Mama Fish - Rio Youers - E-Book

Mama Fish E-Book

Rio Youers

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Beschreibung

Harlequin High, 1986. Kelvin Fish war der Sonderling – das seltsame Kind, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Außer Patrick Beauchamp, der entschlossen war, sich mit ihm anzufreunden. Zwanzig Jahre später kehrt Patrick nach Harlequin zurück. Die Stadt hat sich verändert, aber ein dunkles Geheimnis lebt noch immer in ihrem Herzen. Es ist hier, in Harlequin. Sie ist hier. Patrick wird Mama Fish nie vergessen. Mama Fish ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Wege, die wir wählen ... über Veränderungen in der Gesellschaft und in uns selbst. Sie wird durch die Augen von Patrick Beauchamp erzählt, einem liebevollen Familienvater, der im Herzen von viel Dunkelheit geplagt wird ... ein Mann, der buchstäblich zwischen dem Geist und der Maschine gefangen ist. Aaron Polson, Amazon.com: »Hier ist der Grund, warum du Mama Fish von Rio Youers lesen solltest: Du wirst angepisst sein, wenn es vorbei ist.« Paul G. Bens, Jr., Amazon.com: »Verdammt, Rio Youers kann tatsächlich schreiben. Mama Fish ist eine Novelle, die sich nur schwer kategorisieren lässt. Teilweise Coming-of-Age, teilweise befreundete Außenseiter, teilweise urbaner Horror und teilweise spekulativ, ist diese Novelle ganz sicher ein Pageturner, der mich die ganze Zeit über gefesselt hat. Wenn Sie auf der Suche nach einer guten, gruseligen und dennoch emotional wahrheitsgetreuen Kurzlektüre sind, dann ist Mama Fish vielleicht genau das Richtige für Sie.«

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Seitenzahl: 123

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MAMA FISH

von

Rio Youers

Illustriert vonDaniele Serra

Aus dem Amerikanischen vonMarcel Aubron-Bülles

GrimmaBuchheim Verlag2022

Deutsche Erstausgabe

ISBN: 978-3-946330-26-4

ISBN E-Book: 978-3-946330-27-1

ISBN Schuberausgabe: 978-3-946330-32-5

© 2022 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma

Alle Rechte vorbehalten

Cover & Illustrationen: Daniele Serra

Lektorat: Claudia Pietschmann

Satz im Verlag

www.buchheim-verlag.de

www.cemeterydancegermany.com

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

MAMA FISH

Copyright © 2014 by Rio Youerspublished in agreement with the author,c/o BAROR INTERNATIONAL, INC.,Armonk, New York, U.S.A.

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

AUTOR

ILLUSTRATOR

MAMA FISH

KAPITEL 1

Es gibt sie in jeder Schule. Wahrscheinlich in jeder Klasse: die, die völlig fehl am Platz sind, nicht dazugehören. Er (man setze männlich voraus, aber es könnte genauso gut ein Mädchen sein) sitzt immer hinten in der Klasse und redet nur, wenn er angesprochen wird. Mit ihm macht man keine Witze, mit ihm tauscht man keine Baseball-Sammelkarten, er hat kein Lieblingsteam … Es scheint, dass er überhaupt keine Interessen hat. Er hat jeden Tag dieselben ausgeleierten Klamotten an, sitzt beim Essen allein und trägt immer einen Brief von zu Hause bei sich, der ihn vom Sport befreit. Man lästert nur hinter seinem Rücken über ihn, denn niemand will auf seiner schwarzen Liste stehen. Die meisten Leute haben Angst vor ihm. Auch die Lehrer. Das würden sie nie zugeben, aber es stimmt. Sie haben Angst vor seinem andächtigen, verärgerten Schweigen. Er ist der komische Vogel, der Sonderling … Der Typ, von dem die meisten Leute erwarten würden, dass er mit einer halbautomatischen Waffe in die Klasse kommt und Amok läuft.

