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Malen erhofft sich das beste Jahr ihres Lebens, als sie von ihren Eltern in die USA zum Studieren geschickt wird. Neue Freunde, ausschweifende Partys und der American Dream. Als sie Luke kennenlernt, scheint dieser Traum zunächst wahr zu werden, doch dann kommt alles anders als gedacht. Es geht um die erste Liebe, Alkohol und die Folgen von unbedachten Konsum. Ebenso die Krankheit eines geliebten Menschen wird zum Thema und die daraus entstehenden Probleme.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2022
ÜBER DIE AUTORIN
Ruthii Davis
Ruthii wurde 1982 in Hamburg geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Franken bei ihrer Deutsch-Amerikanischen Familie und lernte so die Traditionen beider Kulturen kennen. Reisen zu den Verwandten in der USA gaben ihr Gelegenheit, sich mit dem amerikanischen Alltag auseinander zu setzten. Sie lebt mit Mann und Kindern in Franken.
Mein Roman ist eine frei erfundene Geschichte, deren Inhalt auf wahren Begebenheiten beruht. Viele Schauplätze und Menschen in meinem Umfeld haben mich zu diesen Figuren inspiriert und ich bin ihnen dafür unendlich dankbar. Ich denke da an: Steffi, Diyan, Kyle, Nicole, Doug, Gina und Dominik und viele weitere tolle Leute, die ich nicht alle aufzählen kann.
Auch die fleißige Unterstützung von Sandra, Anke und Tamara möchte ich besonders hervorheben.
Ausdrücke über Religion, Herkunft und Aussehen spiegeln nicht meine persönliche Einstellung wider.
"Nimm etwas Asche von mir, presse diese in Patronenhülsen und gehe damit Tontaubenschießen!"
RUTHII DAVIS
MALENS JAHR
© 2022 Ruthii Davis
Lektorat: Lektorat (derletzteschliff.de)
Coverdesign von: © 2020 Yasemina
Fotografien von: fotogaf-In (Fotograf-in.de)
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-69822-2
ISBN Hardcover: 978-3-347-69823-9
ISBN E-Book: 978-3-347-69824-6
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Zeit zum Träumen
Eilig springe ich in den hintersten Waggon der S-Bahn und ergattere gerade noch einen Fensterplatz. Mein Shirt ist vom Regen komplett durchnässt und klebt unangenehm wie eine Vakuumverpackung an meiner Haut. Dieser plötzliche Sommerregen kam für mich trotz Warnung des Wetterdienstes völlig überraschend.
Einer der in Hamburg so häufigen Protestmärsche, diesmal zwischen Reeperbahn und St. Pauli, bringt den Verkehr zum Erliegen und die Polizisten haben Mühe, die Demonstranten aus den U-Bahnhöfen herauszuhalten. Die Fahrt bis zum Flughafen wird sich dadurch etwas ziehen, was mir Zeit gibt, wieder zu trocknen und meine Haare in Form zu bringen. Sie hängen im Moment wie lang gezogene Spirelli Nudeln an mir herunter.
Also warte ich – ich kann ja sonst nichts tun. Mein Blick richtet sich nach draußen und ich beginne zurückzudenken, an mich und die vergangenen Monate, die ich mit ganz besonderen Menschen verbrachte und in denen ich so nebenbei erwachsen wurde.
Bis in einem Jahr
»Mama, wo ist mein Reisepass? Ich kann ihn nicht finden! Gestern hatte ich ihn doch noch!« Wild durchsuchte ich sämtliche Schubladen in meinem Zimmer und schaffte es, eine riesige Unordnung zu hinterlassen. »Wenn du ihn nicht hast, dann weiß ich es auch nicht. Lerne endlich einmal, besser auf deine Sachen aufzupassen.« Meine Mutter war ziemlich genervt von dem von mir verursachten Chaos. Hektisch begann sie die Kommoden meines Zimmers auseinanderzunehmen, schließlich sollte ich schon in einer Stunde am Flughafen sein.
»Ich habe ihn! Er lag unter deinen Socken!« Mutter wedelte mit dem Pass in der einen Hand, mit einem einzelnen Strumpf in der anderen. »Wie zum Henker kommt der denn da rein?« Ich kratzte mich nachdenklich am Kopf und verfing mich dabei in meinen Locken.
»Bei dir wundert mich gar nichts mehr, mein Kind.« Genervt ging sie nach unten in die Küche.
Mit einem lauten Zipp schloss ich meinen Koffer und schleppte ihn die Treppe hinunter in das Erdgeschoss.
»Ist Papa schon zurück? Wir müssen los, um diese Uhrzeit landen wir wieder im Berufsverkehr!« Ich fühlte förmlich die Zeit davon rinnen.
Ungeduldig standen wir vor dem Haus und warteten auf Vater, der eben mal kurz in die Autowaschanlage gewollt hatte. Aber warum ausgerechnet heute und um diese Uhrzeit? Er verspätete sich mal wieder, was bei ihm nicht selten vorkam.
Plötzlich bog er in seinem silbergrauen Mercedes mit überhöhter Geschwindigkeit um die Ecke – ein Pylonen-Hütchen im linken hinteren Radkasten inbegriffen. Er trat auf die Bremse, öffnete die Fahrertür und richtete seinen Blick darauf.
»Habe gar nicht bemerkt, dass ich an einer Baustelle vorbeigekommen bin«, schimpfte er und zog das sperrige Ding mühevoll heraus. »Worauf wartet ihr denn? Denkt an den Berufsverkehr. Steigt schon mal in den Wagen, ich geh noch mal schnell duschen, dauert nur zwei Minuten!«
»Warum gerade jetzt?!«, rief ich ihm verärgert hinterher. Ich fühlte eine gewisse innere Unruhe und meine Herzfrequenz stieg an. Nicht, dass es noch so endete wie letztes Wochenende, als mein Papa anstatt zum Bäcker zu gehen, in der Autowerkstatt seine Reifen auswuchten ließ. Wir saßen zwei Stunden hungrig am Frühstückstisch und warteten vergebens.
Meine Eltern waren vor einem Jahr in Rente gegangen und hatten bis zum heutigen Tag sehr viel Zeit gehabt, sonderbar zu werden. Ja, ich hatte alte Eltern. Das unterschied mich von den meisten meiner Freunde und war oft extrem peinlich.
Auf der Fahrt zum Flughafen überfuhr mein Vater vier rote Ampeln, bog auf zwei Reifen um sämtliche Kurven und übersah fast das Ausfahrtschild zum Terminal. Und obwohl wir schon spät dran waren, suchte Papa wieder den hintersten Parkplatz auf dem letzten Parkdeck des Flughafens. Auch das war eine nervige Angewohnheit von ihm, wie vieles andere auch. Völlig aus der Puste erreichten wir die Abflughalle mit den anderen hektischen und gestressten Reisenden, zu denen ich mich jetzt dazu zählte. »Malen Butenschön! Letzter Aufruf! Ihre Maschine nach Atlanta ist zum Einsteigen bereit!«, rauschte es durch die Lautsprecher.
