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Sprachlos durch Schlaganfall? Das Leben der 17-jährigen Schülerin Marie wird komplett auf den Kopf gestellt, als ihre Mutter ohne Vorwarnung einen schweren Schlaganfall erleidet. Während für Marie früher Schule, Jungs, ihre beste Freundin, neueste Kinofilme und Fahrstunden das Wichtigste gewesen sind, prägen nun Krankheit, Angst, Missverständnisse und (Für-)Sorge ihren Alltag: Denn ihre Mutter kann weder gehen noch sprechen. Marie droht an der Situation zu verzweifeln, doch dann bekommt sie Unterstützung von Serafino, einem ihr zunächst Fremden … Ein realistischer, hoffnungsvoller und mystisch angehauchter Familienroman, der auf einer wahren Geschichte beruht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Mama Sprachlos
DANIELA GESSLEIN
Ein Familienroman über Schlaganfall, Glaube, Liebe und das Nicht-Aufgeben
Der Feuertanz Verlag und die Autorin Daniela Gesslein weisen ausdrücklich darauf hin, dass dieser Roman – auch wenn er auf wahren Begebenheiten beruht und die möglichen Folgen eines Schlaganfalls realistisch darstellt – weder eine Biografie, noch eine medizinische Abhandlung ist.
Alle Charaktere in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu wahren Personen und deren Handlungen sind auf Zufall zurückzuführen. Das »Beratungszentrum Oberfranken für Menschen nach erworbener Hirnschädigung« existiert jedoch tatsächlich. Ebenso die Selbsthilfegruppe »AvA – Angehörige von Aphasikern Lichtenfels«.
Feuertanz-Verlag
Teil I: DAVOR
Omen
Auf dem Weg
Teil II: AUF EINEN SCHLAG IST ALLES ANDERS
Der Tag X
Nicht adäquat
Koma
Rubinherz
Leerlauf
Berg
Teil III: Danach
Aphasie
Easy
Akutphase
Therapie
Der Feurige
Reha-Sommer
Freier Fall
Cognac und Sightseeing
Experiment
Reha-Herbst
Teil IV: Ein neues Leben
Aphasiker-Alltag
Nebenwirkungen
Des is’ halt alles irgendwie …
Blue Skies
Invers
Die Waffe gegen Sprachlosigkeit
Brüche
Die liegende Acht
Die andere Seite
Unsichtbar da
Gesalzen
Gedanken-Karte
Kapö
POESIA V
Epilog
Nachwort
Personenregister
Danksagung
Die Poetin
Die Autorin
ECHOLOST
Tolossos
Projekt Keltentor
Impressum
Teil I: DAVOR
POESIA I
het leven rondom je
verandert
en in de uitgestrektheid
van een lange dag
verlies je soms heel even
het besef van nu en morgen
das Leben um dich herum
verändert sich
und in der Weite
eines langen Tages
verlierst du manchmal kurz
dein Jetzt und Morgen
© Willemina Preiß, aus: „Verschillen in Liefde“, 1977
Omen
Der Wald wirkt märchenhaft. Beinahe mystisch. Unzählige Stämme stehen dicht nebeneinander und recken sich in schwindelerregende Höhen empor. Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die reglosen Zweige der Laubbäume und berühren den Waldboden vor mir wie die gespreizten Finger einer riesigen Hand. Über dem Boden schweben vereinzelte Nebelschwaden, und Tautropfen glitzern auf kunstvoll gewebten Spinnennetzen im Unterholz.
Ich folge einem Pfad, der bergauf führt. Der Boden schluckt jegliches Geräusch meiner Schritte. Würde ich nicht meinen Atem und das Klopfen meines Herzens vernehmen, müsste ich wohl davon ausgehen, dass ich nicht existiere.
Nach einer Weile finde ich mich auf einem Felsplateau wieder. Über mir erhebt sich ein strahlend blauer Himmel, der mit Federwolken dekoriert ist. Ich halte inne.
Ein paar Meter von mir entfernt kauert eine menschliche Gestalt auf dem Boden. Sie hat mir den Rücken zugewandt und wird von herzzerreißenden Schluchzern geschüttelt.
»Hallo? Was ist los? Warum weinst du?«
Die Person richtet sich auf und dreht sich um. Es ist ein junger Mann mit schulterlangem braunem Haar und dunklen Augen. Er kommt mir vertraut vor, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, wo und wann ich ihn schon einmal gesehen habe.
»Warum bist du so traurig?« Ohne zu wissen wieso, geht mir sein Kummer sehr nahe.
»Es wird jemand sterben.«
Seine Worte vertreiben jegliche Wärme aus meinem Herzen, das plötzlich von Furcht umklammert wird.
»Wer?« Ich fürchte mich vor der Antwort, dennoch muss ich es wissen. »Bitte sag es mir.«
Er schüttelt den Kopf, geht zum Abhang hinüber und sieht in die Ferne. Mein Blick folgt ihm. Meine Füße allerdings gehorchen mir nicht und bleiben einfach dort, wo sie sind. Der plötzlich aufkommende Wind bringt das Laub der Bäume zum Rascheln. Reflexartig drehe ich mich danach um. Als ich mich erneut zu dem jungen Mann umwende, ist er verschwunden.
Auf dem Weg
17. Mai 2008
Ein durchdringendes Scheppern reißt mich aus dem Schlaf. Das Herz pocht so heftig in meiner Brust, dass ich denke, es wolle herausspringen. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf.
Es ist stockdunkel. Rechts neben mir, wo für gewöhnlich mein Radiowecker rot leuchtend die Uhrzeit verkündet, ist … nichts. Ich taste durch die Dunkelheit und greife ins Leere. Schließlich vernehme ich ein Rascheln. Jemand knipst ein Licht an.
»Sag bloß, es ist schon so weit?«, kommt eine verschlafene Stimme von links. Bine.
Sofort weiß ich wieder, wo ich mich befinde. Meine Fußsohlen prickeln in der Erinnerung an die Strecke von gestern. Zweiundvierzig Kilometer zu Fuß an einem einzigen Tag! Und zwei solche Tage habe ich noch vor mir.
Bine gähnt lautstark und richtet sich im Nachbarbett auf.
Ich finde meine Armbanduhr auf dem Nachttisch und bestätige: »Tatsächlich. Es ist halb vier.«
Endlich schaltet Bine den Wecker aus. »Boah, bin ich groggy. Wir müssen verrückt sein, Marie. Zu so einer Zeit steht doch kein normaler Mensch auf!«
»Hilft alles nix.« Ich dehne und strecke mich, bis die Gelenke knacken. »Da müssen wir jetzt durch.«
In einem Rekordtempo machen wir uns nacheinander frisch, würgen ein hastiges Frühstück hinunter, packen unsere Rucksäcke und schleichen anschließend aus der Pension.
Draußen empfangen uns um die Wette blinkende, Aufmerksamkeit heischende Sterne. Es ist eisig, obwohl es Mitte Mai ist, und ich ziehe den Kragen meiner Jacke etwas höher.
Die Ortschaft liegt schweigend im Schimmer der Morgendämmerung. Doch die Ruhe überträgt sich nicht auf mich. Es wird jemand sterben … Die Worte aus meinem Traum schütteln mich.
»Frierst du?«, fragt Bine.
»Nein … äh … ich meine: ja. Aber das ist es nicht.« Ich erzähle ihr von meinem Traum.
Danach sind unsere Schritte und das Säuseln des Windes die einzigen Geräusche, bis Bine das Schweigen unterbricht: »Unheimlich, dass du ausgerechnet jetzt so einen Traum hast. Vielleicht ist er eine Warnung. Ein Omen.«
»Oh, bitte nicht!« Ihre Worte machen mir Angst.
Wir haben inzwischen den Marktplatz erreicht, wo sich nach und nach unsere achtundsiebzig-köpfige Gruppe vervollständigt, und verstummen. Vier der Männer haben leuchtend gelbe Warnwesten an und tragen jeweils eine Lampe, die regelmäßig an und ausgeht. Die Musiker halten ihre Instrumente bereit. Ich suche nach der Frau mit dem blauen Rucksack, die stets vor mir geht. Nachdem ich sie gefunden habe, reihe ich mich routiniert hinter ihr ein.
Die beiden Anführer zählen die Gruppe gewissenhaft durch. Einer übernimmt die linke Reihe, der andere die rechte. Kurz darauf vernehme ich ein Kratzen aus der Lautsprecherbox, die einer der Männer trägt, und die Stimme des Wallfahrtsführers spricht das erste Gebet des Tages: »Im Namen des Vaters …«
Wir stimmen ein: »… und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Abwechselnd singend und betend verlassen wir die Stadt. Bald erreichen wir ein Feld, über dem eine dünne Schicht Nebel schwebt. Ich frage mich sofort, was dort wohl wächst, doch es ist noch zu dunkel, um Genaueres zu erkennen.
Langsam färbt sich im Osten der Himmel violett, danach purpurn und schließlich leuchtend rot. Ein fröhlich plätschernder Bach begleitet uns. Der Wald liegt friedlich vor uns. Vögel begrüßen den neuen Tag. Auf dem Gras glitzert Tau. Es riecht nach Moos und feuchter Erde.
Denk nicht mehr daran, mahne ich mich in Gedanken. Es war nur ein dummer Traum. Er hat nichts zu bedeuten.
∞
»Grooo-ßer Go-ott, wir lo-oben dich …« Singend und von Musik begleitet, schreiten wir das letzte Stück Weg zur Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit empor. »Herr, wir pra-eisen da-eine Werke …«
Die Türme der Wallfahrtskirche recken sich in beeindruckende Höhen empor, als wollten sie in den Himmel wachsen. Mächtige Rundbögen umrahmen Fenster, die in allen Farben des Regenbogens schillern. Das Eingangstor wird von strahlend weißen Ornamenten und Engelsfiguren geschmückt. Die Kirchenglocken verkünden weithin hörbar unsere Ankunft.
