Mal Aria - Carmen Stephan - E-Book

Mal Aria E-Book

Carmen Stephan

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Beschreibung

Eine Geschichte über Leben und Tod. Erzählt von einem Moskito. Am Abend lief Carmen noch um die Wette am Strand – in der Nacht weckt sie ein kalter Schmerz. Kein Arzt in Brasilien weiß ihr zu helfen. Nur einer weiß alles: der Moskito, der Carmen gestochen hat ... Immer tiefer verbindet er sich mit seinem Opfer, immer tiefer zieht er den Leser in diese Geschichte, die zugleich eine Parabel über die Unkontrollierbarkeit des Lebens ist. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2012

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Für Fanny

»If you would see all of Nature gathered up at one point, in all her loveliness, and her skill, and her deadliness, and her sex, where would you find a more exquisite symbol than the Mosquito?«

Henry Havelock Ellis

Stellt euch die einfachen Fragen. Warum erschuf Gott den Menschen am letzten Tag und ein Insekt vor ihm? Warum steckt die Natur den Tod in ein winziges Wesen, wie ich es bin? Dann streicht das Warum, begreift endlich.

Lernt mich kennen. Jeder Schwarm braucht ein Gehirn, das ihn lenkt.

Nennt mich die Schwarze.

Wenn die Nacht hereinbricht, schrumpfen die Menschen und die Mücken wachsen.

Seht den Schatten an eurer Wand, die Fühler, die Beine, die langen Palpen.

Hört mich singen, aus der dunkelsten Ecke des Zimmers.

Schlaft ein. Werdet wehrlos. Ich bin da.

Irgendwo schwirrte etwas, dann war es ruhig. Sie lag in Rio de Janeiro, im Viertel Olaria, in der Rua Catete, in der vor jedem Haus auf dem Fensterbrett eine Marienstatue steht, im Krankenhaus Salbino, im Zimmer Nr. 284, in ihrem Bett. Der kleine Kopf im Kissen, auf das ein »S« gestickt war. Die Lider gelb. Im Hals alles still, alles tot. Nur das Blut rauschte und rauschte. Ständig lächelte sie. Die Kräfte, die sich im Schmerz entfalten, waren nun die einzigen, die den Körper noch zusammenhielten.

Sie hatte an diesem Tag noch kein Piratenschiff gesehen. Weder Stimmen in ihrem Ohr, die sich in einer fremden Sprache etwas zuflüstern, noch das Schreien der Soldaten. Vielleicht war es ein besonderer Tag. Die Wand, der Fußboden, ihre Decke, alles beige, der Raum ohne Rahmen. Ob draußen die Welt noch vorhanden war, wusste sie nicht. Es ist nur ein Spaziergang und zurück, wie der Fuchs sagte. Willst du mit mir kommen? Ich nehme dich auf meinem Rücken mit. Zu einem Spaziergang und zurück. Fuchs, pass auf …

Wo war er? Träumte sie? Sie träumte nicht, sie sah jedes Detail. Bis es verschwand. Das Gehirn schaute, nicht ihre Augen. Ein Herr Beobachter zeichnete alles auf. Über ihrem früheren Bewusstsein hatte er eine Stirnlampe angebracht, die auf alles sein Beobachterlicht warf. Wenn eine zweite Etage existierte, gab es auch eine dritte oder vierte? Die Wirklichkeit hatte auf einmal so viele Schichten. In losen dünnen Blättern lagen sie übereinander, und sie konnte jedes einzelne in die Hand nehmen und wenden. Wurde sie verrückt, verstand sie endlich? Am neunten Tag.

Sie wusste nicht, wer die Dinge in ihr festlegte. Sie kannte den Namen ihrer Krankheit nicht. Sie hatte mindestens so viele Möglichkeiten wie das Orchester am Amazonas, das es vor langer Zeit gab und das jedes Jahr aufs Neue ausstarb. Wer es in seiner vollen Besetzung im Opernhaus erleben wollte, musste sich früh in der Saison um Karten bemühen. Bald schon fehlten die Violine oder das Cello, es folgten in unvorhersehbarer Reihenfolge die Klarinette, die Posaune, das Klavier, die Trompete. Schiefe Töne. Sekunden der Stille. Krankheiten, die man hören konnte. So ging es weiter, bis alle Töne fort waren. Im langsamen Abnehmen der Musik hatte das Orchester ein lange nachklingendes Bild für das Dahinschwinden des Lebens erschaffen. Das letzte Konzert, welches Instrument auch immer das letzte war, bestand nur noch aus einem dünnen Faden Melodie, den die Verzweiflung zusammenhielt. Weil gerade darin Schönheit lag, war es jedes Jahr ausverkauft.

