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"Mama Bär" - Wenn Kinder zu Mördern werden -, ist trotz des ernsten Themas ein sehr unterhaltsames Buch. Die spannende Handlung führt die LeserInnen zunächst zu Gina. Die Achtjährige wächst auf einem Weingut in der Toskana auf, wo sie schreckliches erlebt. Anschließend begleiten die LeserInnen die ebenfalls acht Jahre alte Peggy auf einer Reise nach Algerien, auf der sie zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter entführt wird. In der Sahara begegnet sie dem Tod und gelangt auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Deutschland. Die dritte Romanfigur ist Stella. Sie muss die Ermordung ihrer Mutter verarbeiten. Ihr Weg führt Stella ins Kinderstiftdorf. Dort lernt sie Gina und Peggy kennen. Zwischen den Mädchen entwickelt sich eine Dynamik, die sie zu Mörderinnen macht. Die fiktive Handlung ist von wahren Begebenheiten inspiriert und gliedert sich in 4 Teile. Im 1. Teil werden die schicksalhaften Erlebnisse von Gina, Peggy und Stella vorgestellt. Im 2. Teil gründen die Mädchen "Mama Bär" und begehen den ersten Mord. Im 3. Teil planen sie die Ermordung eines Pfarrers, der unter Missbrauchsverdacht steht. Im 4. Teil werden die polizeilichen Ermittlungen geschildert. Für Menschen, die mit Kindern arbeiten, ist der Roman sicher empfehlenswert.
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Seitenzahl: 286
Veröffentlichungsjahr: 2025
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"MAMA BÄR"
- Wenn Kinder zu Mördern werden -
Von A. N. Drigetti
1. Auflage, 2025
© Alle Rechte vorbehalten.
„Mama Bär“
- Wenn Kinder zu Mördern werden -
Vorwort.4
Teil 1. Drei Mädchen.9
Gina.9
Peggy.38
Stella.74
Teil 2. Mama Bär erwacht.89
Teil 3. Mama Bär tötet abermals.127
Teil 4. Ermittlungen.201
Anmerkungen.378
Über den Autor:
A. N. Drigetti arbeitete im Bereich der Kinder und Jugendhilfe.
Vorwort.
Wenn ich von einem Mord höre, denke ich immer zuerst an einen Mann als Täter.
Es fällt mir schwer, mir eine Frau als Mörderin vorzustellen.
Ein mordendes Kind ist mir nie in den Sinn gekommen.
Wer glaubt denn ernsthaft, dass Kinder absichtlich töten?
Man hält es für undenkbar, bis eine Bluttat das Gegenteil beweist!
Auch wenn es nicht vorstellbar erscheint, sind in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland vermehrt Tötungsdelikte bekannt geworden, an denen Kinder als Täter beteiligt waren. Diese Fälle haben ein breites Spektrum von Emotionen ausgelöst.
Die Reaktionen reichten von Schock und Verunsicherung bis zu Sprachlosigkeit und der Frage nach dem richtigen Umgang mit dieser Realität.
Kinder sind in der Lage, starke Hassgefühle zu entwickeln, die in brutale Gewalt umschlagen können. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Persönliche Leiderfahrungen spielen eine Rolle.
Die Gründe, warum Kinder zu Mördern werden, sind nicht ausreichend erforscht. Es lässt sich häufig eine Mischung aus Hass, Wut und dem Gefühl der eigenen Ohnmacht feststellen.
Gewalttaten haben eine Vorgeschichte. Deshalb müssen die Ermittler genau hinschauen, warum ein Kind tötet. Um sein Handeln zu verstehen, muss man ergründen, was in seiner Sozialisation schief gelaufen ist, um herauszufinden, ob es gravierende, prägende Einflüsse gegeben hat. Man schaut sich die soziale Ausgangslage an und fragt, hatte das Kind Probleme in der Schule, im Freundeskreis oder im Elternhaus? Letzteres ist sowohl ein Risiko- als auch ein Schutzfaktor.
Niemand wird zum Mörder geboren.
Man wird dazu gemacht.
Erst wird man Opfer, dann Täter!
In Deutschland kommt es immer wieder zu Tötungsdelikten, bei denen Kinder und Jugendliche die Täter sind. Eine Zusammenstellung aus den Jahren 2016 bis 2023 soll dies verdeutlichen:
2016 verliert Fabian (13) in Bad Schmiedeberg sein Leben durch einen gleichaltrigen Mitschüler.
2017 stirbt Mia (15) in Kandel durch ihren Ex-Freund.
2018 wird Keira (14) in Berlin durch einen Mitschüler umgebracht.
2018 stirbt Aaliyah (15) in Dortmund durch eine Bekannte.
2018 wird in Lünen ein 14-Jähriger durch einen Mitschüler getötet.
2018 erwürgt ein 14 Jahre alter Junge seinen Freund (16) in Wenden bei Olpe. Es ist eine Beziehungstat.
2019 stirbt ein Junge (3) in Detmold durch seine Halbschwester.
2021: Sinan (13) wird in Sinsheim durch den Bekannten einer Freundin getötet.
2022: Anastasia (15) stirbt in Salzgitter durch zwei Mitschüler (15 und 13 Jahre alt).
2023 wird Jan (14) vom Nachbarsjungen in Wunstorf mit einem Stein getötet.
2023 verschwindet am 11. März Luise (12) aus Freudenberg bei Siegen. Am nächsten Tag wird ihre Leiche gefunden. Sie wurde mit zahlreichen Messerstichen getötet. Die Täterinnen sind 12 und 13 Jahre alt.
*
„Mama Bär“
- Wenn Kinder zu Mördern werden -
Im Mittelpunkt stehen Gina, Stella und Peggy. Im Alter von 8 Jahren erleben die Mädchen Tragödien, die ihre Psyche nachhaltig erschüttern und sie zu Mörderinnen werden lassen. Die fiktive Handlung ist von wahren Begebenheiten inspiriert und gliedert sich in 4 Teile:
Im 1. Teil werden die schicksalhaften Erlebnisse von Gina, Peggy und Stella vorgestellt.
