Glück in Kinderaugen - Gisela Reutling - E-Book

Glück in Kinderaugen E-Book

Gisela Reutling

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! »Du liebst ihn immer noch«, stellte Bruno Meinrad fest. Dabei sah er prüfend in das Gesicht seiner Tochter, das abgespannt wirkte und doch wie von einer inneren Erregung gekennzeichnet war. »Nein, Vater, wo denkst du hin!« Mit einer nervösen Bewegung strich sich Cornelia über das Haar. »Das ist doch längst aus und vorbei.« Sie wandte sich beiseite, um dem durchdringenden Blick zu entgehen, der auf ihr ruhte. »Warum regt es dich dann so auf, dass du Dieter Markgraf wiedergesehen hast?«, fragte Bruno Meinrad trocken. »Es kam so überraschend – plötzlich stand er vor mir«, murmelte Cornelia abgerissen. »Und was sagte er?« »Nichts Besonderes«, antwortete Cornelia achselzuckend. »Hallo, wie geht es dir, du siehst gut aus … Ja, er redete, als wären nicht drei Jahre vergangen, sondern als hätten wir uns vorige Woche oder vorigen Monat zuletzt gesehen. Und eher beiläufig teilte er mir mit, dass er sich hier als Internist niederlassen würde.« »So ist das.« Bruno Meinrad nickte nachdenklich. Das war es wohl, was ihr zu schaffen machte. Wie froh war sie damals gewesen, dass er nach Norddeutschland gegangen war und damit eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen lag.

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Mami Bestseller – 12 –

Glück in Kinderaugen

Für die kleine Heike ist die Welt wieder schön

Gisela Reutling

»Du liebst ihn immer noch«, stellte Bruno Meinrad fest. Dabei sah er prüfend in das Gesicht seiner Tochter, das abgespannt wirkte und doch wie von einer inneren Erregung gekennzeichnet war.

»Nein, Vater, wo denkst du hin!« Mit einer nervösen Bewegung strich sich Cornelia über das Haar. »Das ist doch längst aus und vorbei.« Sie wandte sich beiseite, um dem durchdringenden Blick zu entgehen, der auf ihr ruhte.

»Warum regt es dich dann so auf, dass du Dieter Markgraf wiedergesehen hast?«, fragte Bruno Meinrad trocken.

»Es kam so überraschend – plötzlich stand er vor mir«, murmelte Cornelia abgerissen.

»Und was sagte er?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Cornelia achselzuckend. »Hallo, wie geht es dir, du siehst gut aus … Ja, er redete, als wären nicht drei Jahre vergangen, sondern als hätten wir uns vorige Woche oder vorigen Monat zuletzt gesehen. Und eher beiläufig teilte er mir mit, dass er sich hier als Internist niederlassen würde.«

»So ist das.« Bruno Meinrad nickte nachdenklich. Das war es wohl, was ihr zu schaffen machte. Wie froh war sie damals gewesen, dass er nach Norddeutschland gegangen war und damit eine beträchtliche Entfernung zwischen ihnen lag. Und sie sollte ihm nicht erzählen, dass es vorbei war. Trotzdem sagte er, wie um sie zu beschwichtigen: »Die Stadt ist groß genug, dass ihr euch nicht dauernd in die Arme laufen müsst, Cornelia.«

»Natürlich.« Cornelia bezwang sich, sie bemühte sich sogar um ein Lächeln. »Es hat mich nur im Moment aus dem Konzept gebracht. Im Grunde geht es mich überhaupt nichts an, wo er arbeitet und was er tut.« Es klang herb, und das schwache Lächeln stieg ihr auch nicht bis in die leicht umschatteten Augen.