Wir schreiten die Stufen zur Eingangspforte empor. Rechts und links von uns flattern gelb-weiße Flaggen. Unsere Prozession wird von Angehörigen, Freunden und anderen Zuschauern gesäumt. Ich entdecke Timo, meinen großen Bruder, der uns mit einem Strahlen im Gesicht zuwinkt. Sein Lächeln gilt vor allem Bine, seiner festen Freundin.
Bine und Timo: Bimo. Die Unzertrennlichen. Ihre Hände berühren sich flüchtig zum Gruß.
Mama und Papa sind auch da. Ebenso Bines Familie. Mamas Lippen formen ein stummes »Hallo!«, und Papa schießt ein Foto nach dem anderen. Mir steigen Tränen der Rührung in die Augen. Ich muss mich räuspern, um weitersingen zu können.
Schließlich betreten wir die Kirche. Das Schmettern der Trompeten, Querflöten, Posaunen und Tuben erfüllt meinen ganzen Körper. Weiches Gelb und strahlendes Weiß umarmen mich von allen Seiten. Ein Gefühl des Friedens überkommt mich, und ich werde innerlich ganz ruhig.
∞
»Liebe Wallfahrerinnen und Wallfahrer …« Mit feierlicher Stimme eröffnet der Pfarrer von Gößweinstein
1 den Gottesdienst, während ich die feine Bildhauerarbeit des Gnadenaltars hinter ihm bewundere. »Eine Wallfahrt ist wohl die schönste Form des Gebets, die echteste, weil sie das, was das Gebet zum Ausdruck bringt – das Auf-dem-Weg-zu-Gott-sein – nicht nur in Worte kleidet, sondern auch in die Tat umsetzt. Auf dem Weg sein: Was bedeutet das für unser Leben? Es gibt verwirrend viele Wege: Autobahnen, Feldwege, Sackgassen, Einbahnstraßen, Überlandstraßen. Es ist ein Leichtes, sich ohne Navigationsgerät zu verirren.«
Mein Blick verharrt auf der Statue eines Engels mit marmornen Flügeln, da ich glaube, eine vage Bewegung wahrgenommen zu haben: Er hat mir zugezwinkert! Ich klammere mich an meinem Gebetsbüchlein fest, und es dauert eine Weile, bis ich es wage, die Figur erneut anzuschauen. Der Gesichtsausdruck des Engels ist regungslos. Das Zwinkern muss ich mir eingebildet haben.
»Nicht immer verstehen wir die Pfade des Herrn. Manchmal begegnen uns auf unserem Lebensweg Ereignisse, die uns aus der Bahn werfen: Krankheit, Angst, der Tod eines lieben Menschen. Aber bei all dem, was geschieht, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass er da ist: Jesus Christus, unser Herr. Dass er uns niemals im Stich lässt auf unserem Weg, dass er uns Stütze ist und Hoffnung in aller Not, und dass er uns beisteht, was auch geschehen mag …«
∞
Nach dem Gottesdienst sind wir zu der Mariengrotte hinter der Wallfahrtskirche gegangen und haben dort eine Opferkerze angezündet. Eine sanfte Brise bringt deren Flamme zum Zittern. Ihr Feuer knistert, flackert, droht zu erlöschen, kämpft sich jedoch tapfer in die Existenz zurück.
»Was ist? Wollen wir endlich Mittagessen?«
Ich weiß nicht, was lauter ist: Bines Frage oder ihr Magenknurren.
»Mittagessen? Um neun in der Früh?« Timo kichert.
»Na, hör mal! Wir sind schon seit über fünf Stunden auf den Beinen. Frühstück hatten wir um halb vier. Wie willst du das sonst nennen, wenn nicht Mittagessen?«
»Früttagessen?«, schlägt mein Bruder vor. »Mittstücken?«
Papa legt den beiden je eine Hand auf die Schulter. »Lasst uns einfach Brunchen gehen.«
Während sie sich in Bewegung setzen, verharrt mein Blick auf der Opferkerze.
Nicht immer verstehen wir die Wege des Herrn …
Es wird jemand sterben …
»Alles in Ordnung?« Mama hat mein Zögern bemerkt.
Ich überlege kurz und entscheide mich dafür, ihr von meinen Sorgen zu erzählen.
Mama lauscht aufmerksam. Anschließend nickt sie. »Ich weiß es, Marie.«
»Was weißt du, Mama?«
»Wer sterben wird. Ich bin es.«
1 Gößweinstein: ein vor allem in der Pfingstzeit hochfrequentierter katholischer Wallfahrtsort in der Fränkischen Schweiz.
Teil II: AUF EINEN SCHLAG IST ALLES ANDERS
POESIA II
de nevel
doet de laatste stralen
van de zon verdwijnen
omdat de hoop van deze dag
vervlogen is
en in de nacht
valt er geen enkele ster
zodat er veel te wensen blijft ...
der Nebel
lässt die letzten Strahlen
der Sonne verschwinden
weil die Hoffnung von diesem Tag
verflogen ist
und in der Nacht
keine einzige Sternschnuppe
sodass Wünsche Wünsche bleiben …
© Willemina Preiß, aus: »Verschillen in Liefde«, 1977
Der Tag X
Daheim, 22. Mai 2008: Fronleichnam
Papa hat noch nichts gesagt. Trotzdem bin ich aufgewacht. Vielleicht habe ich gespürt, dass er in mein Zimmer gekommen ist, und mich daraufhin sofort in meinem Bett aufgesetzt.
»Marie …« Seine Stimme klingt gequält. »Bitte, komm. Eva …«
Ich springe aus dem Bett. »Was ist mit Mama?«
»Sie reagiert nicht mehr.«
»Was?«
Barfuß stürme ich die Treppe hinunter. Unten angekommen, muss ich mich am Türrahmen vom Schlafzimmer festklammern.
Mama liegt im Bett, die Augen weit aufgerissen an die Decke gerichtet. Sie wirkt in diesem Moment jedoch nicht, als würde sie tatsächlich die Decke sehen. Genau genommen scheint sie überhaupt nichts wahrzunehmen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich ungleichmäßig.
»Mama!« Ich knie neben dem Bett nieder und rüttele an ihrem Arm. »Was hast du?«
Die ersten Sonnenstrahlen, die ich sonst so liebe, erzeugen gespenstische Schatten auf ihrem Gesicht. Frodo fängt an zu jaulen. »Papa, wir müssen den Notarzt rufen!«
»Ja.« Seine Stimme ist höchstens ein Flüstern. Er verlässt den Raum. Durch Mamas Körper fährt ein unkontrolliertes Zucken. Sie wendet sich mir zu. So große, dunkle, fragende Augen. Der Anblick lässt mir das Herz erfrieren.
Es dauert nicht lange, bis zwei Sanitäter und ein Notarzt ins Haus eilen. Deren rasche, aber routinierte Handgriffe ziehen wie Szenen aus einem Kinofilm an mir vorüber. Schließlich diagnostiziert der Notarzt: »Es besteht akuter Verdacht auf einen schweren Apoplex2.«
Wir blicken ratlos zu den Männern.
»Schlaganfall«, übersetzt einer der Sanitäter.
∞
Papa und ich sitzen vor der Glastür zur Intensivstation des Krankenhauses. Unseren Plätzen gegenüber befindet sich eine Wand mit Motiven von Walt Disney: Mickey Maus und Minnie, Pluto und Donald. Die Entbindungsstation liegt auf derselben Etage wie die Intensivstation. Anfang und möglicherweise Ende des Lebens so nah beieinander.
Ich bekomme Angst vor meinen eigenen Gedanken.
Endlich öffnet sich die Glastür. »Herr Strasser?«, richtet sich der Arzt an Papa. »Leider habe ich keine guten Nachrichten. Ihre Frau hatte tatsächlich einen schweren Schlaganfall. Teile ihres Gehirns werden nicht mehr mit Blut versorgt und sterben ab.«
Was labert der für einen Blödsinn? Mein Inneres wehrt sich gegen die Worte des Arztes.
»Bisher wissen wir weder, wie viel Gewebe noch welcher Teil des Gehirns betroffen ist, aber vielleicht können wir Schlimmeres vermeiden.«
»Wie?« Papas Stimme klingt kratzig.
»Mit einer Thrombolyse3-Therapie.«
»Thrombo…was?«
»Das ist eine medikamentöse Behandlung, bei der wir versuchen, den Blutpfropf aufzulösen, der die Ader im Gehirn verstopft hat. Allerdings ist sie nicht ohne Risiko. Können Sie mir sagen, seit wann ihre Frau diese apoplektische Symptomatik zeigt?«
»Ich bin um kurz nach halb sieben aufgewacht.« Papa zuckt mit den Schultern. »Da war sie schon so.«
»Wissen Sie, es gibt für die Lyse ein Zeitfenster von drei Stunden. Wird sie zu spät eingeleitet, kann das schlimme Folgen haben.«
»Welche?«
»Wenn wir die Lyse nicht durchführen, werden nach und nach weitere Hirnzellen absterben und Ihre Frau wird zum Pflegefall.«
»Und wenn Sie die Lyse durchführen?«
»Wenn die Lyse zu spät kommt, kann es sein, dass sie daran stirbt.«
In meinen Ohren ertönt ein Rauschen.
Ich weiß es, Marie.
Was weißt du, Mama?
Wer sterben wird. Ich bin es.
»… gegen drei Uhr morgens gewesen sein«, beendet Papa einen Satz.
»Das ist vier Stunden her. Ihre Frau ist normal zur Toilette gegangen? Nicht geschwankt oder gestolpert? Vielleicht ist es für die Lyse also nicht zu spät.«
Es fällt mir schwer, mich auf die Unterhaltung der beiden Männer zu konzentrieren.
