Frau bei ihrer Schwester in Saint-Cloud ist.«

»Sagen wir in einer Viertelstunde.«

Nachdem Lapointe das Zimmer verlassen hatte, nahm er den Hörer ab und ließ sich mit dem Boulevard Richard-Lenoir verbinden.

»Bist du’s?«, hörte er die Stimme seiner Frau, bevor er den Mund öffnen konnte.

»Ja, ich bin’s.«

»Ich wette, du rufst an, um mir zu sagen, dass du nicht zum Mittagessen kommst.«

»Touché.«

»Brasserie Dauphine?«

»Mit Lapointe.«

»Ein neuer Fall?«

Vor drei Wochen hatte er seine letzte große Ermittlung beendet. Seine Lust, an der Place Dauphine zu Mittag zu essen, drückte im Grunde nur seine Freude darüber aus, dass es wieder losging. Es war auch ein wenig, als könnte er so dem Polizeipräsidenten und dem Innenminister eins auswischen, die ihn unbedingt in ein prachtvolles Büro einsperren wollten.

»Ja.«

»Ich habe nichts in den Zeitungen gelesen.«

»Die Zeitungen haben noch nichts darüber berichtet und werden es vielleicht auch nicht tun.«

»Lass es dir schmecken. Ich hätte dir nur gebratene Heringe bieten können …«

Er dachte eine ganze Weile nach. Dann griff er erneut zum Hörer und starrte dabei auf den Sessel, auf dem die Besucherin gesessen hatte. Er glaubte, sie wieder vor sich zu sehen mit ihrer nervösen Art, ihren glänzenden Augen und ihrem Tick.

»Können Sie mich mit Maître Demaison verbinden?«

Er wusste, dass er ihn um diese Zeit zu Hause erreichen würde.

»Hier Maigret.«

»Wie geht’s Ihnen? Haben Sie wieder einen armen Mörder, den ich verteidigen soll?«

»Noch nicht. Ich brauche nur ein paar Auskünfte. Kennen Sie einen Notar namens Sabin-Levesque, Boulevard Saint-Germain?«

»Gérard? Aber sicher. Wir haben zusammen studiert.«

»Was halten Sie von ihm?«

»Ist er mal wieder abgehauen?«

»Sie wissen also Bescheid?«

»Alle seine Freunde sind im Bilde. Hin und wieder verguckt er sich in eine hübsche Frau und verschwindet für eine Nacht oder ein paar Tage von der Bildfläche. Er hat eine ausgesprochene Vorliebe für die Halbprofessionellen, wie ich sie nenne, Stripteasetänzerinnen zum Beispiel oder Animierdamen von Nachtclubs …«

»Kommt das oft vor?«

»Meines Wissens ein Dutzend Mal im Jahr.«

»Ist er ein seriöser Notar?«

»Er hat die beste Klientel von Paris übernommen, fast den ganzen Faubourg Saint-Germain, obwohl er überhaupt nicht wie ein gewöhnlicher Notar aussieht. Er trägt helle Anzüge, manchmal groß karierte Tweedjacken.

Ein sehr fröhlicher, heiterer Kerl, der die schönen Seiten des Lebens genießt, doch das hält ihn nicht davon ab, die Vermögen, die man ihm anvertraut, mit ungewöhnlichem Spürsinn zu verwalten.

Ich kenne mehrere seiner Klienten und Klientinnen, die auf ihn schwören …«

»Kennen Sie seine Frau?«

Ein kurzes Zögern.

»Ja.«

»Und?«

»Eine merkwürdige Person. Ich wollte nicht mit ihr zusammenleben, Gérard wahrscheinlich auch nicht, denn er geht ihr nach Möglichkeit aus dem Weg.«

»Geht sie manchmal mit ihm aus?«

»Meines Wissens nicht.«

»Hat Sie Freundinnen, Freunde?«

»Auch nicht, soweit ich weiß.«

»Liebhaber?«

»Ich habe noch nie Gerüchte über sie gehört. Die meisten Leute halten sie für depressiv oder verrückt. Sie trinkt.«

»Das habe ich gemerkt.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

»Der Mann scheint seit einem Monat verschwunden zu sein.«

»Und niemand hat von ihm gehört?«

»Sieht so aus. Deshalb war sie beunruhigt, als sie heute Morgen bei mir war.«

»Warum bei Ihnen und nicht bei der Vermisstenstelle?«

»Das habe ich sie auch gefragt, aber sie hat nicht darauf geantwortet.«

»Wenn er über mehrere Tage fort ist, hält er für gewöhnlich Kontakt mit seinem Kanzleileiter, dessen Namen ich vergessen habe. Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich werde wohl heute Nachmittag zu ihm gehen.«

Ein paar Minuten später öffnete Maigret die Tür zum Büro der Inspektoren und gab Lapointe ein Zeichen. Der stürzte mit einer gewissen Unbeholfenheit herbei, die er in Anwesenheit von Maigret, seinem Idol, nie ganz abschütteln konnte.

»Du brauchst keinen Mantel«, murmelte er. »Es ist nicht weit.«

Am Morgen hatte er nur einen Übergangsmantel angezogen, den er an der Garderobe hängen ließ.

Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster. Es tat gut, wieder in die Atmosphäre der Brasserie Dauphine mit ihren Küchen- und Alkoholgerüchen einzutauchen. An der Theke standen mehrere Polizeibeamte, denen Maigret zuwinkte.

Sie gingen direkt in den gemütlichen Speisesaal mit Blick auf die vorbeifließende Seine.

Der Wirt gab ihnen die Hand.

»Einen kleinen Pastis zum Frühlingsbeginn?«

Maigret zögerte, sagte dann aber Ja. Lapointe tat es ihm nach. Der Wirt brachte die Gläser.

»Eine neue Ermittlung?«

»Wahrscheinlich.«

»Nun, ich stelle Ihnen keine Fragen. Hier sind Diskretion und Verschwiegenheit das oberste Gebot. Wie wär’s mit einem ris de veau mit Champignons?«

Maigret genoss seinen Pastis, denn er hatte schon lange keinen mehr getrunken. Man stellte ihnen ein paar Horsd’œuvres hin.

»Ich möchte wissen, ob sie heute Nachmittag redseliger ist, wenn ich nicht dabei bin.«

»Das frage ich mich auch …«

Sie aßen in aller Ruhe und konnten auch den von der Wirtin gebackenen Mandelkuchen nicht ausschlagen, den diese ihnen persönlich servierte, nachdem sie sich die Hände an der Schürze abgewischt hatte.

Es war noch nicht ganz zwei, als die beiden die große Treppe am Quai des Orfèvres hinaufstiegen.