Mami 1944 – Familienroman - Karina Kaiser - E-Book

Mami 1944 – Familienroman E-Book

Karina Kaiser

0,0

Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Olivia Rutland bummelte heute Überstunden ab – heute, an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag Anfang April. Für die junge Frau war es aber trotzdem ein besonderer Tag. Ihre Kolleginnen und Kollegen vom großen Gartenmarkt, in dem Olivia seit nahezu vier Jahren als Floristin arbeitete, hatten amüsiert gelächelt, als sie ihnen erklärt hatte, diesen Tag müsse sie unbedingt feiern, zuerst allein und dann mit ihrem kleinen Sohn. Es war nämlich der Tag ihrer Scheidung. Vor genau zwei Jahren hatte sie sich endgültig von ihrem Mann getrennt, diesem sogenannten "Allerweltskerl", der für Frau und Kind kaum Zeit fand und einem erotischen Abenteuer nie abgeneigt war. Sie vermißte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Endlich kam sie innerlich zur Ruhe. Der Sohn wurde ihr zugesprochen, und Andreas mußte zahlen, tüchtig zahlen. Und er sollte sich ja nicht einfallen lassen, das nicht zu tun. Dann würde er seine Ex-Frau aber kennenlernen. Offensichtlich wußte Andreas Rutland das genau, denn pünktlich trafen die Unterhaltszahlungen ein. Er allerdings kam so selten, daß Klein Jonas in ihm mittlerweile nur einen netten Onkel sah, der ihn zum Geburtstag und zu Weihnachten besuchte und stets ein teures Spielzeug und viele Süßigkeiten mitbrachte. Ja, die erfolgreiche Scheidung war durchaus ein Grund, sich wieder etwas Hübsches zu gönnen. Die junge Frau lächelte vor sich hin und ging gleich nach der Arbeit zum Friseur. Dort ließ sie sich ihr dickes kastanienbraunes Haar zu einer modernen Kurzhaarfrisur schneiden, kaufte sich anschließend in einem renommierten Modesalon ein schickes Frühjahrskostüm und fuhr dann zur Kindertagesstätte, um ihren Sohn abzuholen. Der Kleine freute sich riesig, denn es kam nicht allzu oft vor, daß seine Mutti früher als sonst kam. "Mutti – Mutti!" kreischte er vergnügt und lief ihr entgegen. Anorak und die Handschuhe an.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 117

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami – 1944–

Aus Liebe zu diesen beiden

… finden Olivia und Ingmar eine Lösung

Karina Kaiser

Olivia Rutland bummelte heute Überstunden ab – heute, an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag Anfang April. Für die junge Frau war es aber trotzdem ein besonderer Tag.

Ihre Kolleginnen und Kollegen vom großen Gartenmarkt, in dem Olivia seit nahezu vier Jahren als Floristin arbeitete, hatten amüsiert gelächelt, als sie ihnen erklärt hatte, diesen Tag müsse sie unbedingt feiern, zuerst allein und dann mit ihrem kleinen Sohn. Es war nämlich der Tag ihrer Scheidung.

Vor genau zwei Jahren hatte sie sich endgültig von ihrem Mann getrennt, diesem sogenannten »Allerweltskerl«, der für Frau und Kind kaum Zeit fand und einem erotischen Abenteuer nie abgeneigt war. Sie vermißte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Endlich kam sie innerlich zur Ruhe. Der Sohn wurde ihr zugesprochen, und Andreas mußte zahlen, tüchtig zahlen. Und er sollte sich ja nicht einfallen lassen, das nicht zu tun. Dann würde er seine Ex-Frau aber kennenlernen.

Offensichtlich wußte Andreas Rutland das genau, denn pünktlich trafen die Unterhaltszahlungen ein. Er allerdings kam so selten, daß Klein Jonas in ihm mittlerweile nur einen netten Onkel sah, der ihn zum Geburtstag und zu Weihnachten besuchte und stets ein teures Spielzeug und viele Süßigkeiten mitbrachte.