Im 2. Teil gründen die Mädchen „Mama Bär“ und begehen den ersten Mord.
Im 3. Teil planen sie die Ermordung eines Pfarrers, der unter Missbrauchsverdacht steht.
Im 4. Teil werden die polizeilichen Ermittlungen geschildert.
Teil 1. Drei Mädchen.
Gina.
Es ist Dienstag, der 12. Juli 1994, als sich auf dem Weingut von Alberto Rossi eine Familientragödie ereignet, die einen Schatten auf das Anwesen in der Toskana wirft.
Gina spielt mit Carlo im Sandkasten. Die Kinder bauen eine Sandburg. Als die Achtjährige ihre Mutter Birgit um Hilfe schreien hört, zuckt sie erschrocken zusammen. Durch die heftige Bewegung schleudert sie von ihrer Schaufel Sand ins Gesicht des Bruders. Der Vierjährige spuckt und prustet. Sie säubert ihn und flüstert: „Ich sehe kurz nach Mama. Du bleibst hier!“
Gina rennt zu der steilen Natursteintreppe, die neben dem Haus den Hang entlang in den Garten führt. Als sie nach oben schaut, sieht sie ihren Vater Alberto. Er steht auf der obersten Treppenstufe. Sein schweißnasses Hemd klebt an ihm.
Mama liegt vor ihm auf dem Rücken. Er hat sie mit der linken Hand am Hals gepackt und drückt sie fest auf den Boden. Röchelnd greift sie seinen Arm, und versucht, sich zu befreien. Als sie ihn kratzt, reißt Papa die rechte Faust in den wolkenlosen Himmel und haut mit voller Wucht in Mamas Gesicht. Sie stößt einen qualvollen Schmerzensschrei aus. In Gedanken fleht Gina: „Lieber Gott. Bitte hilf ihr!“
Während des Stoßgebets schlägt Papa nochmal zu. Dann lässt er Mamas Hals los und ergreift ihren langen blonden Zopf. Es sieht aus, als hielte er den Schweif eines Ponys.
Er zieht sie daran in die Höhe, um sodann mit Wucht ihren Kopf wieder nach unten zu drücken. Hart schlägt er auf die Steinstufe.
„Tu, puttana! Maledetta puttana!“, brüllt Papa. „Du Hure! Du verdammte Hure!“
Gina versteht die Bedeutung der Worte nicht. Sie weiß nicht, was eine Hure ist.
Ein weiteres Mal schlägt er Mamas Kopf auf den Stein. Sie schreit vor Schmerz. Niemand hört sie. Nicht einer kommt zu Hilfe. Es gibt keine Nachbarn im Weinberg.
Gina fasst sich ein Herz. Rufend rennt sie sieben Stufen hinauf. „Papa! Fermati! Lascia in pace la mamma. Per favore, papà!“, „Papa, hör auf! Lass Mama in Ruhe. Bitte, Papa!“
Er dreht sich nach ihr um. Sein Gesicht ist voller Hass. Brüllend befiehlt er: „Vai via! Esci di qui! Adesso!“ „Verschwinde! Verschwinde von hier! Sofort!“
Sie kennt Papa in- und auswendig. Wenn er wütend ist, gehorcht man besser augenblicklich. Gina rennt die Treppe hinunter. Unten bleibt sie stehen und schaut, was er treibt.
Trotz sommerlicher Temperaturen laufen ihr eiskalte Schauer über den Rücken und auf ihren Armen bildet sich eine Gänsehaut. Sie hat schreckliche Angst.
Gina weiß, was passiert, wenn Papa böse ist. Mama nennt es „Papas schlechte 5 Minuten!“ Das stimmt aber nicht. Sie dauern länger! Und währenddessen haut er Mama die Lippen blutig. Oder ein blaues Auge. Zumeist beides.
Zu der Zeit wo Ginas Bruder Carlo ein Baby war, schlief er oft während der „schlechten 5 Minuten“. Gina saß neben dem Bettchen und passte auf. Seit er sitzt und läuft, hält sie ihm die Ohren zu oder nimmt ihn auf den Arm. Sie lehnt ihren Kopf an seinen und summt ihm deutsche Kinderlieder ins Ohr.
Carlo liebt das Singen, aber die „schlechten 5 Minuten“ machen ihm trotzdem entsetzliche Angst. Er zittert wie ein Lämmchen und weint bitterlich, ohne dabei einen Ton von sich zu geben.
Würde Papa den kleinen Mann weinen hören, wäre das furchtbar! Er verbietet es. Wenn er Carlo weinend erwischt, bestraft er ihn hart mit dem Lederriemen. „Ein Junge weint nicht. Basta!“, sagt Papa.
Gina fühlt ebenfalls Angst in „Papas schlechten 5 Minuten“. Sie zeigt es nicht, weil sie stark sein muss. Für Carlo. Für Mama. Für sich.
Gina möchte gerne nach Deutschland fahren. Mama erzählt hin und wieder, wie es dort ist. Sie ist Deutsche und lebt in der Toskana, weil sie Papa liebt.
Gina glaubt ihr, dass sie hergekommen ist, weil sie in ihn verliebt war, aber dass sie ihn immer noch liebt, ist eine Lüge! Das kann Mama noch eine Million Mal sagen, Gina weiß, es stimmt nicht! Sie merkt, wenn Mama lügt.
Gina steht am Fuß der Steintreppe. Sie sieht zu, wie Papa Mama am Pferdeschwanz und am rechten Arm die Treppe hinab zerrt. Bei jeder Stufe stöhnt sie, weil es ihr wehtut.
Ihr buntes Sommerkleid verfängt sich in einem Dornenbusch, der am Hang wächst. Es reißt an der Seite auf. Ein Stück Stoff flattert wie eine Fahne an der Pflanze.
