Mami 1798 – Familienroman - Eva-Maria Horn - E-Book

Mami 1798 – Familienroman E-Book

Eva Maria Horn

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Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Jonathan Nolde schnaufte vor Behagen. Es war wirklich eine brillante Idee von ihm gewesen, das Sommerhäuschen zu mieten. Hier störte ihn niemand. Das nächste Dorf war eine gute Fußstunde entfernt. Kaum jemals verirrte sich ein Feriengast hierher, dafür war der Weg über die Dünen viel zu beschwerlich. Außerdem hatte er Schilder anbringen lassen: Privatgelände. Kein Zugang zum Strand. Jonathan, von seinen Freunden wurde er nur Jo genannt, öffnete das Fenster. Es störte ihn nicht, daß es ein wenig schief in den Angeln hing. Alles in diesem Häuschen war reparaturbedürftig. Er wollte nichts weiter, als hier in Ruhe sein Manuskript zu Ende schreiben. Darum hatte er seine behagliche Wohnung in der Stadt verlassen, hatte sich von einem Freund dieses Haus besorgen lassen. Hier konnte er in Ruhe arbeiten, hier wurde er nicht von lästigen Besuchern, vom Telefon und vom Lärm der Straße gestört.

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Mami –1798–

5 Kinder brauchen einen Vater

Fünf Kinder - na und?

Roman von Horn Eva-Maria

  Jonathan Nolde schnaufte vor Behagen. Es war wirklich eine brillante Idee von ihm gewesen, das Sommerhäuschen zu mieten. Hier störte ihn niemand. Das nächste Dorf war eine gute Fußstunde entfernt. Kaum jemals verirrte sich ein Feriengast hierher, dafür war der Weg über die Dünen viel zu beschwerlich. Außerdem hatte er Schilder anbringen lassen:

  Privatgelände. Kein Zugang zum Strand.

  Jonathan, von seinen Freunden wurde er nur Jo genannt, öffnete das Fenster. Es störte ihn nicht, daß es ein wenig schief in den Angeln hing. Alles in diesem Häuschen war reparaturbedürftig. Er wollte nichts weiter, als hier in Ruhe sein Manuskript zu Ende schreiben. Darum hatte er seine behagliche Wohnung in der Stadt verlassen, hatte sich von einem Freund dieses Haus besorgen lassen. Hier konnte er in Ruhe arbeiten, hier wurde er nicht von lästigen Besuchern, vom Telefon und vom Lärm der Straße gestört.

  Er hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Sie strahlte von einem tiefblauen Himmel. Verspielte kleine Wölkchen segelten wie weiße Schiffe über die bizarre Dünenlandschaft. Wenn er den Kopf ein wenig reckte, konnte er das Meer sehen. Aber er hörte es immer, auch wenn er an dem weißgescheuerten Tisch saß und schrieb. Das monotone Geräusch der Wellen unterstrich die köstliche Stille, war in seinen Ohren wie Musik. Das Kreischen der Möwen mischte sich darunter.

  Mit geschlossenen Augen atmete er den würzigen Duft in sich hinein. Er schmeckte das Salz des Meeres auf der Zunge, er glaubte den Duft des Sanddorns, der winzigen Blumen, zu riechen.

  Ja, er war glücklich. Vollkommen glücklich, er vermißte nichts. Warum belastete sich der Mann eigentlich mit so viel Unnützem, dachte er, während er seine Schreibmaschine zurecht schob und ein Blatt einspannte. Was brauchte der Mensch eigentlich zum Leben? Doch nur das, was er hier besaß. Ein Bett zu schlafen, ein Herd, ein Kühlschrank war nicht unbedingt Luxus. Aber all das andere Zeug war nur Ballast. Beinahe verächtlich dachte er an seinen gefüllten Kleiderschrank, in dem Garderobe für jede Gelegenheit hing. Hier trug er nur die bequeme Cordhose, die an den Knien schon ausgebeult und glänzend war. Aber bequem war sie.

  Er scheuchte die Gedanken aus seinem Kopf. Willig machten sie sich davon, um Platz für seine Phantasiegestalten zu schaffen.