»… Zeit zum Nachdenken.« Das spricht der Arzt. »Ich könnte beide Entscheidungen verstehen. In zehn Minuten bin ich wieder bei Ihnen.«
∞
Fassungslos stehen wir da, Papa und ich, und sehen dem startenden Hubschrauber zu, in den man Mama verladen hat. Zwar sei die Lyse nicht zu spät begonnen worden, so der Arzt. Dennoch habe das Medikament den Blutpfropf nicht auflösen können. Das müsse man jetzt mechanisch versuchen. Was auch immer das bedeuten mag. Allerdings nicht hier. Man bringe Mama nun in eine Klinik, die auf derartige Eingriffe spezialisiert sei.
∞
Warten macht wahnsinnig. Zu diesem Schluss komme ich recht schnell am Tag X.
»Die Not-OP ist überstanden«, hat es geheißen. »Jetzt bleibt uns nur eins: abwarten.«
»Können wir zu ihr?«, hat Papa gefragt.
»Bleiben Sie lieber zu Hause. Wir melden uns bei Ihnen.«
»Wann?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sobald wir eben was Neues wissen.«
Die Stunden ziehen sich unendlich in die Länge. Und das Telefon schweigt. Wir haben Timo Bescheid gegeben, der – so wie wir auch – wegen Fronleichnam frei hat. Er ist sofort zu uns gefahren. Bine hingegen haben wir gebeten, erst einmal nicht mitzukommen. Sie ist außer sich gewesen. Geschrien hat sie, geheult und uns übel beschimpft. Aber Papa hat gemeint, wir müssten als Familie zunächst selbst mit der Situation klarkommen. Wir stellen fest, dass dies unmöglich ist. Alle Gedanken drehen sich um Mama: Was ist mit ihr? Was machen die mit ihr? Warum kann uns niemand Genaueres sagen? Wie lange müssen wir warten?
Mich quälen außerdem weitere Fragen: Was ist, wenn mein Albtraum wahr wird? Hätte ich etwas tun können, um das zu verhindern? Tun müssen? Wenn ich schon extra eine Vorwarnung bekommen habe? Bloß … was hätte ich tun können? Verdammt, was?
Timo, Papa und ich diskutieren und schweigen schließlich, nachdem wir keine befriedigenden Antworten gefunden haben. Wir tigern im Raum auf und ab und bleiben orientierungslos stehen. Wir setzen uns und starren die Wand an, schalten den Fernseher ein und wieder aus, versuchen zu essen und bekommen keinen Bissen hinunter. Mehrmals gehen wir mit Frodo Gassi, nur, um irgendetwas zu tun. Abwechselnd, sodass immer einer zu Hause ist, falls jemand auf dem Festnetz anruft. Doch das Telefon gibt keinen Ton von sich.
Mein Hündchen versteht die Welt nicht mehr. Nachdem es lange Zeit vergebens nach Mama gesucht hat – in allen Zimmern, sogar unter dem Bett und im Garten – kriecht es auf meinen Schoß und schmiegt sich ganz eng an mich. Ich vergrabe meine Hände in seinem weichen Fell, das von meinen Tränen ganz feucht wird.
∞
»Verflixt!« Papa donnert die Zange auf den Tisch, mit der er versucht hat, Mamas Halskette zu reparieren.
Die Kette war gerissen und zu Boden gefallen, während Mama in den Hubschrauber verladen wurde. Einer der Notfallhelfer hob das Schmuckstück wohl auf, reichte es an die Arzthelferin weiter, die es Papa später in die Hand drückte.
Ich lege meine Hand auf seinen Arm. »Lass. Das wird jetzt nichts. Guck mal: Deine Finger zittern total.«
Papa entzieht sich mir. »Nein! Eva hat dieses Rubinherz seit unserer Verlobung getragen. Es darf nicht sein, dass es kaputt ist. Ich muss …« Er fährt mit seinen Bemühungen fort.
Timo ist inzwischen nach draußen verschwunden. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass er sich wohl irgendwo Zigaretten besorgt haben muss, obwohl er vor etwa einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört hat. Nun zündet er sich eine nach der anderen an.
Auch ich möchte etwas tun, will schreien oder Dinge zertrümmern. Stattdessen hocke ich da und balle meine Hände zu Fäusten, so fest, dass die Haut über meinen Knöcheln ganz weiß aussieht und sich die Fingernägel in meine Handflächen bohren.
∞
»Ihre Frau liegt im künstlichen Koma. Ihr Gehirn muss sich von der Operation erholen.«
Obwohl wir uns dem Rat des Arztes widersetzt haben und einfach zur Kopfklinik gefahren sind, nimmt sich Doktor Kobalt Zeit für uns und beantwortet geduldig unsere Fragen. Er hat uns in einen Raum geführt, wo er Bilder von Mamas Gehirn zeigt: gruselige Schwarz-Weiß-Bilder, wie ich sie aus Krankenhaus-Fernsehserien kenne.
»Ich habe zunächst versucht, mit einem Katheter bis zur betroffenen Stelle vorzudringen, um die Embolie4 zu entfernen, damit das Blut wieder durch das Gehirn fließen kann. An dieser Stelle.« Er deutet auf einen Schatten inmitten verschiedener grauer Flecken. »Leider musste ich abbrechen.« Er setzt sich uns gegenüber an den Schreibtisch. »Die Embolie, also der Blutpfropf, befand sich zu dicht an der Hauptschlagader. Wenn ich dort mechanisch eingegriffen hätte, hätte der Hirnstamm5 zu Schaden kommen können, was unter Umständen lebenserhaltende Funktionen gestört hätte. Das Risiko war zu groß. Aber durch einen anderen Eingriff konnte ich zumindest verhindern, dass sich die Nekrose6 auf angrenzendes Gewebe ausweitete: Ich habe einen Teil der Schädeldecke entfernt.«
Außerstande, Doktor Kobalt ins Gesicht zu schauen, starre ich den Boden an.
»Links oberhalb vom Ohr habe ich die Schädeldecke geöffnet und ein ungefähr faustgroßes Stück entnommen. In etwa so. Sehen Sie?«
Nein, ich sehe es nicht. Die Worte reichen mir.
»Dieses Stück Schädelknochen wird steril aufbewahrt, um es zu einem späteren Zeitpunkt wieder einsetzen zu können. Warum dieses Vorgehen? Nun … verletztes Gewebe braucht Platz zum Anschwellen. Innerhalb der Schädeldecke hat es diesen nicht. Deshalb die Trepanation7, damit nicht noch mehr Gewebe abgedrückt wird. Ja, glauben Sie mir: Das Gehirn wird schwellen.«
∞
Neurochirurgische Intensivstation …
Bleiche Gesichter auf weißen Kissen. Piepsende Apparaturen. Gestänge, an denen Beutel befestigt sind, aus denen irgendeine Flüssigkeit in die Arme von reglosen Gestalten tropft. Mitten darin: Mama. Sie hat einen dicken Verband am Kopf, einem Turban nicht unähnlich, an dessen Rändern sich eine dunkle Paste abzeichnet. Desinfektionsmittel?
Deckel links fehlt, verkündet ein Zettel an der Wand hinter ihr.
Haben die ihr die Haut über dem Schädel zusammengenäht, oder liegt das Gehirn unter dem Tuch frei? Ich bekomme eine Gänsehaut. Die ganzen Schläuche! Einer, durch den eine bräunliche Flüssigkeit läuft, steckt in Mamas Nase. Ein weiterer führt in ihren linken Arm. Und ein dritter direkt in ihren Hals. Künstliche Beatmung. Mama kann nicht mehr allein atmen.
Das Zischen des Beatmungsgerätes wirkt gleichermaßen nervtötend und einschläfernd auf mich. Ich verspüre das Bedürfnis, im selben Rhythmus zu atmen. Innerhalb kürzester Zeit fühle ich mich davon so benommen, dass ich nach Luft schnappen und ein paar Schritte hin und her tun muss, um meinen Kreislauf zu normalisieren.
»Können Sie uns sagen, ob …« Papa bricht ab.
Doktor Kobalt versteht dennoch. »Ja, Herr Strasser. Ihre Frau ist stabil.«
»Also wird alles gut.« Timos Stimme ist voller Hoffnung.
»Ähm … so einfach ist das nicht.« Der Chirurg kratzt sich am Hinterkopf. »Ihre Mutter hatte einen schweren Schlaganfall. Das ist keine Bagatelle.«
»Es ist also ernst?«
»Natürlich ist es ernst. Sonst wäre sie nicht bei uns. Teile ihres Gehirns sind abgestorben. Sie haben die schwarze Stelle auf dem MRT8-Bild gesehen. Sie ist ziemlich groß. Wir müssen daher davon ausgehen, dass Ihre Mutter Folgeschäden davontragen wird. Welche das allerdings sind und wie schwer, kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Heute zählt erst einmal eins: dass sie die Operation überstanden hat. Sie hätte an dem Schlaganfall sterben können. Bedenken Sie das! Ihre Mutter hat überlebt. Sie ist stark. Das hat sie heute bewiesen. Sie ist eine Kämpferin. Und obendrein erst neununddreißig Jahre jung. Junge Gehirne verkraften so etwas besser als ältere. Vielleicht erholt sich Frau Strasser ja ganz gut. Haben Sie Geduld … und ein wenig Vertrauen.«
Nicht adäquat
Daheim, 23. Mai 2008
Die Stille ist so allgegenwärtig, dass sie mich nahezu erdrückt.
»Hallo? Ist da jemand?«
Keine Antwort. Ich befinde mich auf einem Felsplateau und sehe mich um. Aus dem Augenwinkel vernehme ich eine Bewegung. »Mama?«
Sie schreitet auf den Abgrund zu.