»Scheiße, jetzt muss ich aber!«, schnaufte ich in Richtung meiner zwei noch immer nach Luft ringenden Eltern und hastete an den Schalter. Die Dame hinter dem Tresen beäugte meinen Reisepass und tippte endlos lange auf ihrer Tastatur herum, bis sie freundlich lächelnd den Koffer vom Band fahren ließ. »Ich wünsche einen angenehmen Flug!«
Mutter schob mich zum Security-Bereich, drückte mich schnell und schubste mich weiter in Papas verschwitzte Arme. Hektisch fummelte er in seinem Portemonnaie und fischte nach Scheinen. »Hier sind fünfhundert Euro für dich, aber gib nicht alles am ersten Tag aus.«
»Ich werde dich vermissen«, bedankte ich mich mit einem Schmatzer auf seine linke Wange. Dann zog mir jemand von hinten an der Jacke. Meine beste Freundin Nadine war gekommen, um mir Lebewohl zu sagen.
»Malen, sieh zu, dass du in einem Jahr wiederkommst!«, sagte sie und stellte sich neben meine Mutter.
»Mach ich, nun muss ich aber los!« Ich drehte mich um und ging durch die Sicherheitsschleuse. Beim Zurückblicken sah ich Nadine und meine Eltern, die mir zuwinkten. Der Hautüberschuss am Oberarm meiner dicken Mutter tat dies ebenso.
»Na los, rein mit Ihnen«, rief mir ein Steward zu und schloss hinter mir die Flugzeugtür. Natürlich waren alle Blicke auf mich gerichtet, als ich durch den engen Gang der Maschine lief. Verschämt und mit hochrotem Gesicht setzte ich mich auf meinen Platz neben einem grimmigen Geschäftsmann, schloss umständlich den Gurt und schnaufte laut hörbar aus.
»Früher losfahren hilft beim Pünktlich-Sein.« Auf seinen verbalen Seitenhieb traute ich mich nicht zu antworten. Stattdessen versuchte ich krampfhaft, meine Tränen zu unterdrücken. Ich fühlte mich gerade wie ein kleines Mädchen, das seine Mama im Supermarkt verloren hatte. Wie war es überhaupt so weit gekommen, dass ich in dieser Maschine saß? Und warum empfand ich gerade Angst? Sollte ich nicht lieber Luftsprünge machen, weil ich endlich weg war? Weg von meinen Eltern und ihren strengen Vorstellungen, wie ich mein Leben zu führen hatte. Mein Blick richtete sich nach draußen. Unter mir Hamburg, das immer kleiner und kleiner wurde und schließlich unter einer tiefgrauen Wolkendecke verschwand. Mit einer imaginären Ohrfeige an mich selbst verabschiedete ich mich von meinem ersten Anflug von Heimweh und ließ meine Gedanken schweifen. Mir konnte doch nichts Besseres passieren.
Schließlich begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Ständig Mutters fürsorgliche Erziehung und emotionale Erpressungen waren mir langsam über.
Bisher war mein Leben genau nach den Vorstellungen meiner Eltern verlaufen. Ich war bereits einundzwanzig Jahre alt, lebte noch immer zuhause und hatte keine Chance auszuziehen. Sie bestimmten und organisierten meine Zukunft bis ins kleinste Detail.
Du musst Betriebswirtschaftslehre studieren! Denk an deine armen Eltern, die alles dafür getan haben, damit aus dir was wird. Sie erwartete von mir, dass ich in Vaters Fußstapfen stieg.
Also schrieb ich mich brav für ein BWL-Studium ein, wie auch schon mein Papa vor gefühlten 100 Jahren und sein Vater davor vermutlich auch. Eigentlich strebte mein Inneres nach einer Revolution, aber ich hatte bei meiner dominanten Mutter keine Chance mich durchzusetzen.
Es musste vor etwa einem halben Jahr gewesen sein, als mein Vater spät abends auf mein Zimmer kam. An dem leisen Trapsen auf den Holzstufen erkannte ich ihn sofort. Ganz anders als das fiese Knarzen der sich durchbiegenden Stufen, wenn meine dicke Mama sich nach oben bemühte.
»Malen mein Kind, hast du kurz Zeit?«, fragte er vorsichtig und setzte sich auf meinen Bürostuhl. Seine Halbglatze und der restliche graue Haarkranz glänzten im Licht. Freudig hielt er mir eine Broschüre vor die Augen. »Wirf hier mal einen Blick rein. Was würdest du sagen, wenn du für ein Jahr zum Studieren in die USA gehen könntest?«
»Wow, ähm, wie komme ich zu der Ehre?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich glaube, wir beide wissen, dass das die einzige Chance für dich ist, selbstständiger zu werden. Danach wirst du ein völlig anderer Mensch sein. Du weißt, ich will nur das Beste für dich.« Nervös rollte er mit dem Stuhl hin und her und wartete auf eine positive Reaktion meinerseits.
»Möchte Mama das auch?«
»Nun ja, bestimmt«, murmelte er vor sich hin. »Ich werde ihr das schon so erklären, dass sie es versteht!«
»Cool, na dann! Ich denke mal darüber nach«, antwortete ich etwas skeptisch. Zufrieden tappte Papa wieder nach unten ins Wohnzimmer.
Was war das? Saßen beide Eltern gefesselt und geknebelt im Wohnzimmer und wurden von Doubles ersetzt? Verdutzt klopfte ich gegen meinen Schädel und nahm einen großen Schluck Mineralwasser. Das konnte doch nur ein Traum sein, denn niemals würde meine Mutter mich für ein Jahr ins Ausland lassen, geschweige denn auf ein College mit Wohnheim. Sie wusste, dass dort Dinge vor sich gingen, von denen Eltern lieber nichts mitbekommen sollten.
Mein Vater hatte recht, ich musste etwas ändern. Zu brav war ich als Teenager gewesen. Nie ging ich zum Tanzen in Clubs und wenn ich schon mal abends weg war, dann traf ich mich mit meiner besten Freundin in ein und demselben Irish Pub wie jedes Wochenende. Wenn Mutter es verlangte, verbrachte ich die Abende zu Hause oder stand pünktlich um Mitternacht wieder vor der Haustür. Erst seit ich achtzehn war, hatte ich etwas mehr Freiheit in Bezug auf Ausgehzeiten und Alkohol.
Ich musste noch nicht einmal Geld für das Studium dazu verdienen. Ihre Bedingungen dafür waren klar. Ich bringe gute Noten nach Hause und sie finanzieren dafür mein Leben. Mutter gab mir ständig das Gefühl, noch nicht erwachsen genug zu sein. Sie klammerte und behütete mich wie ihre Handtasche zum Schutz vor Dieben auf dem Marktplatz von Venedig.
Als ich geboren wurde, waren meine Eltern schon über vierzig, was womöglich der Grund für mein überbehütetes Leben war. Und ich war genervt davon.
Am nächsten Morgen beim Frühstück erhielt ich erst einmal eine imaginäre Ohrfeige.
»Kind! Dein Vater sagt, du möchtest im Ausland studieren, um endlich selbstständiger zu werden? Woher diese Einsicht? Ich dachte schon, du ziehst nie aus!« Sie knallte mir den Satz um die Ohren, als ob ich Schuld daran wäre, dass ich noch immer im Kinderzimmer unter dem Dach lebte.
Verdutzt guckte ich in Mamas erwartungsvolle, dick mit Mascara getuschte Augen, während mein innerer Teufel gerade die Guillotine aufzog, um sie kurzerhand zu richten. Hätte sie mir das nach meinem Abitur doch schon gesagt …! Sprachlos ging ich aus dem Haus und atmete tief durch, dann verabredete ich mich mit meiner besten Freundin Nadine.