Ja, die erfolgreiche Scheidung war durchaus ein Grund, sich wieder etwas Hübsches zu gönnen. Die junge Frau lächelte vor sich hin und ging gleich nach der Arbeit zum Friseur. Dort ließ sie sich ihr dickes kastanienbraunes Haar zu einer modernen Kurzhaarfrisur schneiden, kaufte sich anschließend in einem renommierten Modesalon ein schickes Frühjahrskostüm und fuhr dann zur Kindertagesstätte, um ihren Sohn abzuholen.

Der Kleine freute sich riesig, denn es kam nicht allzu oft vor, daß seine Mutti früher als sonst kam.

»Mutti – Mutti!« kreischte er vergnügt und lief ihr entgegen. Olivia nahm ihn in die Arme, drückte ihn einen Moment an sich und zog ihm danach seinen

Anorak und die Handschuhe an. Eine warme Mütze folgte. So konnte Jonas Rutland dem scharfen Wind trotzen, zumal man bis zum Auto seiner Mutter nur ein paar Schritte zurückzulegen brauchte. Olivia sorgte sich seit längerer Zeit ein wenig um den kleinen Mann, denn er war leider recht oft krank, nicht schlimm, aber Husten, Schnupfen und Fieber plagten ihn oft – viel zu oft.

Der Kinderarzt hatte schließlich eine Kur empfohlen – eine »Mutter und Kind-Kur«. Olivia hatte diese bei der Krankenkasse beantragt, vor Wochen schon. Eine Antwort hatte sie bisher nicht erhalten, man hüllte sich in diskretes Schweigen.

Inzwischen war Olivia mit ihrem Kleinen zu Hause angekommen.

»Möchtest du nachher einen Schokoladenpudding haben?« fragte sie Jonas, während sie den Hausflur betraten.

Der Junge nickte kräftig. Olivia hatte unterdessen die Post aus dem Kasten genommen und blätterte sie flüchtig durch. Viel Werbung und ein Brief von der Krankenkasse.

Das würde endlich die Genehmigung zur Kur sein. Olivia freute sich und drückte die kleine Hand von ihrem Sohn.

»Da werden wir es uns jetzt ein paar Wochen aber so richtig gemütlich machen, Sohnemann«, versprach sie ihm, nahm ihn auf die Arme und eilte mit ihm zu ihrer Wohnung. Dort stellte sie die Einkäufe auf den Küchentisch, befreite den Jungen von seinen warmen Sachen und gab ihm einen Becher mit Schokopudding und einen Plastiklöffel. Lächelnd sah sie ihm nach, wie er damit zu seinem Zimmer lief. Erst danach las sie den Brief.

»Bei denen ist wohl eine Schraube locker!« schimpfte sie laut und warf das Schreiben, nachdem sie es zu Ende gelesen hatte, wütend auf die Tischplatte. Sie überlegte, was sie nun tun sollte und atmete tief ein und aus. Dann las sie das Schreiben ein zweites Mal, es lautete:

»Sehr geehrte Frau Rutland, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, daß für Ihren Sohn Jonas eine Heilkur nach Bad Soden bewilligt wurde…

Bad Soden, das lag doch im Taunus, nicht an der See. Dabei hatte der Arzt Jonas Seeklima empfohlen. Und wo blieb sie als Mutter? Jonas konnte doch wohl bestimmt nicht allein fahren. Aber so oft sie das Schreiben auch las, sie fand keinerlei Hinweis für sich selbst. Unterschrieben hatte ein Herr Lenhard.

Es ist doch kein so guter Tag, sagte sich Olivia erbost und sah auf die Uhr. Und für den Herrn Lenhard würde dieser Tag noch eine unliebsame Überraschung haben, vorausgesetzt, sie konnte Jonas für eine Weile bei den Nachbarn unterbringen und vorausgesetzt, dieser neunmalkluge Herr war überhaupt an seinem Arbeitsplatz.

Wie immer aktiv und entschlußfreudig, sah Olivia kurz nach ihrem Sohn. Jonas spielte inzwischen friedlich mit seinen Hartgummitieren.

»Ich komme gleich wieder«, erklärte sie ihm. »Ich gehe nur zu Onkel Peter und Tante Gertrud.«

»Will mit!« krähte der Kleine laut und beförderte seine Spieltiere in die nächste Zimmerecke.