  Wenn du dein Pensum geschafft hast, Jo, versprach er sich, dann kannst du schwimmen gehen. Es war ein köstliches Gefühl, mit den Wellen zu kämpfen, sich von ihnen tragen und wiegen lassen. Später kannst du vor deiner Hütte bei einem Glas Rotwein sitzen, lesen und die Stille genießen.

  Es war einfach köstlich, nicht gestört zu werden.

  Jo arbeitete intensiv. Es war, als lebten die Figuren seines Romanes, längst hatten sie Gestalt angenommen, er hörte sogar ihre Stimmen.

  »Der Kinderlärm war für Roberts geschwächte Nerven unerträglich«, schrieb er.

  Jo hörte den Lärm so deutlich, daß er gequält die Stirn runzelte. Unter den Lärm mischte sich Hundegekläff, die Luft schien erfüllt davon zu sein. Jetzt endlich begriff Jo, daß der Kinderlärm und das Hundebellen Wirklichkeit waren. Der Lärm hatte nichts mit seiner Phantasie zu tun.

  Einen Moment blieb er wie betäubt sitzen, aber dann sprang er auf, getrieben von einer Wut, die ihn selbst erschreckte.

  Er wollte gerade aus dem Haus stürmen, um den Störenfrieden eine geharnischte Predigt zu halten, als er das Quietschen des Gartentörchens hörte.

  Bevor Herr Karsten die Tür öffnen konnte, hatte Jo sie schon aufgerissen. Herr Karsten war der Bauer, dem das Ferienhäuschen gehörte. Zweimal in der Woche kam er zu Jo und brachte ihm das, was er bei ihm bestellt hatte.

  »Grüß Gott…«, mehr konnte der Bauer nicht sagen, da schnitt Jo ihm schon das Wort ab.

  »Haben Sie die Leute gesehen?« wollte er wütend wissen.

  »Welche Leute?« Heimlich schüttelte der Bauer über den aufgebrachten Städter den Kopf. Der Mann hatte doch überhaupt keine Nerven. Das kam davon, wenn man de ganzen Tag nicht arbeitete und nur am Schreibtisch hockte und auf der Maschine herumhämmerte.

  »Hören Sie denn den Lärm nicht? Sie sind doch nicht taub? Sollte der Wind etwa das Schild umgeworfen haben?«

  »Welches Schild?«

  »Herrgott, Mann. Sind Sie so begriffsstutzig oder tun Sie nur so? Das Schild, das ich aufstellen ließ. Privatgelände. Wenn die Feriengäste einmal den Weg hierhergefunden haben, wird eine Invasion dieser lärmenden Menschen einsetzen.«

  »Den Herrgott lassen Sie man aus dem Spiel.« Karsten nahm seelenruhig den Rucksack vom Rükken, schob die Blätter zur Seite und legte ihn auf den Tisch. Jo hatte das Gefühl, er müßte platzen. Die Ruhe des Bauern war ihm ebenso unerträglich wie der Lärm der Kinder, der die Luft füllte. Nur dem Hund war offensichtlich sein eigenes Bellen zuviel geworden.

  »Das sind keine Gäste aus dem Ort. Das sind Feriengäste, die das Häuschen dort drüben gemietet haben.«

  Jo starrte den Mann aus seinen braunen Augen an, als verstehe er kein Wort.

  »Das Häuschen gemietet«, murmelte er tonlos.

  »Ja, sie haben das Häuschen gemietet.« Dem Bauern wurde es bei dem Gesicht des Mannes, den er ja sowieso für verrückt hielt, unbehaglich. »Es ist eine junge Frau mit fünf Kindern. Sie haben das Haus für den ganzen Sommer gemietet.«

  Jo hatte ein Gefühl, als wäre ein Stein auf seinen Kopf gefallen.

  »Fünf Kinder. Für den ganzen Sommer.«

  Warum sprach der Kerl denn alles nach? Er war doch kein Papagei.

  »Ja. Es sind sehr nette Kinder und eine angenehme junge Frau«, glaubte er, den Mann beruhigen zu können.