Diese nahm die Nachricht vom USA-Aufenthalt mit gemischten Gefühlen auf. Wir kannten uns bereits seit Kindertagen und waren seitdem unzertrennlich gewesen.
»Ein ganzes Jahr? Bist du dir sicher?« Sie schien nicht glücklich darüber zu sein, eine Zeit lang ohne mich auskommen zu müssen. »Mit wem gehe ich denn jetzt Samstagabend aus, um über die Jungs zu lästern?«
»Warte einfach mit dem Tratschen, bis ich wieder zurück in Deutschland bin«, antwortete ich und nahm einen hastigen Schluck Guinness.
»Und deine Eltern lassen dich wirklich für ein Jahr weg!!? Du spinnst, das kann nur ein Witz sein!« Sie lachte herzhaft auf und zog damit sämtliche Blicke im Pub auf sich. »Aber andererseits eine gute Möglichkeit, um erwachsen zu werden, meine Liebste.« Dabei zwinkerte sie mir frech zu.
Nadine hatte gut reden, denn schließlich war sie bereits nach dem Abitur von zuhause ausgezogen und lebte in einer WG in St. Pauli. Wenn wir abends von ihrem Balkon hinunterblickten, konnten wir in die erleuchteten Zimmer eines Bordells gucken. Gerne rätselten wir bei einem Glas Wein, welche Art von Männern hier ihrem Vergnügen nachgingen und ihre Ehefrauen betrogen. Einmal konnte ich eine Halbglatze mit grauem Haarkranz erkennen, doch mein Vater hatte für diesen Zeitpunkt ein lupenreines Alibi, da er in der Hamburger Innenstadt einen Kongress besuchte. Ihn machte es dennoch stutzig, dass ich so detailliert wissen wollte, wo er an diesem bestimmten Abend gewesen war, und mich machte es stutzig, dass er bei der Befragung ins Schwitzen geriet. Meine beste Freundin und ich teilten so manche Erinnerungen und es machte mich sehr traurig, dass ich nun so weit weg sein würde, um zu studieren.
Vater dagegen schien schon seit Längerem an dem Plan gebastelt zu haben, mich aus dem Land zu werfen. Das Studentenvisum lag bereits vor und die Zusage für ein College, bei dem er mich anscheinend bereits vor Monaten angemeldet hatte, traf eine Woche später ein.
»Jennings A. Jones College of Business in Murfreesboro – wo zum Henker ist das denn?«, fragte ich Papa ratlos und las den Brief gleich noch ein zweites Mal durch.
»In Tennessee!«, brummte er hinter seiner Zeitung hervor.
»Warum steht hier, dass ich kein Zimmer im Wohnheim in Anspruch nehme?«
»Kind, ich möchte, dass du Land und Leute kennenlernst, darum wirst du bei einer Familie wohnen.«
»Wieso das denn?« Das wollte ich nun genauer wissen, schließlich erträumte ich mir die schönste Zeit meines Lebens, wenn ich schon einmal im Ausland studieren konnte, obwohl es nur für ein paar Monate sein sollte.
»Wir finanzieren dir das Studium, also nimm es so, wie wir es für richtig halten!«
»Die ganze Zeit redest du mir ein, dass ich selbstständig werden soll. Eine Gastfamilie ist doch nur ein Vorwand, um mich unter Kontrolle zu halten«, schimpfte ich verärgert.
»Schau mal in diese Mail.« Dezent reichte er mir mehrere Blätter Papier über den Tisch, ohne dabei von seiner Zeitung aufzublicken. »Thomas McAllister, den ich vor Jahren bei einem Kongress in Hamburg kennengelernt habe, wird dich bei sich aufnehmen. Er hat eine entzückende Frau, eine Tochter und er ist zufällig Gastdozent an dieser Uni.« Dabei raschelte er übertrieben laut mit seiner Zeitung, sodass ich ihn gar nicht richtig verstehen konnte.
»Ihr habt ja keine Zeit verloren, mich loszuwerden? Auf keinen Fall will ich zu Hinterwäldlern nach Tennessee, die mir das Tabakkauen und Banjospielen beibringen. Warum nicht Kalifornien?«, zeterte ich lauthals und verschwand auf mein Zimmer.
Argwöhnisch betrachtete ich die dreiseitige Email mit ihren unzähligen Fotos im Anhang.
Zu meiner Überraschung sahen die McAllisters völlig harmlos aus, hatten weder Latzhosen an, Kornpfeife im Mund noch Mistgabeln in der Hand. Ellen und Thomas schienen das komplette Gegenteil meiner Eltern zu sein. Mindestens zwanzig Jahre jünger und gutaussehend. Ihre achtzehnjährige Tochter Jenny stand im Vordergrund des Fotos. Die weißblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eigentlich ein sehr hübsches Mädchen. Für sie begann das letzte Jahr auf der Highschool.
Na ja, sagte ich zu mir selbst, im Grunde genommen hätte ich es schlechter treffen können. Jede Familie ist besser als meine.
Willkommen in Amerika
Genervt drängte ich mich durch eine Schar barfüßiger Inder, um an meinen Koffer auf dem Gepäckband zu gelangen. Ich wurde beiseite geschubst, weil hier jeder um seine eigenen Reisetaschen kämpfte. Es roch unangenehm nach Schweiß und mein erster Eindruck von den USA war getrübt.
Die automatische Tür der Ankunftshalle öffnete sich vor mir. Aufgeregt suchte ich die Personen ab, die auf die Ankömmlinge warteten. Was, wenn mich niemand abholen würde? Oder wie sollte ich die McAllisters denn erkennen unter den ganzen Menschen? Mir schnürte es die Kehle zu. Außerdem sprang mir mein Herz vor Aufregung aus der Brust.
Zu meinem Glück stand ganz vorne an der Absperrung meine »neue« Familie. Peinlich grinsend hielt Gastschwester Jenny ein »Welcome Malen« Schild in die Höhe, sodass ich sie gar nicht übersehen konnte. Sie schwenkte es hoch erhoben hin und her und sprang dabei wie ein Flummi.
Ein lang gedehntes schrilles »Hi!« durchdrang mein Trommelfell. Ellen zog mich sofort an sich und umarmte mich herzlich, überfreundlich und mit schrecklich quietschiger Stimme. Ich hatte mir die Tonlage dieser großen, schlanken Frau ganz anders vorgestellt. Gastvater Thomas drückte mich ebenfalls beherzt und fest. Er erinnerte mich an einen Agenten vom FBI, da er seine schwarzen Haare streng zu einem Seitenscheitel gekämmt trug und sehr markante Wangenknochen hatte.
»Du siehst deinem Vater ja gar nicht ähnlich!« Mit einem prüfenden Blick sah er mir in mein Gesicht. Ein Glück, dachte ich und lächelte freundlich zurück.
Nervös hüpfte Jenny von einem Bein auf das andere. Entweder musste sie mal dringend oder sie war definitiv durchgeknallt. Mir fielen sofort ihre grünen Augen auf, die vor Begeisterung leuchteten.
»Du bist also meine Gastschwester! Schön dich kennenzulernen. Wir werden eine Menge Spaß miteinander haben!«
Sie redete wie ein Wasserfall und ich war etwas überfordert – so kurz nach der Landung und erschlagen von den neuen Eindrücken. Es bestätigte aber meine zweite Theorie, dass bei ihr eine Schraube locker saß.