»Mal sehen«, wich seine Mutter aus. »Ich weiß ja nicht, ob sie da sind.«

Natürlich waren Peter und Gertrud Winzling zu Hause. Das kinderlose Ehepaar paßte mitunter auf Jonas auf, wenn Olivia verhindert war, und freute sich immer sehr über den quicklebendigen Buben.

»Könnt ihr für eine Stunde auf Jonas achten? Ich muß noch zur Krankenkasse und werde dort einen fürchterlichen Rabatz machen, weil die dort anscheinend nicht durchblicken. Das ist nichts für Jonas.«

»Natürlich, geh nur.« Trudchen Winzling trabte bereits Olivia hinterher und nahm den strahlenden Kleinen bei der Hand, um mit ihm zur eigenen Wohnung zu gehen. Er wußte genau, daß es bei der Tante immer eine kleine Leckerei gab, und daß Onkel Peter so herrlich mit ihm spielte.

Olivia wußte, sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Ihr Sohn war bei ihren Bekannten gut aufgehoben.

Sie steckte vorsichtshalber noch einige wichtige Unterlagen in ihre Handtasche, schlüpfte in aller Eile in ihren Mantel, zog die Pumps wieder an und eilte im Sturmschritt zu ihrem Kleinwagen.

*

Mit Wut bis zur Halskrause betrat Olivia das Foyer der Krankenkasse. Nobler Schuppen, dachte sie empört. Die müssen es ja haben. Aber eine alleinstehende Mutter darf nicht mit ihrem Sohn zur Kur fahren. Dafür ist anscheinend kein Geld da. Aber nicht mit mir, meine Damen und Herren. Ich lasse mir nicht die Butter vom Brot nehmen.

»Ich möchte mit Herrn Lenhard sprechen«, sagte sie laut und deutlich zu der Dame bei der Anmeldung.

»Dann gehen Sie bitte zum Zimmer 23.«

Olivia nickte kurz und stürmte weiter, fand die betreffende Tür, klopfte laut und stand fast gleichzeitig im Zimmer.

Ein breitschultriger Mann, etwa Mitte Dreißig mit dunklen, leicht graumelierten Haaren sah ihr verdutzt entgegen. »Sie sind wohl eine von den ganz Schnellen, was?«

»Und Sie einer von den ganz Langsamen, scheint mir. Ich warte zuerst wochenlang darauf, daß der Kurantrag für meinen Sohn genehmigt wird, und wenn Sie sich endlich befleißigen, mir überhaupt zu antworten, dann kommt nur haarsträubender Unsinn dabei heraus. Es geht hier um eine Mutter-und-Kind-Kur, mein Herr. Aber Ihrem Schreiben nach zu urteilen, soll mein Sohn allein fahren. Können Sie mir sagen, wie er das machen soll? Und was soll er im Taunus? Seeklima ist das Beste für ihn, hat sein Arzt gesagt. Außerdem habe ich mich erkundigt. In der Kurklinik von Heiligensee sind noch Plätze frei.«

Der Mann wirkte nervös, aber Olivia nahm das in ihrer Rage nicht wahr.

»Nun setzen Sie sich doch erst einmal hin«, sagte er in bemüht ruhigem Ton. »Und dann erklären Sie mir genau, was Sie so ärgert.«

Olivia hatte inzwischen das Schreiben aus ihrer Handtasche geholt und legte es Ingmar Lenhard auf seinen Schreibtisch. »Das habe ich Ihnen doch eben schon gesagt. Aber lesen Sie nur, was Sie da zu Papier gebracht haben, dann werden Sie mich verstehen.«

Nur mühsam beherrscht setzte sie sich auf den angebotenen Stuhl.

Lenhard überflog das Schreiben, schüttelte nicht begreifend den Kopf und überprüfte die Angaben anhand des Computers.