»MAMA!«
∞
Mein Schrei weckt mich. Die Anzeige des Radioweckers verrät mir, dass ich keine einzige Stunde am Stück geschlafen habe. 0:23 Uhr. Ich atme schwer. Vielleicht sollte ich wirklich eine Tablette nehmen. Alles in mir sträubt sich dagegen. Trotzdem drücke ich mir eine aus der Packung heraus.
Ich denke an Tante Rebekka und Onkel Ralle. Die beiden haben uns besucht, nachdem Papa ihnen am Telefon von Mamas Schlaganfall erzählt hat. Sie haben uns dazu gebracht, endlich etwas zu essen und zu trinken. Außerdem haben sie Schlaftabletten bei uns gelassen.
»Die braucht ihr heute«, hat Rebekka gemeint. »Ihr müsst schlafen. Ihr benötigt Kraft.«
Ralle war derselben Meinung. »Eva hat nichts davon, wenn ihr die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommt. Meine Schwester braucht euch morgen wieder fit.« Er hat mich ganz fest an sich gedrückt. »Ihr könnt uns jederzeit anrufen. Wir sind für euch da.«
∞
»Was soll das heißen: Sie reagiert nicht adäquat?«
Papas Frage steht eine Weile im Raum, bis sein Gegenüber, Doktor Kobalt, das Wort ergreift: »Diesen Morgen haben wir Ihre Frau kurz aus dem künstlichen Koma geholt. Wir haben verschiedene Tests durchgeführt. Frau Strasser hat darauf nicht angemessen reagiert.«
»Welche Tests?«
»Wir haben Fragen gestellt: Wie heißen Sie? Haben Sie Schmerzen? Verstehen Sie mich? Spüren Sie, wenn ich Ihr Bein berühre? Können Sie nicken oder den Kopf schütteln?«
»Was hat sie geantwortet?«
»Nichts.« Das Beatmungsgerät zischt, diverse Apparaturen piepen und liefern eine bizarre Begleitmusik. »Außerdem haben wir Reflexe getestet. Selbst darauf gab es keinerlei Reaktion.«
Nachdem keine Fragen mehr von uns gekommen sind, fährt der Chirurg fort: »Wir werden diese Tests zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen. In ungefähr drei oder vier Tagen. Dann wissen wir auch, wie schlimm die Folgen des Schlaganfalls sind.«
∞
Inzwischen ist Mama von der neurochirurgischen auf die neurologische Intensivstation verlegt worden. Fortan dürfen wir nur jeweils zu zweit den Raum betreten. Entweder sind also Papa und Timo bei Mama oder Papa und ich.
Vier weitere Patienten liegen wie aufgebahrt da. Lediglich die Monitore hinter ihnen verraten, dass sie Puls und Blutdruck haben. An manchen der Betten stehen Angehörige, die mit den Reglosen reden und ihnen die Hand halten. Für mich sind das allesamt Menschen ohne Gesichter. Genauso diejenigen, die draußen vor der Intensivstation warten.
Reagiert nicht adäquat … Der Satz geht mir nicht aus dem Kopf, bis Mama die Augen öffnet. Es trifft mich wie ein Stromschlag.
»Sie wacht auf!« Mein Aufschrei alarmiert Papa, der sofort eine Krankenschwester bittet, den Arzt herbeizuholen. »Sie wacht auf! Sie wacht auf!« Ich streichle Mamas Arm, ihre Schulter, ihre Wange. »Mama, du bist wieder bei uns. Alles wird gut.«
Mamas Pupillen sind weit geöffnet: Tore in eine andere Welt, hinter denen geheimnisvolles Dunkel liegt. Sie hat in Tiefen gesehen, von denen ich keinerlei Ahnung habe.
»Mama.« Ich rüttele sachte an ihrer Schulter. Ihr Blick gleitet an mir vorbei, scheint ins Leere zu gehen. »Mama?« Irgendetwas stimmt hier nicht. Die Freude ebbt ab, mündet in Verzweiflung. »Mama!« Ich schreie sie an. Sie regt sich nicht. Ihre Lider stürzen falltorartig herab und verbergen den Zugang zu ihr aufs Neue.
Scheinbar wie aus weiter Ferne vernehme ich die Stimme des Arztes: »Beruhigen Sie sich.« Zwei Hände schieben oder ziehen mich aus dem Zimmer. »Frau Strasser, bitte, nehmen Sie Platz.« Dieselben Hände drücken mich auf die Sitzfläche eines Stuhls.
»Aber …«
»Ihre Mutter wacht jetzt nicht auf. Die Medikamente verhindern das.«
»Aber …«
»Nein. Es kommt vor, dass Komapatienten gelegentlich die Augen öffnen. Sie sehen dabei nichts. Ihre Mutter hat Sie nicht gesehen, Frau Strasser. Sie schläft. Bitte beruhigen Sie sich.«
Jemand legt mir eine Hand aufs Knie.
»Papa?« Tränen verschleiern mir die Sicht. Ich sehe die Person neben mir sehr undeutlich. Sie schüttelt den Kopf. Egal, wer das ist. Es tut einfach gut, zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Ich nicke. Zu mehr Dank bin ich nicht in der Lage.
∞
Nicht adäquat … Ich kann meinen Blick nur schwer von den Worten lösen, die ich an Jasmin geschrieben habe. Meine Freundin antwortet fast sofort: »Wenn du reden willst: Wir können uns dieses Wochenende gerne treffen. Ansonsten eben am Montag vor dem Unterricht? Ich drücke die Daumen, dass alles wieder gut wird. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«
Kaum habe ich zu Ende gelesen, vibriert mein Handy ein weiteres Mal. Ich öffne die Nachricht, in der Erwartung, dass Jasmin etwas ergänzt hat, doch der Absender ist jemand ganz anderes: ∞.
»Hä?« Ich blinzele. Eine liegende Acht? Ausgelöst von dem Symbol, das mein Display anzeigt, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Kein unangenehmer. Im Gegenteil: Ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus, und ich fühle mich umarmt. Ich öffne die Nachricht und lese: »Liebe Marie, gib die Hoffnung nicht auf! Ich bin immer bei dir und passe auf dich auf. Serafino.«
Serafino? Ich überlege, ob der Name irgendetwas in mir bewegt. Kenne ich nicht. Woher hat der meine Nummer? Der Name klingt ausländisch. Ich kratze mir die Stirn. Hat er sich vertippt? Bestimmt ist die Nachricht aus Versehen bei mir gelandet.
Ganz überzeugt bin ich nicht von meiner Theorie. Insgeheim wünsche ich sogar, die Worte würden tatsächlich mir gelten. Liebe Marie, hat er geschrieben. Soll ich zurücktexten? Kurzentschlossen drücke ich auf Antworten und betrachte den blinkenden Cursor. Was soll’s? Ich probier’s. Meine Finger huschen über die Tastatur.
»Lieber Serafino, ich fürchte, du hast eine falsche Handynummer angeschrieben. Ich kenne dich nicht. Du meinst bestimmt eine andere Marie. LG.«
Das Senden der Nachricht schlägt fehl. Obwohl ich auf Antworten gedrückt habe, erscheint nichts im Empfängerfeld. Ich habe es geahnt. Mein Handy kann nicht mit diesem Zeichen umgehen. Ich öffne ein weiteres Mal Serafinos Nachricht und berühre die liegende Acht. Das muss eine Art Platzhalter für eine unterdrückte Nummer sein. Ich seufze. Das heißt, ich kann diesen Serafino nicht kontaktieren. Und die gemeinte Marie wird nie ihre Nachricht bekommen. Die Arme. Wer weiß, weshalb sie Trost braucht. Ob sie sich ähnlich beschissen fühlt, wie … Meine Grübeleien werden durch ein neuerliches Handy-Vibrieren unterbrochen.
»Liebe Marie, meine Nachricht war für Marie Strasser bestimmt. Soweit ich weiß, bist das du. Ich kenne dich gut, und du hast mich auch schon gesehen. Ich melde mich zu gegebener Zeit wieder bei dir. Bis dahin: Vertraue auf Gott und lass dich nicht unterkriegen! Serafino.«
Koma
Ende Mai 2008
Es wird wärmer. Die brütende Hitze im Auto und im Vorraum zur Intensivstation macht uns zusätzlich zu schaffen. Die Tage ziehen an uns vorüber. Wir funktionieren programmierten Robotern gleich, kaufen ein, erledigen den Haushalt, besuchen Mama in der Intensivstation, hören uns dort die immer gleiche Rede der Krankenschwestern und Pfleger an: »Sie müssen Geduld haben. Man kann bisher nichts Genaues sagen. Warten, warten …«
Das Wort Warten erklären wir zum Unwort des Jahres 2008.
Wir kochen und essen ohne Appetit, halten Freunde und Verwandte auf dem Laufenden, erledigen den Papierkrieg mit der Krankenkasse. »Zum hundertsten Mal: Frau Strasser kann nicht persönlich unterschreiben!«
»Wir brauchen ihre Unterschrift. Sie soll einfach irgendwann zu den Öffnungszeiten persönlich vorbeikommen. Das wird doch wohl gehen.«
»Nein. Sie liegt im Koma, verdammt!«
Da wir uns weder auf Bücher noch auf Filme konzentrieren können, schauen wir abends entweder Fußball oder gehen stundenlang Gassi, bis es dunkel wird und wir zu müde zum Denken sind.
Frodo sucht täglich nach Mama. Im Haus, im Garten, überall, wo wir mit ihm spazieren gehen. Bedrückt lässt er seinen Schwanz und die Ohren hängen und kuschelt viel mit uns.