In der nicht enden wollenden dreistündigen Autofahrt von Atlanta nach Murfreesboro sprach ich kein Wort. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern ich kam nicht dazu, auch nur einen Piep von mir zu geben. Thomas startete einen Monolog über den American Way of Life und endete mit der Geschichte, wie er meinen Vater kennengelernt hatte. Spätestens hier wurde ich hellhörig. »Dein Vater und ich hatten eine Menge Spaß in Hamburg während des Kongresses. Er hat mir dieses eine Stadtviertel gezeigt mit der Straße… Na, du weißt schon. Hat so einen komischen Namen. Reeperbahn?«
Ich glaube, Ellen hatte so gar keine Ahnung, wo sich ihr Mann zu dieser Zeit aufgehalten hatte. Ich zumindest wusste, dass das Alibi meines Vaters zu bröckeln begann.
»Leider habe ich deine Mom nicht kennengelernt. Aber sie soll ja sehr nett sein.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie nett sie ist«, flüsterte ich.
»Du kannst ja reden!«, rief Jenny vor Begeisterung und pikste mich in die Seite. Dann begann sie aufgeregt mit dem Finger nach draußen zu zeigen. »Wir sind da!«
Wow, kam mir als erstes in den Sinn, als ich das imposante, zweistöckige, weiß gestrichene Haus mit seiner Veranda betrachtete.
Das übertraf all meine Vorstellungen. Jetzt sollte mein ganz persönlicher amerikanischer Traum wahr werden.
Thomas öffnete schwungvoll die Haustür und stellte sich unter ein »Willkommen« Banner, das über den Türbogen gespannt war. Ich ung und der Jetlag. Vorsichtig betrat ich den Eingangsbereich. Der dunkelbraune Dielenboden glänzte. An den getäfelten Wänden hingen Familienfotos und Gemälde. Alles wirkte so groß und beeindruckend und nicht so beengt wie zuhause in Hamburg.
Ellen sah mich mitleidig an. »Du hast sicherlich Hunger nach der langen Reise?« Ich musste erst überlegen, was ich antworten sollte. Meine Mutter hätte mich niemals gefragt, und wenn, dann doch mit dem Seitenhieb »Iss nicht so viel Kind, du bist schon dick genug.« Überwältigt von so viel Nettigkeit nickte ich und folgte ihr in die Küche.
Sie stellte mir Sandwiches mit Mortadella vor die Nase, appetitlich aussehend zubereitet und in Dreiecke geschnitten. Innerlich zählte ich die Kalorien, die gerade durch meinen Mund in den Magen rutschten. Ich war jetzt schon bei Kleidergröße 46, wie sollte ich dann in einem Jahr aussehen, wenn es täglich Weißbrot gab? Kauend saß ich an der Küchentheke und versuchte lächelnd, den matschigen Brot Brei hinunterzuschlucken, der wie Kaugummi an meinem Gaumen klebte. Dieses Weißbrot verhielt sich anders als das, was ich sonst aß. Ich konnte es tatsächlich bis zum Tellerboden eindrücken und es verblieb auch in dieser Form.
»Möchtest du noch ein Sandwich, Ma..Mai..leeen?« Ellen würgte die Buchstaben förmlich heraus.
»Sorry, aber es ist nicht leicht, deinen Namen richtig auszusprechen.« Jenny musste lachen und verschluckte sich. Hustend rang sie nach Luft und Thomas klopfte ihr wild auf dem Rücken herum.
»Ma-len«, verbesserte ich sie. »Ziehe den Namen in die Länge, dann kommt die Malen in die Gänge«, reimte ich auf Deutsch weiter.
»Na los jetzt, zeig Malen ihr Zimmer. Wir haben dir eines im ersten Stock neben Jenny ausgesucht. Ich hoffe, es wird dir gefallen.«
Jenny nahm mich sofort bei der Hand und zog mich die Treppe mit nach oben, obwohl ich sicherlich ohne Hilfe hätte laufen können.
Erschlagen von einem dunkelbraunen Möbeltraum im Kolonialzeitstil fühlte ich mich gleich wie zuhause mit unserem Gelsenkirchener Barock. Das sollte mein Heimweh etwas mildern, dachte ich verschmitzt.
An einer freien Wand hing das wohl schrecklichste Ölgemälde Amerikas. Eine grauhaarige Dame mit Dauerwelle und Zahnlücke lächelte mir entgegen. »Oh, das ist Oma Abigale, meine Mom! Gott habe sie selig.« Meine Gastmutter richtete den Bilderrahmen, der ein wenig nach links geneigt war, und strich eine dicke Staubschicht aus den Ecken. Auf der Kommode unter dem Bild stand eine fürchterlich hässliche Vase und ich wunderte mich, dass diese mit einem Schraubverschluss versehen war.
»Sag mal, ist es das, was ich denke?«, flüsterte ich Jenny zu. Lachend nickte sie und imitierte die Zahnlücke ihrer Großmutter, indem sie ihre obere Lippe einrollte.
»Keine Sorge, die tut nichts, will nachts nur ab und zu spielen!«, lachte sie und tätschelte den Deckel der Urne .
»Schön, nicht wahr?«, fragte mich Ellen. »Habe ich alles selbst dekoriert.« Ich nickte zustimmend.
Das Zimmer war im Gegensatz zu den Wohnräumen dieses Hauses katastrophal eingerichtet, aber das gab mir ein wenig das Gefühl, zuhause zu sein.
»Na, dann lassen wir dich jetzt mal in Ruhe ankommen. Malen, wir freuen uns, dass du bei uns bist.« Ellen nahm noch schnell die Urne von der Kommode und stellte diese in einen Vitrinenschrank am anderen Ende des Zimmers.
Diese ungewohnte Liebe und Aufmerksamkeit an diesem Tag war definitiv zu viel für mich. Erschöpft und allein mit meinen Gedanken sowie mit Oma Abigale stieg ich unter die Dusche, wusch den Geruch des Fluges von mir und ließ mich danach auf das plüschige Bett fallen, das Ellen schön mit Paradekissen dekoriert hatte. Erst als ich sicher war, dass mich an diesem Abend niemand mehr stören würde, traute ich mich, die Augen zu schließen.
Schließlich schlief ich ein und wachte erst am späten Vormittag wieder auf. Vom Jetlag verkatert schlurfte ich die Treppe hinunter in das Wohnzimmer. Thomas las, wie mein Vater auch, die Zeitung und brummte nur ein »Morgen« heraus. Jenny saß im Schneidersitz auf einem Stuhl und lachte mir freudig entgegen. »Wenn Dad Zeitung liest, ist er in einer anderen Welt. Nimm es ihm nicht übel, dass er dich ignoriert.«
»Guten Morgen Malen! Ich dachte, du möchtest etwas länger schlafen, darum habe ich dich nicht aufgeweckt. Wenn du frühstücken willst – es steht noch auf dem Tisch.« Ellen wies mir einen Platz zu. »Halleluja«, jubelte ich gedanklich, da es kein Brot, sondern Pfannkuchen mit Ahornsirup gab. Hungrig begann ich, sie zu verschlingen. Die Kalorien purzelten wieder unaufhaltsam die Speiseröhre hinunter.
»Heute zeigen wir dir die Uni, auf die du in einer Woche gehen wirst. Angemeldet bist du ja schon, es fehlen nur noch ein paar Unterschriften.« Nickend schluckte ich das letzte Stückchen Pfannkuchen hinunter.