1986. Die Schule hieß Harlequin High. Und Kelvin Fish war völlig fehl am Platz. Er war groß und grobknochig, und alle hätten darauf geschworen, dass die riesigen Eiterbeulen auf seinem Nacken in der Dunkelheit leuchteten. Ich war mir sicher, dass sich jeder seiner Zähne in Größe, Form und Farbe von den anderen unterschied. Er hatte ein hängendes Augenlid. Vergiss es … Sein linkes Augenlid hing nicht nur, das gottverdammte Ding lag im Koma. Jeden Tag lungerte es zwischen offen und geschlossen herum, und bis zum frühen Nachmittag hatte sich im Augenwinkel ein Klumpen orangefarbener Pampe gebildet (einmal sah ich zu, wie er sich den Klumpen aus dem Auge fischte und lässig in den Mund schnippte). Kelvin Fish. Nicht Frischfisch. Nicht Fischmeister. Er hatte nie einen Spitznamen. Wenn die Leute von Kelvin Fish sprachen, dann immer mit dem vollen Namen: Was glaubst du, wann hat Kelvin Fish zum letzten Mal geduscht? Hast du das braune Zeug gesehen, das in Kelvin Fishs Ohren wächst? Die Lehrer waren nicht anders: Ich warte immer noch auf deine Hausaufgaben, Kelvin Fish. Er schlurfte mit hochgezogenen Schultern durch den Tag, immer still. Er hatte so dichtes Haar, dass man meinte, es würde nie wachsen. Es saß auf seinem Schädel, stets dieselbe Länge, immer derselbe Schnitt, praktisch die gesamte Zeit, die ich ihn kannte, wie Elton Johns Frisur.

Hast du die Farbe von Kelvin Fishs Fingernägeln gesehen?

Man könnte an meiner Entscheidung, mich ihm zu nähern, Zweifel haben. Man könnte glauben, ich tat es aus Mitleid oder Neugier. Ich bin mir sicher, dass beides stimmte, aber da war noch mehr … Etwas, von dem ich Angst hatte, es einzugestehen. Auch mir selbst. Ich wusste, dass in diesem Herman-Munster-Körper ein ganz normaler Junge stecken musste. Ein Junge mit einem Herzschlag. Ein Junge mit einer Seele. Er musste ein Zuhause haben, eine Familie, eine Mutter, die ihn liebte. Ich meine, sie hatte ihn wohl kaum gezüchtet, oder? Er war auch nicht unter einem feuchten Stein hervorgekrochen oder wie Superman in einem Meteor vom Himmel gefallen.

Kelvin Fish hat in Sozialkunde gefurzt. Und der Gestank! Uähhhh…

Ich saß in Mathe hinter Kelvin Fish und sah, wie sich etwas unter seinem T-Shirt bewegte. Etwas auf seinem Rücken.

Ich habe meine Entscheidung nie infrage gestellt. Nicht eine Sekunde lang. Ich wollte nur eins: ihm näher sein.

Ich wollte sein Freund sein.

KAPITEL 2

Bevor ich Kelvin Fish das erste Mal ansprach, hatte ich mir ab und zu Gedanken gemacht, wie es im Hause Fish so zuging. Damit kriegte man gut die Zeit rum, vor allem in diesen endlosen Stunden, in denen sich der Minutenzeiger nur schmerzend langsam voranzubewegen schien.

In meinem Kopf liefen eine Menge verschiedener Szenarien ab, mit einer Schwäche für das Ausgefallene. Ich stellte mir Kelvin Fishs Haus als freudloses, baufälliges Ding vor: abblätterndes Holz, wuchernder Schimmel, die Fensterläden geschlossen und blind für die Welt. Im Garten wucherte krebsartig das Unkraut und erstickte alles, was irgendwann mal tatsächlich grün gewesen war. Es war ein Zerrbild. Eine Geistergeschichte. Kinder hatten Angst, sich ihm zu nähern. In den Bäumen sangen keine Vögel und wohnten auch keine Eich- oder Streifenhörnchen. Wenn Autos an ihm vorbeifuhren, passierten oft ungewöhnliche Dinge: Der Radiosender wechselte einfach, die Heizung schaltete sich von selbst ein, die Scheibenwischer erwachten unaufgefordert zum Leben. Selbst Flugzeuge, die darüber hinwegflogen, erlebten ab und zu Pannen.