Die Musiker starben an Pocken, Malaria, Gelbfieber und anderen Tropenleiden, die sich zur Zeit des Kautschuks ausbreiteten. Manche dieser Krankheiten haben eine jahrtausendalte Geschichte, die in jedem neu erzählt wird, der sie bekommt.

Meiner Patientin im Hospital Salbino erging es im Jahr 2004 nicht anders als manchem Musiker aus der Ära der Kautschukbarone. Sie war mit ihnen verbunden, wie sie mit mir verbunden war. Wir waren Blutsschwestern. Ihre Geschichte, die ich erzähle, ist so gewöhnlich und entsetzlich wie jede Geschichte, die vom Tod handelt. Es ist nicht so, dass viel passiert wäre, es ist vielmehr so, dass trotz aller Anstrengungen nichts passierte. Und doch warfen diese Tage ein Licht in manche schlecht ausgeleuchteten Winkel unseres Inneren.

Man hätte sie längst retten können. Aber niemand sah, niemand verstand. Menschen, die nicht denken, sind überflüssig; sie sind gefährlich.

Ich kannte den Namen ihrer Krankheit. Doch ich konnte ihn niemandem mitteilen. Ich habe keinen Mund. Stimmlos flüsterte ich ihr all das zu, was sie hören wollte. Die Geschichte, wie ich entdeckt wurde (die ihre Rettung sein könnte). Ob sie es hörte?

1.Tag

Der Augenblick, in dem Carmen krank wurde, gleicht einer Szene in einem alten Musicalfilm. Eine junge Frau läuft im Frühling durch eine Drehtür, sie kommt auf der anderen Seite wieder heraus, und es schneit. Es hatte sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt getroffen. Wobei man natürlich dazu neigt, im Nachhinein jeden Zeitpunkt als ungünstig zu interpretieren. Sie war siebenundzwanzig mit roten Wangen. Jetzt sehe ich sie wieder auf den Holzplanken über den Fluss ankommen. Lebhaft mit ihrem Freund redend, im schnellen Schritt. Im Vorbeigehen riss sie ein Blatt vom Baum, drückte es sorgsam in ihrer Hand. Warum war gerade sie es, die ich wählte?

Ein Jahr lang hatte sie in einem Architekturbüro gearbeitet, ein Gebäude wie eine Welle, an der Copacabana, ein Erker im zehnten Stock, hoch über dem Meer. Zwischen grünen Hügeln, die Augen und Herz verhaften. Sie hatte nicht nach Hause gewollt, und sie hatte nach Hause gewollt. Wegen Carl. Sie war noch so sehr in ihn verliebt, dass es in ihrem Bauch ein paar Grad wärmer wurde, jedes Mal, wenn sie ihn sah. Und dass es in ihrem Bauch zog, als läge eine entzündete Sehne darin, wenn sie von ihm getrennt war. Vier Wochen blieb sie noch, so stand es auf ihrem Flugticket. Und Carl war gekommen, um mit ihr eine letzte Reise zu unternehmen.

Den Wald musste sie noch sehen, man konnte nicht aus Brasilien weggehen, ohne den Wald gesehen zu haben. »Stell dir vor«, hatte ein Freund in Rio zu ihr gesagt, und seine Augen hatten dabei geleuchtet, »stell dir vor, du fliegst sechs Stunden da hin, damit nichts passiert. Du fährst über den Fluss, und nichts passiert.«

All das erfuhr ich später von ihr. Als ich sie wurde.