Zehn Stufen sind es bis in den Garten. Dort stürzt Mama auf den Kiesweg. Papa zerrt sie über die Steine bis zur Wiese vor der Koppel, wo die Shetlandponys Bella und Bimba grasen.
Gina folgt langsam.
„Non senti? Ti avevo detto di sparire!“ „Hörst du nicht? Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!“, schreit Papa.
Sie gehorcht nicht und er lässt Mama los. Gina befürchtet, dass er jetzt auf sie losgeht, weil sie nicht macht, was er anordnet. Er läuft stattdessen zum Haus und verschwindet darin durch die Kellertür. Sie fragt sich, warum?
Mama liegt drei Meter vom Tor der Ponyweide entfernt auf der Wiese, neben einem Heuhaufen. Gina rennt hin und kniet an ihrer Seite im Gras. Behutsam ergreift sie ihre rechte Hand und streichelt sanft den Handrücken. Mamas Gesicht ist blutüberströmt, geschwollen und voller Wunden. Ihre Oberlippe ist aufgerissen. Am Mundwinkel klebt ein blutiger Speichelfaden, der sich bis zu ihrem linken Ohr zieht. Im Sonnenlicht glänzt er wie eine Perlenkette.
Mamas Hinterkopf ist verletzt. Gina sieht nicht wo und wie schlimm es ist. Sie erkennt es daran, weil ihr blonder Zopf blutrot ist.
Unter ihrem rechten Auge klafft ein Riss. Beständig sickert Blut heraus, rinnt über das gequälte Gesicht, tropft auf die Wiese und färbt das Gras rot.
Mamas linker Arm ist seltsam verdreht und voller Abschürfungen. Ein Knochen ragt aus dem blutverschmierten Fleisch. Gina kann den Anblick schwer ertragen.
Wie aus heiterem Himmel steht Carlo neben ihr. Sie hat nicht bemerkt, dass ihr Bruder den Sandkasten verlassen hat. Der Kleine schaut verständnislos zwischen Mutter und Schwester hin und her. „Hat Mama aua?“
Bevor Gina antworten kann, stürmt Papa aus dem Haus. Er trägt seine Doppelflinte und kommt schimpfend auf sie zu. Ohne zögern wirft sie sich schützend über ihre Mutter. Carlo ahmt es ihr nach.
„Ti insegnerò ad ascoltare tuo Padre!“, „Ich bringe euch bei, auf euren Vater zu hören!“, droht Papa.
Gina erwartet jeden Moment Schläge, doch zu ihrer Überraschung rennt er an ihnen vorbei!
Papa erreicht das Gattertor der Ponyweide und tritt mit dem Fuß dagegen. Krachend springt es aus der Verankerung. Er hebt das Gewehr. Zwei Schüsse knallen. Pony Bella fällt tot zu Boden, dann Bimba.
„Questo è quello che ottieni per non avermi ascoltato!“, „Das hast du davon, dass du nicht auf mich gehört hast!“, brüllt Papa in Ginas Richtung, und stürzt auf sie zu.
Ohne Zögern packt er Carlo am Hosenbund und wirft ihn in hohem Bogen in den Heuhaufen.
Gina erhält einen harten Schlag aufs linke Ohr. Es brennt wie Feuer. Sie hört einen grellen Pfeifton und ehe sie sich versieht, landet sie neben Carlo.
Sie findet keinen Halt und rollt den Heuhaufen hinunter. Der Weidezaun bremst die Abwärtsbewegung. Gina steht auf und sieht, wie Papa das Gewehr lädt. Eine Patrone fällt ihm aus der Hand. Er sucht fluchend im Gras, findet sie und steckt das Geschoss in den Lauf. „Er schießt Mama tot, wie die Ponys“, schreit eine grelle Stimme in Ginas Kopf.
Am Zaun lehnt eine Heugabel. Ohne nachzudenken, ergreift sie das Werkzeug und rennt los.
Sie sieht, wie er das Gewehr hebt. Er zielt auf Mama. Sein Finger tastet nach dem Abzug. Im selben Augenblick bohren sich vier Zinken in seine Brust. Einer durchbohrt sein Herz. Das Gewehr fällt zu Boden. Papa schaut entgeistert aus aufgerissenen Augen, röchelt, kippt nach vorne und schlägt bäuchlings auf die Wiese. Stille.
Gina sinkt ins Gras. Weinend hält sie die Hände vors Gesicht. Sie zittert. Ihr ist eiskalt, obwohl Hochsommer ist. Zwei dünne warme Ärmchen legen sich zärtlich um ihre Schultern. Carlos Kopf ruht liebevoll an ihrem. Auf Deutsch singt er flüsternd „Hoppe, Hoppe Reiter“. Es beruhigt.
*
Gina besucht Mama jeden Tag im Krankenhaus. In den ersten Wochen darf sie nicht zu ihr ins Zimmer. Sie schaut durch ein Fenster der Intensivstation hinein. Mama ist kaum zu sehen. Um ihr Bett stehen Apparate. Schläuche und Kabel führen in ihren Körper. Mamas Kopf ist verbunden.
„Der Schlauch in ihrem Mund hilft deiner Mama Atmen“, erklärt Dottore Milano.
Er ist ein freundlicher Arzt mit schwarzem Schnurrbart, dessen Enden beim Sprechen auf und abwippen.
Der Onkel Doktor nimmt sich Zeit für Gina und erklärt alles in Worten, die sie versteht.
„Warum wacht sie nicht auf? Sie schläft seit Tagen tief und fest, wie Mama Bär im Winterschlaf. Das muss man sich vorstellen“, wundert sich Gina.
Dottore Milano schmunzelt. „Weil deine Mama Schmerzen hat, habe ich ihr ein Schlafmittel gegeben. Sie schläft, damit sie gesund wird.“
„Warum hat sie den Verband um den Kopf?“
„Weil sie eine Wunde am Hinterkopf und eine Gehirnerschütterung hat.“
„Ich wusste das mit der Verletzung“, grinst sie, „Willst du wissen, woher, Onkel Doktor?“
„Selbstredend, möchte ich das von dir hören liebe Gina“, lächelt Dottore Milano belustigt.
