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Ein turbulenter Tag in Toni Meiers Praxis für Sexualtherapie: Statt ihre neuen Klienten zum Erstgespräch zu begrüßen, muss Toni die Praxis Hals über Kopf verlassen, als ihr demenzkranker Vater mal wieder das Viertel unsicher macht. Derweil wundert sich Tonis neuer Nachbar Josch, der eigentlich nur ein Paket bei ihr abgeben will, über die offene Praxistür – und dann über diese schräge Klientin, die ihn partout für ihren neuen Therapeuten halten will und in Grund und Boden quatscht. Einige äußerst pikante Gespräche später gelingt Josch die Flucht, wobei er feststellt, dass ihm diese Therapeutenrolle durchaus gefällt. Wie auch seine neue Nachbarin, als er sie kurz darauf kennenlernt. Und da kommt ihm eine vermeintlich geniale Idee …
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tina Wolf
Roman
»Sexualtherapeutische Praxis Toni Meier, guten Tag?«, meldete sich Toni knapp und hielt die Luft an. Sie ahnte, dass nun nichts Gutes kommen würde, schließlich kannte sie die Telefonnummer der Polizeidienststelle Hamburg-Eppendorf, die soeben auf dem Display ihres Handys aufgeleuchtet war, inzwischen auswendig. Im Grunde hätte also ein einfaches »Ja?« gereicht.
Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder dessen, was sie vermutlich gleich hören und was ihr mal wieder einen Strich durch die Rechnung machen würde. Beziehungsweise durch ihren vollen Kalender. Heute hatte sie in erster Linie neue Klientinnen und Klienten, was bedeutete, dass sie besonders viel zu tun hatte. Erstanamnese, Therapieverlauf erklären und die jeweiligen Stunden natürlich auch noch nacharbeiten. Aber so wie sie ihren Vater kannte, würde sie wohl allen absagen müssen. Oder zumindest der ersten Klientin, die eigentlich schon längst hätte da sein müssen. Nun ja. Sollte Horst nur mal wieder etwas zu laut die Rolling Stones hören, wäre die Sache schnell geklärt. Sie würde kurz zu ihm rüberlaufen – Gott sei Dank wohnte er nur ein paar Straßen weiter – und den ollen Schallplattenspieler endgültig aus dem Fenster werfen. Ach nein, das würde den nächsten Ärger mit sich bringen. Und davon hatte sie aktuell wirklich genug. Sie würde ihn mitnehmen und bei sich auf den Dachboden stellen – den Schallplattenspieler. Punkt. Sollte er, also Horst, allerdings die Band aus der Fußgängerzone mit nach Hause genommen haben, würde es etwas länger dauern. Beim letzten Mal, als er das getan hatte, war es für Toni teuer geworden. Sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als einfach allen fünfzehn Bandmitgliedern einen Geldschein in die Hand zu drücken. Mit der Bitte, die nächste Einladung ihres Vaters direkt in der Fußgängerzone abzulehnen. Danach war die bunte Truppe samt Panflöten und selbst gebrannten CDs freiwillig gegangen.
»Guten Morgen, Frau Meier«, hörte sie die ruhige, tiefe Stimme des bürgernahen Polizisten, den sie aktuell öfter sprach als ihre beste Freundin. Mit Praxis und dementem Vater war alles andere kaum vereinbar. Sie musste sich um einen Heimplatz kümmern, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Die Frage stellte sich gar nicht. Aber so gut sie anderen auch helfen konnte, so wenig war sie bei sich selbst dazu in der Lage. Selbstreflexion gehörte nicht unbedingt zu ihren Kernkompetenzen.
»Hallo, Herr Burmeister«, begrüßte sie ihn, sackte in Erwartung der nächsten Hiobsbotschaft innerlich mindestens zehn Zentimeter zusammen und schob schnell eine Bitte hinterher. »Können Sie mir einen Gefallen tun?«
»Wenn Sie möchten, dass ich ihn mit auf die Wache nehme, dann leider nein. So gerne ich ihn auch mag.«
»Das würde ich gar nicht zu fragen wagen«, sagte sie und fügte ein unhörbares das wäre ja auch zu schön gewesen hinzu. »Von eins bis zehn. Wie schlimm ist es? Ich erwarte sekündlich eine Klientin.«
»Elf.«
»Okay, ich komme. Wo ist er?«, fragte sie entnervt und griff nach ihrer Tasche.
»Ihr Vater liegt hier nackt im Vorgarten und sonnt sich«, hörte sie Herrn Burmeister sagen. Ruckartig drehte sie sich zu dem großen Fenster der Altbauwohnung um, in der sich ihre Praxis befand. In diesem Satz war mindestens ein Fehler. Erstens: Draußen regnete es. Für einen Moment schloss sie die Augen, holte tief Luft, fasste sich an den Kopf, als würde das irgendetwas ändern, und atmete wieder aus. Was hatte er gesagt? Vorgarten? Der zweite Fehler!
»Er hat doch gar keinen Vorgarten!«, stellte sie entsetzt fest. Ihre Gedanken sprangen zu ihrer neuen Klientin, die etliche Wochen auf den heutigen Termin gewartet hatte, da Toni restlos ausgebucht war, seitdem ein großes Hochglanzmagazin sie in einem Porträt vorgestellt hatte. Seit diesem Tag war sie nicht mehr Toni Meier, sondern die Toni Meier.
Die neue Klientin, auf die sie wartete, war ein wandelndes Sprachrohr, das weder Punkt noch Komma kannte – das war Toni schon während ihres ersten Telefonats sofort klar geworden. Diese Klientin extrovertiert zu nennen, war eine maßlose Untertreibung. Und ausgerechnet dieser Frau, bei der man sich nach spätestens einer Minute fragte, wo um Himmels willen der Ausknopf war, sollte sie jetzt – kurz und knapp – sagen, dass die erste Stunde – so wie es gerade aussah – ausfiel, da ihr Vater leider nackt in einem Vorgarten lag. Bei schönstem Hamburger Schietwetter, mitten im Mai. Ein Traum.
»Stimmt«, hörte sie Burmeisters monotone Stimme. »Es ist der Vorgarten der Eisdiele.«
»Die neben der Grundschule?«, hakte Toni deutlich weniger monoton nach.
»Ja.«
»Ich komme!«, erklärte sie, legte auf und lief los.
Sie mochte ihren Vater. Nein, sie liebte ihn. Anders war das, was sie gerade tat, nicht zu erklären. Als Kind hatte sie ihn angehimmelt. Man konnte gar nicht anders. Er war groß, attraktiv, lässig und er konnte singen. Er war Musiker, Künstler, Sänger, Maler und nebenberuflich Immobilienmakler. Horst war alles Mögliche. Für manch eine Frau ein Abenteuer, ein Idol, ein Symbol der Freiheit, der Musik am Lagerfeuer und Hippie-Festivals.