»Dann ist es ja gut. – Übrigens … Markus hat angerufen«, lenkte er ab. »Er ist aus Norwegen zurück und wollte heute Abend mit dir ausgehen. Ich habe ihm gesagt, dass du Nachtdienst hast.« Als seine Tochter nur etwas apathisch nickte, trat er auf sie zu und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Leg dich jetzt hin, Cornelia, und versuch, etwas vorzuschlafen. Du siehst müde aus.«

»Ich laufe lieber ein Stück, Vater, das tut mir wohler«, meinte sie. »Danach kann ich mich immer noch eine Stunde ausruhen.«

Er stand am Fenster und sah ihr nach, als sie das Haus verließ. Sie hatte feste Schuhe angezogen zu ihrem sportlich-eleganten Kostüm, in dem sie in der Stadt gewesen war. Sonst trug sie oft Hosen, weil es praktischer für sie war. So oder so war sie eine hübsche Erscheinung, schlank und aufrecht, mit ihrem leichten, raschen Gang. Eine junge Frau, die man mit Wohlgefallen sah. Warum hatte sie nur kein Glück?

Kein Glück in der Liebe, schränkte der Vater ein. Beruflich war alles wie erwünscht verlaufen: Studium, Staatsexamen, promovierte Ärztin. Doch das war ihrer Begabung, ihrem Fleiß und ihrer Strebsamkeit zu verdanken. Zu einem erfüllten Frauenleben gehörte mehr.

Indessen lief Cornelia mit ausholenden Schritten zum Fluss, an dem sich die Auen entlangstreckten. Hier war es windiger als zwischen den Häusern, es wehte durch ihr Haar und kühlte ihre Stirn. Das frische junge Grün tat ihren Augen wohl. Allmählich besänftigte sich der unruhige Schlag ihres Herzens.

Du hast anscheinend nichts dazugelernt, hielt sie sich vor. Dieter braucht dich nur anzusehen mit seinen blauen Augen, mit diesem gewissen Lächeln, und schon ist es um dein Gleichgewicht geschehen. Es war wie ein Anprall gewesen …

Ja, gewiss, überlegte sie weiter, nur weil diese Begegnung so völlig unvermutet war, weil sie ihn weit weg wähnte, hatte es sie so getroffen. Sonst wäre sie bestimmt kühl und überlegen geblieben. Sie brauchte doch nur an die letzte schlimme Auseinandersetzung zu denken, die ihr Zusammenleben beendet hatte.

Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen. Dieter war der Meinung, dass man zum Glücklichsein keinen Stempel vom Standesamt brauchte. Er wusste seinen Standpunkt so überzeugend zu vertreten, dass sie diesen zu dem ihrigen machte. Man brauchte sich nur umzusehen: Eine Partnerschaft ohne Trauschein war heutzutage nichts so Besonderes mehr. Wenn erst ein Kind kam, würde man sie ohnehin legalisieren. Doch das war vorläufig noch kein Thema für sie beide.

Vorausgegangen war ein schönes, ein wunderbares Jahr. Sie glaubten füreinander bestimmt zu sein. Jede Stunde ihrer knappen Freizeit, die sie gemeinsam verbrachten, wurde ihnen zu einem Fest.

Hätten sie es nur dabei belassen!

Aber welches liebende Paar wünscht sich nicht eines Tages die ständige Nähe des anderen. Besonders sie, Cornelia, war ganz sicher, dass der Alltag ihrer Liebe nichts von ihrem Glanz nehmen könnte. Wenn Dieter auch mehrfach beteuerte, dass er seine Freiheit brauchte – sie nickte nur lächelnd dazu. Sie hatte ja gar nicht die Absicht, ihm Fesseln anzulegen. Er würde schon häuslicher werden, wenn aus seiner geräumigen, mit kühler Sachlichkeit eingerichteten Junggesellenwohnung ein gemütliches Heim wurde.

Es war ein Irrtum. Dieter nutzte die sogenannte Freiheit, die er sich ausbedungen hatte, mehr aus, als ihr lieb sein konnte. Er fuhr allein zu wissenschaftlichen Kongressen, ging allein aus, ließ sich oft genug auch ohne die Partnerin einladen. Dass er dabei natürlich auch andere Frauen kennenlernte, die ihn genauso attraktiv fanden wie sie, blieb nicht aus.