„Weil Mamas Zopf blutig war. Da dachte ich, mit ihrem Kopf stimmt was nicht. Gut, oder?“
„Prima. Du hast ein gutes Auge“, grinst er.
Insgeheim fragt sich Gina, ob er wirklich ein guter Doktor ist, denn er müsste eigentlich sehen, dass sie nicht nur eins, sondern zwei gute Augen hat. Sie sagt nichts dazu, stattdessen erkundigt sie sich: „Was ist das für ein Metallding in Mamas Arm?“
„Der linke Arm ist gebrochen. Ich habe ihn eingegipst. Die Metallschiene, die herausschaut, nennen wir Ärzte Fixateur. Er sorgt dafür, dass der Knochen wieder zusammenwächst.“
„Was ist mit Mamas Bein?“
„Sie hat einen Oberschenkelhalsbruch“, antwortet Dottore Milano und beschreibt, was das ist. Wenn er Oberschenkelhalsbruch sagt, wippen die Enden seines Schnurrbartes auf und ab wie zwei Schwänzchen von Dackelwelpen, die sich freuen.
Gina findet es witzig, aber das Wort Oberschenkelhalsbruch kann sie sich nicht merken. Weder auf Italienisch noch auf Deutsch. Sie schreibt es auf, damit sie es sagen kann, wenn jemand wissen will, was mit Mamas Bein ist. Leider vergeblich. Niemand kommt zu Besuch.
Tage vergehen, werden zu Wochen. Jeden Tag verbringt Gina Zeit im Hospital der Kleinstadt, in die der Rettungsdienst Mama gebracht hat. Es ist nicht weit dorthin zu Fuß zu gehen. Sie und ihr Bruder wohnen fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt, beim Polizisten Lorenzo Romano und seiner dicken Ehefrau Maria. Er hat Carlo und Gina mit zu sich genommen, wo der Krankenwagen Mama weggebracht hat.
„Was machen wir mit den beiden? Bringen wir sie ins Waisenhaus?“, fragte sein Kollege.
Lorenzo nahm die Dienstmütze vom Kopf, wischte mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und antwortete: „Ich nehme sie bei mir auf, bis Ihre Mama gesund ist.“
Lorenzo und Maria haben drei Jungen und drei Mädchen. Zwei Söhne studieren in Rom. Ihr Zimmer ist frei. Dort schlafen Carlo und Gina.
Eines Tages kommt eine Frau vom Gericht zu Lorenzo. Sie stellt viele Fragen und will wissen, ob es Gina und Carlo bei Familie Romano gefällt. Wie sie hört, dass es ihnen gut geht, dürfen sie bleiben.
*
Nach ein paar Wochen verlegt man Mama in ein Einzelzimmer auf die Normalstation. Am Anfang fällt ihr das Sprechen schwer, darum erzählt Gina Geschichten und Neuigkeiten. Zum Beispiel vom lustigen Lorenzo und seiner dicken Maria, die sogar noch witziger ist wie er. Sie berichtet, dass Carlo, seit kurzer Zeit in den Kindergarten geht, und es spitzenmäßig findet. Sie liest aus der Zeitung oder einem Buch vor und spricht darüber, wie sie Papa mit der Heugabel erstochen hat. Allerdings schläft Mama die meiste Zeit.
*
Gina findet, wer im Krankenhaus liegt, sollte besucht werden. Darum freut es sie, wie eines morgens eine junge Frau ins Krankenzimmer hereinkommt. Erst vermutet sie, die Signorina hat die verkehrte Tür geöffnet. Hat sie nicht! Sie möchte tatsächlich zu Mama! Ihr Name ist Angelina Vialli. Sie arbeitet bei der Kriminalpolizei. Weil Mama schläft, unterhält sie sich mit Gina. „Ich bin die erste Besucherin?“, staunt sie, „Warum?“
„Wir haben keine Freunde.“
Ginas ehrliche Antwort trifft die Kommissarin ins Herz. Das süße schwarzhaarige Mädchen sitzt ihr auf einem Stuhl gegenüber. Unbekümmert baumelt sie mit den Beinen und schaut mit ihren braunen Augen in die Welt. Sie merkt nicht, wie bitter ihre Worte klingen. Das arme Kind kennt es nicht anders, denkt Angelina und fragt: „Woran liegt es, das ihr keine Freunde habt? Was denkst du?“
„Papa will keinen Besuch.“
„Kommt nie jemand zu euch nach Hause?“
„Doch“, antwortet das Kind beschwichtigend, „Alfonso, der Briefträger.“
Angelina muss ein Lächeln unterdrücken. „Nur er?“
„Ja und ab und zu ein Arbeiter, wenn Weinlese ist.“
„Regelmäßig nur der Postbote?“
„Genau“, bestätigt sie die traurige Wahrheit und erzählt mit unbekümmerter Fröhlichkeit. „Seinen Fiat hört man kilometerweit! Die Klapperkiste schafft den Berg hoch bloß im ersten und zweiten Gang. Bei trockenem Wetter sehe ich an der Staubwolke, wo das Auto ist.“
„Weißt du den Grund, warum dein Papa keinen Besuch empfangen möchte?“
„Klar, weiß ich das!“, folgt ihre Antwort, „Weil Leute aus dem Dorf ihn betrügen wollen“.