Sowohl nachts als auch tagsüber verfolgen mich Albträume: von Mama und von Papa. Ich sehe ihn mit schräg herabhängendem Mundwinkel, riesengroßen, ausdruckslosen Augen und schrecke auf. Jedes Mal schweißgebadet und mit rasendem Puls, wage aber nie, ihm davon zu erzählen.
Wir reden mit Ärzten und Nachbarn; Papa und Timo außerdem mit ihren Arbeitskollegen; ich mit meinen Schulkameraden und dem Klassenleiter.
»Willst du nicht lieber ein paar Tage zu Hause bleiben?«, hat mich mein Lehrer, Roberto Pinto, nach den Pfingstferien gefragt.
Ich habe abgewunken. »Bloß nicht! Daheim werde ich nur wahnsinnig. Das Lernen lenkt mich ab. Außerdem will ich nichts verpassen.«
Papa und Timo sind anderer Meinung. Sie haben ihre Chefs darum gebeten, zwei Wochen Urlaub nehmen zu dürfen, was sofort genehmigt wird.
»Damit wir schnell in die Klinik können, wenn was ist.« So Papa.
»Auf Arbeit kann ich mich eh nicht konzentrieren.« Das ist Timos Überzeugung.
Wir beten viel, gehen mit Bine in den Gottesdienst, spenden Kerzen.
»Warum trifft es immer die Guten?« Unsere Nachbarin hat gegen Tränen gekämpft, nachdem sie von Mamas Schlaganfall gehört hat.
Am extremsten war die Reaktion von Mamas bester Freundin gewesen: »Du spinnst!«, hat Pauline meine Schilderungen am Telefon unterbrochen und einfach aufgelegt.
»Bitte gebt Bescheid, wenn ich für euch etwas backen oder kochen soll …«, bietet Rebekka an.
Hilfe bekommen wir von allen Seiten angeboten. Meistens lehnen wir ab.
∞
»Kann ich heute mit ins Krankenhaus?« Bine betont ihre Frage so, dass sie eher wie eine Forderung klingt.
Papa wehrt ab: »Nein. Eva würde nicht wollen, dass du sie so siehst.«
»So ein Quatsch! Sie hätte bestimmt auch nicht gewollt, dass ihr sie so seht.« Bines Gesicht färbt sich rot. »Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass sie überhaupt nicht vorgehabt hat, so krank zu werden, dass sie auf der Intensivstation liegen muss.« Nie zuvor habe ich Bine so wütend erlebt. »Ich gehöre genauso zur Familie dazu. Ich habe ein Recht darauf, sie zu besuchen. Ich mache mir Sorgen. Ich muss sie sehen.«
Papa hebt seine Arme. Es sieht aus, als flehe er Bine an. »Natürlich gehörst du zur Familie.«
»Und warum lässt du mich nicht zu ihr?«
Papa ringt nach Atem.
»Bine, bitte.« Ich versuche zu vermitteln. »Es ist echt kein schöner Anblick mit den Schläuchen und Maschinen. Wir brauchen unsere unbeschwerte Bine. Sonst drehen wir durch. Wenn du Mama so siehst, wirst du vielleicht nicht mehr so unbeschwert sein. Das möchten wir vermeiden.«
»Hmpf.« Bine verschränkt die Arme vor der Brust.
Ganz schön egoistisch von mir, oder? Und was für eine bescheuerte Ausrede!
»Vielleicht kannst du ja mit, wenn Mama auf der normalen Station liegt«, macht Timo einen Vorschlag.
Daraufhin türmt Bine. Sie schlägt die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Teller und Tassen im Schrank scheppern.
∞
»Es ist ungewöhnlich, dass Ihre Frau immer noch schläft.« Am Mittwoch, den achtundzwanzigsten Mai, empfängt uns Doktor Kobalt mit Sorgenfalten auf der Stirn. »Die Medikamente für das künstliche Koma haben wir abgesetzt. Sie hat wieder selbstständig zu atmen angefangen. Und der CT9-Scan von heute Vormittag hat gezeigt, dass sich der Infarkt nicht auf angrenzendes Gewebe ausgedehnt hat. Ihre Frau müsste inzwischen wach sein.« Der Chirurg murmelt ein paar weitere unverständliche Worte, bevor er unsere Hände schüttelt, uns alles Gute wünscht und sich dann den Fragen eines anderen Angehörigen widmet.
Ich schaue auf Mamas Brustkorb, der sich regelmäßig hebt und senkt, und versuche, die Worte des Arztes zu verstehen. Warum wacht Mama nicht auf? Dauert es bei ihr einfach länger, bis der Körper das Medikament abgebaut hat? Spürt sie, dass wir hier sind? Träumt sie? Oder ist da nur ein schwarzes Loch? Weggebeamt. Nicht mehr in dieser Welt? Unerreichbar für uns? Ich will so nicht denken, doch die Gedanken lassen sich nicht aufhalten. Was, wenn Mama gar nicht mehr aufwacht?
Unter dem Verband an ihrem Kopf lugt ein Stück einer schwarzen Naht heraus, und irgendwie kommt mir Mamas Gesicht aufgedunsen vor. Ist das wegen der Hirnschwellung? An ihrer Nase hat sich ein Grind gebildet. Ihr Körper verträgt sich nicht mit der Magensonde.
»Stellen Sie sich nicht immer beide auf ihre linke Seite.«
Vor Schreck zucke ich zusammen. Es dauert eine Weile, bis ich geortet habe, woher die Stimme gekommen ist. »Rechts spürt sie nichts«, antworte ich dem Pfleger, der sich zu mir gesellt hat. »Der Arzt hat zu uns gesagt, dass sie rechtsseitig gel…«
»Wahrscheinlich wird sie rechts weniger empfänglich gegenüber Reizen sein.« In dieser Hinsicht stimmt der Mann Doktor Kobalts Info zu. »Aber wenn Sie sie ausschließlich von links anreden und sie nur dort berühren, wird sie sich daran gewöhnen, ihre rechte Seite zu vernachlässigen. Stellen Sie sich bitte auf die rechte Seite. Ihre Mutter möchte Sie ja spüren und bei Ihnen sein. Sie will den Kontakt zu Ihnen. Das versichere ich Ihnen. Wenn Sie sich rechts hinstellen und sie dort anfassen, wird Ihre Mutter sich mehr anstrengen, um Sie zu spüren und um gesund zu werden.«
»Öhm.« Ich bin überfordert. Wieso sagt Papa nichts dazu?
Stur bleibt er auf Mamas linker Seite stehen und streichelt unablässig ihre Hand.
Das Piepsen und Zischen der Apparaturen, die meine reglose Mama umgeben, sowie der Anblick der anderen Angehörigen, die mit ihren komatösen Betroffenen reden, als wäre es das Normalste – und Einfachste – auf der Welt: Das alles ist in diesem Moment unerträglich für mich. Ich tippe Papas Schulter an. »Ich schicke Timo rein.« Fluchtartig verlasse ich den Raum und kollidiere draußen mit Bine.
»Bine?« Ich verstehe gar nichts mehr. Nur ihr beherztes Zugreifen kann verhindern, dass ich zu Boden gehe. »Was tust du denn hier?« Während ich meine Arme und Beine sortiere, sehe ich mich nach meinem Bruder um. Der zuckt lediglich mit den Schultern, nutzt das Desinfektionsmittel aus dem Spender neben der Tür und marschiert in die Intensivstation.
Bine schnauft, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Einige braune Haarsträhnen stehen wirr von ihrem Kopf ab. »Ihr lasst mich nicht zu ihr. Das ist nicht nett von euch.« Sie glättet sich beiläufig die Haare. »Trotzdem: Ich akzeptiere es.« Sie streckt ihre Arme nach mir aus. »Aber bitte lasst mich für euch da sein, wenn ihr meint, ihr müsst das alles unbedingt allein ertragen.«
»Och, Bine …« Ich nehme die Umarmung an und heule ein paar Tränen in ihr T-Shirt.
»Siehst du?« Sie dirigiert mich zu einem freien Stuhl. »Genau deswegen bin ich da.«
∞
Seitdem begleitet uns Bine regelmäßig in den Vorraum zur Intensivstation. Ihre Anwesenheit tut nicht nur uns – Timo, Papa und mir – gut, sondern sogar den anderen Wartenden. Denn: Wenn Bine etwas absolut nicht hat, dann sind es Berührungsängste in Bezug auf andere Menschen.
»Tja, hier sitzen wir nun«, hat sie eines Tages das eisbrechende Gespräch eröffnet, »sehen jeden Tag dieselben besorgten Gesichter. Alle hoffen wir und bangen um unsere Lieben. Das eint uns.«
Eine Frau mit dunklen Locken packt ihr Handy in ihre Handtasche. Und der ältere Mann mit den silbergrauen Haaren stimmt Bine zu: »Wir sitzen im selben Boot.«
»Ganz genau.« Bine schreitet vor den Stühlen auf und ab. »Warum sollte jeder für sich alleine sein mit seinen Sorgen? So etwas erträgt man gemeinsam viel besser.« Vor dem älteren Mann bleibt sie stehen. »Wen besuchen Sie auf der Intensivstation, Herr …?«
»Lang. Harald Lang. Und das mit dem Sie lassen wir bleiben.« Er steht auf und reicht Bine die Hand. »Ich bin wegen meiner Frau da: Isolde. Vor zwei Wochen hatte sie Hirnbluten. Heute hat sie zum ersten Mal geblinzelt.« Ein zaghaftes Lächeln erhellt sein Gesicht. »Und du?«
»Ich bin Sabine. Aber alle nennen mich Bine.«
Die Vorstellungsrunde geht weiter, und so erfahre ich von Klara, Haralds Tochter, die gerade bei Isolde in der Intensivstation ist. Und von Dorothea, die uns ihre Sorgen um ihren Mann Franz mitteilt, bei dem vor ein paar Tagen ein Aneurysma10im Gehirn geplatzt ist. »Das ist das zweite Mal in diesem Jahr. Da er das erste ohne Folgen überstanden hat, bin ich zuversichtlich, dass er es auch diesmal schafft.« Dorothea lächelt. »Gestern hat er bereits mit mir gesprochen und gesagt, wie sehr er sich auf zu Hause freut.«
Sofia, die Frau mit den Locken, erzählt uns von ihrem Sohn, der durch einen Fahrradunfall ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hat und deswegen schon seit über einem Monat im Koma liegt. Sie betont, dass wir uns unbedingt jeden Tag treffen sollten, um uns über unsere Lieben auf dem Laufenden zu halten.