Von Manaus ging es über Belém auf die Ilha do Marajó. Die letzten Urlaubstage verbrachten sie im Dorf Caraíva in Bahia. Dort waren die Straßen aus Sand, jeder lief barfuß, und als schien das eine besondere Lockerheit hervorzurufen, grüßten sich alle überschwänglich, selbst wenn sie sich nicht kannten. An den Ortsrändern grasten hunderte Mulis. Als würde man sie hier vor der Welt verstecken. Die zwei Menschlein liefen ins Meer, ließen sich von den Wellen zurücktragen, kauerten im Liegestuhl. Ein Arm voller Härchen streifte den anderen. Das Meer aufgeladen, verwoben in weichem grauen Dunst, wie es auf sie zurollte, brachte es ihnen ihre Pläne. Jetzt wehten die Stimmen von ein paar Jugendlichen herüber, dumpfe Schläge, sie stapelten Brennholz auf.

»Weißt du, wieso immer alle den Mund halten, wenn sie um ein Feuer sitzen?«, sagte Carl.

»Hmm?«

»Weil die allerersten Worte wohl am Feuer gesprochen wurden.«

»Du meinst, das ist die alte Ehrfurcht vorm ersten Wort.«

»Die Ehrfurcht vorm ersten Wort. Genau …«

»Was ist?«

»Nichts.« Carl schaute auf einen Punkt in der Ferne. So war es oft. Carl führte sie, von einem Augenblick auf den anderen, zu einer Schlucht. Man durfte sich vorbeugen und einen Blick über die Kante werfen, mehr nicht. Das Wissen um die Tiefe seiner Gedanken. Ohne sie zu kennen. Nur das Wissen um die Tiefe. Das war es, was ihr gefiel.

Das Licht wurde weich und rot. Carl hielt den Gin Tonic vor ihr Gesicht, Eiswürfel klirrten, sie sprachen über Muli-Dynastien. Mulis, die Esel und Pferd waren. Darüber, dass sie hierbleiben könnten, um Mulis zu züchten. Auf einer staubigen Farm namens Mulilândia. Sie würden nur noch barfuß laufen. Rote Käferchen rasten die Armlehne entlang. Carl nahm ihr Gesicht, küsste sie. Von der Hitze, der flirrenden Luft, dem Gin wurde man lustig und doof; tropendoof. Sie dachte, hier könnte einem jemand ins Fleisch schneiden, man würde es nicht merken. Dabei waren ihre Blutzellen längst geplündert. Der lautlose Angriff stand unmittelbar bevor.

Carmen und Carl waren zwei junge Leute, die das Versprechen, welches das Leben ihnen gegeben hatte, noch lange nicht einzulösen brauchten. Alles war möglich. Alles revidierbar. Das Gefühl Jetzt-geht-es-gleich-los wird stets der größte Antrieb und Irrtum eurer Jugend bleiben.

Der letzte Urlaubstag. Sie packen, gehen am Abend eine Moqueca essen, Carl bestellt eine Flasche Rotwein, Carmen trank nie Weißwein, auf dem Etikett ein in der Luft stehender Kolibri. Zurück am Strand entlang zu ihrem Bungalow machen sie ein Wettrennen. Der Mond ist silbrig blau, trägt mehrere Gesichter. Der Sand wirft hinter ihnen Schleierwolken, kurz bleiben sie in der Luft stehen, bevor sie verwehen.

Die zwei Verliebten schlafen nah beieinander in dem breiten Bett. Eine Balkontür knarrt leise, hin und wieder weht der Wind etwas Sand herein.

Tiefes, friedliches Atmen.

Es ist schwarze Nacht, als Carmen von einem Schlag geweckt wird. Als hätte ihr jemand mit gefrorenen Fäusten auf den Kopf und ins Gesicht gedroschen. Hellwach ist sie, setzt sich auf, knipst die Nachttischlampe an. Schweißtropfen kullern ihren Hals hinunter. Scheiße, was ist das. In ihrem Kopf zerplatzt jetzt etwas Brutales, Großflächiges. Von kalter Kraft getragen. Das Blut hämmert warm und machtlos dagegen. Stöße bis in die Pupillen. Ein Gesicht, das platzen möchte. Es ist nicht so, dass sie jemals schon so einen Schmerz empfunden hat; Worte hätte. Dieser Schmerz kommt aus dem dunklen All. Sie zieht Carl am T-Shirt und versucht dabei, den Brei hinunterzuwürgen, der ihr die Kehle hochsteigt.