„Ach ja? Wer denn?“
„Alle! Papa sagt, es sind allesamt Gauner und Lumpen, die Lügen über ihn erzählen.“
Angelina Vialli entgeht nicht, mit welcher Überzeugung das Mädchen diese Sätze ausspricht. Sie ist erschrocken, wie massiv der dominante Vater seine Tochter manipuliert hat. „Alle? Das sind viele.“
„Ja, aber, es stimmt.“
„Wie kommst du darauf?“
„Einmal war ich mit Mama auf dem Markt. Die Gemüsehändlerin hat gefragt, wie Mama auf die Idee gekommen ist, den verrückten Alberto Rossi zu heiraten. Sowas sagt man doch nicht, oder? Das Wort Verrückt, meine ich.“
„Was hat Mama geantwortet?“
„Man wüsste nie, wo die Liebe hinfällt. Die Gemüsefrau hat sie ausgelacht und den Kopf geschüttelt und gesagt: Ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt. Sie werden es brauchen, Signora Rossi!“
„Ich muss kurz was aufschreiben, Gina.“
„Ist gut.“
Angelina öffnet eine Tasche, die sie vorhin auf den Tisch gelegt hatte. Sie holt eine bunte Tüte Süßigkeiten heraus, einen Kugelschreiber und ein Schreibheft. Sie schreibt einen Satz hinein und malt dahinter ein fettes Ausrufezeichen. „Kam nie Verwandtschaft von Mama aus Deutschland zu Besuch?“
„Nein.“
„Hatte sie keinen Kontakt? Zu irgendwem?“
Gina verdreht grübelnd die Augen. „Hm.“
„Du kannst mir vertrauen.“
„Hmmm“, brummelt sie gedankenverloren.
Angelina beobachtet das Kind. Man sieht dem Mädchen an, das sie darüber brütet, ob sie die Frage beantworten soll. Sie entscheidet sich dafür.
„Manchmal hat Mama ihren Papa angerufen. Von der Telefonzelle im Dorf. Ich durfte mit Opa sprechen. Aber psst! Das ist ein Geheimnis.“
„Ihr habt doch Telefon zu Hause, oder?“
„Das ist nur für die Arbeit von Papa.“
„Du meinst, für geschäftliche Gespräche?“
„Genau. Für den Weinverkauf und sowas.“
„Sonst wurde es nicht benutzt?“
„Nein. Papa hat es eingeschlossen. In der Schreibtischschublade im Arbeitszimmer.“
„Wie hast du um Hilfe telefonieren können?“
Gina grinst verschmitzt.
„Ich weiß, wo Papa den Schlüssel für die Schublade versteckt. Ich habe gesehen, wie er ihn unter den Briefbeschwerer gelegt hat. Zum Glück, wusste ich das und habe den Krankenwagen gerufen.“
„Das hast du richtig gemacht“, lobt Angelina. Sie kritzelt nochmals in ihr Heft. Danach öffnet sie die bunte Tüte und hält sie Gina hin. „Nimm dir ein Gummibärchen.“
„Danke“, strahlt das braungebrannte Kindergesicht.
Sie zieht wirklich nur ein einziges Bärchen heraus, schaut es an und lacht.
„Der Gummibär ist grün und grinst!“, stellt sie glücklich fest, „wie putzig! Den hebe ich für später auf.“ Sie versucht, ihn in der Tasche ihrer Shorts verschwinden zu lassen.
„Was machst du? Er schmilzt und verklebt deine Hosentasche.“
„Ach ja? Das wusste ich nicht. Na dann.“ Sie legt das Gummibärchen auf die Zunge, schließt Mund und Augen und genießt. „Hm, lecker.“
Angelina kommt aus dem Staunen nicht heraus. Ginas Verhalten ist irritierend. „Kennst du keine Gummibärchen?“
„Nein. Sehe ich zum ersten Mal. Die sind lecker!“ Sie beobachtet Kommissarin Vialli, die den Kopf schüttelt und alle nasenlang, was in ihrem Heft zu kritzeln hat.
„Streiten Mama und Papa viel?“
„Ja.“
„Kannst du sagen, wie oft?“
„Oh je“. Seufzend verdreht das Mädchen die Augen. „An manchen Tagen die ganze Zeit. Dann eine Woche nicht.“
„Also unterschiedlich?“
„Kann man sagen“, antwortet sie zögernd, schaut grübelnd zum Fußboden und malt mit einem Fuß einen Kreis. Verschwörerisch flüstert sie: „Wenn Papa die schlechten 5 Minuten hat, verhaut er Mama.“
„Was bedeutet das? Ich verstehe nicht, was du mit schlechten 5 Minuten meinst.“
„Wenn er die hat, ist er nicht er selbst, sagt Mama und hinterher hat sie blaue Flecken.“
„Verstehe. Hat Papa dich und Carlo auch geschlagen?“
„Nicht so oft, wie Mama.“
„Hat er dich mit der Hand gehauen?“
„Ja klar. Und mit seinem Gürtel. Manchmal mit einem Stock oder was sonst da war.“
„Was meinst du damit?“
„Einmal hab ichs mit dem Rechen bekommen. Voll auf den Arsch. Das hat gebrannt, sage ich dir! Ist aber nicht so übel wie der Gartenschlauch. Der flitscht richtig fies. Vor allem, an den Oberschenkeln.“
„Warum wurdest du gehauen?“
„Wenn ich was falsch gemacht habe.“
„Was zum Beispiel?“
„Milch verschüttet. Dafür gibt es Haue.“
„Wann noch?“
„Ach, was du alles wissen willst!“, beschwert sich die Kleine, „Teller nicht leer gegessen. Zähne nicht geputzt. Ins Bett gemacht. Reicht das?“
„Was hat deine Mama gesagt?“
„Wir sollen uns verstecken, wenn er die schlechten 5 Minuten hat.“
„Wohin geht ihr?“
„In den Stall. Zu Bella und Bimba. Wir sitzen im Stroh, bis die schlechten 5 Minuten um sind.“
„Bella und Bimba sind die Ponys?“
„Die sind tot!“ Ihre Antwort klingt schwermütig. Mit gesenktem Kopf betrachtet sie ihre nackten sonnengebräunten Füße.