  Jetzt endlich kam Leben in Jo. Er sprang auf, stand breitbeinig vor dem Mann, dem der Schrecken bei diesem Anblick in die Glieder fuhr. Blitzschnell maß er die Entfernung zur Tür. Er hatte nur den einen Wunsch, sich vor diesem Verrückten in Sicherheit zu bringen.

  »Sie haben den Vertrag gebrochen«, brüllte der Mann. Seine Stimme mußte weithin zu hören sein. »Ich habe das Häuschen von Ihnen gemietet, um meine Ruhe zu haben. Ich will hier arbeiten, verstehen Sie?«

  »Ich bin ja nicht taub«, knurrte Karsten gekränkt. Hätte er doch nur seinen Hund mitgenommen.

  »Fünf Kinder, sagen Sie? Sie werden von morgens bis abends herumlärmen. Ich will arbeiten. Ich brauche meine Ruhe. Ich reise noch heute ab.«

  Karsten fuhr der Schrecken in die Glieder. Aber jetzt nicht, weil er sich vor dem Mann fürchtete. Er dachte an das Geld, das der von ihm zurückfordern würde. Es wurde ihm ganz heiß.

  »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, riet er ihm väterlich. Er öffnete den Rucksack, schnell ging das nicht, weil seine Hände so zitterten. Wenn das so weiterging, war er bald genauso ein Nervenbündel wie dieser Mann. Er holte aus dem Rucksack eine dickbauchige Flasche, hielt sie hoch und versuchte seinen Mund zu einem Lächeln zu verziehen.

  »Die Flasche haben Sie zwar nicht bestellt, aber ich habe sie trotzdem mitgebracht. Es ist Jenever. Ein vorzüglicher Magentrunk. Hilft immer. Ist nicht nur für den Magen gut, beruhigt auch die Nerven. Ich hol mal rasch Gläser aus der Küche.«

  Die Küche war genauso groß wie die Stube. An der spartanischen Einrichtung hatte der Mann, der mit einem tollen Sportwagen angefahren kam, nichts auszusetzen gehabt.

  Karsten füllte die Gläser, der Mann war ihm in die Küche gefolgt und ließ sich auf die Eckbank fallen.

  Nachdem Jo das Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, goß Karsten nach und bemühte sich um einen beruhigenden Ton, als spreche er mit einem kranke Kind.

  »Es sind wirklich nette Kinder. Sie sind doch gerade erst angekommen, da sind sie natürlich außer Rand und Band. Sie leben in Berlin, mitten in der Großstadt. In einem Haus, das ohne Sonne ist. Überlegen sie mal. Die Kinder müssen bei dieser Hitze irgendwo auf eiem Hinterhof spielen. Außerdem ist es nicht mein Häuschen, das vermietet wurde. Sie können mich also nicht dafür bestrafen, daß mein Nachbar sein Ferienhaus vermietet.«

  Jo trank auch das zweite Glas leer. Der Bauer musterte ihn ängstlich. Dachte er noch immer daran, sofort abzufahren? Sein Wagen stand in der Scheune und wurde von seinen Kindern mehrmals am Tag bestaunt.

  »Ich bin ganz sicher, daß die junge Frau mit sich reden läßt. Sie ist ausgesprochen liebenswürdig. Sie wird ganz sicher dafür sorgen, daß die Kinder ruhig sind. Lärm machen und sich austoben können sie am Strand. Außerdem steht heute der Wind ungünstig; bei Westwind werden Sie von dem Häuschen drüben überhaupt nichts hören, Westwind haben wir doch beinahe immer.« Auf eine kleine Notlüge kam es dem Bauern nicht an. »Sie dürfen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen«, mahnte er ihn.

  »Sie verstehen das nicht.« Jo strich erschöpft über sein Gesicht. »Ich glaube, Sie verstehen es nicht.« Jos Stimme klang mutlos. »Wie sollten Sie auch? Ich bin hierher gekommen, um ungestört zu arbeiten. Mich lenkt jedes Geräusch ab, ich kann mich nicht in meine Arbeit vertiefen, wenn Lärm um mich ist.«

  Er sah in das wettergegerbte Gesicht des Bauern und seufzte resigniert. »Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt.«

  Herr Karsten erschrak. Sah man ihm wirklich so deutlich seine Gedanken an?