Thomas faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und legte sie auf den Stapel neben seinem Sessel, auf dem sich bereits jede Menge ältere Exemplare auftürmten. »Schon wieder ein unschuldiger Mann, der von der Polizei bei einer Kontrolle erschossen wurde. So langsam wird es eng für unseren Polizeipräsidenten. Den sägen sie schneller ab als gedacht«, kommentierte er und schüttelte verständnislos den Kopf.
Ich verstand nur Bahnhof und schaute Thomas fragend an.
»Der Polizeichef wird von uns Bürgern gewählt. Falls er es nicht schafft, die Leute von sich zu überzeugen, wird es nach vier Jahren ein anderer. Und dieser Chief ist mehr oder weniger inkompetent! Aber jetzt lasst uns aufbrechen Mädels, wir haben noch eine Menge vor uns.«
Langsam öffnete sich das Garagentor und ein wuchtiger schwarzer SUV rollte rückwärts heraus. Das Auto ließ mich vermuten, dass mein Gastvater wirklich beim FBI angestellt war oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten persönlich chauffierte.
»Was für ein protziges Auto«, flog mir durch den Kopf. Ich hatte Mühe, in den Wagen zu kommen, da sich der Einstieg mindestens einen Meter über dem Boden befand und ich nicht im Geringsten die Eleganz besaß, mich an der Halterung hochzuziehen.
»In Deutschland habt ihr kleinere Autos«, stellte Thomas fest und guckte in den Rückspiegel. Ich nickte bestätigend. Anscheinend besaßen die McAllisters gleich einen ganzen Fuhrpark, denn der Wagen gestern war wesentlich unauffälliger gewesen und der Beetle meiner »Schwester« stand nett geparkt vor dem Haus.
Thomas fuhr gemächlich durch den gepflegten Vorort von Murfreesboro mit seinen grünen Vorgärten und fröhlich spritzenden Wassersprinklern. Doch kaum hatten wir das Wohnviertel verlassen, änderte sich das Stadtbild. Stromleitungen hingen über die Straßen gespannt und es fehlten Gehwege an der Hauptstraße.
Jenny begann aufgeregt, an meinem Ärmel zu zupfen.
»Da hinten ist das Diner, in dem ich mich immer mit meinen Buddys treffe. Da musst du unbedingt diesen Freitag mit hin!« Leicht überheblich fing sie an, mir von ihren Freunden vorzuschwärmen, die im Übrigen nur Jungs waren. Ellen drehte sich zu uns um und bat Jenny, sich etwas zu zügeln.
»Vielleicht will Malen sich ihre Freunde selbst aussuchen. Schon mal daran gedacht, dass sie älter ist als du?« Jenny sah böse nach vorne zu ihrer Mutter und runzelte die Stirn. Schulterzuckend guckte ich meine schmollende Gastschwester an und versicherte ihr, dass ich sie gerne einmal alle kennenlernen wollte. Benommen gähnte ich zum Autofenster hinaus.
Ein paar Blocks weiter parkte Thomas den SUV in einer viel zu kleinen Parklücke auf dem Gelände der Universität. Beide Vorderräder standen auf dem Bordsteig und blockierten den Weg.
Beim aussteigen betrachtete ich das wuchtige Gebäude und hatte einen Kloß im Hals. Ein Campus, der mit meiner Uni in Deutschland nicht viel gemeinsam hatte. Das Hauptgebäude mit seinen endlosen Fluren löste in mir latentes Lampenfieber aus.
Thomas begleitete mich in das Büro des Dekans. Ich war zwar nur eine von tausenden eingeschriebenen Studenten, aber ich hatte den Vorteil, dass ich bei einem Dozenten dieser Fakultät wohnte. Dekan Rutherford hieß mich höchstpersönlich willkommen und sprach mir sämtliche Unterstützung zu.
Mit einem Stapel Infopapieren und Büchern schickte er uns zurück in das Vorzimmer, damit seine Sekretärin mich für meinen Studentenausweis fotografieren konnte.
Zing! Das Blitzlicht des Fotoapparates ließ mich hochschrecken. »Prima, das ist gelungen.« Zufrieden beäugte sie das Foto auf ihrem Bildschirm. Großartig! Auf dem Bild guckte ich wie ein verschrecktes Eichhörnchen.
Für mich sollte die Uni erst am kommenden Montag beginnen, mir blieben also noch vier Tage zur Eingewöhnung.
Abends telefonierte ich per Videochat mit meiner Freundin Nadine. Ich hatte den Zeitunterschied vergessen und klingelte sie mitten in der Nacht aus dem Bett, dennoch hörte sie mir müde zu und musste schmunzeln.
»Warte erst mal ab, vielleicht entpuppen sich die McAllisters im Laufe der Zeit doch noch als irrer Clan«, scherzte sie. »Du weißt doch, mehr Schein als Sein. Man hört viel aus den USA, denk an deren Waffentick. Hat dein Gastvater eine Knarre im Haus?«
»Nadine, ich glaube, du guckst zu viele Horrorfilme. Lass uns am Wochenende noch mal miteinander telefonieren. Ellen hat gerade zum Essen gerufen.«
Mit einem Tastendruck verschwand meine Freundin vom Bildschirm und ich fing vor lauter Heimweh an zu weinen. Ich schlug mir ein paar Mal mit beiden Händen auf die Wangen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Es ärgerte mich, schon am ersten Tag Sehnsucht nach Deutschland zu haben.
Mit roten Augen und leuchtenden Backen begab ich mich ins Esszimmer. Ellen servierte verbrannte Steak mit Kartoffelbrei, Maiskolben und irgendetwas, das wie Soße aussah, aber nicht danach schmeckte. Wenn sie weiterhin für mich kochte, würde ich in der nächsten Zeit doch noch zu meiner Traumfigur gelangen. Sie war einfach keine gute Köchin.
Jenny hatte längst bemerkt, dass ich unter Heimweh litt und versuchte, mich mit Storys über ihre Freunde aufzumuntern und redete ohne Punkt und Komma.
»Pass mal auf, wenn die dich kennenlernen. Endlich ein weiblicher Beistand für mich. Du weißt gar nicht, wie anstrengend Jungs sein können. Vor allem wenn Tim und Luke ständig versuchen, mich zu ärgern.« Ihre Stimme überschlug sich bei ihrem atemberaubenden Sprechtempo.
»Na, dann werde ich mal mein Bestes versuchen, dich moralisch zu unterstützen.« Damit sollte Jenny sich zufriedengeben, denn ich würde sowieso in einer Woche meine eigenen Bekanntschaften auf dem College machen.
Die Jungs
Am darauffolgenden Abend nahm mich Jenny wie angekündigt mit in das Diner, in dem sie sich jeden Freitag mit ihren »Jungs« traf. Ein ähnliches Ritual wie bei mir und Nadine im Irish Pub in Hamburg.
»Bist du dir sicher, dass ich mitgehen soll?«, hakte ich nach. In mir sträubte sich plötzlich alles und ich hatte etwas Angst, den ganzen Abend Englisch sprechen zu müssen.
»Malen, rede keinen Unsinn und mach mal hin, wir kommen zu spät.« Jenny zupfte genervt an meinem Shirt und zerrte mich aus der Haustür in Richtung Auto.
Auf der kurzen Fahrt zum Diner quasselte sie wieder unaufhaltsam auf mich ein.
»Heute in der Schule habe ich Tim davon erzählt, dass du unter Heimweh leidest.«
Großartig, dachte ich. Eigentlich wollte ich nicht das flennende Mädchen aus Deutschland sein, sondern erwachsen auftreten. Nun mussten sie ja einen tollen ersten Eindruck von mir haben.