Sie klopft Carl auf die Schulter, dumpfes Gemurmel. Kopfschmerzen! Balkontür zu! Es muss der Wind sein! Er bringt ihr zwei Tabletten, die sie mit einem Glas Wasser hinunterspült. Es wird doch gleich besser. Es wird besser. Alles wird gut. Sie muss morgen noch in der Reinigung anrufen, denkt sie. Bevor sie abreisen. Der Gürtel von ihrem Kleid ist weg. Er muss noch in der Reinigung liegen. Sie darf es jetzt deshalb nicht vergessen. Der Gürtel, der Gürtel. Bevor die ersten Sonnenstrahlen sanft in das Zimmer fallen, spürt sie, wie sich in ihrem Körper etwas auftürmt.

2.Tag

Der nächste Morgen. Ein schwarzer Junge, kugelrunde schwarze Augen, beugt sich über ihr Gesicht. Sie hält ihn für den garoto pretinho da bacabeira, der sich in den Amazonasdörfern herumtreibt. Ein Kind, nicht älter als acht. Wenn er einem Menschen auf der Straße begegnet, reiht er sich neben ihm ein. Er bittet ihn um etwas. Ein paar Münzen, ein Stück Brot. Wenn der andere ihn zurückweist, schlägt ihn die Faust Garotos mit voller Wucht ins Gesicht. Der andere landet im Staub der Straße, unfähig, wieder aufzustehen. Sie hat diese Geschichte auf der Ilha do Marajó gehört, aber weiß nicht, warum der Junge jetzt in ihren fliegenden Träumen auftaucht. Hatte er ihr auf den Kopf geschlagen? Geht es ihr nicht schon besser? Zwei Stunden später geht es hinunter zum Fluss, auf einem Holzwagen, ein Muli zieht ihn durch den Sand. Sie sitzt neben dem Kutscher. Unter ihrer Schädeldecke hat sich das Gehirn aus den Angeln gelöst. Mit jedem Hufschritt schwappt es hin und her. Schwipp, Schwapp. Irgendetwas war aus dem Wald in sie hineingekommen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was es war. Irgendetwas türmte sich weiter unaufhörlich in die Höhe, bereit, loszubrechen. Sie hatte eine Krankheit, oder die Krankheit hatte sie, nur welche war es? War es die Violine, war es das Cello, war es die Posaune oder war es das Klavier, das spielte?

*

Malaria dringt in deine Knochen ein, über das Brot, das du isst, und wann immer du deinen Mund öffnest.

So dachtet ihr Kleingläubigen.

Hunderttausende, fürchterliche Jahre.

 

Es wird Zeit, mich näher vorzustellen. Wie konnte ich den Tod bringen, ohne es zu wollen? Ich brauchte kein Wollen. Es ist leicht, viel anzurichten. Im Guten wie im Bösen. Ein kurzer Stich genügt. Pleased to meet you. Schaut mich an. Schachbrettflügel, die Taster lang gewachsen wie der Stechrüssel, die Beine dünn und lang, Abdomen schüppchenlos, ein Wesen, nicht schwerer als ein Tropfen Wasser.

Sie wusste nicht, dass ich es gewesen war. Ihr Blut in meinem war. Sie wusste nicht, dass ich in ihren Gedanken treiben konnte, wie ihr Blut in mir. Ich konnte sehen, was sie sah. Denken, was sie dachte. Fühlen, was sie fühlte. Vor ihr wollte ich das nie. Ich wollte bloß leben, wie alle anderen. Ihr Menschlein seid es, die mich daran hindern. Ihr jagt mich. Vernichtet uns.

Wenn ich daran denke, fließt kalte Wut in meine Stichwaffe. Euer absurdes Theater. Ihr steigt auf Betten, hängt an Wänden, verrenkt euch, eure Gesichter verzerrt wie auf Plakaten eines Horrorfilms, ihr jammert und heult. Große Gefühle sind im Spiel, wenn ihr versucht, uns zu kriegen. Warum ist euer erster Impuls, uns zu töten? Werdet ihr so geboren? Schon kleine Kinder deuten mit dem Finger auf uns und rufen: Tot machen! Tot machen! Ihr bezeichnet uns als Plage, als Eindringlinge in eure Welt. Habt ihr jemals überlegt, dass es andersherum sein könnte? Erinnert euch, der Mensch wurde am letzten Tag erschaffen. An manchen Orten war der Himmel schon so voller Mücken, dass kein Licht mehr durchdrang. Ihr seid eine lächerliche Zahl unserer Schwärme. Ihr seid die Eindringlinge in unsere Welt.