Es ist die erste echte Gefühlsregung, die der Ermittlerin bei dem Mädchen auffällt. Sie bemerkt eine Träne, die Gina über die Wange rollt. Das Kind wischt sie in Windeseile weg. Es erweckt den Eindruck, dass sie verhindern möchte, dass es der Kommissarin sieht. Die Achtjährige ist bislang sachlich, ja, gleichmütig, wenn sie über die Ereignisse spricht. „Tut mir leid, das mit den Ponys“, bedauert Angelina. Sie hält Gina die Tüte mit den Gummibärchen hin. „Bitte greif zu. Nimm dir mehr wie eins.“
„Echt? Darf ich drei Bärchen?“
„Kannst sogar vier haben.“
Gina linst in die Tüte. „Ein Rotes, ein Gelbes, ein Grünes, ein Oranges“, zählt sie auf. „Gummibärchen ist ein witziger Name“, plaudert sie.
„Sagst du mir, wie lange ihr im Stall sitzt?“
„Auf jeden Fall über 5 Minuten“.
„Weißt du, warum Papa sauer wird?“
„Er glaubt, Mama betrügt ihn.“
Angelina kritzelt wieder ein Wort in ihr Heft. Das unterstreicht sie zweimal. „Gina, du bist acht Jahre alt, stimmt das?“
„Ja, das bin ich. Am 1. März ist mein Geburtstag. 1986 kam ich auf die Welt. Das habe ich mir gemerkt, falls jemand fragt. Gut, nicht?“
„Gehst du in die dritte Klasse, oder ist es die Vierte?“
„Ich bin nicht in der Schule.“
„Ach? Wieso nicht?“
„Papa verbietet es.“
Angelina zieht die Augenbrauen hoch. Sie zeigt auf ein Kinderbuch auf dem Tisch. „Aber du kannst lesen, richtig?“
„Schreiben und Rechnen auch. Mama hat es mir beigebracht. Mehr braucht ein Mädchen nicht, sagt Papa. Es reicht, dass mich beim Einkaufen niemand übers Ohr hauen kann.“
„Soso“, murmelt die Polizistin fassungslos., „das sagt er also?“ Wie gehabt schreibt sie es auf.
Gina fragt sich im Stillen, wie die Kommissarin das Gekritzel später entziffern will. „Ich habe eine schöne Handschrift“, behauptet sie.
„Ach ja?“ Angelina wundert sich über Ginas Bemerkung.
„Willst du es sehen?“
„Sehr gerne.“
Das Mädchen springt vom Stuhl, trippelt barfuß durch den Raum zu ihrem Rucksack. Sie holt ein Schreibheft heraus, wie es Kinder in der Grundschule benutzen, bringt es der Polizistin und klettert wieder auf den Stuhl. Gespannt wie ein Flitzebogen schaut sie Angelina an. „Schau mal rein.“
Die Kriminalbeamtin schlägt das Heft auf und wundert sich. „Wow!“
Gina fragt kichernd: „Warum bellst du?“
„Was? Ach du meinst, das wow?“
„Ja.“
„Das sagt man, wenn man etwas toll findet.“
„Habe ich noch nie gehört“, kommentiert sie und flüstert mehrmals „Wow“ vor sich hin.
„Das hast du geschrieben?“, fragt Angelina.
„Na klar.“
„Das ist die schönste Handschrift, die ich je gesehen habe!“
Angelina Vialli meint es ernst! Die Zeilen sind fehlerfrei, blitzsauber und exakt geschrieben. Die Buchstaben sind weder zu groß noch zu klein. Sie wirken nicht wie von zarter Kinderhand zu Papier gebracht. Vielmehr scheinen sie von einem hochwertigen Tintenstrahldrucker auf das Blatt geschossen worden zu sein.
Angelina blättert in dem Heft. Eine Seite nach der anderen lässt sie staunen. Zwischen den Zeilen sind Zeichnungen von Blumen, Tieren, Landschaften und vom Haus im Weinberg. Die Bilder sind mit Bleistift gezeichnet und von beeindruckender Schönheit.
„Die habe ich gemalt“, sagt das braun gebrannte Mädchen mit den nackten Füßen und lächelt verzückt, „Zeichnen ist mein allerliebster Zeitvertreib! Auf der nächsten Seite ist ein Bild von Carlo. Blätter mal um.“
Angelina betrachtet das Porträt des Jungen. Gina hat ihn beim Spielen im Sandkasten festgehalten. Jedes Detail stimmt. „Liebes Kind, du hast ein außerordentliches Talent“, flüstert Kommissarin Vialli tief berührt, „Du solltest auf eine Kunstschule gehen“.
„Papa sagt, meine Kritzeleien sind brotlose Kunst. Malen macht niemanden satt, es sei denn, ich streiche Wände gegen Geld.“
Die Kommissarin denkt sich ihren Teil zu dieser Aussage des Vaters und fragt: „Hast du Freundinnen?“
„Nein.“
„Niemanden?“
„Nö.“
„Mit wem spielst du?“
„Mit meinem Bruder Carlo und manchmal mit Mama, wenn er es erlaubt. Ist aber selten.“
„Hat Papa mit dir gespielt?“
„Er hat mir Autofahren beigebracht.“
„Ernsthaft oder ist das ein Witz von dir?“, fragt die Polizistin entgeistert.
„Kein Spaß! Es ist wahr.“
„Du veräppelst mich.“
„Nein! Ehrlich! Ich kann fahren!“
Angelina guckt, wie wenn in diesem Moment eine Kuh vom Mond auf die Erde gesprungen käme. „Erklär mir das bitte.“
Gina verschränkt die Arme. Ihr Gesicht verrät, was sie denkt. „Ätsch, da guckst du blöd aus der Wäsche, was?“ Weil Angelina ihr Gummibärchen schenkt, erzählt sie. „Erst saß ich auf seinem Schoß und lenkte. Als ich größer wurde und an die Pedale kam, fuhr ich selber. Papa sagt, ich bin ein Naturtalent.“
*
Drei Tage nach diesem Gespräch kommt die Kommissarin zum zweiten Mal ins Krankenhaus. Mama ist diesmal wach und Gina muss das Zimmer verlassen, weil die Polizistin ungestört mit ihr sprechen will. Zum Trost schenkt Angelina ihr eine Tüte Gummibärchen.