»Auf jeden Fall.« Bine nickt.
»Das tun wir«, stimmt Harald zu.
»Wir sollten ein Kaffeekränzchen daraus machen.« Dorothea kichert verschmitzt. »Der Kaffee hier ist zwar furchtbar – eine Plörre! – aber wesentlich leckerer als der, den man in anderen Kliniken bekommt. Ich weiß, wo der Automat steht. Ich gebe eine Runde aus. Wer hilft mir tragen?«
»Ich komme mit«, verkündet Bine.
Ich schließe mich ihr an. »Morgen spendiere ich eine Runde Kaffee.«
∞
Früher habe ich mir, wenn es um den Begriff Koma ging, Folgendes vorgestellt: Entweder man schläft tief und fest, oder man ist wach und bekommt alles mit. Diese Zwischenform – das Weder-Ganz-Wach-Sein und das Auch-Nicht-Mehr-Ganz-Schlafen – hätte ich nie erwartet. Ich denke an verschiedene Spielfilme, an Szenen, in denen Angehörige am Bett eines komatösen Patienten stehen, mit ihm reden oder ihn anfassen, woraufhin der Betroffene spektakulär die Augen aufschlägt und nahezu sofort mit seinen Angehörigen zu reden beginnt. Leider muss ich feststellen, dass dies nicht der Realität entspricht. Zumindest nicht in unserem Fall. Bei Mama gibt es kein plötzliches Erwachen.
Es dauert.
Lange.
Gefühlt unendlich, bis sie langsam – unerträglich gemächlich – zu uns zurückkehrt. Jeden Tag ein bisschen mehr.
∞
Ich lege mein Gesicht auf Mamas Brust und lausche ihrem gleichmäßigen Herzschlag, bis ich eine Berührung an meinem Kopf spüre. Mama streicht mir über die Haare. Nur kurz. Die Bewegung ist anstrengend für sie. Ihre Linke sinkt auf die Bettdecke, und ihre Lider bleiben geschlossen.
∞
»Wir müssen reden«, empfängt uns Doktor Kobalt am ersten Juni.
Alarmiert wenden wir uns ihm zu. Ich fühle, wie sich mein Magen verkrampft.
»Schlechte Neuigkeiten?«
»Ganz und gar nicht, Herr Strasser. Es wird nun nicht mehr lange dauern, bis Ihre Frau vollständig wach ist. Deshalb haben wir uns um einen Reha-Platz bemüht und vielleicht einen gefunden. Bis spätestens Ende nächster Woche bekomme ich definitiv Bescheid. Die Reha-Klinik ist in Ihrem Wohnort.«
»Wir könnten sie jeden Tag besuchen«, ergänze ich. »Wir müssten nicht mehr jeden Abend bis hierher fahren.«
»Ja. Diese Klinik ist auf Fälle wie den Ihrer Mutter spezialisiert. Sie wird dort jede Menge Therapien bekommen: Physio- und Ergotherapie, Schlucktherapie, Logopäd…«
»Was geht denn jetzt ab?« Es ist nicht meine Art, andere beim Reden zu unterbrechen, schon gar nicht jemanden mit Doktortitel. Dennoch … in diesem Moment kann ich nicht anders und deute aufgeregt auf Mama. Der Schlauch, der in ihre Nase führt – die Magensonde – ist verrutscht. Instinktiv zucken die Hände des Arztes dorthin, doch Mama hebt ihren linken Arm ans Gesicht, tastet nach dem Schlauch und steckt ihn sich selbstständig in die Nase. Danach verharrt sie in bekannter Koma-Reglosigkeit.
»Wa…?« Ich stelle fest, dass sich im Gesicht des Arztes tatsächlich ein Lächeln abzeichnet. Er winkt eine Krankenschwester herbei und bittet sie darum, etwas Klebeband zu holen, um damit den Schlauch zu fixieren. »Großartig«, kommentiert Doktor Kobalt. »Trotz der Schwere des Schlaganfalls ist Frau Strasser dazu in der Lage, eine komplexe Handlung durchzuführen. Erstens: Sie hat wahrgenommen, dass der Schlauch aus der Nase gerutscht ist. Zweitens: Sie hat verstanden, dass das nicht richtig ist. Drittens: Sie hat beschlossen, ihn zurückzustecken. Und viertens: Sie hat ihn zurückgesteckt. An die richtige Stelle. Das ist großartig.« Er wiederholt das letzte Wort einige Male, bevor er sich von uns verabschiedet und sich Harald zuwendet, um über Isoldes Fortschritte zu sprechen.
∞
»Das ist wirklich passiert. Ich war live dabei.« Ich stolziere vor der Stuhlreihe auf und ab und bleibe nur stehen, um an einem Becher mit viel zu heißem Kaffee zu nippen. »Gestern hat Doktor Kobalt gesagt, dass Mamas Fußzucken bloß ein pathologischer Reflex sei, hat behauptet, das sage überhaupt nichts darüber aus, ob Mama gehen können wird oder nicht. Und heute? Ich bin mir sicher: Mama wird wieder ganz gesund!«
Völlig unerwartet springt Dorothea auf und hetzt – von Schluchzern begleitet – davon. Mir fallen die bedrückten Gesichter der anderen auf und dass keiner ein Wort gesagt hat. »Bine?« Mir wird schlecht. Bine schüttelt den Kopf und wendet sich ab.
»Was ist los?«
»Franz wird es nicht schaffen.« Die Antwort kommt von Klara. »Sie haben es ihr gerade gesagt.«
Rubinherz
Daheim, 2. Juni 2008
Ich befinde mich auf einem Felsplateau. Über mir erhebt sich ein strahlend blauer, mit Federwolken dekorierter Himmel. Obwohl die Landschaft bezaubernd ist, überfallen mich Trauer und Angst. Ich wende der Welt den Rücken zu und lasse meinen Tränen freien Lauf.
»Hallo? Was ist los? Warum weinst du?« Die Stimme ist von hinten gekommen. Ich richte mich auf und drehe mich um. Vor mir steht ein junger Mann mit schulterlangem braunem Haar und dunklen Augen. »Warum so traurig? Dafür gibt es keinen Grund. Sie wird nicht sterben.«
»Wer? Mama?« Ich bekomme nur ein Flüstern zustande.
»Ja, Marie. Deine Gebete wurden erhört.« Über sein Gesicht huscht ein Lächeln, und meine Tränen versiegen. »Sie wird zu euch zurückkehren.«
»Woher willst du das wissen? Wieso kennst du meinen Namen? Wer bist du?«
Seine Antwort kommt in Form eines verschmitzten, schiefen Grinsens, das mich – einer herzlichen Umarmung gleich – vertraut und behaglich einhüllt und mir Zuversicht vermittelt. Die Erkenntnis trifft mich mit voller Wucht. »Serafino?«
Der Wind bringt das Laub der Bäume zum Rascheln. Reflexartig drehe ich mich danach um. Als ich mich erneut an den jungen Mann wenden will, ist er verschwunden.
∞
Ich schrecke auf und taste nach meinem Handy. Mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich nach Serafinos Textnachrichten suche. Alle beide sind weg. Habe ich sie aus Versehen gelöscht?
∞
In der Schule kann ich mich kaum konzentrieren. Ständig spukt Serafino durch meine Gedanken. Wer ist er? Woher kenne ich ihn? Was ist mit den Textnachrichten passiert?
»Hey, Marie«, tuschelt Jasmin mir zu, »der Pinto hat dich aufgerufen.«
»Äh.« Ich setze mich aufrechter hin. Bestimmt läuft mein Gesicht soeben knallrot an. »Ich habe nicht aufgepasst. Entschuldigung.«
Mich trifft ein teils vorwurfsvoller, teils mitleidiger Blick meines Lehrers. Aufgrund der dicken Hornbrille, die er trägt, wirken seine Augen stets größer und eindrucksvoller als die jedes anderen Menschen. Ich mag ihn recht gern, daher will ich bei ihm nicht unangenehm auffallen.
»Könnten Sie Ihre Frage bitte wiederholen, Herr Pinto?«, bitte ich zerknirscht.
Bernd am Nachbartisch kichert und heimst sich dadurch einen Stoß von Max und ein verärgertes Zischen von Jasmin ein. Einige Mädchen nutzen die Gelegenheit, um miteinander zu schwätzen, und irgendwo hinter mir plumpst ein Gegenstand zu Boden.
»Jens, heb dein Buch auf. Linda, ich hab genau gesehen, dass du dein Handy unter dem Tisch hast. Pack es weg! Sonja und Deniz, die Plauderstunde ist beendet. Bernd und Max, spart euch eure Kräfte für den Sportunterricht.« Schließlich richtet sich Pinto an mich. »Entschuldigung angenommen, Marie, aber ab jetzt passt du auf, ja? Ich habe dich darum gebeten, das Verb être an der Tafel durchzukonjugieren: présent, imparfait, passé composé, plus-que-parfait, futur simple et subjonctif.«
»Oui.« Ich greife zur Kreide, die er mir entgegenhält. Das ist leicht. Verbformen. Hier gibt es eindeutig richtig und falsch. Nicht so ein Wischi-Waschi wie die Prognosen der Ärzte und vor allem nicht so mysteriös wie Serafino. Damit komme ich klar. Voller Eifer mache ich mich an die Arbeit und vergesse tatsächlich für einen Moment meine Sorgen und Grübeleien.