»Und dieser Tim ist wer?«
»Zeig ich dir gleich.« Sie lief schnellen Schrittes in das Café hinein.
Schüchtern folgte ich Jenny hinterher. Durch mein Herumtrödeln kamen wir als letztes an und wurden unter Grölen der Jungs in Empfang genommen.
»Hey Guys, das ist Malen! Seid lieb zu ihr, sie steht unter meinem persönlichen Schutz«, sagte sie mit stolzgeschwellter Brust und stellte mich jedem einzelnen ihrer Freunde vor.
»Das am Kopf des Tisches ist Tim, daneben Ryan und das ist Stan.«
Tim, ein Afroamerikaner mit sehr heller Haut und rotbraunen Haaren, die er zu einem Bun am Hinterkopf gebunden hatte, stand auf und reichte mir die Hand. Er schien einen Kopf größer als ich zu sein. Dunkle Augen, beinahe schon dämonisch düster, blickten mich durchdringend an.
Argwöhnisch betrachtete er mich von oben bis unten, grinste schief und setzte sich wieder hin. Stan streckte sich über den Tisch, um mir die Hand zu reichen. Er schien das komplette Gegenteil von Tim zu sein. Klein, schmächtig und sehr jungenhaft. Er trug ein bis zum Hals zugeknöpftes Hemd, das in einer braunen Anzughose steckte. Den schrecklichen Igelhaarschnitt sollte er noch einmal überdenken, dachte ich mir.
Aufwändig erhob sich Ryan, drückte Stan nach unten und gab mir einen kräftigen Handschlag. Wie ein imposanter Wandschrank stand er vor mir. Ich musste meinen Blick nach oben richten, um diesem großen, durchtrainierten Jungen in die Augen blicken zu können. Niedlich fand ich seine Föhnwelle und die Koteletten, die mich an Elvis Presley erinnerten.
Kritisch beäugten sie mich von oben bis unten und wieder einmal fühlte ich mich fetter, als ich ohnehin schon war.
»Einer fehlt noch. Luke liegt leider im Krankenhaus, ist aber bald wieder dabei«, flüsterte Jenny mir zu.
»Oh, was hat er denn?«, wollte ich wissen. Tim antwortete schneller als Jenny, die etwas verdutzt aus der Wäsche guckte, als er ihr die Worte aus dem Mund nahm.
»Männerschnupfen!«
Somit schien das Thema abgehakt, denn er sagte es in so einem schroffen Ton, dass ich gar nicht wagte, weiter Fragen zu stellen. Aber was soll`s schließlich war mir diese Gruppe egal und ich war nur mitgekommen, weil Jenny es sich so sehr gewünscht hatte.
Eigentlich hätte der Abend ganz nett werden können, doch dieser Tim nervte mich gewaltig. Ich mochte seine überhebliche, unsympathische Art nicht und ständig riss er Witze über mich. »In Deutschland scheint das Essen ja besonders gut zu sein, du bist ja das beste Beispiel dafür!« Dies war noch einer der netten Sprüche, die er mir an diesem Abend an den Kopf warf. Jenny boxte ihn daraufhin in die Rippen.
»Was denn? Da muss sie durch. Denk daran, wie ich am Anfang zu dir war!«, sagte Tim, der wiederum frech zu mir herübersah und noch einmal nachtrat. »Jetzt erfüllen wir wirklich jedes Klischee.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich dummerweise und kassierte sofort die nächste Klatsche.
»Fett hat uns an diesem Tisch noch gefehlt.« Tim zwinkerte mir zu und zwickte mich in meinen Hautüberschuss am Oberarm, der langsam, aber sicher die Ausmaße von Mutters Armen annehmen würde, wenn ich weiter so viel aß.
»Was für ein Arschloch!«, dachte ich mir und zeigte ihm den Mittelfinger. Tim grinste fies und schlürfte seine Cola mit dem Strohhalm aus dem Glas. Unsere Blicke trafen sich und ich hätte ihm am liebsten sein Getränk über den Kopf gekippt, so sehr widerte er mich an. Und weil ich es konnte, bestellte ich mir ein Bier, nur um zu demonstrieren, dass ich in den USA alt genug dazu war. Die Aktion provozierte Tim und wieder erhaschte ich einen fiesen Blick mit dem gemeinen Lächeln.
Was war denn bloß so »cool« an diesen »Freunden«? Jenny hatte schon einen seltsamen Geschmack! Aber egal, schließlich sollte dieses das erste und letzte Mal sein, dass ich mit den Jungs den Abend verbrachte. Dachte ich zumindest.
Religiöse Ausrutscher
Sonntagvormittag weckte mich Ellen. Müde blinzelte ich auf das Display meines Handys. »Was zum Henker«, dachte ich mir und blickte sie verdutzt an.
»Guten Morgen, Malen. Ich hatte dir gestern vergessen zu sagen, dass wir sonntags immer zeitiger frühstücken, da wir im Anschluss in die Kirche gehen. Du bist herzlich eingeladen, uns zu begleiten.« Ihre stark geschminkten Augen klimperten mir fröhlich und erwartungsvoll entgegen.
»Gerne«, brummte ich und erhob mich ächzend aus meinem Bett.
Bereits beim Frühstück ärgerte ich mich über meine Zusage und anscheinend war ich mit meiner Gastschwester einer Meinung, die sehr genervt ihren Toast herunter würgte und mir mit ihrem Blick zu verstehen gab, dass sie auch nicht freiwillig mit in die Kirche ging.
Der letzte Gottesdienst, den ich besucht hatte, war meine eigene Konfirmation gewesen, die ich auch nur mitgemacht hatte, um Geld von den Verwandten zu kassieren. Gott war mir so fremd wie die Kleidergröße 36.
Vor dem schneeweiß gestrichenen Gotteshaus parkten sämtliche Autos aus der Nachbarschaft und der näheren Umgebung. Es war ein einfaches Gebäude mit Holzfassade und großen, bunt bemalten Fenstern. Auf der Schautafel an der Eingangstür stand in schwarzen Lettern »God bless America« und am Fahnenmast wehte die amerikanische Flagge. Lachend stiegen Eltern mit ihren Kindern aus den Autos und gingen schnellen Schrittes zum Eingang. Vorsichtig fragte ich Jenny, warum es alle so eilig hätten. Sie konnte nur lachen. Selbst Teenager kamen scheinbar freiwillig in den Gottesdienst. Wo war ich nur hineingeraten?
Der kleine, dickliche Pfarrer begrüßte uns an der Tür und schüttelte energisch meine Hand. Er stellte sich mir als Reverend Carter vor. Er trug keinen Talar, wie es Pfarrer in Deutschland tun, sondern schlicht und einfach ein dunkelblaues Sakko mit einem gelben Hemd und einem weißen, sehr schmalen Schlips, an dem eine Krawattennadel in Form eines Kruzifix angesteckt war.
»Das ist unsere Gasttochter aus Deutschland«, stellte mich Thomas mit stolzgeschwellter Brust vor.
»Willkommen in Amerika! Gott segne dich, mein Mädchen!«, begrüßte mich der Reverend in einem sehr weichen Südstaaten-Akzent. Ich musste kurz nachdenken, fand dann aber doch noch die richtige Antwort.
»Danke!«
In der ersten Bank vor dem Podium erkannte ich Stan. »Guck mal Jenny, wer auch da ist«, stellte ich erfreut fest.