„Bongiorno, Frau Rossi. Mein Name ist Vialli. Ich bin die für Ihren Fall zuständige Kommissarin.“ Lächelnd streckt sie die Hand zur Begrüßung aus. Die Geste wird mit leichtem, von Krankheit gezeichneten Druck erwidert.
Birgit spricht im Flüsterton. „Sie sprechen Deutsch! Ich bin angenehm überrascht! Ich höre einen schwäbischen Akzent heraus.“
Angelina lacht sympathisch. „Ja, desch isch unüberhörbar. Ich bin in Böblingen aufgewachsen. Mein Vater hat im Mercedes-Werk gearbeitet. Nach dem Abitur habe ich in Rom studiert und blieb in Italien.“
„Ich freue mich, dass wir uns auf Deutsch unterhalten können. Mein italienisch ist nicht flüssig.“
Die Kommissarin rückt ihren Stuhl näher ans Krankenbett, um sie besser zu verstehen. „Wie fühlen Sie sich?“
„Mit Schmerzmitteln ist es erträglich.“
„Sind Sie in der Lage, Fragen zu den Ereignissen vom 12. Juli zu beantworten?“
„Mal sehen, wie lange ich durchhalte.“
„Wir können jederzeit aufhören, wenn es zu anstrengend wird. Einfach Bescheid sagen.“
„Das werde ich.“
„Erzählen Sie, was passiert ist.“
„Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass Alberto meinen Kopf auf die Steintreppe geschlagen hat. Ab da ist alles schwarz.“
„Daher rührt die Verletzung am Hinterkopf und ihre Gehirnerschütterung.“
„Bevor ich ohnmächtig wurde, hörte ich Gina rufen“.
„Das stimmt. Ihre Tochter hat es mir erzählt.“
„Das arme Kind hat mitangesehen, wie er mich geschlagen hat“, schluchzt sie stockend. Sie wischt mit der Hand Tränen weg. „Gina hat ihren Vater mit der Heugabel erstochen. Die Kleine erzählt ohne Gefühlsregung davon. Ich mache mir fürchterliche Sorgen. Sie verhält sich, als sei nichts geschehen. Das ist doch unnormal!“ Frau Rossi weint.
Die Kommissarin reicht ihr ein Taschentuch. „Lassen Sie sich Zeit. Ich verstehe Ihren Schmerz. Wenn Sie sich gefangen haben, reden wir weiter. Oder soll ich morgen wiederkommen?“
„Bitte bleiben Sie. Es ist gleich vorbei.“
Nach einer Minute ist sie wieder bei sich.
„Um auf das Gesagte zurückzukommen, Frau Rossi. Mir fiel auf, dass Ihre Tochter erstaunlich ausgeglichen ist. Entspricht es Ginas Naturell?“
„Es ist Ihnen aufgefallen, Signorina Vialli? Sehen Sie? Genau das macht mir Sorgen. Wie verkraftet Gina es, ihren Vater getötet zu haben?“
„Ich muss zugeben, sie spricht über seinen Tod, als sei nichts Dramatisches geschehen.“
„Ihre Teilnahmslosigkeit, verstehe ich nicht. Ich frage mich, ob sie alle Gewalt, die sie zuhause erlebte, gefühlskalt gemacht hat.“
„Andererseits verdanken Sie dem Handeln Ihrer Tochter, dass Sie überlebt haben“.
„Dessen bin ich mir bewusst“.
„Frau Rossi, aus dem, was Gina erzählt, gab es in Ihrer Ehe seit geraumer Zeit Probleme. Entspricht das der Wahrheit?“
„Leider ja“, seufzt sie, „Anfangs war es romantisch. Im Laufe der Jahre wurde es zur Hölle auf Erden. Die Kinder haben das natürlich mitbekommen.“
„Wie haben Sie Ihren Ehemann kennengelernt?“
„Ganz altmodisch. Durch eine Kontaktanzeige in einer Zeitschrift, als ich 16 war. Am Anfang war es eine Brieffreundschaft. Daraus wurde mehr. Wir tauschten Fotos. Er sah gut aus. Schwarze Haare. Dunkle Augen. Muskulös. Braungebrannt. Mein Traummann. Sein Äußeres blendete mich. Ich habe Alberto Hals über Kopf geheiratet. Mit 19! Ich dumme Kuh dachte, ich wüsste alles.“
„In diesem Alter trifft man oft falsche Entscheidungen. Das war bei mir nicht anders. Ich wünschte, ich könnte manche neu treffen.“
„Heute weiß ich es auch besser.“
„Sie haben gesagt, dass Ihre Ehe zur Hölle wurde. Was war der Grund dafür?“
„Albertos Eifersucht. Er war voller Misstrauen.“
„Können Sie das genauer beschreiben?“
„Es fing ein Jahr nach unserer Hochzeit an. Knall auf Fall ließ Alberto mich nicht mehr zum Einkaufen ins Dorf fahren. Er übernahm das, und während er weg war, sperrte er mich in ein fensterloses Zimmer. Er stellte einen Eimer hinein. Damit ich, Sie wissen schon“.
„Haben Sie sich gegen diese Behandlung gewehrt?“
„Ich habe versucht, vernünftig mit ihm zu reden und gefragt, warum sperrst du mich ein? Was glaubst du, wer zu mir kommt, wenn du nicht zuhause bist? Denkst du, ich verstecke einen Liebhaber im Weinberg? Das reichte. Er nahm mein absurdes Beispiel todernst und drehte durch. Alberto sah überall Gespenster!“
„Er hat Sie geschlagen?“
„Ja.“
„Wie haben Sie reagiert?“
„Geschockt. Zuerst hielt ich es für einen Ausrutscher.“
„Es war keiner?“
„Nein. Es passierte immer öfter.“
„Haben Sie überlegt, ihn zu verlassen?“
„Ja, aber ich wurde schwanger und blieb. Er hat sich dann ein bisschen zum Guten verändert, wie die Kinder auf der Welt waren.“
„Inwiefern?“
„Er ließ mich ab und zu ins Dorf gehen.“
„Sonst hielten Sie sich im Haus auf?“
„So ist es. Die Besorgungen waren meine Höhepunkte. Da kam ich unter Menschen.“
Angelina Vialli fragt sich, ob Frau Rossi merkt, wie freudlos es klingt, was sie aussagt. „Was war der konkrete Anlass für den Wutausbruch Ihres Ehemanns am 12. Juli?“
„Der Postbote“.