Für sie war er ihr Vater. Und noch wusste er das auch. Aber wie lange noch? Die Diagnose des Arztes aus dem Universitätsklinikum war eine Erleichterung, weil sie jetzt die Gewissheit hatte, dass sie es sich nicht eingebildet hatte, dass etwas nicht stimmte. Horst wollte von alldem nichts wissen. Es ging ihm gut, und ihn störte rein gar nichts. Auch nicht die Nachbarn, die regelmäßig klingelten, um ihm zu sagen, dass dies und das so nicht ginge. Wobei die Dies und das mehr wurden, von Monat zu Monat, von Tag zu Tag. Bis die Polizei das erste Mal bei ihr angerufen hatte. Bis die Post-it-Zettel, die Toni ihm überall hinklebte, um ihn an alles zu erinnern, was wichtig war, die Wohnung in ein freundliches Hellgelb tauchten, das außerstande war, irgendetwas aufzuhalten. Das ihr nicht den Vater zurückholen konnte, den sie angehimmelt hatte. Es spiegelte nur ihre Versuche, auf der Abfahrt zu wenden.
Toni hetzte über das alte Parkett in den großen, breiten Flur, griff nach ihrem gelben Regenmantel, ohne den man zu dieser Jahreszeit in Hamburg aufgeschmissen war, riss die Tür auf und zog die hohe Holztür, die so wunderschön war wie alles andere in dem Altbau aus den zwanziger Jahren, hinter sich zu. Sie eilte die Treppe aus dem zweiten Stock runter, wobei sie sich wirklich sehr darauf konzentrierte, die Stufen zu treffen und nicht, wie kürzlich, danebenzutreten und den Rest der Treppe auf dem Po runterzurutschen, was dazu geführt hatte, dass sie ihre Therapiestunden in den Tagen danach im Stehen verbringen durfte, da an sitzen nicht mehr zu denken war. Ihr Hintern erinnerte nach dieser Rutschpartie an die Deckelinnenseite ihres alten Tuschkastens. Fifty Shades of Lilac.
Josch konnte sich in letzter Sekunde noch mit der linken Hand an dem alten Holzlauf des gusseisernen Geländers festhalten und war so damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten und nicht samt Päckchen auf den Stufen zu landen, dass er die Person gar nicht richtig wahrnahm, die da gerade an ihm vorbeiraste. Er hörte ein genuscheltes »’tschuldigung!« und sah aus dem Augenwinkel etwas Gelbes, schon war werauchimmer aus dem Hausflur verschwunden und auf die Straße rausgelaufen.
»Himmel!«, erschrak er sich und ging schließlich weiter, die Treppe hoch, in der Hoffnung, die Praxis Toni Meier zu finden, um das Päckchen abzugeben. Müller, Meyer, Schmidt gab es wie Sand am Meer, aber mit »i« und das zweimal in einem Haus, das hatte er in der Tat und trotz etlicher Umzüge noch nicht gehabt. Erst vor drei Wochen war er zusammen mit seinem 10-jährigen Fast-Pubertier in die Wohnung im Erdgeschoss eingezogen und hatte schon am ersten Tag, als er sich die Namen auf dem Messingklingelschild draußen vor der Tür angesehen hatte, festgestellt, dass sie nicht die einzigen Meiers waren. Mit dem Unterschied wohlgemerkt, dass sie hier wohnten und das andere Meier eine Praxis war. Nicht irgendeine, sondern die »Praxis für Sexualtherapie, Toni Meier«. So stand es auch auf dem goldenen Schild mit der schwarzen Gravur, vor dem er jetzt stand. Das konnte ja was werden, dachte er schmunzelnd. Gott sei Dank war die Praxis im zweiten Stock und nicht im Erdgeschoss und da am besten noch mit separatem Eingang draußen, wo man ihn von der Straße aus hätte sehen können. Seinem Sexualleben ging es nämlich gut. Zumindest dann, wenn er mal eines hatte. Okay, das war in letzter Zeit eher selten, die wilden Zeiten waren halt vorbei mit Anfang vierzig, und alleinerziehender Vater zu sein, machte die Sache auch nicht leichter. Aber wenn, dann war es – wie er fand – immer alles … bestens, wenn man das so sagen konnte. Während er unweigerlich doch mal darüber nachzudenken begann, ob mit seinem Sexleben wirklich alles okay war, klingelte er noch einmal und betrachtete neugierig das Päckchen. Was da wohl drin war? Sextoys mit Anleitung? Ratgeber? Erneut musste Josch schmunzeln und bemerkte, dass er heute unerwartet albern war und der Teil seines Gehirns, der für die Phantasie verantwortlich war, gerade einen ordentlichen Schub bekam. Es ratterte. An Phantasie hatte es ihm noch nie gefehlt. Sonst wäre er nicht jahrelang erfolgreich in der Werbung tätig gewesen und jetzt Buchautor. Okay, als Autor war er nicht ganz so erfolgreich wie als Texter, aber das würde schon noch kommen. Eine Frage der Zeit, versuchte er sich selbst immer wieder zu beruhigen. Aber der Job in der Agentur war mit Kind nicht vereinbar. Während eine Assoziationskette der nächsten die Hand reichte, fiel ihm auf, dass die Tür zur Praxis überhaupt nicht richtig geschlossen war. Sie stand kaum sichtbar, aber doch eindeutig offen. Josch überlegte einen Moment, dann schob er sie mit dem Ellenbogen vorsichtig etwas weiter auf.
»Hallo?«, fragte er in den leeren Flur. Niemand antwortete. »Haaalloo?«, versuchte er es erneut, aber alles blieb still.