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie zu bemängeln haben, Frau Rutland. Ihr Sohn hat ein Nierenleiden. Da hat er in Bad Soden die besten Möglichkeiten zu einer Heilung. Zum anderen ist er dreizehn Jahre alt und wird doch wohl allein fahren können.«

Olivia sprang wie von der Tarantel gebissen auf. »Ich glaube, jetzt sehen Sie wohl gar nicht mehr durch«, schrie sie und kramte solange in ihrer Tasche, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Dieses Dokument knallte sie samt ihrer Faust auf den Schreibtisch des unfähigen Mitarbeiters.

»Mein Sohn ist nicht dreizehn, sondern drei Jahre alt, guter Mann. Das ist die Geburtsurkunde. Außerdem hat er kein Nierenleiden, er hat es mit den Bronchien. Ich muß schon sagen, hier wird eine miserable Arbeit geleistet. Aber so muß es wahrscheinlich sein, wenn man in so einem feinen Glaspalast sitzt. Da hat man mit sich selbst zu tun und hat die Sorgen und Nöte anderer Leute bald vergessen.«

Lenhard sah die Frau mit grimmiger Miene und kriegerisch funkelnden Augen vor sich stehen.

»Sie vergreifen sich permanent im Tonfall«, bemerkte er nur kühl.

»Das wäre nicht der Fall, wenn Sie Ihre Arbeit ordentlich machen würden…«

»Ich mache meine Arbeit ordentlich…«

»So?«

Olivia war inzwischen um den Schreibtisch herum gegangen und schaute auf das Computerbild.

»Es ist ja nicht zu fassen«, zischte sie. »Da steht tatsächlich, daß Jonas dreizehn Jahre alt ist…«

»Das muß ein Eingabefehler sein«, gab Lenhard betroffen zu, der unterdessen die Geburtsurkunde gelesen hatte. Danach suchte er sich die betreffende Akte hervor und las das Gutachten des Hausarztes.

Die empörte Mutter hatte ja so recht. Doch sollte er jetzt zugeben, daß wahrscheinlich sein Vorgänger so schlecht gearbeitet hatte? Aber natürlich war es so. Hans Belling hatte vor ein paar Tagen Knall auf Fall gekündigt, und er, Ingmar Lenhard, mußte dessen Aufgabenbereich bis auf Weiteres mit erledigen.

»Entschuldigen Sie bitte das Versehen, Frau Rutland. Ich werde die Angelegenheit neu bearbeiten«, sagte er und reichte Olivia die Geburtsurkunde zurück. »Sie bekommen Bescheid.«

»Wann?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber so schnell wie möglich.«

»Gut, ich warte eine Woche, wenn dann kein Bescheid da ist, dann bin ich wieder hier, und dann können Sie mich kennenlernen.«

»Dazu hatte ich heute schon reichlich Gelegenheit.« Lenhard war dabei, die Angaben im Computer zu ändern. Danach sagte

er:

»Hier, überprüfen Sie alles noch einmal, damit Sie nicht wieder ein mangelhaftes Schreiben bekommen.«

Während Olivia den Text eingehend las, kam eine Frau ins Zimmer.

»Frau Lehmann vom Hort hat eben angerufen, Herr Lenhard. Ihre Tochter ist krank geworden, und Sie sollen sie umgehend abholen.«

Der Mann erschrak sichtlich, nickte dann aber und bedankte sich bei seiner Kollegin, die gleich darauf das Zimmer wieder verließ.

Olivia betrachtete ihn diskret von der Seite. Er sah müde und geschafft aus, und nun mußte er sich offensichtlich noch um seine kranke Tochter kümmern. Hatte er denn keine Frau?

Er interpretierte ihren Blick richtig. »Es gibt nicht nur alleinstehende Mütter, sondern auch ebensolche Väter, Frau Rutland.«

Olivia verspürte wider Willen Mitleid mit ihm. Aber das sollte er natürlich nicht merken.

»Dann müssen Sie ja ganz genau wissen, wie mir jetzt zumute ist. Ich warte also auf Ihr Schreiben, Herr Lenhard und schönen Tag noch.« Ihre Tasche siegesgewiß schwenkend, rauschte sie hinaus und dachte noch, daß sie sich die Flasche Sekt, die sie für den Jahrestag ihrer Scheidung kaltgestellt hatte, nun wirklich verdient hatte.