Im Fundament befanden sich Leichen – Hunderte –, und im Keller war ein Kerker, in dem Gefangene an Wände gekettet wurden (man hatte ihnen zuvor die Stimmbänder durchgeschnitten, sodass niemand ihre Schreie hören konnte). An jedem Vollmond versammelten sich dort maskierte Gäste. Sie zogen sich aus, beteten in der Nacht und tranken Blut aus einem mit Edelsteinen besetzten Kelch. Meine Fantasie hatte Stunden damit verbracht, sich Kelvin Fishs Brüder und Schwestern vorzustellen: eine mutierte Brut, hirn- und namenlos, auf dem Dachboden eingesperrt.

Papa Fish hatte rote Augen. Er hatte sich wie Charles Manson ein Hakenkreuz auf seine Stirn tätowiert und bestrafte Kelvin Fish und dessen merkwürdige Geschwister regelmäßig mit einem Schlagstock und einer kaputten Fahrradkette.

Aber Mama Fish spielte die Hauptrolle in meinen Tagträumen. Manchmal sah ich sie als kleine Frau vor mir, mit einem Knick in der Wirbelsäule, der sie zwang, seitwärts zu gehen, aber am häufigsten war sie fett wie ein Bär. Sie musste sich auf zwei Krücken stützen, die so krumm waren wie die Beine eines alten Mannes. Ihre Haare waren so rot wie die Augen ihres Ehemanns und hingen ihr in dreckigen Strähnen ins Gesicht. Sie hatte praktisch immer etwas im Mund – entweder kaute sie Tabak oder Twinkies. Ihre Spucke hatte die Farbe alten Öls, und wenn sie sich nicht rasierte, hätte sie in weniger als einer Woche den Bart eines Eishockeyspielers.

Ich machte mir Mathe interessanter, indem ich mir Mutter und Sohn beim Geschlechtsverkehr vorstellte. Nichts zu Anschauliches (meine Fantasie kannte ein Mindestmaß an Anstand), aber doch anregend genug für meinen seltsamen Sinn für Humor.

Manchmal lag Mama auf ihrem Rücken, die fetten Beine im gewagten Spagat, ohne Unterwäsche, während Kelvin Fish ihr die Schwielen am Fußballen massierte (Gefällt dir, was du siehst, Babyfant?). Manchmal verlangte sie eine »Inspektion« ihres Jungen – er musste sich splitterfasernackt ausziehen und Pirouetten drehen, während sie sich Erdnussriegel reinstopfte. Manchmal blies sie ihm einen und versuchte dabei nicht zu weinen, obwohl sie jeden Aspekt ihres tragischen Lebens hasste.

Luftschlösser: wild dahingeworfene Bilder, die mir die Zeit vertrieben und mich vielleicht darauf vorbereiteten, was passieren sollte. Ich hätte wissen müssen, dass die Beziehung zwischen mir und Kelvin Fish viel interessanter werden würde. Ich nahm an, dass diese harmlosen Bilderfluten in meinem Kopf eine Art Schutzmechanismus waren und mir halfen, mit jeder Situation fertigzuwerden.

Aber ich lag falsch. Nichts – keine mentalen Bilder, keine Naturkatastrophe, nicht mal Filme ab 18 – hätte mich auf das vorbereiten können, was dann passierte.

Nichts hätte mich auf Mama Fish vorbereiten können.

KAPITEL 3

Ich hatte versucht, mit Kelvin Fish zu reden – mehrmals sogar –, aber ich wurde jedes Mal unterbrochen: Mal blaffte mich ein Lehrer an, ich würde die Stunde stören, mal schnippte mir eine der Sportskanonen ins Ohr und nannte mich Schwuchtel. Ich musste mit ihm unter vier Augen reden, weit weg von jeder Ablenkung. Ich hielt es für die beste Idee, mich vor der Sportstunde zu drücken, schrieb einen Brief von zu Hause, in dem ich behauptete, ich wäre zu krank für körperliche Betätigung, und setzte die schrecklich schlecht gefälschte Unterschrift meiner Mutter drunter. Den reichte ich Coach DeLisi, der ihn einfach nur überflog, ohne auf die Unstimmigkeiten zu achten. Davon war ich ausgegangen.