Einbrecher, schoss es ihm durch den Kopf. Josch betrachtete das alte Schloss. Keine Einbruchsspuren. Er überlegte, ob die Person, die ihn gerade beinahe umgerannt hätte, vielleicht die Einbrecherin war. Er hatte zwar niemanden wirklich gesehen, aber die Stimme war eindeutig die einer Frau gewesen. Oder Mord? Lag in der Wohnung womöglich eine leblose Person? Josch schüttelte den Kopf, drückte die Tür weiter auf und ging in den Flur. Er musste dringend aufhören, jeden Abend irgendwelche düsteren skandinavischen Thriller zu lesen. Auf dem Klingelschild stand Toni Meier, auf dem Päckchen stand Toni Meier. Fertig. Er würde es jetzt einfach hier irgendwo abstellen. Wo auch immer diese Frau war, sie war nicht hier. Oder sie war schwerhörig. Josch trat in den Flur und sah sich um. Die Praxis war anders als seine Wohnung geschnitten und hatte außerdem schönes altes Fischgrätparkett. Bei ihm waren es breite Dielen. Auch nett, aber der Boden hier sah wirklich klasse aus. Er blickte nach rechts in eine kleine Küche, in der sich Becher und Gläser auf der hölzernen Arbeitsplatte türmten, dann den Flur entlang, in dem sich links ein paar Haken an der Wand befanden, die offenbar eine Garderobe sein sollten, und rechts an der Wand drei Stühle und ein Beistelltisch mit ein paar wenigen Zeitschriften. Vermutlich so etwas wie Psychologie heute. Oder etwa doch der Playboy? Was las man in Vorbereitung auf einen Termin bei einer Sextherapeutin? Josch hatte keinen blassen Schimmer. Ein Warteflur, schlussfolgerte er und sah nach links, wo sich ein etwas größerer Raum befand, dessen Fenster auf den Innenhof rausgingen. Es gab sogar einen Balkon, stellte er fest. Den hatte er im Erdgeschoss natürlich nicht, dafür aber eine kleine Terrasse und einen Garten, der in etwa so groß war wie ein herkömmliches Doppelbett – immerhin. In dem Raum standen ein kleiner runder Tisch und drei schwarze Ledersessel, die ihn an seine Zeit in der Agentur erinnerten. An der Wand ganz links war eine Liege mit gläsernem Beistelltisch zu sehen und auf dem Tisch eine schmale Vase mit einer einzelnen, langstieligen Blume, von der er wusste, dass seine Oma sie geliebt hatte und er sie nicht riechen konnte – die Blume. Daneben drängten sich auf engem Raum eine Stehlampe, ein Sideboard, beides Designklassiker, ein paar Haufen mit Zeitschriften und alles mögliche andere Zeug. Aufgeräumt war anders, wunderte er sich und sah nach rechts. Eine alte, breite und geöffnete Flügeltür gab den Blick frei in den angrenzenden nächsten Raum, dessen hintere Wand, auf die er jetzt sah, von einem riesigen Bücherregal verdeckt wurde, das die komplette Fläche bis hoch unter der Decke ausfüllte. Davor befand sich ein großer, moderner Schreibtisch, auf dem ein unglaubliches Chaos herrschte. Josch ging langsam in den Raum hinein. Da sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite jeweils ein Stuhl wartete und das, was auf dem Schreibtisch lag und sich teilweise stapelte, keiner Richtung zuzuordnen war, war nicht klar, wer hier wo saß. Oder war das Ganze nur eine Ablage und gar kein Schreibtisch? Saß hier überhaupt jemals jemand? Apropos. Josch sah sich noch einmal um, entdeckte aber weder eine Leiche noch andere, lebende, Personen, ging zielstrebig auf den Schreibtisch zu, stellte das Päckchen darauf ab und betrachtete die Bücherwand. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf sah er sich die Titel auf den Buchrücken an. Der Hund, der um die Ecke pupsen kann, Apnoetauchen, Japanische Tattoos, Das Verschwinden der … Josch wurde von einem schrillen »Daaa bin ich!« aus seinen Gedanken gerissen, die sich um die Frage drehten, warum hier Bücher über pupsende Hunde und Krimis standen und nicht das, was er erwartet hatte. Fachliteratur über alle möglichen Themen rund um Sex.
»Himmel, haben Sie mich erschreckt!«, schoss es aus ihm raus, nachdem er sich umgedreht und die Frau, die durch den Raum auf ihn zuhetzte, erblickt hatte.
»Ich habe nur kurz das Päckchen …«, wollte er sich gerade entschuldigen und hob unschuldig die Hände, als die leicht rundliche Frau mit dem dunkelbraunen Lockenkopf, die er auf Mitte dreißig schätzte, ihn unterbrach.
»Diese Parkplatzsuche in Hamburg macht mich wahnsinnig! Es tut mir leid! Nächstes Mal plane ich eine Übernachtung mit ein, damit ich pünktlich bin. Verrückt! Da wartet man so lange auf einen Termin bei Ihnen … Sie sind ja wirklich heiß begehrt, wenn ich das so sagen darf … und kommt zu spät! Unfassbar!« Die Frau wickelte umständlich ein rotes Tuch von ihrem Hals, zog die Jacke aus, warf beides auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand, hinter dem Josch sich befand, atmete gestresst tief ein und wieder aus, bevor er überhaupt dazu kommen konnte zu erklären, dass er nicht die Person war, für die er offensichtlich gerade gehalten wurde. Wobei das ja auf der Hand lag, wenn man lesen konnte, wunderte er sich. Obwohl? Toni Meier? Das konnte natürlich im Grunde auch ein Mann sein. Aber die Grundgute musste doch hier angerufen und einen Termin vereinbart haben und spätestens dann … oder hatte sie den online gemacht? Aber auch dort musste doch etwas von einer »Therapeutin« gestanden haben.
»Entschuldigung, ich bin nicht …«, wollte er gerade die Situation aufklären, heilfroh, dass es sich bei der Dame nicht um die Besitzerin dieser Praxis handelte. Denn die hätte sich mit Sicherheit gefragt, was er hier zu suchen hatte.
»Sie sind ja überhaupt nicht Frau Meier«, stockte die Halstuchdame jetzt und kam mit ihrem Oberkörper leicht vor, als könnte sie dann besser erkennen, wer vor ihr stand.
»Nein, ich bin nicht Frau Meier«, erklärte Josch. »Ich bin Herr Meier und …«
»Ach, und sind auch Therapeut? Abgefahren. Dann haben Sie ja sicher immer Gesprächsstoff. Krass! Da wird Ihnen bestimmt nicht langweilig. Und Sie vertreten Ihre Frau oder wie?«
»Toni Meier, also …«
»Toni! Genau! Ich war gerade nicht auf ihren Namen gekommen. Ach, egal. Also. Warum ich hier bin«, sie stockte und sah zu ihm hoch. »Wollen Sie sich nicht setzen? Das macht mich ganz nervös, wenn Sie da so stehen«, erklärte sie und deutete mit ihrem Blick auf den Holzstuhl, der direkt vor Josch stand.
»Nein, also, das ist eine …«
»Sie können natürlich auch stehen bleiben. Sorry, ich wollte nicht übergriffig sein. Das passiert mir manchmal. Aber nur manchmal. Eigentlich habe ich das in letzter Zeit ganz gut in den Griff bekommen. Also, finde ich jedenfalls. Wobei das natürlich auch alles relativ ist. Auf alle Fälle«, unterbrach ihn die Frau erneut und sah auf ihre Armbanduhr, »es war ja nicht immer so.« Damit machte sie eine Pause, die so überraschend kam, dass Josch, anstatt die Chance zu ergreifen und endlich zu erklären, wer er war beziehungsweise nicht war, und sich zu verabschieden, sie mit großen Augen erwartungsvoll ansah: »Nein?«
»Nein«, erklärte sie. »Natürlich nicht. So kommt man ja nicht auf die Welt. Oder? Sind Sie so auf die Welt gekommen? Ich meine … also, nicht falsch verstehen. An Ihnen ist ja – denke ich – alles in Ordnung, aber … also ich meine, es kommt doch keiner auf die Welt, der irgendwelche Ticks hat. Und mein Freund hat ja nicht nur einen Tick. Er ist sozusagen eine Ansammlung von Ticks. Ein ganzes Tick-Mobile. Und das macht alles so unfrei und treibt mich in den Wahnsinn! Es macht mich komplett kirre und … das können Sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen, aber ich würde lieber mit Ihnen hier auf dem Tisch«, sie sah auf das Chaos vor sich, »na ja, vielleicht lieber«, sie drehte sich zur Liege »irgendwo anders, aber was ich jedenfalls sagen wollte, ich kann so nicht weitermachen. Im Grunde müsste ich mich von ihm trennen. Aber das kann ich auch nicht. Ich liebe ihn ja. Andererseits: Bleiben geht auch nicht. Ich will …«
»Ja?«
»Einfach nur Sex!«, platzte es beinahe verzweifelt aus ihr raus.