Es ist eine Welt, die ihr nicht durchdringt. Ihr fliegt in das Weltall und begreift nicht, was eine Mücke ist. Ihr wollt nicht verstehen, was für eine Dimension in der kleinsten Einheit aufgehoben ist. Die Macht der Natur ist es, den Tod in ein winziges Wesen, wie ich es bin, stecken zu können. Eines, das man übersieht. Das nichts ist. Ein krakeliges T in Schwarz. Ihr gabt mir einen griechischen Namen, Anopheles, was so viel wie »Nichtsnutz« bedeutet. »Ihre Larve wohnt im Wasser, und die Mücke sticht nicht«, hieß die kühne Behauptung unter meinem Abbild in der Systema Naturae. Verzeiht, dass ich laut lache.

*

An dem Tag, an dem sich unsere Wege kreuzten, fuhr sie mit einem Schiff aus Manaus über den Amazonas, und ich behaupte, dass diese Wege, sähen wir sie auf einer Landkarte, vor langer Zeit eingezeichnet wurden. Ich erinnere von der Reise Szenen, Bilder, manches nur schemenhaft, anderes deutlich wie Glas.

Der Dampfer glitt in einen Nebenarm des Flusses Ariaú, legte an einem Steg an. Über den Himmel schoben sich dunkle Wolken, durch die das Licht hell glimmte. Eine Gruppe Menschen stieg aus. Beige Hosen, helle Hemden, Tropenhüte sagten nichts über ihren Charakter aus, nur ihre erbärmlichen Sehnsüchte spiegelten sich darin wider. Carmen war eine von ihnen.

Das Gesicht trug sie hoch, im Profil sah sie aus wie die Frau auf einer Brosche. Sie war ahnungslos, wie all ihr Menschen, und hielt sich für furchtlos. Mir kann nichts passieren.

Sie legte ihren Kopf in den Nacken, die Ader am Hals trat pochend hervor, sah in die tiefgrünen Wipfel. Alle ersten Blicke waren in ihrem Blick aufgehoben. Knöchrige Mangroven im Wasser. Auf einem Ast ein großer Vogel, der abwesend wirkte. Unbegreiflicher Anflug von Unruhe. Klick, klick. Die Kamera vor ihrem Gesicht. Die Natur war für sie etwas, das man ansehen und anfassen konnte, von dem man aber letztendlich getrennt blieb. Dabei war es ihr warmer Atem, der mich benachrichtigte, es war der Schweiß ihrer Füße. Sie lief über den Steg. Klock, klock. Ihre Haut roch nicht lückenlos nach dem Citrus des Insektensprays. Weiße Stellen, Inseln, auf denen man landen konnte.

Wie naiv sie war.

Ihr Freund interessierte mich nicht.

Sie lebte gern, das hörte ich an den vibrierenden Wellen, die nun das Holz warf. Vor allem ihre Selbstsicherheit machte sie zu einem idealen Opfer. Am Ende entschied ich mich jedoch aus einem viel dringlicheren Grund. Ja, ich konnte gar nicht mehr anders, als ich das Blut witterte. Ihr Blut, hell und süß, das so schnell und frisch durch ihre Adern floss, dass es in meinen Ohren rauschte.

*

Ihr glaubt, eure Haut grenze euch ab, sie sei der Schutzgraben um euer Fleisch. Dabei ist sie der Ort eurer größten Verwundbarkeit. Ein kleiner roter Punkt, und der Tod ist drin. Wisst ihr nicht, welche Macht ich habe? Ich zitiere: »Von allen Seuchen, die die Menschheit befielen, hat keine so dauerhafte und tiefe Spuren hinterlassen wie die Malaria. Sie forderte im Laufe der Jahrhunderte wahrscheinlich mehr Opfer als alle großen Pest-, Cholera- und Pockenepidemien zusammen.« Heute noch sterben Millionen, die Hälfte von euch Menschlein lebt unter meinem Gesetz. Bestürzt euch das nicht? Glaubt ihr, ihr hättet euer Leben im Griff? Wenn ihr nicht mal eine Mücke im Griff habt? Wer stoppte Alexander den Großen, den Eroberer der Welt? Ein schwarzes Kreuz, das auf einem Fleckchen Haut landete. Die Malaria brach Kreuzzüge ab, sie warf Bettler, Kinder, Kaiser und Päpste ins Grab, wütete in beiden Weltkriegen. Nicht Kanonen, nicht die Gegner entschieden manche Schlachten, sondern ein schwebender Fleck mit ein paar Flügeln. Wer schützte Rom vor dem Einfall der Germanen – und wer half doch beim Einstürzen des Römischen Reichs? Moskitos ergreifen keine Partei.