∞
»Wieso sagen Sie, wir finden Mama nicht mehr hier?« Ich muss an Dorothea und Franz denken und fühle mich, als drücke mir jemand die Kehle zu. Trifft es jetzt auch uns? Ich schnappe nach Luft.
»Nur die Ruhe. Alles gut.« Mit einem Schulterstreicheln versucht die Krankenschwester, mich zu beruhigen. »Ihre Mutter liegt seit heute auf der normalen Station. In der Neurologie.«
Ohne zusätzliche Informationen abzuwarten, hetze ich den Gang entlang und kollidiere fast mit Harald.
»Ist was passiert?«
»Nein, nein. Eva ist verlegt worden«, stellt Bine klar.
Sie, Papa und Timo müssen sich mir angeschlossen haben, denn durch den Korridor hallt das Trappeln mehrerer Schuhpaare.
»Viel Glück!«, vernehme ich Haralds Stimme, bevor die Tür zum Treppenhaus hinter uns zufällt.
∞
Es ist nicht schwer, das Zimmer zu finden, in dem Mama liegt. »Da!« Ich deute auf eine halb offenstehende Tür, hinter der das Fußteil eines Bettes zu sehen ist. Die Decke ist zurückgeschlagen und entblößt ein Knie, das zu einem aufgestellten Bein gehört. Das Bein rutscht in die Waagrechte. Kaum ist es zum Liegen gekommen, stellt es sich auf. Der Vorgang wiederholt sich. »Das ist sie. Wetten?«
»Meine Eva …« Papa seufzt.
»Öhöm …« Ein Räuspern. »Darf ich … äh …«
Papa stößt die Tür komplett auf und macht einen einladenden Armschwenk. »Natürlich darfst du reinkommen, Bine. Wird höchste Zeit, dass du mal Hallo sagst.«
Wir betreten ein Dreierzimmer. Eines der Betten ist aktuell leer, in dem anderen schläft eine ältere Dame. Und im vorderen Bett finden wir tatsächlich Mama. Sie liegt auf dem Rücken. Den Turban hat sie noch immer auf, ebenso steckt der Schlauch der Magensonde in ihrer Nase. Alle anderen Apparaturen sind weg.
»Mama?«
Kaum hat Timo gesprochen, dreht sich ihr Kopf in unsere Richtung. Das Gesicht sieht riesig aus, asymmetrisch, und ich erinnere mich an Doktor Kobalts Worte: Ja, glauben Sie mir: Das Gehirn wird schwellen. Dessen ungeachtet, wirken Mamas dunkle Augen wacher denn je.
»Eva, meine liebe Eva.« Papa streichelt ihr die Wange, küsst sie auf die Stirn, auf die Hand, in die Ellenbeuge. »Oh, meine Eva. Du bist wieder da.«
Deine Gebete wurden erhört. Sie wird zu euch zurückkehren … Die Worte aus meinem Traum kommen mir so deutlich in den Sinn, als wären sie laut gesprochen worden. Meine Augen füllen sich mit Tränen der Rührung. Hastig wische ich sie weg. Ich will nicht, dass Mama denken könnte, ich sei ohne Hoffnung und versuche ein Lächeln. Überraschenderweise gelingt es mir, und sie lächelt zurück, was neue Tränen auslöst: Tränen der Freude.
Bine schiebt sich an mir vorbei, nimmt Mamas rechte Hand und singt leise: »Einfach spitze, dass du da bist, einfach spitze …« Das Lied hat einige Strophen, und während Bine singt, hören wir anderen nur zu.
»Wir sind so froh, dass es dich gibt«, endet Bine, »und dass du lebst. Bleib schön bei uns, ja? Dann wird alles gut.«
Daraufhin lacht Mama. Sie lacht, weil Bine für sie gesungen hat. Und wir lachen, weil Mama lacht.
Die andere Frau dreht sich in ihrem Bett herum, wacht aber nicht auf. Sie grunzt, woraufhin wir noch mehr lachen.
3. Juni 2008
»Eine wundervolle Idee, das mit den Fotos.« Jemand klatscht in die Hände.
Ich blinzele. Ist das nicht der Pfleger von der Intensivstation? Ist er auch hier zuständig? Er muss uns dabei beobachtet haben, wie wir Mama Fotos gezeigt haben.
»Das hilft Frau Strasser bestimmt, in die Realität zurückzufinden. Hängen Sie die Bilder an der Tropfhalterung auf und an den Stangen an der Seite vom Bett. Dann kann sie ihre Lieben sehen, selbst wenn Sie gar nicht im Krankenhaus sind. Das wird Frau Strasser freuen.«
Daraufhin beginne ich, Mamas Bett mit Bildern von unserem Haus und Garten zu dekorieren, von Frodo und uns. Bine und Timo gehen mir dabei zur Hand, indem sie mir abgeschnittene Stücke Klebestreifen reichen. Mir fällt auf, dass Mamas Augen uns bei unserem Tun aufmerksam verfolgen.
Papa durchsucht in der Zwischenzeit den restlichen Stapel. Schnell wird er fündig. Er hält das Foto hoch, auf dem er, Mama, Timo, Bine, Frodo und ich als fröhliche Gruppe zu sehen sind. Papa hat damals zum ersten Mal per Fernauslöser fotografiert. Mehrere Anläufe sind nötig gewesen, denn ständig hat irgendjemand von uns gerade die Augen geschlossen, oder Frodo ist kurz schnüffeln gegangen und hat der Kamera sein Hinterteil zugewandt. Wir hatten viel Spaß bei der Entstehung eben dieses Fotos, und ich finde, das kann man am Ausdruck unserer abgelichteten Gesichter deutlich erkennen.
Voller Spannung warte ich Mamas Reaktion ab. Sie rundet ihre Lippen, als wolle sie etwas sagen. Doch aus ihrem Mund entweicht lediglich ein Seufzen. Anschließend stiert sie an die Decke.
Papa zieht ein weiteres Foto hervor. Es zeigt Mama und Papa kurz nach ihrer Verlobung. Ich liebe dieses Bild. Mama – meine wunderschöne Mama – mit ihrem schönen langen Haar und diesem ansteckenden Lächeln. Siebzehn ist sie damals gewesen. Genauso alt wie ich jetzt. Und mein Papa, vier Jahre älter. Ganz vornehm in seinem Anzug. Die beiden sehen so verliebt aus, so glücklich. Und Mama trägt auf dem Bild die Kette mit dem Rubinherz.
Mama widmet dem Foto viel Zeit, bis sie schließlich ihre Linke an den Hals hebt und nachdenklich über die Stelle streicht, an der sonst ihre Kette hängt. Sie wendet sich Papa zu.
»Eva, Liebes, ich habe dir was mitgebracht.« Von irgendwoher zieht Papa etwas silbern und rubinrot Glitzerndes hervor. »Darf ich?« Mama blinzelt, was Papa als Zustimmung auffasst. Vorsichtig legt er ihr das Schmuckstück an.
»Du hast die Kette repariert.« Timo steht vor Staunen der Mund offen.
Zeitlupenartig hebt Mama ihre linke Hand an das kleine Herz aus roten Rubinen und schließt es in ihre Faust. Ihr linker Mundwinkel hebt sich zu einem schrägen Lächeln, woraufhin Papa sie mit Küssen überschüttet. Heulend und lachend zugleich.
»Eva, mein Schatz, ich bin so froh.« Er ist ganz außer Atem. »Du weißt, wer du bist. Du erinnerst dich an mich. Du kennst mich. Jetzt wird alles wieder gut.«
Leerlauf
Daheim, 4. Juni 2008
Wieder eine dieser Nächte, in der ich nicht einschlafen kann. Erstaunt denke ich darüber nach, wieso das Licht der wenigen Sterne in der Lage ist, meine Finger und Arme bleich aussehen zu lassen. Und ich denke an Harald und Klara. Wie es wohl Isolde geht? Und Sofia? Macht Fabian endlich Fortschritte? Ich begreife, dass ich meine neuen Freunde bereits nach dieser kurzen Zeit schrecklich vermisse.
Morgen gehe ich zur Intensivstation rüber und rede mit ihnen.
∞
Wo sind die bloß?
Mein Besuch auf der Intensivstation hat mich verwirrt. Weder Harald noch Klara sind dort gewesen. Sofia hat mir keine Auskunft geben können, und Dorothea ist natürlich seit dem Tod ihres Mannes dem Krankenhaus ferngeblieben. Mit Franz zusammen ist sozusagen auch unser Kaffeekränzchen gestorben. Zudem sitzen fast nur fremde Leute auf unseren Stühlen, und dem hübschen jungen Pfleger bin ich ebenfalls nicht begegnet. Auf der Intensivstation nicht und auch nicht in Mamas Abteilung. Ob er Urlaub hat? Oder eine andere Schicht?
»Das gefällt mir nicht.«
Papas Murmeln reißt mich aus meinen Grübeleien, und ich lasse Mamas Hand los.
»Was gefällt dir nicht?«
Wortlos nickt er zu Mama, und mir wird klar, was er gemeint hat. Ihre Augen sind unfokussiert, teilnahmslos. Sie scheinen direkt durch uns hindurchzuschauen. Zwei bodenlose Löcher. Schluchten. Ich falle hinein.
»Aaah!« Ich erschrecke vor meinem gellenden Schrei.
»Das ist wie am Tag, an dem sie den Schlaganfall hatte.« Papa patscht gegen Mamas Wange. »Eva?«
»Mama?« Timo rüttelt an ihrem Arm, und ich schlage mir vor Entsetzen die Hand vor den Mund.