»Und?«, hakte Josch nach, der sich jetzt doch setzte und versuchte, ihren Blick nicht aus den Augen zu verlieren bei alldem, was zwischen ihnen lag. Wie konnte man denn so arbeiten? Oder saß Frau Dr. Meier hier nie? Lagen ihre Klienten sonst auf der Liege oder saßen sie zusammen auf den schwarzen Designerstühlen im Nebenraum?
»Wie soll man denn Lust bekommen, wenn jedes Mal eine bestimmte Musik laufen muss, der Vorhang auf eine bestimmte Art und Weise zugezogen sein und ich auf dem Bett in einer bestimmten Pose liegen muss?! Ach! Fast vergessen: die Kerze! Eine bestimmte Duftkerze. Und glauben Sie mir: Es gehört schon einiges dazu, dass ich keine Lust mehr habe, denn ich habe in der Tat immer Lust!« Sie atmete kurz durch, um gleich darauf fortzufahren. Von seiner Vorstellung, wie Sex für ihn sein musste, eine Vorstellung, die ihrer Meinung nach einem karierten Papier entsprach, bei dem die Linien nicht überschritten werden durften, und ihrem Verlangen, das, je länger die Situation andauerte, zunahm. An Auszug und Trennung war allerdings nicht zu denken. Warum, hatte Josch nicht ganz verstanden. Sie sprach in einer Geschwindigkeit, die mindestens doppelt, wenn nicht vielleicht dreifach so schnell war, wie das, was man sonst so hörte. Er hatte das Gefühl, ihm würde schwindelig werden, und er überlegte kurz – für ein paar Sekunden – die Augen zu schließen und dann wieder zu öffnen und einfach zu gehen. So wie er einfach gekommen war. Es war definitiv zu früh für solch einen verbalen Tsunami. Oder gestern Abend zu spät. Wie auch immer. Er kam nicht mehr mit. Die Frau war nicht zu bremsen. Nicht nur, wie er jetzt mitbekam, was ihr Mitteilungsbedürfnis anging.
»Meine Lust ist sozusagen nicht steuerbar. Da wären wir bei dem nächsten Thema. Beziehungsweise dem ursprünglichen Thema. Ich brauche einfach Sex, und wenn ich den nicht bekomme …« Sie sah ihm jetzt direkt in die Augen, und Josch hielt die Luft an und merkte, dass er seine Augenbrauen so hochgezogen hatte, dass er sekündlich einen Krampf in der Stirn bekommen würde. O Gott, was tue ich hier, schoss es ihm in der gleichen Sekunde durch den Kopf. Die Frau hat ganz offensichtlich nicht nur einen Freund mit einer Zwangsstörung, sondern ist selbst auch noch sexsüchtig. Ich muss hier raus, beschloss Josch, bevor es zu spät ist! Ganz schnell. Sonst fliegt es noch auf und dann … das geht nicht. Wenn sich das rumspricht. Nachher heißt es noch, ich bin hier eingestiegen, und es hagelt Anzeigen! Das durfte auf keinen Fall passieren. »Dann macht mich das … aggressiv!«, hörte er die Frau rufen und fragte sich, was konkret sie jetzt meinte.
»Na, die Lust!«, erklärte sie, ohne dass er nachgehakt hatte, aber sein Gesichtsausdruck sagte offensichtlich alles. Oder auch nicht. Sonst wüsste sie, dass er seit einer gefühlten Ewigkeit versuchte, aus der Nummer rauszukommen. Diese Frau hatte eine sogähnliche Wirkung auf ihn. Ob er wollte oder nicht.
»Und dieses ganze Hin- und Hergeschiebe von Vorhängen und Kerzen und frag mich nicht, das …«
»Ist nicht spontan und romantisch«, stellte er fest.
»Nein. Wobei romantisch mir auch egal ist.« Sie sah für eine Sekunde, die zu kurz war, um dazwischen zu grätschen, auf ihre Hände, dann wieder zu ihm hoch. »Was soll ich machen? Ich meine, ich will doch einfach nur«, sie holte erneut tief Luft, hob die Hände, ließ sie auf ihre gut gepolsterten Oberschenkel fallen, und wiederholte ihren offenbar wirklich sehr dringenden Wunsch so laut, dass Josch sich fragte, ob sie wohl die Praxistür hinter sich zugemacht hatte oder ob es vielleicht das ganze Treppenhaus mitbekam: »Sex! Gottverdammten, stinknormalen Sex! Ohne Gedöns und Krimskrams und wasweißichwas! Das kann doch nicht so schwer sein! Ich kann mich doch nicht ständig für ihn verbiegen«, sie hielt inne, »also, nicht in dem Sinne … Sie wissen schon. Und am liebsten mit ihm. Ich meine … ich liebe ihn ja, wie gesagt. Sonst wäre ich schon längst ausgezogen. Welche Frau macht denn so ein Affentheater mit, wenn es um einen einfachen Akt geht?!«
»Keine. Es sei denn, sie steht drauf«, hörte er sich sagen.
»Eben!«, platzte es aus ihr raus. »Keine! Und der Akku von meiner Maus spinnt auch«, erklärte sie komplett verzweifelt.
»Maus?«, hakte er nach.
»Mein Sextoy«, erklärte sie. »Warum gibt es so was eigentlich nicht auf Rezept? Jetzt muss ich mir ein neues Mäuschen kaufen«, ärgerte sie sich und sah sich auf dem Schreibtisch um, als hoffe sie, dort brauchbaren Ersatz zu finden. »Mich hat das immer so schön entspannt. Auch in den schlimmsten Momenten, wo man am liebsten die Wände hochgehen will.« Sie sah ihn an, als erwartete sie, dass er etwas sagte, doch bevor Josch überhaupt dazu kam, darüber nachzudenken, was jetzt angebracht wäre, erklärte sie: »Zum Beispiel im Stau!«
»Im Stau?«, fragte er irritiert.
»Ja, ich habe immer meine Maus dabei. So nenne ich sie, weil sie quasi aussieht wie die Maus meines Rechners«, erklärte sie leicht vorgebeugt, als solle es keiner hören, und zwinkerte Josch zu. »Die lege ich dann einfach kurz auf … und dann«, sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, »bin ich die Ruhe in Person, wenn ich aus dem Auto steige. Ich schwebe! Meinetwegen könnte es jeden Tag Stau geben. Ich kriege davon nicht genug.« Sie setzte sich wieder gerade hin und sah ihn an. »Wenn ich mir das so überlege – man könnte, wenn jeder den Stau für sich selbst nutzen würde, mehr entspannte Leute im Straßenverkehr haben. Oder was denken Sie? Und sowieso. Sex für den Weltfrieden ist vielleicht etwas weit hergeholt … obwohl?« Sie schien kurz zu überlegen. »Warum nicht?« Sie sah auf ihre Uhr, dann wieder zu Josch, hob ihre Tasche vom Boden auf und kramte darin rum. Josch bekam Angst. Was, wenn sie jetzt dieses Ding rausholte?
