Mama lernt Liebe - Birke Opitz-Kittel - E-Book

Mama lernt Liebe E-Book

Birke Opitz-Kittel

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Beschreibung

Als Birke Opitz-Kittel ihre Autismus-Diagnose erhält, ist sie bereits Mutter von fünf Kindern. Endlich versteht sie, warum das Leben für sie nie einfach war. Sie hat sich als Kind immer als Außenseiterin gefühlt, was sich auch als Erwachsene nicht geändert hat. Als Autistin fällt es ihr schwer, Emotionen zu zeigen und gängige Verhaltensregeln intuitiv nachzuvollziehen. Trotz dieser Schwierigkeiten lernt sie aber, eine innige Bindung zu ihren Kindern aufzubauen: Sie liest Erziehungsratgeber, beobachtet Mütter auf den Spielplätzen und sucht nach rationalen Begründungen für emotionale Bedürfnisse. Berührend und eigenwillig erzählt Birke Opitz-Kittel, wie sie auch als Außenseiterin einen Ort gefunden hat, an dem sie ganz sie selbst sein darf: ihre Familie. Mit diesem Buch macht sie allen Mut, das eigene Leben zu leben, auch wenn es »anders« ist als die Norm.

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Seitenzahl: 228

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2021

© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Erich Fried, Zu guter Letzt (S. 186), aus: Erich Fried, Es ist was es ist. Liebesgedichte Angstgedichte Zorngedichte © 1983, 1996, 2007 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildungen: shutterstock.com/Irina Qiwi

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-7474-0155-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-523-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-520-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Dieses Buch möchte ich meinem Mann

und meinen Kindern widmen.

Meinem Mann – meinem Lebensretter –, bei dem ich

zum ersten Mal in meinem Leben das gefunden habe,

nachdem ich mich immer gesehnt habe: echte, tiefe Liebe.

Meinen Kindern, weil sie mich eine andere,

weitere Form der Liebe gelehrt haben. Eine Liebe,

die mich über mich hat hinauswachsen lassen.

Inhalt

Prolog

Ich bin anders

Immer nur einen einzigen Tag

Meine Familie wird komplett

Mein Sohn, der Autist

Meine instabile Maske

Was ist eigentlich Liebe?

Lilly

Birke

Mein Alltag voller Fallstricke

Weshalb Urlaub kein Spaziergang ist

Der Blick der anderen

Meine Schulen des Lebens

Und dann traf ich IHN

Rolf

Birke

Meine Kinder, meine große Liebe

Anhang

Meine Familie stellt sich vor

Danksagung

Prolog

Es gibt diesen einen Satz: »Kennst du einen Autisten, kennst du genau einen Autisten.« An sich stimmt dieser Satz, obwohl ich ihn nicht mag, und zwar deshalb, weil ich schon mehrmals erlebt habe, dass man genau damit Autisten ihre Wahrnehmung abspricht und sie nicht für sich selbst sprechen lässt. Im wörtlichen Sinne allerdings bedeutet der Satz, dass wir Autisten wie neurotypische, also schlicht nichtautistische Menschen auch alle unterschiedlich sind – und das gilt sowohl für unsere Stärken als auch für unsere Schwächen. Autismus oder die Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS, wird in der Regel als angeborene, neuronale Entwicklungsstörung oder -variante des Gehirns gesehen. Es gibt Autisten, die sehr gerne draußen sind – aus meiner Erfahrung heraus allerdings lieber in der freien Natur als im Stadtgewimmel –, aber es gibt sicherlich auch Autisten, die das anders sehen. Es gibt sogar Autisten, die gerne Konzerte besuchen, etwas, was auf mich überhaupt nicht zutrifft. Bei manchen ist das sogar ein Spezialinteresse, ebenso die Besuche in einem Fußballstadion – für mich undenkbar. Dafür kann ich auf einer Bühne stehen und problemlos über Autismus referieren, etwas, was für andere Autisten unmöglich erscheint. Von daher ist es so wichtig, den Menschen nicht nur als »Autisten« zu sehen, sondern sich intensiv mit ihm zu beschäftigen, seine Wünsche und Vorstellungen kennenzulernen. Auch ich lerne noch viel und ganz besonders auch von anderen Autisten. Zu mir zu stehen, beispielsweise. Das fällt mir besonders in der »neurotypischen« Gesellschaft schwer und so trage ich dort oft noch meine Maske. Immerhin habe ich mir dies über Jahrzehnte antrainiert – da ist es nicht so einfach, sie von heute auf morgen abzulegen. Wenn ich verständnislos gefragt werde, warum ich »draußen« nicht einfach ich selbst bin, dann gibt es darauf eine Antwort: Das wäre möglich, ja. Es zieht aber unangenehme Konsequenzen mit sich, denn die Gesellschaft erwartet Anpassung, und so befinde ich mich immer in einem Dilemma: Bin ich ich selbst, ziehe ich unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf mich und werde vielleicht angestarrt. Passe ich mich an, verberge meine Schwierigkeiten und leide still für mich, habe ich die Chance, mich nicht ganz aus der Gesellschaft auszuschließen. Was man dennoch nie vergessen darf: Jeder Autist zahlt für die Anpassung einen Preis und niemandem, wirklich niemandem steht es zu, diesen zu beurteilen und möglicherweise für bezahlbar zu halten.