„Welche Rolle spielt er dabei?“
„Ich hatte ein Planschbecken für die Kinder bestellt und dachte, er würde es bringen. Ich wartete vor dem Haus, wie ich hörte, das sein Auto den Berg hochkam. Wir unterhielten uns kurz. Er gab mir die Post und fuhr wieder. Alberto hatte beobachtet, wie ich mit ihm sprach und machte eine Szene. Er unterstellte mir ein Verhältnis mit dem Postboten. Ich fragte, wie das funktionieren solle, wo ich rund um die Uhr von ihm bewacht werde. Er behauptete, dass ich ihm Schlafpulver ins Essen streue, um ungestört herummachen zu können. Ich lachte darüber. Mehr aus Verzweiflung, als aus Freude. Alberto fühlte sich verspottet und den Rest kennen Sie.“
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Zwei Wochen nach dem Gespräch mit Kommissarin Angelina Vialli verstirbt Birgit Rossi an einer Hirnblutung. Sie war 29 Jahre alt. Die Todesursache war eine Spätfolge der Misshandlungen durch ihren Ehemann Alberto Rossi.
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Peggy.
„Wann war ich zuletzt im Urlaub?“, grübelt Simone Sulman, „Es liegt zu lange zurück, sonst wüsste ich es.“ Sie redet vor sich hin, während sie die Koffer für die Familie packt. Die Vorfreude auf den bevorstehenden Urlaub beschwingt sie und die Ferienanlage kommt ihr in den Sinn. Abdullah zeigte ihr Bilder davon im Prospekt. Dort hat sie Zeit für sich. Die Kinder sind gut aufgehoben. Es gibt Betreuer, die mit ihnen malen, basteln und spielen. „Ich werde jede freie Minute genießen!“
Abdullahs Überraschung war gelungen, wo er eines Abends nach Hause kam und erzählte, dass er einen Familienurlaub in Algerien gebucht hatte. Der Preis für die Reise ließ sie zusammenzucken. „Können wir uns das leisten?“ Ihr Ehemann lachte frohgelaunt, küsste und umarmte sie. „Mach dir keinen Kopf ums Geld.“
Sie vertraut ihm. Er kümmert sich um die Finanzen, sie um Haushalt und Kinder. Sie leben Sorgenfrei.
Abdullah ist gläubiger Muslim. Simone ist Protestantin. Darüber gibt es keine Konflikte. Sie besucht selten den Gottesdienst. Er geht regelmäßig in die Moschee. Wenn er zurückkommt, ist er ausgeglichener.
Abdullah arbeitet als Arzt im städtischen Krankenhaus. Er plant, sich mit einer Praxis für Allgemeinmedizin als Hausarzt niederzulassen.
„Bin neugierig, was die Zukunft für uns bereithält“, sagte er zu ihr, als er diesen Entschluss mitteilte und voller Vertrauen fügte er hinzu: „Allah wird es richten“.
Das Ehepaar hat besprochen, dass sie wieder als Grundschullehrerin arbeiten geht, wenn die Kleinen aus dem Gröbsten raus sind.
Simone lernte Abdullah an der Universität kennen. In der Mensa fällt ihr der gutaussehende Mann mit den schwarzen Locken sofort auf. Nach anfänglichen verstohlenen Blicken kommt es zum ersten Gespräch. Abdullah ist nicht schüchtern. Er spricht sie an, wie er merkt, dass sie ihn beobachtet. Sie verabreden sich zum Kaffeetrinken.
Beim zweiten Treffen gehen sie ins Kino und am Wochenende zu einem Fußballspiel ins Stadion. Sie besuchen ein Rockkonzert, gehen Tanzen und ins Museum. Eins führt zum anderen. Sie verlieben sich. Heiraten. Zwei Kinder kommen zur Welt. Tochter Peggy ist 8 Jahre alt. Sohn Omid ist 6.
Simones Ehemann Abdullah ist Araber mit algerischer Staatsbürgerschaft und stammt aus einem Nomadenclan. Er bezeichnet sich als Tuareg. Leidenschaftlich schwärmt er vom Nomadenleben in der Sahara. Er preist die Freiheit und die endlose Weite, rühmt die Schönheit der Wüste mit ihren Farben. Er spricht von Entbehrungen und Gemeinschaftssinn. Abdullah liebt das Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Leute und singt ein Loblied darüber, dass die Familie über allem steht. Der Clan ermöglichte ihm das Medizinstudium im Ausland. Sie haben zusammengelegt. Monatlich überweist er ihnen einen geringen Betrag. Jedes Mal ist er danach traurig. „Es reicht nicht. Ich kann nie zurückzahlen, was ich meinen Leuten schulde!“
Simone hat Bücher über das Nomadenvolk gelesen. Sie lernte, dass Tuaregs kein homogenes Volk sind. Vielmehr handelt es sich um Sippen und Sippenverbände. Sie leben von der Viehzucht (Ziegen, Schafe, Kamele), vom Handel und in ausgewählten Gebieten vom Ackerbau. Man nennt sie Nomaden, da die meisten von ihnen nicht sesshaft sind. Aufgrund dieser Lebensweise gründeten die Tuareg nie einen eigenen Staat. Die einzelnen Clans betrachten sich zwar als verwandt, doch nicht als eine Gemeinschaft.
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Die Urlaubstage in Algerien sind wunderschön, obwohl es heiß ist. Zum Glück hat das Appartement der Ferienanlage eine Klimaanlage.