»Wissen Sie, im Grunde ist es so. Mein Unterleib hat ein Eigenleben. Da kann ich wirklich nichts machen. Der ist komplett fremdgesteuert. Mein Kopf sagt ganz oft etwas anderes. Und dann … ja dann ist da ja auch noch das Herz. Das hat auch ein Eigenleben, aber es ist beeinflussbar. Ganz im Gegensatz zu meinem Unterleib. Der macht, was er will, und meistens kriegt er, was er will …«
»Ich muss Ihnen ganz dringend etwas sagen!«, begann Josch und stand auf. »Ich bin nicht Frau Meier und auch nicht der, für den Sie …«
»Ha! Da habe ich es ja. Puh! Ich dachte schon, ich habe es zu Hause liegen lassen. Bitte schön!«, sagte sie, stand ebenfalls auf und reichte ihm einen DIN-A4-Bogen. »Der Anamnesebogen. Ich habe alles ausgefüllt«, erklärte sie stolz, während Josch den Namen las. Lissy Taubenbrecht.
»Vermutlich sagen Sie jetzt, ich müsste meinen Freund hierherschicken, aber der wird im Leben nicht herkommen. Das können Sie mir glauben. Da redet man sich den Mund fusselig. Und letztendlich sind er und seine Ticks ja auch nur der Grund dafür, dass ich über mein Sexleben nachgedacht habe. Also das, was ich mal hatte. Wenn man eben einfach Sex hat, ohne vorher das Schlafzimmer in ein Museum zu verwandeln. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja, natürlich«, sagte er, nickte und dachte: »Nein, Gott sei Dank nicht!«
»Ich kann es ja immer noch nicht fassen, dass ich jetzt endlich einen Therapieplatz bei Ihnen bekommen habe!«
»Es tut mir fürchterlich leid, aber … also, nicht bei mir, das will ich Ihnen ja schon die ganze Zeit …«
»Natürlich nicht, entschuldigen Sie. Ich meine bei Ihrer Frau«, unterbrach sie ihn.
»Frau Meier ist nicht meine Frau!«, protestierte Josch und wollte gerade ausholen, doch genau in der Sekunde klingelte es Sturm. Verdattert sah er Richtung Praxistür.
»Wollen Sie nicht aufmachen?«, wunderte sich Lissy Taubenbrecht.
»Nein. Also doch, natürlich, aber …«
Sie sah wieder auf ihre Uhr. »Ach, wie schade. Die Zeit ist um. Dann bis zum nächsten Mal! Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr … na ja … also … bis nächste Woche. Da werde ich dann auch pünktlich kommen. Versprochen!« Mit diesen Worten griff sie nach ihrer Tasche, ihrer Jacke und ihrem Tuch und huschte durch den Raum Richtung Ausgang. Er hörte, wie die Eingangstür geöffnet und ein paar Sekunden später geschlossen wurde. Mit Schwung. Etwas in ihm sagte ihm, dass der Moment zwischen diesen beiden Geräuschen etwas lang war, aber es war mehr so ein Gefühl.
Josch ließ sämtliche Luft aus seinem Brustkorb mit aufgeblasenen Wangen entweichen, als sei er ein Luftballon, lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Wenn er das Timm erzählte, würde der einen seiner legendären Lachanfälle bekommen. Hundertprozentig. Und ihm würde sicher irgendeine verrückte Idee kommen. So etwas wie »Warum hast du die Nummer der Klientin nicht abfotografiert und mir gegeben? Ich könnte ihr da weiterhelfen« oder etwas in der Art. Kopfschüttelnd stand Josch auf und ging durch den Raum Richtung Ausgang. Er sah auf seine Uhr, denn schließlich musste er noch rechtzeitig Mittagessen kochen. Freddy war nicht in die Schule gegangen, weil er sich nicht fühlte, und Josch hatte ihm versprochen, eine Papa-kocht-am-besten-Lasagne zu machen. Mit doppelt Käse, so wie immer. Und die Hunde mussten auch mal wieder raus.
»Hallo«, hörte er hinter sich eine Frauenstimme, als er gerade die Praxis verlassen wollte, und zuckte zusammen. Das war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass er dachte, sein Herz würde stehenbleiben. Ruckartig drehte er sich um. Auf einem der Stühle im Flur saß eine Frau, die ihn mit übereinandergeschlagenen Beinen von oben bis unten musterte und schließlich fragend ansah. Sein Blick wurde allerdings von etwas anderem angezogen. Von einem schwarzen Lederhalsband mit silbernem Ring, das ihn sehr an das Halsband von Willi erinnerte. Willi war eine rumänische Promenadenmischung und einer seiner Hunde, die nicht seine Hunde waren. Freddy hatte seit Jahren den Wunsch nach einem eigenen Hund, und Josch fand, es war eine hervorragende Möglichkeit herauszufinden, ob dieser Wunsch mit dem ersten Hundekotbeutel abebbte oder nicht. Und außerdem war es lukrativ. Vor allem, wenn man mehrere Hunde auf einmal sittete. Ein netter Nebeneffekt. Dogsharing nannte sich das Ganze und war für ihn die beste Erfindung seit der Erfindung des Hot Dogs. Apropos Hund.
Die Frau stand auf und reichte ihm die Hand.
»Schwarz. Stefanie Schwarz. Mein Mann schafft es leider nicht. Nicht zeitlich, sondern … das andere. Na ja. Ist vermutlich nicht der erste Mann, von dem Sie hier nur etwas hören und nichts sehen. Was soll’s«, sagte sie und sah ihn immer noch etwas skeptisch an.
Josch hob die Hände und versuchte die Situation aufzulösen, bevor es zu spät war oder die Frau ihm Bettgeschichten erzählte, ohne zu wissen, wer er war beziehungsweise nicht war.