Ich bin anders

Jeden Morgen, wenn ich erwache, kommt es mir immer noch wie ein kleines Wunder vor. Noch immer erwarte ich, dass jemand »Mama« ruft, vielleicht mich sogar aus dem Schlaf reißt wie die vielen Jahre zuvor. Doch nichts passiert. Mein ältestes Kind ist bereits vor einigen Jahren ausgezogen. Die Kinder, die noch zu Hause wohnen und inzwischen schon 15, 17, 20 und 21 Jahre alt sind, wachen selbstständig auf. Kein Quengeln, dass es doch noch so früh sei, kein »Ich möchte aber nicht in die Schule«, kein Streit um das Badezimmer. Nichts. Wenn ich heute erwache, ist Ruhe. Mein Mann schaut nach den Kindern, die sich ihr Frühstück allein zubereiten. Dabei isst jeder etwas anderes. Auf dem Speiseplan steht für Jonas, unseren Zweitältesten, Müsli; Miriam, unsere Drittälteste, isst Joghurt mit Banane; Lilly, die Viertälteste, glutenfreies Brot mit Teewurst; und »Nesthäkchen« Angelina ernährt sich gerne besonders bewusst mit Zutaten, die ich selbst nie verwenden würde. Das ist eines unserer Geheimnisse. Es wird respektiert, wenn jemand andere Dinge essen mag oder sogar allein im Zimmer essen möchte. So, wie Jonas und ich es am liebsten tun. Und immer wieder frage ich mich, wie mein Mann und ich beziehungsweise die ganze Familie das hinbekommen haben – gerade mit unserem besonderen Hintergrund, denn unsere Familie ist anders als andere Familien. Wir haben nicht nur ein autistisches Kind, sondern auch ich als Mutter bin Autistin. Allerdings habe ich diese Diagnose erst mit 37 Jahren erhalten. Mit ihr wurde mir endlich bewusst, weshalb ich anders als andere Mütter und überhaupt als andere Menschen bin – mein Gehirn verarbeitet Situationen ganz anders und mir fällt es schwer, die richtigen Gefühle bei anderen zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Lange habe ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmt, da ich natürlich gemerkt habe, dass ich nicht so bin wie meine Mitschüler oder Arbeitskollegen. Die Diagnose war für mich wie eine rettende Erkenntnis. Ich kann seitdem so vieles besser verstehen. Meine Familie und ich können mein Handeln und meine Reaktionen in bestimmten Situationen besser einordnen. Und ich kann gezielt an mir arbeiten – nicht, weil ich »falsch« bin, sondern, weil es mir für meine Familie wichtig ist.