  »Wer denkt denn so was?« wehrte er entrüstet ab. »Ich stelle es mir entsetzlich schwer vor, Bücher zu schreiben. Nicht, daß ich viel lese, dafür habe ich keine Zeit. Aber meine Frau steckt ständig ihre Nase in ein Buch.« Er hütete sich zu sagen, daß er oft ärgerlich darüber war und von Zeitverschwendung murrte. »Sie werden Ihre Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich gehe gleich zu der Frau rüber und spreche mit ihr. Ich zeige ihr sogar den kleinen Tümpel zwischen den Felsen, wo die Kinder toben und baden können, ohne daß es gefährlich für sie ist. Ihnen würde so ein Tag unten am Strand auch gut tun«, setzte er mit einem mitleidigen Blick auf Jo hinzu. »Als Sie herkamen, sahen Sie viel frischer aus.«

  Jo erhob sich. Der Kerl hat ’ne gute Figur, stellte Karsten bei sich fest. Mit den breiten Schultern müßte er einen guten Arbeiter abgeben. Nach einem Tag auf dem Feld würde er abends müde ins Bett fallen, und nach wenigen Tagen wären seine Nerven besser beieinander.

  Jetzt begann der Hund wieder zu kläffen, ohrenbetäubend laut klang es. Jo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.

  »Es ist ein Boxer«, glaubte Karsten erklären zu müssen. »Der arme Kerl wird vor Freude, endlich über einen weichen Boden laufen zu können, außer sich sein. Hören Sie nur, wie glücklich sein Bellen klingt.«

  »Für meine Ohren klingt es wie eine nervtötende Sirene. Ich kann es nicht ertragen.«

  Kinderstimmen jauchzten, überschlugen sich vor Übermut und übertönten das beruhigende Geräusch der Wellen.

  Jo ging ins Zimmer zurück und knallte das Fenster zu. Das hätte er nicht tun dürfen, so eine Behandlung duldeten die Fensterrahmen nicht, die schon Jahrzehnte dem Wetter getrotzt hatten.

  Verdutzt starrte er auf den Flügel, den er in der Hand hielt, und sah anklagend auf den Bauern, der tadelnd seinen Kopf schüttelte.

  »Das geht aber nicht, daß Sie Ihren Ärger an den Fenstern auslassen. Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Jetzt kann ich eine Zeit damit vertun, die Sache wieder zu reparieren. Dabei hätte ich wirklich wichtigeres zu tun.«

  Jo floh aus dem Zimmer. Er riß eine Jacke vom Haken, der als Garderobe diente, und stürmte hinaus. Für den verwilderten Garten hatte er nicht einen Blick, er rannte über den Weg zu den Dünen hinunter, zertrat die strohigen Gräser. Nachdem er eine halbe Stunde gerannt war, war er nicht nur außer Atem, er wurde auch ruhiger. »Es bringt nichts, sich aufzuregen, alter Knabe«, redete er sich zu, »abwarten. Wenn du nicht arbeiten kannst, suchst du dir einfach etwas anderes.«

  Aber es graute ihm davor. Noch einmal in eine fremde Umgebung eintauchen zu müssen, erschien ihm als schreckliche Zeitverschwendung.

  Er hatte den Strand erreicht, er setzte sich auf einen großen Stein, streckte die Beine über den Sand und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Ruhe umfing ihn. Er hörte den Wellen zu, sie liefen über die Steine, flossen zurück, der monotone Gesang streichelte seine Nerven. Er sah einer Möwe zu, die eifrig zwischen den Steinen pickte, den Kopf hob und schrille Schreie ausstieß, als kreischte sie dem Himmel ihre Beschwerde entgegen.

*

  »Hast du schon mal geangelt?« Jo war so in Gedanken vertieft gewesen, daß er das Kind nicht wahr genommen hatte. Er zuckte zusammen und starrte auf das kleine Wesen.