Malaria veränderte eure Politik, eure Geschichte; und auch das Leben derjenigen, die nicht daran erkrankten. Euer Leben.

Hört ihr die britischen Soldaten in Sierra Leone singen? »Nehmt euch in Acht vor der Bucht von Benin, einer kommt raus, aber zehn bleiben drin.« Manche Schiffe trieben monatelang führerlos auf dem Meer, weil alle Seeleute verendet waren. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert schwirrte der Punkt auf der ganzen Welt, verdeckte den Himmel, bis kein Licht mehr durchdrang.

Und heute? Kommt die Malaria herein, steht auch der Tod in der Tür. Ein, zwei Wochen können genügen, wenn nichts getan wird. Gerettet ist, wer schnell behandelt wird. Die Zeit ist das entscheidende Kriterium. Und sonst? Sonst dreht man sich vielleicht in einem Augenblick in seinem Bett um, und die aufgeblähte Milz platzt. Nacheinander versagen alle Organe. In Amazonien nennen wir eine Form der Malaria »a risadinha«, die lachende Malaria – weil der Patient mit einem Grinsen im Gesicht stirbt; die schrecklichen Schmerzen ziehen ihm die Mundwinkel nach oben.

*

Aus den mir rätselhaftesten Gründen stach ich nicht sofort zu, obwohl es mich drängte. Ich tat etwas, das Mücken eigentlich nicht tun: Ich folgte ihr auf der Reise. Das Flugzeug nach Belém. Sie setzte sich auf 23F, ein Fensterplatz. Beim Start faltete sie ihre Hände. Ich hing in der schmalen Ritze des Bullauges, fror erbärmlich. Sie bestellte Tee. Ich hätte sie doch gleich stechen sollen. Wo würde ich es tun? Wie würde ich es tun? Natürlich würde ich es tun.

Blut wird fließen, Geißeln werden fließen.

Sie würde schon sehen, wer als Nächste im Eissturm steht.

Vor der Landung in Belém reckten die Passagiere ihre Köpfe am Fenster. Schalentiere, die nach Luft schnappten. Unter uns nur Wasser und Wald. Kleine Flüsse, Riesenströme, breite Arme, aus allen Richtungen floss es auf die Stadt zu. Im Zentrum war davon nichts zu sehen. Ein feuchter, heißer Tag. Zuerst wollten sich Carmen und Carl etwas ansehen, dann wussten sie nicht, was das sein könnte. Das Museum der Elf Fenster, die Kathedrale. Im Kopf war alles einerlei. Schweiß knisterte in den Ohren. Ein Schnitt ins Fleisch. Wenn das Blut zur Erde tropfte, würde man darauf deuten, »Oh« sagen, die Augen wieder schließen. Sie mussten trinken. Gelbe Sonnenschirme, gelbe Plastikstühle. Klirrende Limonade. Während in kälteren Städten die Geschwindigkeit der Menschen etwas mit ihrem Charakter zu tun hatte, gingen hier alle gleich. So langsam wie möglich, ohne stehenzubleiben.

Wir fuhren mit einem Taxi zum Markt, an den Hafen. Sie aßen Bobó de camarão, ihre Kiefer knirschten. »Entschuldigung! Die Soße ist zu kalt. Können Sie bitte die Soße etwas anwärmen? Sehr schön …«, sie sagte es, als beschwerte sie sich gerne. Nicht aus einem Ärger heraus, sondern weil man etwas in Gang brachte. Ihr Körper sagte noch etwas anderes als ihre Sprache. Ohne dass ich wusste, was es war.