»Bevor Sie mir noch mehr von sich erzählen, würde ich Ihnen gerne kurz etwas erklären, denn ich bin nicht die, für die Sie mich vielleicht halten. Der Vorname Toni ist natürlich etwas doppeldeutig, aber ich bin …«
»Nicht Frau Meier. Das habe ich auch schon geschlussfolgert. Sie hätte mir natürlich sagen können, dass heute eine Vertretung kommt, aber so confused wie sie schon am Telefon wirkte und dann das kurzfristige Absagen der letzten Termine, da wundert mich das nicht. Whatever«, sie machte eine Handbewegung, die klarmachte, dass es ihr egal war. »Ich habe kein Problem damit.«
»Klasse. Flexibel sein ist immer gut im Leben, ich bin allerdings überhaupt kein Therapeut. Ich …«
»Was denn dann?«
»Na ja, ich bin …«
»Ganz ehrlich«, unterbrach sie ihn. »Wenn Ihnen hier jetzt irgendeine Weiterbildung zu ihrem Studium fehlt oder irgendein Schein für eine Fortbildung oder was auch immer, ist mir das komplett schnuppe. Solange Sie nicht hauptberuflich Friedhofsgärtner sind, können wir gerne anfangen. Ich bin jedenfalls nicht den weiten Weg mit der Bahn hergekommen, um jetzt postwendend zurückzufahren. Ich gehe mal davon aus, dass Frau Dr. Meier weiß, wer hier in der Praxis die Klienten übernimmt und sich da ausreichend Gedanken gemacht hat.«
»Sicher. Also, sicherlich ist sie immer sehr gewissenhaft«, versuchte Josch sich aus der Situation zu befreien, »und es tut mir fürchterlich leid, dass Sie einen so langen Weg auf sich genommen haben und nun …«
»Ach, das muss Ihnen doch nicht leidtun. Sie können ja nichts dafür, dass Frau Meier so busy ist!« Frau Schwarz kam mit dem Oberkörper leicht vor, als wolle sie jetzt wirklich ganz im Vertrauen sprechen, dabei waren sie ja nachweislich alleine: »Vielleicht sollte sie sich mal eine Assistentin anschaffen.«
»Das ist eine gute Idee. Aber eigentlich wollte ich nur kurz …«, Josch drehte sich zur Eingangstür und deutete mit der Hand in Richtung Treppenhaus, »rausgehen und …« Er hielt inne. Was soll’s. Die Frau ist extra hierhergefahren. Hier ist niemand. Zumindest nicht die, mit der sie gerechnet hat. Es ist ihr egal. Mir auch. Die Lasagne ist schnell gemacht. Auf die Überarbeitung des aktuellen Stadtführers habe ich eh keine Lust. Die Hunde waren gerade erst draußen, und amüsanter als der Haufen Buntwäsche, der auf mich wartet, ist das hier allemal. Dann habe ich wenigstens etwas zu erzählen, wenn ich Timm treffe. War ja in den letzten Monaten nicht unbedingt der Fall. Zwischen Hausaufgaben, Hunden und Homeoffice passieren halt nicht so extrem viele spannende Dinge.
Frau Schwarz sah ihn fragend an. Dann deutete sie um die Ecke in den Raum mit den Ledersesseln.
»Hier lang?«
»Ja«, hörte Josch sich sagen und nickte, während sie an ihm vorbei in den Raum ging, aus dem er gerade gekommen war. Er folgte ihr wie ferngesteuert mit einer Mischung aus Neugierde und Aufregung, schließlich konnte jede Sekunde die echte Therapeutin reinkommen.
Frau Schwarz setzte sich passenderweise auf einen der schwarzen Ledersessel, rutschte mit dem Po vor und zurück, streckte den Rücken durch, lehnte sich hinten an, kam wieder vor, schüttelte den Kopf und stand auf.
»Sorry, aber hier kann ich nicht sitzen«, erklärte sie, entdeckte den Stuhl vor dem Schreibtisch, sah Josch fragend an, der mit den Schultern zuckte, was sie offensichtlich als »Ja, bitte nehmen Sie Platz« deutete, und setzte sich. Sie stellte ihre Umhängetasche aus getigertem Stoff ab, schlug die Beine wieder übereinander und machte den Eindruck, als würde sie jetzt wirklich gerne anfangen. Josch zögerte noch einen Augenblick, weil ihm spontan einfach nichts einfiel, was er sagen könnte, wenn die Tür aufgehen und Frau Meier reinkommen sollte. Irgendein Satz, etwas Schlagfertiges, Smartes, was das hier erklärte – was kaum zu erklären war. Noch etwas, was ihm noch nie in dieser Form passiert war. Dass ihm nichts einfiel. Dabei war das ja sein Job. Er war Texter, Autor, Geschichtenerfinder, Wortjongleur. Ihm sollte doch wohl irgendetwas einfallen. Aber es kam nichts.
Frau Schwarz sah ihn nicht mehr fragend an. Sondern leicht genervt.
»Wollen wir?«, hakte sie nach und drehte ihr Hundehalsband etwas zur Seite, sodass die Öse jetzt nicht mehr mittig hing.
»Ähm, ja. Natürlich«, sagte Josch, ohne es so zu meinen, und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber, auf dem er gerade schon seinen Einstand als Therapeut abgesessen hatte. Sie hat nicht nur hier, sondern auch zu Hause die Hosen an, tippte er. Keine Frage.
»Das Gute an Martin ist«, begann Frau Schwarz, machte eine Pause, hob ihre linke, dunkle Augenbraue leicht an, fokussierte Josch und fuhr fort, »dass er gehorcht.«
Jetzt war Josch es, der die Augenbrauen hochzog, beide, dies aber schnell wieder unterließ, um sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen. Er war schließlich kein Friedhofsgärtner.
»Man soll ja mit den positiven Aspekten beginnen«, schob sie nach, als bedürfe diese Aussage über ihren gut erzogenen Mann irgendeiner Erklärung.
»Ich komme bloß mit Marie in unserem Leben nicht so klar, wie ich es mir vorgestellt habe. Oder sagen wir mal, es läuft nicht rund. Dabei war es ursprünglich ja auch mein Wunsch.«
»Marie ist Ihre Tochter?«, wollte Josch wissen und fragte sich, ob diese Frau Meier parallel auch als Erziehungscoach tätig war. Wenn ja, würde er sich selbst gleich einen Termin buchen. Wo er doch eh schon hier war.
»Nein!«, platzte es aus Frau Schwarz heraus, die ihn jetzt entsetzt ansah. Was sie sehr gut konnte, wie er feststellen musste. »Um Himmels willen!«, sagte sie und strich sich eine ihrer dunklen, glatten Haarsträhnen hinters Ohr, das, wie Josch jetzt erkannte, als Lagerplatz für silberne Ohrringe und Piercings diente. Vielleicht war sie im Guinnessbuch der Rekorde. Freddy wünschte sich jedes Jahr die neue Ausgabe und hatte einen Riesenspaß daran, darüber zu staunen, was Menschen so vollbrachten. Er nahm sich vor, die aktuelle Ausgabe später durchzublättern. Falls er die fand.
»Nicht?«
»Nein. Marie ist unsere Partnerin.«
»Partnerin? Im Sinne von Geschäftspartnerin?«
»Nein!« Noch ein entsetzter Blick. »Unsere Partner-Partnerin. Im Sinne von Partnerin.«
Josch war sein Unverständnis offenbar anzusehen. »Lebenspartnerin. Sexpartnerin. Allespartnerin«, erklärte sie ihm.
»Eure? Ähm, sorry, Ihre?«, hakte Josch nach, der mit einem Mal das Gefühl hatte, wieder dreizehn Jahre alt zu sein und von Tuten und Blasen keine Ahnung zu haben. So wie damals, als er mit Timm das erste Mal heimlich eine BRAVO gekauft hatte. Vielleicht waren auch die Jahre mit seiner Ex schuld. Vielleicht war er einfach zu lange mit ein und derselben Frau zusammen gewesen und war nicht auf dem aktuellen Stand. Vermutlich hatte Timm recht.