Eine Weile nahm sie es hin, weil er gereizt reagierte, wenn sie den Mund auftat. Aber auf die Dauer war sie nicht bereit, sich ihm bedingungslos unterzuordnen. Es kam zu Auseinandersetzungen, die nur im Anfang in stürmischen Versöhnungen endeten. Doch sie bewirkten nicht viel, weil schließlich doch alles beim Alten blieb.

Es waren Jahre, in denen ihre Liebe allmählich verwelkt, an den Enttäuschungen erstickt war, die sie sich gegenseitig bereiteten.

Auch Dieter war enttäuscht von ihr, weil sie nicht das nachgiebige, still duldende Frauchen war, für das er sie wohl gehalten hatte. Er warf ihr mangelnde Toleranz vor, und mancher Streit hatte mit dem Satz begonnen: »Du hast es doch gewusst, dass ich mich nicht anbinden lasse!« Sie hatte den Verdacht, dass er eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Dieter stritt es ab. Es fielen böse, erbitterte Worte, mit denen sie sich verletzten. Dies war das Ende.

Es ist wohl besser, wir trennen uns, hatte Dieter mit steinernem Gesicht gesagt und sie hatte ihm tonlos zugestimmt.

Er hatte ein Angebot nach Hamburg angenommen, wollte nun dort seine fachliche Ausbildung zum Herzspezialisten beenden.

Cornelia sagte es sich hundertmal und mehr, dass dieser scharfe Schnitt richtig und unumgänglich gewesen war. Aber die Wunde war da, und sie heilte nur langsam.

Sie war wieder in ihr Elternhaus gezogen. Die Mutter war vor einigen Jahren gestorben, eine nette ältere Frau führte ihrem Vater den Haushalt. Bruno Meinrad war Architekt, er hatte sein Büro im Hause. Aber er überarbeitete sich nicht mehr. Die Verhältnisse erlaubten es dem inzwischen Vierundsechzigjährigen, nur noch gelegentlich einen Auftrag anzunehmen, an den er dann auch mit Freude heranging. Cornelia hatte eine sehr innige Beziehung zu ihm.

Ein Jahr später lernte sie Markus Springer kennen, den Juniorchef des Omnibus-Reisebüros Springer. Dort hatte sie eine Urlaubsreise per Bus und Schiff nach Südnorwegen gebucht. Der Vater hatte sie dazu gedrängt, es würde sie auf andere Gedanken bringen. Die Fjorde, die Gletscherwelt zu sehen, das war ein Erlebnis, wie er aus eigener Erfahrung wusste.

Er sollte recht behalten. Es löste sich wie ein Knoten in ihr, sie lernte wieder zu lachen, heiter zu sein in geselliger Runde. Markus Springer, der größere Reisen selbst begleitete, verstand es ausgezeichnet, die richtige Atmosphäre unter seinen Gästen zu schaffen. Cornelia konnte nicht umhin, zu bewundern, wie vielseitig dieser junge Mann war, wie er jede Situation überlegen und mit wachem Verstand meisterte.

Nach der dreiwöchigen Reise rief er sie später noch einmal an. Ob man sich wiedersehen könnte? Sie war überrascht, aber sie hatte nichts dagegen. Er war weltläufig, wie es sein Beruf mit sich brachte, und man konnte sich interessant mit ihm unterhalten.

Sie trafen sich in einem Restaurant, und er sagte: »Es ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns, keinen Passagier vorzuziehen, deshalb konnte ich Ihnen unterwegs nicht zeigen, wie gut Sie mir gefielen, Frau Dr. Meinrad. Das möchte ich jetzt nachholen.« Dabei lachte er mit blitzenden Zähnen und übermütig funkelnden Augen.

»Sie gefielen mir auch«, bekannte Cornelia freimütig, in heiterem Ton. »Es ist sicher nicht leicht, Menschen verschiedenen Alters und Herkunft in Harmonie zusammenzuhalten.«

»Ja, ja, da könnte ich Ihnen so manche Anekdote erzählen …« Er tat es, und sie amüsierte sich. Es war entspannend, mit Markus Springer beisammen zu sein. Endlich einmal kein Gespräch über Krankheiten, kein Fachsimpeln wie bei gelegentlichen Kollegentreffs.