Vor ungefähr 15 Jahren sah das alles noch ganz anders aus. Meine jüngste Tochter Angelina war gerade geboren – ein Frühchen. Es war tiefster Winter und bitterkalt. Dennoch musste ich mit ihr jeden Morgen in die Kälte. Mein ältestes Kind musste zur Schule, Jonas wurde jeden Morgen pünktlich um 7:45 Uhr mit einem Bus an der Straße abgeholt, um in die Schulvorbereitende Einrichtung (SVE) gebracht zu werden, Miriam ging in den Kindergarten und Lilly, die gerade zwei Jahre alt war, und Angelina mussten wohl oder übel mit mir und ihren Geschwistern nach draußen. Rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, erforderte viel Organisation. Unser morgendlicher Zeitplan war bis auf die letzte Minute getaktet und es durfte nichts Unvorhergesehenes geschehen, das unseren Zeitplan durcheinandergebracht hätte. Jeder musste »funktionieren«.

Mein Mann kam vom Nachtdienst erst wieder nach Hause, wenn ich vom Kindergarten zurückkam. Dass er nur im Nachtdienst arbeitete, hatte zwei Gründe. Erstens gefiel es ihm selbst besser, in der Nacht überwiegend allein selbstständig zu arbeiten, aber der zweite und noch wichtigere Punkt war: So war immer jemand von uns Eltern zu Hause. Selten verging eine Woche, in der es nicht irgendeinen Anruf von einer Stelle gab: sei es die Schule, die SVE oder der Kindergarten. Entweder wurde eines der Kinder krank oder es ging um Termine, die der Kinder wegen eingehalten werden mussten und bei denen man nicht alle Kinder mitnehmen konnte. Beispielsweise gab es regelmäßigen Kontakt mit dem Jugendamt wegen Jonas, der wegen seiner Auffälligkeiten zunächst in die SVE ging, anschließend in eine heilpädagogische Tagesstätte und später noch in ganz andere Einrichtungen. Die kleine Angelina hatte durch ihre Frühgeburt noch immer körperliche Einschränkungen, weshalb regelmäßig Termine bei Ärzten und beispielsweise der Krankengymnastik, später noch bei der Logopädie und der Ergotherapie notwendig waren. Natürlich büßte mein Mann dadurch regelmäßig seinen Schlaf ein, was sich später auch mit körperlichen Problemen rächte.

Doch zurück zu unserer Morgenroutine: Bis mein Mann also vom Nachtdienst nach Hause kam, war ich allein für die Kinder im Alter von null bis neun Jahren zuständig. Unzählige Male ging ich in der Nacht unseren Zeitplan durch. Zu spät zum Bus oder in den Kindergarten zu kommen war für mich keine Option – und so passierte es auch tatsächlich nie. Ich überlegte mir genau, wen ich wann wecken, anziehen und füttern würde. Mein Wecker klingelte um 5:30 Uhr und zuerst weckte ich Angelina, die anfangs sehr viel schlief und kaum Hunger verspürte. Immer wieder musste ich sie zum Trinken animieren und so dauerte ihr »Frühstück« mit allem Drum und Dran gerne eine Stunde. Wenn sie versorgt war, widmete ich mich den anderen Kindern, was so gegen 6:30 Uhr der Fall war. Dann wurde es trubelig, denn es hieß wecken, das Waschen und Zähneputzen überwachen, dem einen oder anderen beim Anziehen helfen, das Frühstück zubereiten und jedes Kind witterungsgerecht einpacken. Das galt insbesondere für das kleine Frühchen, welches ich extra in mehrere Decken hüllte und ihm dazu noch eine Wärmflasche in den Kinderwagen legte.

So vergingen die Jahre und die Kinder wurden immer selbstständiger, aber die Regeln für den Ablauf und meine durchdachte Planung am Morgen blieben. Irgendwann musste ich zwar kein Baby mehr füttern, dafür waren meine Fähigkeiten im Zöpfeflechten gefragt. Alle drei Mädchen hatten lange Haare und sie übertrafen sich gegenseitig mit ihren Frisurenwünschen, die ich jedoch allzu gerne erfüllte. Die Erzieher im Kindergarten waren regelmäßig entzückt und mehr als einmal fragte man mich: »Wie schaffen Sie das nur, all Ihren Mädchen jeden Morgen so schöne Frisuren zu zaubern?« Ich freute mich zwar über das Lob, doch meistens blieb ich still und lächelte nur, denn in Worten konnte ich meine Gefühle nicht ausdrücken. Ich nehme an, dass das für meine Mädchen und mich so eine Art »Kuscheln« und Körperkontakt war, aber mit einem sinnvollen Hintergrund für mich, denn einfach nur kuscheln fiel mir schwer. Die Kinder bekamen ihre Aufmerksamkeit und ich erfreute mich an den ordentlichen Frisuren.