»Natürlich!«, sagte er schnell und schlug seine Beine andersherum übereinander. »Ich hatte es nur akustisch nicht ganz verstanden. In letzter Zeit … na ja. Das ist wohl das Alter«, erklärte er und deutete auf sein Ohr. »Sie treffen sich also zu dritt und …«
»Nein.«
»Nein?«
»Wir leben zu dritt.«
Josch nickte, als wäre das alles selbstverständlich, als ginge es einfach darum, dass es morgen wieder regnen sollte, lehnte sich zurück und ließ ein Lebensmodell auf sich wirken, das ganz anders aussah als alle Modelle, die er kannte. In der Tat hatte er bisher nie darüber nachgedacht, mit mehr als einer Frau zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenzuleben. Hätte er allerdings diese Idee gehabt, wäre diese sicher nicht an ihm gescheitert, sondern an seiner Ex, die ja schon eifersüchtig war, wenn sein Handy nachts piepte. Dabei war das die zwei Mal nur ein Geschäftspartner, der mal wieder blank war und aus einem gewissen Etablissement auf der Reeperbahn ausgelöst werden musste. Josch war wirklich alles andere als spießig, als konservativ, als zugeknöpft und verklemmt. Er war einfach nur raus, stellte er fest. Aber seit wann? Wo war denn der coole Skater und Surfer geblieben, der er mal gewesen war? Der Typ, der immer als Letzter die Party verließ. Und das selten alleine. Und warum war er nie auf die Idee gekommen, diese Partys mit zwei Frauen auf einmal zu verlassen? In seinen Träumen, ja klar. Welcher Mann wünschte sich das nicht. Aber warum war es nie dazu gekommen? Während er fasziniert zuhörte und über sein eigenes kleines Leben nachdachte und darüber, warum er nicht auch so lebte, so frei, drängte sich ihm noch eine Frage auf. Was sollte er sagen, wenn sie nach Rat fragen würde? Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, hörte sie plötzlich auf zu reden und riss Josch damit aus seinen Grübeleien.
»Was sagt Ihr Mann denn dazu?«, fragte er schnell, um sich nichts anmerken zu lassen.
Noch ein Blick, der vielsagend war, allerdings deutlich andere Bände sprach als die Blicke davor. Es war eine Mischung aus Unglaube und Zweifel.
»Sie haben echt dieses Schema im Kopf, oder? Mann, Frau, Kind.«
Da war er. Der Moment, in dem er etwas sagen musste und nicht wusste, was. Hilfesuchend sah er sich auf dem Schreibtisch um. Sein Blick blieb an einer rechteckigen Schachtel hängen. 400 Fragen für systemische Therapie und Beratung, stand darauf. Er griff wie selbstverständlich nach der Schachtel, legte sie auf seinen Schoß und öffnete sie, ohne hineinzusehen.
»Nicht wirklich. Aber Marie ist ja eine Frau, wenn ich das richtig verstanden habe«, erklärte er, während er eine Karte von dem Stapel nahm und einen schnellen Blick darauf warf. »Wirklichkeitskonstruktion«, stand darauf.
Frau Schwarz nickte. Immerhin.
»Dann habe ich geschlussfolgert, dass Martin also Ihr Mann ist«, schob er nach und sah noch einmal blitzschnell auf die Karte.
Wer könnte davon profitieren?, las er. Passte nicht. Nächste Karte.
»Martin ist Gender.«
»Gut«, sagte Josch, nickte zustimmend vor sich hin und fragte sich, was genau daran gut war. Natürlich war es gut, dass jeder leben konnte, wie er wollte, aber in diesem Zusammenhang war es einfach nur eine komplett bescheuerte Antwort. Nicht gut sozusagen. Wenn er so weitermachte, würde seine wahre Identität auffliegen, bevor Frau Meier zurück war. Wo auch immer sie steckte. Also schnell die nächste Karte lesen.
Für wen ist das Problem größer? Für Sie oder Ihren Partner?, las er. Bingo. Das klang doch so, als würde es in die richtige Richtung gehen.
»Für wen ist das Problem größer? Für Sie oder Ihren, ähm, Ihre Partner?«, fragte er, schlug die Beine übereinander, verhinderte dabei in letzter Sekunde, dass sämtliche Karten samt Schachtel auf den Boden flogen, und sah sie maximal intelligent an.
»Welches Problem?«, fragte Frau Schwarz und fixierte ihn scharf.
Mist, dachte Josch. »Das, weshalb Sie in diese Praxis gekommen sind«, erklärte er und hoffte, sie würde ihn nicht beim nächsten Zug schachmatt setzen.
»Von dem habe ich Ihnen ja noch gar nichts erzählt.«
Stille.
»Aber es gibt eins. Welches, ist im Grunde nicht relevant. Es geht um das Wie«, sagte er in seiner überzeugendsten Tonart.
»Wie, was?«, wollte sie wissen.
»Wie«, er sah schnell auf die Karten, doch da war auf die Schnelle nichts Brauchbares dabei.
»Wie Sie Ihr Leben, also Sie alle, so gestalten können, dass es Sie – alle – glücklich macht oder erfüllt.« Was für ein gequirlter Mist, ärgerte er sich und wünschte sich die vorherige Patientin zurück. Bei der musste man einfach nur zuhören. Basta. Noch ein Blick in die Karten. »Wer hat es denn als Erstes als Problem bezeichnet?«, las er laut und sah sie erwartungsvoll an.
Zu seiner großen Erleichterung fing sie an zu reden. Als wäre etwas von ihr abgefallen, erzählte sie von ihren Problemen und Bedürfnissen, von denen sie allerhand hatte, wie Josch im Laufe der Stunde erfuhr. Dinge, von denen er bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass es sie gab. Nur ein Bedürfnis hatte sie nicht. Und das war auch gut so. Sie fragte nicht ein einziges Mal nach, was sie tun sollte, wie sie mit etwas umgehen sollte. Zum Beispiel mit Maries Wunsch, schwanger zu werden. Wie sie Martin dazu bringen konnte, mit ihr hierher zu kommen, weil es ihn ja auch betraf. Und im Grunde ja auch Marie. Nicht nur die Sache mit dem Baby, sondern auch die anderen Sachen, die Josch vermutlich noch viele Tage beschäftigen würden. Er fragte sich, wie man nach solchen Gesprächen noch durch die Stadt gehen und Menschen begegnen konnte, ohne sich vorzustellen, was sie zu Hause machten. Wenn das Licht aus war. Oder auch an. Was sie im Auto machten, in der Wäschekammer, im Swingerclub, im Keineahnungwas. Sahen Internisten auch überall Organe rumrennen? Oder ließ das mit der Zeit nach?