»Im Zwickel des Lebens bist du die lange braune Bremsspur, Beauchamp. Habe ich dir das je gesagt?«

Ich nickte. »Erst letzte Woche, Coach.«

»Stimmt.« Wenn er die Stirn runzelte, dann wirkten die Falten auf ihrem Weg zur Glatze wie die Treppenstufen einer Pyramide. Er knüllte den Brief zusammen und wies mich an, die Arme hochzunehmen, damit er ihn für drei Punkte zwischen ihnen hindurchschnippen konnte.

»Tja, dann räumst du wohl mit Kelvin Fish den Abstellraum auf. Biste bestimmt heiß drauf, hm?«

Ich spitzte die Lippen und kratzte mich unter den Achseln.

»Verpiss dich und nimm deinen Reizdarm mit.«

Der Abstellraum war schon bestens in Schuss, was zu erwarten war. Kelvin Fish hatte ihn in den letzten beiden Jahren dreimal die Woche aufgeräumt, mehr oder weniger. Einige der Sachen waren falsch eingeräumt, aber ein gesundes Paar Hände hätte das im Nu in Ordnung gebracht. Kelvin Fish brauchte die gesamten fünfzig Minuten. Ich setzte mich hin und schaute zu, wie er die Baseballschläger nach Gewicht und Bälle nach Sportart sortierte, Matten stapelte, Trikots faltete, Erdklumpen aus Visieren puhlte und den Boden fegte. Er hätte sich die ganze Zeit zu mir setzen und nichts tun können, Coach DeLisi hätte den Unterschied nicht bemerkt.

»Du machst einen großartigen Job, mein Freund«, sagte ich. Ich hatte einen Fanghandschuh angezogen, ließ einen Baseball vom Boden an die Wand klatschen und fing ihn immer wieder auf, wie Steve McQueen in Gesprengte Ketten.

Kelvin Fishs Antwort war ein Grunzen. Sein funktionierendes Auge drehte sich in meine Richtung, kehrte aber blitzschnell zum Besen zurück, bevor es Blickkontakt herstellte. Elf Jahre später würde ich an einem Halbmarathon teilnehmen und das Geld, das ich dadurch verdiente, dem ortsansässigen Heim für autistische Kinder spenden. Ich wurde zum Dank ins Heim zum Essen eingeladen und zu einem Fototermin mit der dortigen Zeitung. Ich überreichte den Scheck, schüttelte eine Menge Hände und redete mit den Kindern. Sie waren bezaubernd und oft aufgeweckt, aber keins von ihnen stellte Blickkontakt her. An diesem Tag dachte ich nicht nur ein mal an Kelvin Fish. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

Es ist nicht leicht, mit jemandem das Gespräch zu suchen, der kein Interesse daran hat, sich mit dir zu unterhalten.

Es mag sogar unmöglich sein, wenn man vor dieser Person ein wenig Angst hat. Ich ging in meinem Kopf eine Reihe an Themen durch, die Kelvin Fish vielleicht gefallen könnten. Allerdings wusste ich nichts über ihn. Ich tappte absolut im Dunkeln.

»Hast du gesehen, wie die Patriots die Dolphins gestern abgeraucht haben? Die haben es dieses Jahr wieder richtig drauf.«

Kelvin Fish drehte mir den Rücken zu und konzentrierte sich auf seinen Besen.

»Hast du Slippery When Wet von Bon Jovi gehört? Ist ziemlich gut. Wenn du mir eine leere Kassette gibst, dann nehme ich’s dir auf.«

Nichts. Nicht mal ein Achselzucken.

»Was machst du denn so in deiner Freizeit?«

Sein gesundes Auge zuckte erneut in meine Richtung, aber er blieb weiter stumm, als ob es sein Geheimnis wäre.