Noch im Kindergartenalter der Mädchen beobachtete ich, wie wichtig hübsche Kleidchen den anderen Müttern und wahrscheinlich auch den anderen Mädchen waren. Dabei ging es nicht um bestimmte Marken, aber oft hörte ich auch von meinen Kindern: »Mama, schau, der glitzernde Stoff ist doch schön, nicht wahr?« Oder: »Mama, so eine tolle Hose wie meine Freundin sie hat, hätte ich auch gerne.« So ganz verstand ich damals nicht, weshalb so viel Wert auf die Kleidung gelegt wurde – mir hat sie noch nie viel bedeutet und heute bin ich wieder zu meiner »Egal, was jemand anhat«-Haltung zurückgekehrt, aber damals nahm ich an, dass das wichtig sei, und so begann ich mich für Kinderkleidung zu interessieren. Schon zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich mehr oder weniger bewusst, dass meine Kinder anders als ich empfinden, aber da ich von klein auf die Rückmeldung erhalten hatte, an mir müsste etwas falsch sein, stufte ich ihr Verhalten und ihre Freude an Kleidung als »richtig« ein. Außerdem spürte ich, dass ich ihnen damit eine Freude machen konnte. Erst kaufte ich gebraucht sehr schöne Kleidchen, aber irgendwann kam ich auf die Idee, sie selbst zu nähen. Wieder brachte mich das den Mädchen näher, denn sie mussten ständig ausgemessen werden und brachten ihre Ideen ein wie: »Mama, wie wäre es mit einem Kleid mit Feenflügeln?« und Wünsche wie: »Diesmal hätte ich gerne so eine Hose wie Aladdin.« Ich nähte und half ihnen beim Anziehen der manchmal komplizierten Kreationen und sie bemerkten, dass ich mich stundenlang um sie kümmerte – indem ich für sie nähte. Jonas war da unbeabsichtigterweise außen vor und einmal kam er zu mir und fragte: »Mama, ist das nur eine Mädchennähmaschine?« Da begriff ich, dass auch er es als Aufmerksamkeit für seine Schwestern empfand, dass ich ihnen Kleider nähte, und ab da nähte ich auch hin und wieder etwas für ihn, auch wenn seine Einstellung zu Kleidung stets meiner glich.

Einmal in der Woche besuchte ich sogar einen Müttertreff, bei dem die Kinder malen oder basteln oder sonst wie kreativ sein konnten. Das war einer von wenigen Terminen, in denen ich in der Freizeit in Kontakt mit anderen Müttern kam. Manchmal kam es vor, dass mich andere Mütter fragten, ob wir uns nicht auch außerhalb des Müttertreffs einmal verabreden möchten, doch meistens erklärte ich nur ausweichend, dass ich das mit fünf Kindern einfach nicht schaffen würde. Die anderen Mütter zeigten Verständnis. Die Wahrheit aber war, dass es meine Routine durcheinandergebracht hätte. Zudem hatte ich Angst: Ein Treffen mit anderen Müttern, bei dem womöglich noch ein gemeinsames Abendessen mit Dingen anstand, die ich nicht mochte oder kannte, würde unweigerlich – so dachte ich – dazu führen, dass sie irgendwann merkten, dass ich so »anders« bin. Und dann würden sie mich wieder ausschließen.