In der Fischhalle wurde mir übel von dem warmen Blut aus den Kiemen. Gerötete Hände hackten Messer und Äxte in riesige, glitschige Leiber, einer von ihnen sah aus wie der Unterleib einer Meerjungfrau. Ein kleinwüchsiger Mann fuhr mit seiner Hand darüber. Die Fische stapelten sich auf und unter den Tischen. Nirgendwo zuvor habe ich so viel frischen Tod auf einer Stelle gesehen.

Am Nachmittag bestiegen wir einen rostigen Dampfer, der zehn Minuten lang um seine eigene Achse stotterte. Eine Familie puhlte Krabben, sie kicherten. Die Kinder hatten kohlegefärbte Wangen, um die andere entschlossen schwirrten.

Carl schlief, seine Glieder verrenkt. Carmen lehnte an der Reling, schaute in die Wand aus Bäumen. Vom Fluss kein Laut. Jede Küste hat ein Geheimnis, aber eine Waldküste spricht es aus: Dahinter liegt ein Geheimnis.

Ihr fiel erst gar nicht auf, dass jemand neben ihr stand. Er hatte braune, leicht ausweichende Augen. Trug ein T-Shirt mit bunten Schriftzügen. An seinem Hals die erste, sanfte Rundung eines Kropfes. Sie wollte sichtlich locker sein, und mit diesem Wollen spannte sie ihren Körper an.

»Bist du Französin?«

»Deutsche.«

»Ich habe einen Cousin in Deutschland, in Frankfurt.« Warum hatten bloß alle in diesem Land einen Cousin in Frankfurt? Vielleicht handelte es sich um eine geheime Verabredung. Ein Scherz unter Brasilianern, sobald sie einen Deutschen sahen.

Er lebte auf der Ilha do Marajó, zu der wir fuhren, fing an, Geschichten von dort zu erzählen. Es gab einen Flussarm, der ins Zentrum des Ortes führte. Wenn dort ein Baumstamm hineintreibe, würde das bedeuten, dass bald jemand stirbt, sagte der Halbkröpfige. Nachts, auf den Schotterwegen, würde man häufig einen kleinen Feuerball in der Ferne sehen, das sei die mãe-do-fogo, ein Licht, das einen narre, weil es wolle, dass man sich in den Sümpfen verirre. Zu oft sei er im Dunkeln schon verlorengegangen und hätte das Morgengrauen dort abwarten müssen. Er lachte, links und rechts blitzte es aus den Zahnreihen. Sein Onkel sei so ängstlich, dass er am helllichten Tag, wenn er den Nebenfluss entlang müsse, die Leute am anderen Ufer lauthals begrüße und sogar »bom díííía« schreie, wenn gar niemand zu sehen sei. Einmal drang Wasser in Onkels Schuhe, er habe sich mit aufgerissenen Augen umgedreht und sei von dem Quschwak, Quschwak seiner eigenen Schuhe weggerannt.

Carmen winkte lächelnd ab. Das seien doch Märchen. Dem Wald sei schließlich jeder Mensch egal. Wenn es denn eine Gefahr gäbe, dann sei das seine unendlich große Gleichgültigkeit.

Sie sah, wie die bislang kaum sichtbare Falte zwischen seinen Augenbrauen zu einem Graben schwoll. Auch der Kropf schien zu schwellen. Nichts sei hier gleichgültig, alles hätte System und sei miteinander verbunden. Sie würden sich diese Geschichten erzählen, weil es sie daran erinnere, die Natur zu respektieren. Man könne nicht mit ihr spielen. Sie solle sich ansehen, wie reglos der Wald dastehe. Aber wenn man ihm zu nahe käme, würde er sich wehren wie ein wild strampelndes Kind. Sie hätte nicht die leiseste – Ein kurzes, lautes Klack unterbrach ihn. Die Brücke war ausgefahren. Weder sie noch er hatten bemerkt, dass sie längst angekommen waren.

*

Überblickt ihr die Welt, wie eine Mücke sie überblickt?

Warum bleibt eine Krankheit, die uns seit Jahrtausenden verbindet, so bösartig und beharrlich? Die Pocken, die Masern, die Pest schrumpften zu Kinderkrankheiten oder verschwanden. Malaria geht immer einen Schritt weiter. Wofür erfandet ihr Gegenmittel, wenn wir jedes Jahr hunderte Millionen ins Fieberreich befördern? Warum befreit ihr mich nicht aus diesem Kreislauf?