Ich fing den Ball auf und hielt ihn fest, in der Hoffnung, der unterbrochene Rhythmus würde eine Reaktion hervorrufen. Der Besen verharrte tatsächlich einen Augenblick lang, wurde dann aber weiter vor und zurück bewegt und wirbelte kleine Staubwolken auf. Plötzlich hatte ich das Verlangen, den Ball nach ihm zu werfen – einen richtigen Fastball, mitten auf den Hinterkopf. Zum Reden würde ich ihn damit vielleicht nicht bringen, aber es würde definitiv seine Aufmerksamkeit erregen. Ich überlegte auch, so zu tun, als ob ich werfen wollte, nur um zu sehen, ob ich seinen begrenzten Verstand durchdringen und ihn zusammenzucken lassen konnte. Am Ende ließ ich den Baseball einfach über den Boden rollen. Er prallte gegen die Borsten, wechselte die Richtung und rollte langsam in die Ecke.

Kelvin Fish hörte auf zu fegen. Sein unbeholfener Körper blieb reglos stehen, abgesehen von dem einen gesunden Auge, das der Bewegung des Balls folgte. Er erinnerte mich an ein Baby, das sich von etwas Kleinem ablenken ließ – einem leuchtenden Gegenstand vielleicht. Ich beobachtete ihn aufmerksam, wie er den Ball anstarrte, und fragte mich, ob es eine Reaktion geben würde. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde die Kontrolle verlieren, sich das Hemd zerreißen wie Dr. Bruce Banner und mich gegen Boden und Wand klatschen, wie ich es eben mit dem Baseball gemacht hatte. Eine Sekunde später war ich mir sicher, er würde in Tränen ausbrechen. Wenn er angefangen hätte zu weinen, dann hätte ich das auch, das wusste ich. Dieser Moment war so bedrückend, ich hätte mich nicht daran hindern können. Wir hätten ohne guten Grund gemeinsam geweint, uns vielleicht sogar ein wenig umarmt, um Trost zu finden … und was für ein Leckerbissen wäre das für die Sportskanonen gewesen, wären sie in diesem Augenblick vom Spielfeld zurückgekehrt. Ehrlich, ich hätte es bevorzugt, wenn er mir den Hulk gemacht hätte.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich damals dachte: Dies ist ein Wendepunkt. Was immer er auch macht, was immer auch passiert, dieser Augenblick wird uns einander näherbringen. Alles wird ab sofort anders, wohl oder übel.

Diese ungewöhnliche Erkenntnis würde sich als zutreffend erweisen. Wir hatten noch einige Wochen bis zu dem Vorfall, der uns in alle Ewigkeit miteinander verbinden sollte, aber der erste Kontakt entstand damals, im Abstellraum der Sporthalle. Wir waren verbunden. Das Band zwischen uns war vielleicht nur hauchdünn, aber es existierte. Wann immer wir auf dem Flur aneinander vorbeigingen, nickten wir uns zu und grüßten uns (allerdings lieferte Kelvin Fish fast immer nur ein unverständliches Grunzen). Manchmal schenkte er mir ein dünnes Lächeln – was sich sowohl als wunderschön wie auch geheimnisvoll erwies, als ob ein Sonnenstrahl über tiefes Wasser tanzte. Es gab sogar eine Gelegenheit während der Mathestunde – er musste bemerkt haben, dass ich Schwierigkeiten hatte –, als er mir seine Klassenarbeit so hinhielt, dass ich sie abschreiben konnte. Mir war nie klar gewesen, wie schlau er war, bis ich meine Arbeit zurückbekam und oben rechts auf der ersten Seite in Rot ein ›A‹ stand.

Bei der Erkenntnis lag ich richtig, nur bei der Reaktion falsch. Kelvin Fish rastete nicht aus und brach auch nicht tränenüberströmt zusammen. Er lehnte einfach den Besenstiel gegen die Wand, schlurfte in die Ecke, hob den Baseball auf und legte ihn dorthin, wo er hingehörte.