»Irgendwie bin ich ›falsch‹«, dachte ich lange Zeit. Ich mochte keinen intensiven Kontakt zu anderen Menschen und wollte nicht an größeren Veranstaltungen oder Treffen teilnehmen. Ab und zu probierte ich trotzdem, Kontakte zu knüpfen, beispielsweise besuchte ich einmal eine Art Lesekreis. Ich hatte immer sehr gerne gelesen und überlegte mir, dass ich darüber vielleicht Anschluss zu anderen Frauen finden könnte. An diesem einen Treffen, bei dem ich dann nach akribischer Planung meinerseits teilnahm, ging es aber nicht nur um Bücher. Die Frauen lachten und tratschten und ich fühlte mich deplatziert. Eine Frau meinte zu den anderen: »Schaut mal, die Birke hat fünf Kinder, aber sie ist sooo ruhig und gelassen!« Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass meine innere Welt so ganz anders ist, als ich nach außen ausstrahle. Damals war ich bereits über 30 Jahre alt und dieses Gefühl, etwas an mir zu haben, was mich von den anderen Menschen trennt, wurde mir gerade in solchen Situationen überdeutlich. Manches Mal ließ es mich regelrecht verzweifeln, weil dieses »anders« einfach nicht greifbar war. Meist ließ mich auch der Gedanke an die Verantwortung für meine Kinder diese negativen Gefühle verdrängen. Jedenfalls war es zu diesem Zeitpunkt im Kreise der Frauen in meinem Inneren unerträglich laut und alles in mir drängte danach, aus dem Raum zu stürmen. Aber so wie viele Male zuvor und auch noch danach merkte es mir niemand an.

Noch ein paar Mal unternahm ich solche Ausflüge in die vermeintliche Normalität, aber sie endeten für mich immer enttäuschend. Sie kosteten mich viel Kraft, und einen Platz, an dem ich mich zugehörig fühlte, fand ich außerhalb meiner Familie nicht. So zog ich mich über die Jahre immer mehr aus dem Leben »draußen« zurück, aber ich spürte, dass dies nicht für die Kinder gelten sollte. Schon immer wollte ich, dass sie glücklich werden, und das bedeutete in erster Linie, dass sie nicht so »seltsam« werden sollten wie ich. Daher war ich bemüht, die Kinder so viel wie möglich mit anderen Kindern spielen und interagieren zu lassen. Im Alltag funktionierte das ohne mein Zutun ganz gut durch den Kindergarten, später nach der Schule durch die Nachmittagsbetreuung und verschiedene Kurse, die besonders Miriam mit Begeisterung besuchte. Bei ihr hatte ich das Gefühl, meinem großen Ziel – bloß nicht so zu werden wie ich – am nächsten gekommen zu sein.

So ist es noch heute: Ich freue mich, wenn die Kinder viel erleben und mir davon berichten können. Angelina liebt zum Beispiel Tiere sehr und zufällig stießen wir vor ein paar Jahren auf das Angebot, dass Kinder im Tierpark eine Nacht im »blauen Salon« verbringen und dabei beispielsweise Seekühe durch eine Unterwasserscheibe beobachten können. Angelina hat wie ich den Hang, sich sehr auf Dinge vorzubereiten, und wahrscheinlich hat noch nie ein Tierpfleger so sehr über das Fachwissen eines Kindes über Seekühe und weitere Tiere staunen dürfen. Für mich war es die größte Freude, als sie am nächsten Morgen freudestrahlend nach Hause kam und von ihrem Erlebnis berichtete.