Nicht schon wieder, bitte nicht schon wieder ein Schlaganfall!
»Ich hole Hilfe!« Bine stürzt aus den Raum.
»Eva! Oh, Gott!« Papas Panik bringt mein Herz zum Rasen. »Die Überwachung fehlt. Sie hätten die Monitore, das ganze Zeugs nicht abbauen dürfen. Eva braucht das alles noch. Sie kann hier einen Herzinfarkt kriegen oder einen zweiten Schlaganfall, und niemand wird es bemerken. Kein Mensch ist da, während meine Frau …«
»Warum dauert das so lange, bis jemand kommt?«, winselt Timo.
»Ich schau nach.«
Gerade will ich die Tür öffnen, als Bine auftaucht, samt Krankenschwester im Schlepptau.
»Was ist denn passiert?« Die Frau beugt sich über Mama, tastet nach dem Puls, befühlt ihre Stirn und misst den Blutdruck. Ohne Regung lässt Mama alles über sich ergehen, und ich laufe nervös im Raum auf und ab. Schließlich richtet sich die Krankenschwester auf. »Alles gut.«
Ihre Worte verblüffen mich.
»Kein neuer Schlaganfall. Kein Herzinfarkt. Sie hat auch kein Fieber oder sonst was. Es ist alles in Ordnung.«
»Nein.« Papa verschränkt die Arme vor der Brust. »Sehen Sie den Ausdruck in ihren Augen? Das ist nicht normal.«
»Wenn Sie mir nicht glauben: Ich kann einen Arzt holen.«
»Bitte tun Sie das!« Papa besteht auf ärztlichen Rat.
Es dauert nicht lange, und ein uns fremder Doktor untersucht Mama. Die Krankenschwester behält recht. »Frau Strassers Zustand hat sich seit der letzten Visite nicht verschlechtert. Das Herz-Kreislaufsystem tut, was es soll, die Atmung funktioniert prächtig, und es gibt keinerlei Hinweis auf einen neuen Schlaganfall. Ein solcher wäre äußerst unwahrscheinlich, da Ihre Frau inzwischen ein Medikament zur Blutverdünnung bekommt.«
»Und wieso glotzt sie dann so?« Timo lässt nicht locker.
»Das kommt gelegentlich vor.« Der Arzt seufzt.
Sind wir ihm lästig? Oh, ich will Doktor Kobalt zurück. Der kann Dinge so erklären, dass sogar ich sie verstehe.
»Schlaganfallpatienten haben manchmal einen Zustand, den man Leerlauf nennen könnte. Sie reagieren nicht, starren geradeaus und wirken weggetreten. Aber das sind sie nicht. Das sind Phasen, in denen sich das Gehirn ausruht.«
»Aber …«
Ich breche ab, weil Mama uns in diesem Moment ihr Gesicht zudreht.
»Was …?«
»Sehen Sie.« Der Arzt trumpft auf. »Jetzt schaut sie normal. Wie ich es Ihnen gesagt habe. Sie haben überreagiert. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben alles im Griff. Wenn sich am Zustand Ihrer Frau etwas verändern sollte, würden wir das mitbekommen.«
Er reicht Papa die Hand zum Abschied. Dieser druckst herum. »Wissen Sie, für uns ist das alles … äh …«
Der Doktor wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hat keine Zeit für unser Gejammer. Ärzte haben immer viel zu tun.
Papa bemerkt dessen Ungeduld ebenfalls, daher winkt er ab. »Danke für Ihre Zeit.«
»Keine Ursache.«
Nachdem der Arzt gegangen ist, stupst Bine Mama sanft gegen die Schulter. »Du sollst uns nicht so erschrecken!« Daraufhin schleicht sich ein schiefes Grinsen in Mamas Gesicht. »Sag mal …« Bine stemmt ihre Hände in die Hüften. »Du hast das nicht mit Absicht gemacht, oder?«
Mama öffnet ihren Mund. Nicht, um zu reden, sondern um zu lachen. Laut und schallend.
»Lachst du uns aus?« Bine hebt die Augenbrauen.
»Nee, oder?« Timo hüstelt. »Das würde ja heißen, dass du uns verstanden hast. Der Arzt meinte, du könntest das angeblich gar nicht. Oder … etwa doch?«
»Selbst wenn: So etwas würdest du uns nicht antun.« Papa ergreift Mamas Linke. »Uns mit Absicht erschrecken? Eva?«
Mama verstummt, setzt jedoch ihr enigmatisches Grinsen fort.
Berg
Kopfklinik, 5. Juni 2008
»Am Montag wird Ihre Frau mit einem Krankentransport zur Reha-Klinik gebracht. Dann geht’s los mit den Therapien.«
Erstaunt senke ich mein Kalenderbuch und grinse erst den Arzt an, der uns die Mitteilung überbracht hat, anschließend Papa. »Stark! An deinem Geburtstag, Papa, am fünften Juni, wird uns mitgeteilt, dass Mama einen Reha-Platz hat. Ganz bei uns in der Nähe. Und am Montag …« Ich halte ihm den Kalender unter die Nase. »… geht’s los. Schau! Das ist Mamas vierzigster Geburtstag, der neunte Juni.«
»Tatsächlich!« Bine jauchzt. »Das ist aber schön.«
∞
Schön ist anders, gräme ich mich und räume Teller und Tassen in die Spülmaschine. Vom Geburtstagskuchen hat kaum jemand etwas genommen, und auf Brotzeit hat keiner Lust.
Bei unserer Ankunft im Klinikum hat Mama tief und fest geschlafen. Wir haben sie nicht wecken wollen und sind daher rasch gegangen, um wenigstens Harald, Klara und Sofia vor der Intensivstation einen Besuch abzustatten. Nachdem wir diese nicht angetroffen haben, sind wir nach Hause gefahren und in alte Grübeleien verfallen.
»Ist das normal, dass sie so viel schläft?«
»Sie hat bisher kein einziges Wort gesagt.«
»Wie soll das werden, wenn sie nach Hause kommt? Ob sie einen Rollstuhl braucht? Doktor Kobalt hat gesagt, dass sie rechtsseitig gelähmt ist und nicht gehen können wird.«
»Die Schwellung ist riesig. Ihr Kopf sieht aus wie ein aufgeblasener Luftballon.«
»Ich müsste mich informieren, wie man eine Wohnung behindertengerecht umgestalten kann. Was davon ich machen kann und wofür wir jemanden beauftragen müssen.«
»Warte doch erst mal ab, Papa! Wir wissen immer noch nicht, was bei Mama alles nicht mehr geht.«
»Vielleicht wird sie ja ganz gesund.«
»Du mit deinem unverbesserlichen Optimismus, Bine.«
»Der Glaube macht es wahr.«
»Hoffentlich können die in der Reha-Klinik helfen.«
»Sechs Wochen. Mit Aussicht auf Verlängerung. Mann, das dauert alles so ewig.«
»Tja, Timo. Wir sind halt gewohnt, dass eine Krankheit nach ein paar Tagen überwunden ist. Kotzeritis, Schnodderseuche. Eine Grippe zieht sich vielleicht zwei bis drei Wochen hin, und dann ist alles im grünen Bereich. Bei einem Schlaganfall sieht die Sache halt anders aus.«
»Tolle Geburtstagsparty, Papa. Vielleicht hätten wir ein paar Leute einladen sollen.«
»Mach dir keinen Kopf, Marie. Auf Party habe ich keine Lust. Und der Kuchen war echt gut. Ich danke dir. Nein, keine Party. Ich habe eine bessere Idee.«
»Wuff!« Dieser Kommentar kommt natürlich von Frodo.
»Genau. Der Hund hat recht.« Papa klatscht in die Hände. »Ich hatte dieselbe Idee: Lasst uns eine kleine Wanderung machen. Wir waren schon lange nicht mehr auf dem Staffelberg.«
∞
Sonnenuntergang auf dem Berg der Franken. Ich atme tief durch und lasse meinen Blick über das Maintal schweifen. Mein Lieblingsort.
Es tut gut, einmal etwas anderes zu sehen als kranke Menschen, Weißkittel und triste Räumlichkeiten. Und es ist eine Wohltat, statt Krankenhausmief frische Luft zu atmen.
Eine Weile bleiben wir sitzen und schweigen uns an. Insgeheim frage ich mich, ob wir das Richtige tun. Wir vergnügen uns bei einer Wanderung, während Mama in ihrem Bett liegt. Allein unter Fremden.
»Du bist jetzt die Frau im Haus«, hat Jasmin am Morgen zu mir gesagt. »Die Rolle der Hausfrau musst wohl du für eine Weile übernehmen.«
Ich gebe regelmäßig mein Bestes, weiß aber nie, ob es gut genug ist, obwohl sich von den anderen nie einer beschwert. Was wird nun aus unserer Familie? Wir sind dem, was auf uns zukommt, unmöglich gewachsen. Vielleicht steht uns das Schlimmste erst noch bevor. Ich erinnere mich an eine Statistik aus dem Internet: Jährlich erleiden etwa zweihunderttausend Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Siebzig Prozent der Überlebenden haben auch Jahre danach mit den Folgeschäden zu kämpfen. Zwanzig Prozent der Patienten sterben innerhalb der ersten vier Wochen nach dem Schlaganfall. Andere bekommen Jahre später einen zweiten und …
»Lasst uns was trinken und den traditionellen Weißen Käs essen.« Papa steht auf.
Timo schließt sich ihm an. »Ich hole mir lieber ein paar Bratwürste.«
»Auf einmal doch Hunger?« Bine schmunzelt.
»Na ja, irgendwie muss ich ja den Rückweg schaffen. Oder trägst du mich?«
»Vergiss es!«