Das »Frau Doktor« ließ er bald fallen, sie kamen sich näher, und nach einigen Monaten, während derer sie sich manchmal getroffen hatten, schließlich sehr nahe.

Als Cornelias Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, setzte sie sich, schon auf dem Heimweg, auf eine Bank und sah sinnend über den Fluss. War es Liebe, was sie mit Markus verband?

Sie vermochte es weder zu bejahen noch zu verneinen. Es war nicht so, dass sie glaubte, ohne Markus nicht leben zu können, wie es ihr einst bei Dieter geschah. Da war es Liebe gewesen. Sie wollte nicht sagen die große, leidenschaftliche, sondern eben die Liebe, als eine unteilbare Größe. Wie hätte man denken können, dass sie vergehen würde?

Vielleicht war das andere besser, wenn man sich selbst bewahrte, nicht gänzlich im anderen aufging.

Sie nahm sich vor, Markus bald anzurufen und ihm zu sagen, dass sie sich auf ein baldiges Treffen mit ihm freute.

*

»Sie glauben, dass die Patientin simuliert?«, fragte Cornelia. »Aber als ich sie untersuchte, fühlte sich ihr Unterbauch hart und gespannt an, und sie klagte über Schmerzen. Ich habe daraufhin eine Uterographie veranlasst, die allerdings nichts ergab.«

»Nach meiner Ansicht ist die Frau hochgradig neurotisch«, erklärte der Oberarzt, der sich wie gewöhnlich noch mit der Nachtdienst tuenden Ärztin besprach. »Ich habe mit ihrem Hausarzt geredet, er ist derselben Ansicht. Frau Eckner ist seit Jahren bei ihm in Behandlung, wegen ständig wechselnder Beschwerden. Oft genug lässt sie ihn auch nachts zu sich rufen, mal ist es das Herz, mal der Magen, mal die Galle. Dabei sind die Organe gesund. Die Krankheiten, die sie zu haben glaubt, existieren nur in ihrer Einbildung.«

»Das verstehe ich nicht.« Kopfschüttelnd betrachtete Cornelia die Krankenblätter. Da gab es Verdacht auf Magengeschwüre und Gallensteine, ohne dass in einem einzigen wirklich eine Erkrankung nachgewiesen werden konnte. »Man gibt doch nicht vor, Schmerzen zu haben, wenn man keine hat.«

»Sie mag sie ja tatsächlich empfinden«, räumte Dr. Holl ein. »Nur dass deren Ursache nicht im organischen Bereich, sondern in der Seele liegt. – Sie sehen mich so erstaunt an, Frau Kollegin, in Ihrer kurzen Praxis ist ihnen wohl ein solcher Fall noch nicht vorgekommen?«

»Nicht in diesem Umfang, nein«, musste Cornelia zugeben. »Ich weiß natürlich, dass seelische Konflikte einen Körper belasten können. Aber über Jahre hindurch, und noch dazu bei einer verhältnismäßig jungen Frau! Wie alt ist sie genau?«, sie sah nach. »Zweiundvierzig«, stellte sie fest. »Das ist doch kein Alter …«

»Tja, man müsste herausfinden, wo die Wurzel allen Übels liegt.« Dr. Holl rieb sich die Nase, eine Angewohnheit, wenn er nachdachte. »Ich habe mich«, fuhr er fort, »bei Dr. Müller, also dem Hausarzt, auch nach ihren persönlichen Verhältnissen erkundigt. Sie ist verheiratet, der Mann ist Steuerberater, der einzige Sohn ist schon aus dem Haus. Weiter wusste er mir nichts darüber zu sagen, er ist wohl in seiner Praxis ziemlich überlastet.«

Sekundenlang schwiegen sie. Dann sah der Oberarzt seine jüngere Kollegin an. »Wollen Sie nicht mal mit Frau Eckner reden, Frau Meinrad?«, schlug er vor. »Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass die Patientinnen Ihnen besonderes Vertrauen entgegenbringen. Wenn ich nur an dieses junge Ding denke, dem wir den Magen auspumpen mussten, weil es eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Sie haben das Mädchen doch ordentlich wieder aufgebaut, nachdem es sich ihren Liebeskummer von der Seele geredet hatte.«

Cornelia nickte leicht. Es war die Kurzschlusshandlung einer Siebzehnjährigen gewesen. »Der Fall Eckner liegt wohl etwas anders«, zögerte sie.