Auch den anderen Kindern versuchen wir, soweit es mit unseren beschränkten Mitteln möglich ist, Erlebnisse zu ermöglichen. Lilly war neulich zu einem Schüleraustausch in Israel. Schon der Flug zuerst in die Schweiz und dann nach Tel Aviv wurde von meinem Mann und mir genau am Bildschirm mittels Flightradar beobachtet und unsere Aufregung war mindestens so groß wie ihre. Als sie mir ein Video von den Pfauen schickte, die dort herumliefen, war ich entzückt. Es ist genau der Abstand, den ich brauche. Gefiltert durch die Kinder ist es mir möglich, viele Dinge zu erleben, die mich ansonsten überfordern würden. Das gilt nicht nur für außergewöhnliche Ereignisse. Schon am Mittag, wenn die ersten Kinder von der Schule hereintrudeln, bin ich gespannt auf die Erlebnisse, von denen sie mir berichten werden. Wobei Jonas in der Regel wenig erzählt, und auch Angelina ist eher zurückhaltend. Dafür erzählen mir Miriam und Lilly vieles bis ins kleinste Detail. Nicht selten liegen wir am Abend zusammen auf der Couch mit dem Plan, einen Film anzusehen oder Der Bachelor oder Germany’s next Topmodel. Im Grunde interessiert mich das nicht sonderlich und die Sendungen sind meiner Ansicht nach recht oberflächlich, aber ich erfahre dadurch viel von den Mädchen, denn sie kommentieren gerne die verschiedenen Szenen und Protagonisten und wir kommen von einem zum anderen. Beispielsweise weiß ich inzwischen viel über Mode, Schminktricks und überhaupt, was »in« ist. Aber diese Abende führen auch zu ernsthafteren Themen wie den Sinn oder Unsinn von Diäten. Ich weiß vieles über unsere Kinder, von dem mein Mann nichts weiß, und wenn er mitbekommt, dass »wir Frauen« uns wieder unterhalten, zieht er sich zurück. Ich freue mich darüber, dass mir die Kinder so sehr vertrauen. Vielleicht ist es so, weil ich den emotionalen Abstand wahren kann. Meine Kinder erleben die Dinge ganz anders, als ich es in meiner Kindheit getan habe, und so vermeide ich es automatisch, ihnen »wohlgemeinte Ratschläge« zu geben. Ich höre zu, allerdings nicht ohne zu analysieren, das mache ich ganz automatisch bei jeglicher sozialen Interaktion. Aber es geschieht ohne Wertung. Und dann beratschlagen wir die Situation gemeinsam. Es ist meine ganz persönliche Möglichkeit, im Leben meiner Kinder Mäuschen spielen zu dürfen. Manchmal ist auch Angelina dabei, vor allem, wenn es um einen »psychologischen Rat« geht – da ist sie die Expertin in unserer Familie. Angelina war mit zehn und elf Jahren einige Zeit in einer psychosomatischen Klinik gewesen und hat dadurch viel von älteren Mädchen mitbekommen und mit großem Interesse verfolgt. So ist sie in unserer Runde ganz gleichberechtigt, wenn es beispielsweise um Liebeskummer geht, und bringt durchdachte Vorschläge, trotz ihrer noch wenigen Lebenserfahrung. Solche Gespräche sind für mich sehr wertvoll, weil ich damit die seltene Erfahrung mache, Teil einer Gruppe zu sein, in der ich mich voll und ganz wohlfühle. Manchmal denke ich sogar, dass für mich die Kinder daher so wenig anstrengend sind, weil ich so dankbar für sie bin. Sie zeigen mir alles, was ich selbst nicht erfahren kann, und geben meinem Leben einen Sinn.

Wenn ich von unserer Familie schreibe, darf ich – das haben mir die Kinder ausdrücklich aufgetragen – unsere Katzen nicht vergessen. Für viele Menschen mögen sie einfach nur Haustiere sein, aber für uns sind sie wie Familienmitglieder. Wie oft habe ich gesehen, dass eins meiner Kinder mit einer Katze kuschelt und ihr etwas erzählt. Wahrscheinlich wissen die Tiere eine ganze Menge Geheimnisse, von denen mir verständlicherweise nicht berichtet wird – auch Kinder brauchen ihre Privatsphäre. Aber unsere Katzen sind viel mehr als Kuscheltiere, denn auch sie haben Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Ein Tier zu halten bedeutet Verantwortung, und meinem Mann und mir war es immer wichtig, dass die Kinder lernen, was dies bedeutet.