*

Während Olivia zusah, daß sie nach Hause und zu ihrem Sohn kam, wischte sich Ingmar Lenhard den Schweiß von der Stirn. Diese Frau war ja wie eine Lawine. Aber im Falle ihres Sohnes hatte sie natürlich vollkommen recht. Er mußte diesen Fehler wieder aus der Welt schaffen. Deshalb verfaßte er in alle Eile ein kurzes Schreiben, ging damit zu einer Kollegin und bat: »Setze dich mal mit der Kurklinik in Heiligensee in Verbindung wegen freier Kapazitäten bei Mutter- und Kind-Kuren. Sollte das der Fall sein, dann beende das Schreiben entsprechend und lege es mir morgen zur Unterschrift vor. Ich muß weg. Marie ist krank geworden.«

Die Frau nickte und fragte noch: »Und wo lassen Sie Ihr Kind morgen und in den nächsten Tagen?«

»Vielleicht kann meine Mutter kommen.« Ingmar Lenhard sagte das zwar, aber überzeugt war er davon nicht. Seine seit mehreren Jahren verwitwete Mutter war nicht mehr die Jüngste und hatte stets Bedenken, ein krankes Kind zu pflegen, denn sie befürchtete, etwas falsch zu machen.

»Du solltest wieder heiraten«, hatte sie schon mehrmals gesagt. Doch Ingmar hatte bisher noch keine Frau gefunden, für die er seine inzwischen lieb gewordene Freiheit aufgeben würde.

Seufzend räumte er seinen Schreibtisch auf, es war sowieso bald Feierabend, und setzte sich anschließend in sein Auto und fuhr zum Hort der Goetheschule.

Die Erzieherin, Frau Lehmann, empfing ihn ziemlich aufgebracht. »Jetzt kommen Sie erst, Herr Lenhard? Ich habe schon vor einer guten Stunde bei Ihnen angerufen…«

»Ja, schon gut«, unterbrach er sie ungehalten und dachte: Noch so eine überkandidelte Ziege wie vorhin. Laut fuhr er jedoch fort: »Wie geht es meiner Tochter jetzt?«

»Es ist natürlich nicht besser geworden«, entgegnete die Erzieherin spitz. »Sie wird noch die anderen Kinder anstecken.«

Inzwischen waren sie zum Aufenthaltsraum der Kinder gegangen. Ingmar sah seine achtjährige Tochter wie ein Häufchen Unglück auf einem Stuhl sitzen.

»Papa, mir ist so schlecht«, flüsterte sie mit matter Stimme.

»Wir gehen gleich zum Arzt, und dann wird dir bald wieder besser«, antwortete er beruhigend und half ihr beim Anziehen. Dann verabschiedete er sich kühl von Frau Lehmann.

»Marie hat einen Infekt der oberen Luftwege«, stellte der Arzt später fest. »Sie gehört ein paar Tage ins Bett.« Anweisungen zur Einnahme der verordneten Medikamente folgten sowie weitere Empfehlungen zur sachgemäßen Pflege.

Ingmar nickte zu allem gewissenhaft und sagte dann: »Ich brauche noch einen Arbeitsbefreiungsschein.«

»Sie??«

»Ja, ich. Ich habe niemand, der Marie versorgen kann.«

»Hm«, brummelte Dr. Kranz nur und tippte etwas in seinen Computer ein. »Rezept und Arbeitsbefreiung bekommen Sie von Schwester Brigitte, auch einen neuen Termin.«

Am Abend, als Marie in einen unruhigen Schlaf gefallen war, rief Ingmar bei seiner Mutter an, die in einem Dorf in der Nähe wohnte. Doch sie meldete sich nicht. Schwach erinnerte er sich daran, daß sie heute vermutlich, so wie jeden Dienstag, zum Kartenspielen gegangen war.

Also mußte er wohl oder übel einmal der Arbeit fern bleiben. Da würde sich sein Chef aber freuen. Eine Arbeitsbefreiung wurde nicht gern gesehen, und eine wegen eines erkrankten Kindes schon gar nicht.

*