»Ein bisschen schon, oder?«, fragte Frau Schwarz, die aufgestanden war, ohne dass Josch es mitbekommen hatte, weil er so sehr mit seinen Gedanken und den ganz persönlichen Auswirkungen dieser Stunde auf sein langweiliges Leben beschäftigt war.
»Bitte?«, fragte er und stand auch auf.
»Sie haben irgendwie etwas von einem zerstreuten Professor. Sind nur nicht ganz so alt. Trotzdem vielen Dank und liebe Grüße an Frau Meier. Ich gehe davon aus, dass sie dann nächstes Mal persönlich erscheint. Nichts gegen Sie, aber …«
»Nein, natürlich. Ich … ich werde nächstes Mal nicht hier sein. Auf keinen Fall!«, versprach Josch und meinte es genau so.
»So schlimm war es ja jetzt auch nicht«, schob Frau Schwarz hinterher, und tatsächlich huschte ein Lächeln über ihr sonst so strenges Gesicht.
Sie reichte ihm einen Zettel, verabschiedete sich und ging.
Josch wünschte noch einen schönen Tag, überflog den Anamnesebogen, legte ihn auf den Schreibtisch zu all den anderen Zetteln und Blöcken, Zeitschriften und Unterlagen, setzte sich wieder und schloss für einen Moment die Augen.
O mein Gott, was war denn das für ein verrückter Tag?, fragte er sich, ließ alles im Schnelldurchlauf Revue passieren und hörte, als er gerade aufstehen und gehen wollte, plötzlich ein Schluchzen, das sich näherte. Josch öffnete die Augen. Ein Mann, der etwas älter war als er, kam auf ihn zu. Für die aktuellen Temperaturen etwas zu dick eingepackt, war sein erster Gedanke. Und etwas zu traurig. Er weinte und schniefte, setzte sich auf den Platz, auf dem gerade noch Frau Schwarz gesessen hatte, und fiel in sich zusammen. Sein ganzer Körper zuckte unter dem Weinkrampf. Josch betrachtete den Mann einen Moment lang und hoffte, dass irgendetwas passierte. Was auch immer. Aber es passierte nichts. Der Mann saß da und weinte bitterlich. Seine kurzen grauen Haare hingen genauso schlaff runter wie alles an ihm. Er wirkte insgesamt sehr verloren, weich und hilfebedürftig.
»Du hast die Empathie einer Butterbrotdose!«, hörte Josch die Stimme seiner Ex, die in einem ihrer vielen Wutanfälle gerne solche Vergleiche gezogen hatte, bevor sie ihre Sachen gepackt hatte und ausgezogen war. Alleine.
Josch suchte kurz den Schreibtisch nach Taschentüchern ab, wurde aber nicht fündig und sah einfach in eine der Schubladen. Neben einer Unmenge an Kugelschreibern in allen Farben und Formen, sogar einem mit nacktem Busen und Po, bei dem sich unweigerlich die Frage aufdrängte, wie man ihn festhalten sollte, zog eine rechteckige, kleine Blechdose seinen Blick an. Waren da vielleicht Taschentücher drin? Wer weiß? Vielleicht gehörte Frau Dr. Meier zu der ganz und gar nachhaltigen Fraktion und verzichtete komplett auf Plastik, überlegte er und griff nach der Dose, öffnete sie und verfiel in eine kurze Schockstarre. In der Dose befand sich etwas wortwörtlich Grünes, wenn man so wollte. Drei fertig gedrehte Joints. Oder waren es einfach nur etwas zu dick geratene selbst gedrehte Zigaretten? Josch griff nach einer, hielt sie sich unter die Nase und roch daran. Gras. Hundertprozentig. Er legte den Joint zurück, schloss die Dose und packte sie wieder an ihren Ort. Daneben lagen noch mehrere Tüten Brausepulver in verschiedenen Geschmacksrichtungen, ein Anti-Stress-Knetball und ein Schälchen mit bunten Plastikbrillanten. Wofür auch immer die gut waren. Und eine Handvoll Pfefferminzbonbons, die er zuletzt als Kind bei seiner Oma in der Küchenschublade gesehen hatte. Diese Therapeutin musste wirklich eine schrullige Person sein.
Josch schob die Schublade wieder zu. In diesem Moment ließ das Schluchzen nach, und der Mann blickte nicht mehr verzweifelt in seinen Schoß, wie Josch feststellte, sondern mit unverändert verzweifeltem Gesichtsausdruck ihn an.
»Ent-schul-di-gung«, stotterte der Mann mit immer noch bebendem Oberkörper, während er sichtlich bemüht war, seine Atmung wieder in den Griff zu bekommen, stand auf, öffnete seinen Trenchcoat, zog ihn aus, legte ihn über die Stuhllehne und setzte sich wieder. Der dicke Rollkragenpullover, den Josch als etwas zu warm empfunden hatte, als der Mann auf ihn zugekommen war, war kein Rolli. Es war das Oberteil eines gestrickten Ganzkörperoveralls aus einer extrem flauschigen Wolle. Der Overall besaß, wie er jetzt erkannte, sogar eine Kapuze die man sich weit über den Kopf ziehen konnte. Oder das ganze Gesicht? Mohair, tippte er, ohne davon wirklich Ahnung zu haben, und spürte nicht nur ein Kribbeln auf der Haut, weil er Mohair nicht ertrug, sondern auch den nächsten Krampf in seiner hochgezogenen Stirn näher rücken. Er massierte sie, um sich wieder zu entspannen, und entdeckte in dem Moment direkt neben dem Schreibtisch auf dem Fußboden links von sich eine rote Thermoskanne. Josch griff danach und hob sie hoch.
»Möchten Sie vielleicht einen Schluck?«, fragte er den Mann, von dem er noch nicht einmal den Namen wusste. Er wusste nur eines. Er musste ihn irgendwie beruhigen, ihm dann sagen, was er schon gerade eben mehrfach erfolglos versucht hatte: dass er nicht Frau Meier war, sondern Herr Meier, der mit Frau Meier außer dem Namen nichts gemein hatte – und dass dies hier ein einziges Missverständnis war.
Während er überlegte, wo er den Tee oder Kaffee oder was auch immer sich in der Kanne befand eingießen konnte, fragte er sich parallel, was er hier eigentlich tat.
Bist du noch ganz bei Trost? Die Therapeutin kommt vermutlich jeden Moment zurück und dann? Steh auf und geh, ermahnte er sich selbst. Er stellte sich eine schlanke Frau um die sechzig vor, leicht graue Haare, etwas streng gekleidet, die Haare zu einem Dutt zusammengefasst, der ihn an seine alte Musiklehrerin erinnerte, und vielleicht hatte ja auch sie diesen Unterton in der Stimme, der alles unterdrückte, was eventuell noch an Fragen im Raum stand, und die also mit schnellen Schritten auf ihn zukam und fragte, was er hier bitte schön tat. Hier, an ihrem Schreibtisch, in ihrer Praxis, mit ihrem Klienten. Vermutlich würde sie die Polizei rufen. Erste Hilfe, könnte er antworten. Aber ob das genügte?