Ich bin glücklich, dass mein Mann und ich bei Erziehungsfragen stets am selben Strang ziehen. Zudem ist mein Mann derjenige, der der Familie und mir wirklich einen Halt gibt. Unermüdlich ist er für die Kinder da, macht mit ihnen Ausflüge, die ich nicht leisten kann. Unsere Entscheidungen treffen wir gemeinsam, wie damals, als Lilly in einen speziellen Kindergarten für hochbegabte Kinder kam. Dieser war in einer anderen Stadt und es war klar, dass es für uns eine jahrelange Schwierigkeit bedeuten würde, sie dort hinzubringen, da der Fahrtweg so umständlich war. Mit nur einem oder zwei Kindern ist so etwas vielleicht noch leicht machbar, aber mit unserem Hintergrund war es nicht unproblematisch. Es bedeutete nämlich weitere zwei Stunden am Tag, die nur für die Fahrt benötigt wurden – und dies immer mit dem Risiko, für die anderen Kinder deshalb nicht sofort erreichbar zu sein. Im Sinne des Kindes machten wir es trotzdem und hatten von da an wieder ein glückliches Kind – in dem Kindergarten zuvor wurde sie nämlich mit der Zeit immer auffälliger und unglücklicher.

Überhaupt ist das eine der großen Übereinstimmungen zwischen meinem Mann und mir: Wichtig ist uns beiden das Glück der Kinder und wie wir sie unterstützen können. Wenn eines ein Problem hat, wird inzwischen teilweise per »Familienrat« beratschlagt, wie wir es lösen können, sofern es in unserer Hand liegt. Es ist dann weniger ein Problem als ein Projekt, welches es zu bewältigen gilt. Früher machten das mein Mann und ich allein und wir konnten stundenlang über die Kinder sprechen. Waren wir mit einem fertig, kam das nächste Kind mit einer Herausforderung. Auch heute macht dies den Familienalltag spannend, aber inzwischen diskutieren die Kinder mehr mit. Jedes spricht mit seiner eigenen Lebenserfahrung und so manches Mal staune ich, auf welche Ideen die Kinder kommen. Aus meiner Erfahrung heraus und dem Vertrauen, das ich in sie habe, akzeptiere ich auch für mich außergewöhnliche Vorschläge, wie wir ein Problem lösen könnten.

Trotzdem ist es nicht so, dass ich alle Veränderungen, die die Zeit mit sich gebracht hat, positiv sehe – vieles betrachte ich mit gemischten Gefühlen. Natürlich ist es schön, dass Angelina trotz ihres schwierigen Startes bei ihrer Geburt und den vielen Schwierigkeiten in den Jahren danach mit ihren 15 Jahren inzwischen die achte Klasse eines Gymnasiums besucht. Lilly wird dieses Schuljahr sogar – nachdem sie als 17-Jährige den Hochbegabtenzweig ihres Gymnasiums durchlaufen hat – das Abitur machen. Miriam und Jonas haben es schon bestanden und studieren und Miriam macht sogar ein duales Studium. Das sind Dinge, über die ich mich freue. Irgendwie ist es immer vorwärtsgegangen. Zweifelsohne waren es wertvolle Jahre, doch es waren eben auch anstrengende Jahre. Immer und immer wieder weit über unsere Kräfte zu gehen, forderte irgendwann seinen Tribut. Mein Mann erkrankte schon 2008 an Multipler Sklerose, und nachdem er seiner Arbeit als Altenpfleger dadurch nicht mehr nachgehen konnte, machte er eine Umschulung zum Informatikkaufmann. Jedoch konnte auch diese Änderung weitere Erkrankungen und Schübe nicht aufhalten und so ist er inzwischen berentet. Natürlich liegt die Ursache der Erkrankung nicht bei den Kindern und deren Erziehung, aber sicher haben die vielen Sorgen und Ängste die gesundheitliche Situation nicht verbessert. Auch bei mir ging die Zeit nicht spurlos vorüber. Die Jahre der ständigen Überlastung und vor allem der Maskierung meines Autismus haben mir so viel abverlangt, dass ich mehrere Komorbiditäten wie Ängste und Zwänge entwickelte und eine Zeit lang sogar gar nicht mehr das Haus verlassen habe. Lange habe ich meine Schwierigkeiten nach außen so gut es ging verborgen, nicht zuletzt aus Angst, dass man mir die Kinder wegnehmen würde. Letztendlich endete es auch in der Berentung meinerseits. Damit ich einigermaßen zurechtkomme, ist unser Tagesablauf noch immer eingeschränkt: Mit Veränderungen komme ich nun noch schwerer zurecht, und wenn ich das Haus verlasse, ist mein Mann dabei oder – und das ist wohl die größte Veränderung – entweder Miriam oder Lilly. So, wie ich sie früher ganz selbstverständlich an die Hand nahm und sie zu ihren Terminen, Aktivitäten oder in den Kindergarten begleitete, machen sie es heute mit mir. Niemals fällt dabei ein böses Wort oder ein Zeichen der Verärgerung oder dass es ihnen lästig ist. Es ist für sie einfach normal, mir die Hilfe und Unterstützung zu geben, die ich benötige. Dafür kann ich wieder dankbar sein: Kinder zu haben, die es für selbstverständlich halten, Rücksicht zu nehmen und für andere Menschen da zu sein. Diese Freude und Dankbarkeit darüber versuche ich ihnen zu vermitteln, indem ich für sie da bin, jeden Tag. Es sind viele kleine Gesten und liebevolle Situationen, die unseren Alltag prägen, und zwar nicht nur zwischen uns Eltern und den Kindern, sondern auch zwischen meinem Mann und mir. Mein Mann bringt mir fast jeden Morgen das Frühstück ans Bett: ein Glas Orangensaft, eine Tasse Kaffee, ein Ei und ein Brötchen. Es ist seine Art, mir schon am Morgen zu zeigen, dass er mich liebt.