»Stan ist immer hier, er ist der Sohn des Reverends und sehr gläubig. Er glaubt an das alles hier! Also Gott, Jesus und den ganzen heiligen Schwachsinn.« Jenny deutete auf das Kreuz am Ende des Raumes, von dem uns Jesus traurig ansah. Blut tropfte von seiner Dornenkrone herunter.
»Und ich musste nur deinetwegen mitkommen. Denk also nicht, dass ich das jetzt jeden Sonntag mache.« Sie kniff mich provokant in meine Speckrolle. »Du hättest meiner Mutter auch einfach sagen können, dass du nicht mitgehen möchtest. Sie haben dich noch nicht einmal gefragt.«
»Und du bist nicht gläubig, so wie deine Eltern?«
»Keine Ahnung, ich finde es nur schrecklich langweilig, an meinem freien Vormittag hier abzuhängen.« Schulterzuckend knibbelte sie an ihren Nagelhäuten. »Mom und Dad haben es aufgegeben, mich mitzunehmen. Denk also daran, ich bin nur wegen dir hier.«
»Darf ich euch ein neues Mitglied der Gemeinde vorstellen? Malen Butenschoin.« Erstarrt guckte zum Podium rechts auf der Bühne. Der Pfarrer nahm das Mikrofon aus seiner Halterung und deutete in meine Richtung, während er auf mich zuging. Mit einem Handzeichen bat er mich, von der Bank aufzustehen.
In diesem Moment traten meine Augen hervor und mein Gesichtsausdruck ähnelte einem Quietscheentchen das man zu fest gedrückt hatte.
»Ja, komm schon, Frau Butenschoin«, kicherte meine Gastschwester und drängte mich von meinem Platz. Ich hasste es, wenn mein Name falsch ausgesprochen wurde und noch mehr ärgerte es mich, wie ein Zootier ausgestellt zu werden. Schüchtern erhob ich mich von der Holzbank und winkte verhalten. Alle, aber auch wirklich alle begrüßten mich mit einem »Hallo Malen, Gott segne dich.«
»Malen ist aus Deutschland angereist und bleibt für ein Studienjahr bei unseren geschätzten Gemeindemitgliedern Thomas und Ellen McAllister und ihrer Tochter Jenny, die wir auch gerne wieder häufiger bei uns sehen würden.« Errötet bis zu den Haarspitzen zog mich Jenny auf meinen Platz zurück. Stan, der vorne neben seinen Vater stand, guckte hämisch grinsend zu uns in die Reihe.
Wenn es einen Gott geben würde, dann hätte er mich in diesem Moment augenblicklich erleuchtet und aus der Situation gerettet. Aber es passierte nichts. Kein Licht, das durch die Fenster schien, kein dringender Anruf, der mich aus dem Gottesdienst holte. Ich musste mich schlicht und ergreifend dem ergeben, was sich Predigt nannte und eher einer Verkaufsveranstaltung für Psalme ähnelte. Gebete für erkrankte Nachbarn und Wünsche für die ewige Seligkeit der verstorbenen Gemeindemitglieder endeten in einem gebrüllten »Amen!«
Nach dem Gottesdienst war ich fasziniert von dieser Hingabe, die Gottes Schäfchen an den Tag legten. Meine Oma aus Passau ist auch christlich, aber ich habe sie noch nie Amen rufen hören oder in die Hände klatschen sehen während eines Kirchenliedes. Ihr katholischer »Sport« bestand aus hinknien, aufstehen und wieder knien, im Gesangsbuch blättern und dazu wie ein schreiender Pfau zu singen.
Meine Aufgabe war es nun, Thomas und Ellen beizubringen, dass das für mich nur ein einmaliger religiöser Ausrutscher gewesen war.
Freudig legte mein Gastvater seinen Arm um mich, während wir zu unserem FBI-Wagen liefen. »Na Malen, wie hat es dir gefallen?«
»Nun ja«, druckste ich herum. Wie sollte ich ihnen jetzt klar machen, dass ich gar nicht gläubig war, nachdem sie sich solche Mühe gegeben hatten, mich in ihre Gemeinschaft aufzunehmen?
»Ich glaube, ich schlafe sonntags lieber aus.«
Kindergeburtstag mit gewissen Vorzügen
Mein erster Tag auf dem College begann katastrophal. Ich verschlief, mein Leihwagen sprang nicht an und dann stresste mich der vierspurige Straßenverkehr. Und vor lauter »lass mich einen Parkplatz finden«, verlief ich mich zu guter Letzt auf dem riesigen College Campus. Alle Augen waren auf mich gerichtet, als ich den richtigen Raum als Letzte betrat. Zu meinem Entsetzen hielt auch noch mein Gastvater den Vortrag und begrüßte mich ziemlich ausschweifend.
»Guten Morgen Malen. Unsere Studentin aus Deutschland scheint uns auch endlich zu beehren. Hast du den Weg nicht gefunden, obwohl ich ihn dir letzte Woche erst gezeigt und sogar einen Plan ausgehändigt habe? Setz dich doch bitte gleich hier nach vorne.« Hochrot tapste ich die Stufen des Hörsaals hinunter, während mir sämtliche Blicke folgten.
Umständlich drängte ich mich an drei Studenten vorbei, um zu einem der freien Plätze in der ersten Reihe zu gelangen, obwohl die hinterste Bank komplett leer war.
»Haben wir es jetzt endlich, Miss Butenschön? Ich möchte meinen Vortrag fortführen!« Genervt ließ ich mich auf die Bank plumpsen und nickte meinem Gastvater verschämt zu. Schweißtropfen perlten von meiner Stirn. Ich fühlte mich verloren und fremd, aber zugleich ein bisschen stolz, weil ich hier in einer amerikanischen Universität war, auch wenn sie nicht Yale oder Harvard hieß.
Am Ende der Vorlesung nahm mich Thomas kurz zur Seite. Meine Kommilitonen packten bereits ihre Bücher zusammen und warteten auf das Okay zum Gehen.
»Malen, bist du einigermaßen mitgekommen? Ich meine mit deiner Sprachkenntnis. Wenn ich dir etwas vereinfachen soll, dann sag es ruhig und unterbrich mich.«
»Ähm nein, ich komme schon gut zurecht«, meinte ich beschämt, denn ich würde es nie zugeben, wenn dem nicht so wäre.
Zur Mittagszeit suchte ich mir ein Plätzchen zum Nachdenken. Überall saßen Studenten herum. Auf dem Rasen, den Bänken und Treppen. Das Gefühl von damals in der Schule war allgegenwärtig. Grüppchenbildung und das »Ausgrenzen derjenigen, die nicht ins Weltbild der »Coolen« passten. Zu meiner Überraschung schien ich den Anderen ziemlich egal zu sein. »Dann kann es ja nur ein gutes Jahr für mich werden«, lachte ich und freute mich darüber, nicht gleich Zielscheibe für Lästereien zu sein.
So vergingen meine ersten Tage an der neuen Uni. Ich lernte viel und wunderte mich, dass ich den Stoff gut verstand. Zahlen und Excel-Tabellen waren doch überall gleich. Ob in Deutschland oder Italien, Usbekistan oder hier in Tennessee.