  »Was hast du denn? Du zuckst ja zusammen, als hätte ich einen Schuß abgefeuert. Du siehst mich richtig komisch an.«

  Ich muß mich wirklich mehr zusammennehmen, rief Jonathan sich zur Ordnung.

  »Entschudlige«, bat er das Kind, »ich habe dich nicht kommen gehört.«

  »Nee? Das kommt sicher daher, weil ich keine Schuhe anhabe. Aber ich kann dir sagen, die Steine picken ganz erbärmlich. Wie die Indianer das machen, ständig barfuß herumzulaufen, das kapier ich nicht.«

  »Sie sind es einfach gewohnt«, erklärte Jo dem Kind. War es ein Junge oder ein Mädchen? Das Wesen trug winzige, verwaschene Shorts, ein buntes Hemd und hatte so zerkratzte Beine, wie Fridolin sie noch nie gesehen hatte.

  »Ich heiße Lea«, erklärte das Kind, als könnte es Gedanken lesen. »Ich will angeln. Ich habe nämlich zum Geburtstag eine Angel geschenkt bekommen. Ich dachte, es ist ganz leicht, ich dachte, hier gibt es haufenweise Fische. Aber es beißt keiner an. Irgendwas muß ich falsch machen. Darum frage ich dich, ob du schon mal geangelt hast. Ich stelle es mir Spitze vor, wenn wir zum Mittagessen selbst gefangenen Fisch braten können.«

  Er sah in das unglückliche Gesichtchen, das von großen braunen Augen beherrscht wurde. Etwas in diesem Gesicht rührte ihn an; was es war, hätte er nicht zu sagen gewußt.

  »Hast du einen Köder an den Haken gemacht?«

  »Eine Köder?« Der Mund blieb vor Erstaunen geöffnet. Ein Schneidezahn fehlte. »Was ist das denn?«

  »Würmer. Würmer, die du hier suchen kannst. Wenn das Wasser zurückgeht, kannst du nach Wattwürmern graben. Du kannst natürlich auch Mehlwürmer in der Zoohandlung kaufen, ich weiß aber nicht, ob es so ein Geschäft hier im Dorf gibt.«

  »Was meinst du mit Watt? Was meinst du damit, wenn das Wasser zurückgeht?«

  »Hast du noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört?«

  Jo saß entspannt auf seinem Stein, für den Augenblick hatte er seinen Ärger vergessen. Die Kleine war zu drollig. Etwas rührend Schutzbedürftiges strahlte sie aus. Wie erwartungsvoll, ja gläubig ihn die braunen Augen ansahen.

  »Nee. Doch, warte mal«, ein Finger wurde gegen die Stupsnase gedrückt, als ließe es sich so besser denken. »Irgendwer hat mal was davon erzählt. Aber ich hab’s vergessen. Erzähl du es mir.« Die Kleine lächelte ihn treuherzig an, ließ sich einfach auf den Sand fallen, hockte da im Schneidersitz und sah zu ihm auf. Nicht eine Spur Scheu oder Zurückhaltung legte die Kleine an den Tag, sie sprach mit ihm, als wären sie längst vertraut.

  »Ebbe und Flut nennt man auch Gezeiten, oder Tiden«, erklärte er dem Kind und merkte gar nicht, daß er mit dem Mädchen sprach, als wäre es erwachsen. »Infolge der Anziehungskraft von Mond und Sonne, verursacht durch rhythmische Schwankungen des Meeresspiegels, der Atmosphäre und der festen Erdoberfläche mit einer Periode von 12 bis 13 Sonnenstunden. Die Gezeiten werden in den Pegeln beobachtet…«

  »Ich verstehe nur Bahnhof«, unterbrach ihn Lea. Sie hatte die Kinderstirn gekraust und schüttelte ein über das andere Mal den Kopf. »Ich bin bestimmt nicht schwer von Begriff, aber das kapier ich nicht. Nicht mal die Hälfte.«

  Er stutzte und lachte dann reuevoll.