Immer nur einen einzigen Tag

Wenn ich an etwas gar nicht gerne zurückdenke, dann ist es meine Kindheit. Wenn meine jetzige Familie nicht »normal« ist, dann ist es meine Herkunftsfamilie schon gar nicht, und das wahrscheinlich nicht erst seit dem Weggang meiner Mutter, als ich zwei Jahre alt war und meine Schwester noch ein Baby. Meine Mutter ging fort und wir sahen sie mehrere Jahre nicht mehr. Mein Vater heiratete zwar schnell wieder, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals Liebe oder Anerkennung oder Unterstützung erhalten zu haben. Allerdings hatte ich »Glück im Unglück«, denn es gab Personen, die das zumindest etwas auffingen. So gab es eine Mitarbeiterin im Betrieb meines Vaters, die wohl sehr genau mitbekam, wie zurückgesetzt ich mich fühlte, und die immer ein paar liebe Worte für mich übrighatte. Es gab eine Bekannte der Familie, zu der ich mich oft heimlich schlich, beispielsweise wenn in der Schule eine Stunde ausfiel, und mit der ich mit Begeisterung Schach spielte. Ich liebte es sogar, ihr auf dem Klavier vorzuspielen, was ich zu Hause nur mit Widerwillen tat – dort war jeden Tag eine Stunde üben Pflicht.

Es gab noch etwas: Eines Tages – ich war wohl um die sechs Jahre alt und konnte gerade lesen – kam ich zu einer Kinderbibel. Meine Familie ist nicht gläubig und so war Gott nie ein Thema. Völlig unbeeinflusst las ich also in dieser Bibel. Las von der Mutter Gottes, von Gott, dem Vater, und kam erstens zu dem Schluss, dass dann Jesus wohl mein Bruder sei, und zweitens, wenn dies alles der Fall sei, dann wäre das wohl meine richtige Familie, und so erklärte sich mir für ein paar Jahre alles. Ich bekam sogar einen Anhaltspunkt, wo meine Familie zu finden sei, nämlich in einer Kirche, und das stimmte mich froh. Dort würde ich Menschen finden, die so waren wie ich. Denn dass ich anders bin, habe ich schon im Kindergarten gespürt, als ich die meiste Zeit allein im Sandkasten saß, obwohl ich gerne mit den anderen Kindern gespielt hätte. Aber ich wusste nicht, wie das geht. Keines der anderen Kinder kam je auf mich zu, um mit mir zu spielen. Stattdessen machte es ihnen Spaß, mich zu ärgern. Einmal nahmen sie mir mein Kuscheltier weg, das ich mit in den Kindergarten genommen hatte. Sie versteckten es und trotz eifriger Suche auch der Kindergärtnerinnen wurde es nicht mehr gefunden. Situationen wie diese gab es viele; ich war oft traurig.