»Sicher«, stimmte Dr. Holl ihr zu. »Versuchen könnten Sie es immerhin. – Ja, das wär’s dann wohl.«

Aber Cornelia hatte noch eine Frage. »Wie steht es mit Frau Berger auf Zimmer 11? Sie hat in den letzten Nächten kaum Ruhe gefunden.«

»Ich habe Schwester Anni schon gebeten, dass sie heute ein stärkeres Schlafmittel bekommen soll«, gab der Oberarzt zurück. »Wir haben die Biopsie vorgenommen …«, er stockte. Seine Miene verdüsterte sich.

»Und –?«, fragte Cornelia ahnungsvoll.

»Karzinose«, antwortete Dr. Holl kurz.

Cornelia zog scharf den Atem ein. Das bedeutete: Aussaat von Krebszellen im ganzen Körper. »So weit ist es also schon«, murmelte sie mit blassen Lippen. Es war zuerst nur ein Verdacht gewesen. Nun hatte er sich bestätigt.

»Sie hätte viel früher zu uns kommen müssen«, sagte der Arzt etwas schroff. »Wozu gibt es schließlich Vorsorgeuntersuchungen?«

Bedrückt trat Cornelia an diesem Abend ihren Nachtdienst an. Renate Berger hieß die junge Frau, der das Todesurteil gesprochen war. Im gleichen Alter wie sie, Anfang dreißig. Cornelia war noch weit davon entfernt, als Ärztin darüberzustehen. Sie lehnte sich noch ohnmächtig auf bei der Vorstellung, einfach nicht mehr helfen zu können. Sie nahm sich vor, zu ihr zu gehen, sobald anderes Wichtiges getan war.

Renate Berger lag in einem Zweibett-Zimmer am Fenster. Die andere Patientin war eine alte Dame, die ohne Hörgerät halb taub war. Mit einem Nicken erwiderte sie den freundlichen Gruß der eintretenden Ärztin und las weiter in ihrem Taschenbuchroman. Sie brauchte nichts mehr, auch keinen Zuspruch. Sie wurde sowieso in den nächsten Tagen entlassen. Cornelia zog sich einen Stuhl an das andere Bett. Auf dem Nachttisch lag noch das Schlafmittel, das Schwester Anni dahingelegt hatte.

»Ich nehme das nicht«, sagte die Patientin. »Ich will wach bleiben, Frau Doktor. Ich habe so viel zu bedenken, nachts, wenn die anderen schlafen und es ruhig ist auf der Station.«

»Ein paar Stunden Schlaf braucht aber jeder Mensch, Frau Berger«, wandte Cornelia behutsam ein. Dabei betrachtete sie das abgezehrte Gesicht der Kranken. Es musste einmal sehr hübsch gewesen sein, bevor die Krankheit es gezeichnet hatte.

Der blasse Mund verzog sich ein wenig, ihre Augen sahen zur Decke empor. »Ich werde bald genug lange schlafen können«, kam es wie ein Hauch zurück. Cornelia griff nach der schmalen Hand und umfasste sie. Aber bevor sie etwas sagen konnte, richtete sich der Blick der Patientin wieder auf sie. »Oder glauben Sie, ich wüsste nicht, dass ich bald sterben muss?«

»Woher wollen Sie das wissen?«, sprach Cornelia leise. »Über Leben und Sterben entscheiden nicht wir.«

»Ich weiß es«, beharrte die andere. »Ich spüre es in mir. Ich lese es in den Mienen der Ärzte, auch in Ihren Augen, Frau Doktor, und wenn Sie alle hundertmal glauben, sich zu beherrschen und mir mit Worten auszuweichen.«