Am Freitagabend ging ich wider Erwarten mit ins Diner. Bisher war es mir wegen meiner kühlen norddeutschen Art nicht gelungen, mit Kommilitonen nähere Bekanntschaften zu machen, darum schienen mir Jennys Freunde eine willkommene Alternative zu sein. Luke, von dem immer die Rede war, glänzte weiterhin durch Abwesenheit und jede Frage zu seinem Befinden blockte die Gruppe ab – lediglich die Aussage, dass er sich noch erholen müsse, konnte ich den Jungs entlocken. Langsam wurde ich neugierig, wer dieser Junge wohl war, fragte aber nicht weiter nach.
»Hey, nicht vergessen, dass ich morgen Geburtstag habe. Ihr kommt doch? Hast du deinen Vater überreden können?«, fragte Tim.
»Ja, aber auch nur, weil Malen mitkommt. Ihr vertraut er, dir nicht!«, lachte sie.
»Warum? Wir kennen uns jetzt schon seit sieben Jahren, aber ich durfte dich noch nie zuhause besuchen.« Fragend kratzte er sich am Kopf.
»Merkst du was?«, antwortete ich frech auf Deutsch, ohne dass Tim mir Beachtung schenkte.
»Wie auch immer, liebe Malen, trotz allem wird die Party der Wahnsinn! Nur so viel, es gibt Flüssiges!« Grinsend wackelte er mit seinen Augenbrauen.
»Flüssiges?«, fragte ich.
»Alkohol!«, raunte mir Tim langsam und deutlich zu, als wäre ich etwas beschränkt im Kopf.
»Wow, Alkohol!«, gab ich meinen ironischen Kommentar ab.
»Wozu hat man einen großen Bruder, der einem den Stoff besorgt?« Tim schaute mir tief in die Augen und grinste fies.
»Du bist natürlich auch eingeladen, ich möchte ja nicht, dass du vor Heimweh herumheulst!«
Oh, wie ich diesen Typen verachtete. Und mit jedem weiteren Satz, den er von sich gab, ein Stückchen mehr.
Samstagmorgen beim Frühstück läutete Jennys Mobiltelefon und sprang vibrierend von der Tischkante. Eilig beugte sie sich hinunter und angelte danach. »Hallo!?… Ah, Luke du bist es. Wie geht es dir? Schön dass du wieder da bist. Kommst du später … Hallo?!«
»Mom, ich brauche ein neues Handy … Dieses Mistding kackt jedes Mal ab, wenn ich telefoniere.«
Ellen guckte ihre Tochter streng an, da ihr deren Wortwahl nicht gefiel, nickte aber.
»Wie geht es Luke? War er im Krankenhaus?«, wollte Ellen wissen, während sie nebenbei an ihrem Kaffee schlürfte. Mit einem Nicken bejahte Jenny ihre Frage und versuchte, ihr Telefon wieder in Gang zu bringen. Interessiert verfolgte ich das Gespräch zwischen Mutter und Tochter und malte mir schon den nächsten nervigen Freund von Jenny aus, von dem ich blöde Kommentare zu hören bekommen würde.
An diesen Abend fand die groß angekündigte Party statt. Tims Eltern hatten ihm für ein ganzes Wochenende das Haus überlassen und waren zu einer Tante Patty nach Louisiana gefahren. Sein großer Bruder Dyane blieb zuhause, um »aufzupassen.« Ich vermutete aber, dass dieser gar nicht anwesend sein, sondern sich von der »Kinderparty« fernhalten würde.
Eine gefühlte Ewigkeit durchsuchte ich meinen Kleiderschrank, um ein passendes Outfit zu finden. Was trägt man wohl auf einer Teenager-Veranstaltung, bei der der Gastgeber ein gehirnamputierter Schnuller mit zu großem Ego war? Ich entschied mich für ein viel zu enges Babydoll Patchwork-Kleid, aus dem ich bereits größentechnisch herausgewachsen war, als was ich es in Erinnerung hatte. Bei meiner letzten Party passte es noch und nun saß es etwas eng um die Brust. Aber ich besaß nichts anderes zum Anziehen, was sich einigermaßen als partytauglich erwies.
Trotz Groll gegen den Gastgeber freute ich mich. Amerikanische Hauspartys kannte ich aus Filmen und war gespannt auf die Realität. Hier war stets ein Haus bis zum Bersten gefüllt mit betrunkenen Schülern. Schlimmer als in einer engen Bar auf der Reeperbahn konnte es nicht werden. Außer dass ich mit Sicherheit die Älteste bei Tims Feier sein würde und legal trinken durfte.
»Komm schon Malen, wir sind spät dran! Beeilung!« Jenny klopfte aufgeregt an meine Zimmertür.
»Ja, ja, ich bin ja schon fertig…« Die Wahl meines Outfits hätte zwar seriöser ausfallen können, ich hatte aber nun keine Zeit mehr, mich erneut umzuziehen, denn ein nervöser blonder Teenager trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen meine Tür.
In der Dämmerung liefen wir durch die Vorgärten der Nachbarn zu dem Haus, in dem Tim wohnte. Auf der Veranda standen Jungs mit Bierdosen in der Hand und hatten sichtlich Spaß dabei, an den Rosenbusch neben der Treppe zu urinieren.
»Ob er die bezahlt hat, damit sie zu seinem Kindergeburtstag kommen?«, fragte ich Jenny, die bei dem Anblick der Jungs dämlich grinste. Laute Hip Hop Musik dröhnte aus dem Inneren des Hauses. Wir liefen durch die bereits offen stehende Haustür und standen inmitten eines ausschweifenden Trinkgelages.
Neidisch blickte ich auf die bauchfreien Tops und Hotpants der meist dunkelhäutigen Teenager. »Tim scheint beliebt zu sein?«
»Ne, wundere dich nicht, das sind alles Cousinen oder andere Bekannte aus der Nachbarschaft. Kein Einziger hier ist von der Highschool. Tim ist kein Womanizer, auch wenn er manchmal den Eindruck macht. Ich glaube, er entstammt einem Clan aus den tiefen Wäldern von Tennessee. Und du weißt ja, wie oft die untereinander geheiratet haben! Und nur um es zu erwähnen, er ist seinen Cousinen nicht ganz abgeneigt«, scherzte Jenny.
»Von wem stamme ich ab?«, fragte eine Stimme von hinten. Es war Tim, der uns Bierdosen in die Hand drückte.
»Happy Birthday, alter Sack«, gratulierten wir im Chor und prosteten ihm zu. »Wie ich sehe, hast du deine deutsche Tracht an«, witzelte er und zwickte mir in eine Speckrolle, die seitlich unter meiner Achsel heraussprang. Mit einem kräftigen Klaps auf meinen Po würdigte er dann noch einmal mein Äußeres und ich verschluckte mich dabei fast an meinem Bier. »Malen, ich liebe deinen Arsch, er erinnert mich irgendwie an Texas, groß und breit«, grinste er und zog dabei eine Seite der Lippe nach oben, was ihn besonders fies aussehen ließ.
Dann verschwand Tim und mit ihm auch Jenny.
Ich sah sie dann wild hüpfend in der Mitte des Wohnzimmers zwischen den anderen aufgedrehten Teenagern. Sie winkte mir zu, doch auch mitzumachen. Ich schüttelte den Kopf, denn ich war keine Partymaus, die ausgelassen feiern konnte.
Hilfesuchend blickte ich mich nach einer Nische um, in die ich mich unbemerkt verkriechen konnte. Ich wollte gerne unsichtbar sein und schlich in Richtung Küche. Um die Kochinsel herum standen drei Jungs,