Ersatzmami Annica - Gisela Reutling - E-Book

Ersatzmami Annica E-Book

Gisela Reutling

0,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Sie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels. Es war kalt an diesem frühen Märzmorgen, über dem Wasser trieben feuchte Nebelstreifen. Uwe Hallweg schlief sicher noch fest unter seiner seidenen Steppdecke, in seiner eleganten, mit allem erdenklichem Komfort ausgestatteten Junggesellenwohnung. Er hatte auch geschlafen, als sie sich leise davongeschlichen hatte – nicht etwa, weil sie sich schämte, sondern weil sie einfach nicht wußte, weshalb sie noch länger bei ihm bleiben sollte. Für ihn bedeutete diese Nacht mit einem Mädchen ohnehin nur ein flüchtiges Abenteuer. Ein Frachtdampfer näherte sich langsam. Er war voll beladen und zeigte am Bug die Flagge der Niederlande. Neben der Kajüte hingen ein paar Wäschestücke feucht und schwer von der Leine herab. Wie sie wohl lebten, die Leute auf solchen Schiffen, die ihre Lasten so geruhsam über die Flüsse und Kanäle beförderten, fern von der Hast und Betriebsamkeit dieser Zeit? Christiane war so in ihre Betrachtungen versunken, daß sie zusammenzuckte, als eine Männerstimme neben ihr sagte: »Was tun Sie denn hier?« Langsam wandte sie den Kopf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. »Geht Sie das etwas an?« fragte sie kühl. »Nein, eigentlich nicht.« Der junge Mann lächelte flüchtig. »Ich beobachte Sie nur schon eine ganze Weile. Es ist doch ein bißchen beängstigend, wenn ein Mädchen zu dieser Stunde unbeweglich am Wasser steht.« »Ach, Sie dachten, ich wollte mich da hineinstürzen? Ich denke gar nicht daran. – Außerdem bin ich eine zu gute Schwimmerin, als daß ich mich auf solche Weise umbringen könnte«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami Bestseller – 19 –

Ersatzmami Annica

Wenn wir jetzt auch noch einen Papa hätten!

Gisela Reutling

Wenn das alles ist – dachte Christiane, während sie in die trüben Fluten des Kanals blickte, die sich träge gegen die Brückenpfeiler schoben – wenn das die Liebe sein soll, die höchste Erfüllung, die zwei Menschen finden können…

Sie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels. Es war kalt an diesem frühen Märzmorgen, über dem Wasser trieben feuchte Nebelstreifen.

Uwe Hallweg schlief sicher noch fest unter seiner seidenen Steppdecke, in seiner eleganten, mit allem erdenklichem Komfort ausgestatteten Junggesellenwohnung. Er hatte auch geschlafen, als sie sich leise davongeschlichen hatte – nicht etwa, weil sie sich schämte, sondern weil sie einfach nicht wußte, weshalb sie noch länger bei ihm bleiben sollte. Für ihn bedeutete diese Nacht mit einem Mädchen ohnehin nur ein flüchtiges Abenteuer.

Ein Frachtdampfer näherte sich langsam. Er war voll beladen und zeigte am Bug die Flagge der Niederlande. Neben der Kajüte hingen ein paar Wäschestücke feucht und schwer von der Leine herab. Wie sie wohl lebten, die Leute auf solchen Schiffen, die ihre Lasten so geruhsam über die Flüsse und Kanäle beförderten, fern von der Hast und Betriebsamkeit dieser Zeit?

Christiane war so in ihre Betrachtungen versunken, daß sie zusammenzuckte, als eine Männerstimme neben ihr sagte: »Was tun Sie denn hier?«

Langsam wandte sie den Kopf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. »Geht Sie das etwas an?« fragte sie kühl.

»Nein, eigentlich nicht.« Der junge Mann lächelte flüchtig. »Ich beobachte Sie nur schon eine ganze Weile. Es ist doch ein bißchen beängstigend, wenn ein Mädchen zu dieser Stunde unbeweglich am Wasser steht.«

»Ach, Sie dachten, ich wollte mich da hineinstürzen? Ich denke gar nicht daran. – Außerdem bin ich eine zu gute Schwimmerin, als daß ich mich auf solche Weise umbringen könnte«, fügte sie scherzhaft hinzu.

Der junge Mann blickte sie wieder an. Nein, labil oder zu unüberlegten Handlungen fähig sah das fremde Mädchen gewiß nicht aus. Aber das hatte er von weitem nicht wissen können, da war nur etwas sehr Verlorenes um diese schmale Gestalt gewesen, etwas, das ihn einfach gezwungen hatte, anzuhalten und auszusteigen.

Schöne dunkle Augen hat sie, mußte er denken – und überhaupt gefiel ihm dieses klare feingeschnittene Gesicht ausnehmend gut, obwohl es jetzt sehr blaß und übermüdet aussah.

»Wenn Sie wollen, nehme ich Sie ein Stück mit«, sagte er und machte eine Kopfbewegung zu seinem Wagen hin, der auf der anderen Seite der Brücke hielt.

»Nein, danke, ich gehe lieber zu Fuß«, gab Christiane knapp und bestimmt zurück.

»Schade.« Der junge Mann, der keinen Mantel trug, zog das Ende seines langen Strickschals fester um den Hals. »Ich hätte mich gern noch mit Ihnen unterhalten.« Er wandte sich halb um, und unwillkürlich drehte auch Christia­ne den Kopf. Jetzt erst sah sie den Lieferwagen, der das Signum und den Namen einer bekannten Zeitschrift trug. »Ja, ich fahre Zeitungen aus für einen Großvertrieb«, fuhr der Fremde erklärend fort. »Von irgend etwas muß der Mensch ja leben, wenn er nicht mit einem goldenen Löffel auf die Welt gekommen ist.« Er lächelte beinahe vergnügt, aber dann lag in seinem Blick doch ein leises Bedauern, als er verabschiedend sagte: »Also, ein schönes Wochenende, und auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen.« Sekundenlang sah sie ihm nach, wie er davonging, langbeinig, schlank, mit blonden Haaren. Er war eigentlich nett, mußte sie denken, aber sie vergaß es gleich wieder. Sie fror jetzt erbärmlich in ihrem dünnen Seidenkleid, das sie unter dem Mantel trug.

Bis zu dem Haus am Stadtrand, in dem sie eine kleine Wohnung hatte, war es nicht mehr allzu weit. Sie schritt rasch aus und fühlte, wie ihr allmählich wärmer wurde. Sie freute sich darauf, ausschlafen zu können und ein Wochenende vor sich zu haben, an dem sie tun und lassen konnte, was ihr gefiel.

Uwe Hallweg rief nicht an. Sie hatte es auch kaum anders erwartet, aber sie war trotzdem erleichtert, als auch der Sonntag verging, ohne daß das Telefon klingelte.

»Hoffentlich begegne ich ihm morgen nicht in der Firma, dachte Christia­ne, während sie ihre Sachen für den nächsten Tag bereitlegte. Aber das Verwaltungsgebäude der Hoch- und Tiefbau-Gesellschaft Hallweg war groß, und außerdem war der Juniorchef nur selten in seinem Büro. Noch hielt sein Vater, Richard Hallweg, die Zügel fest in der Hand.

Der Sohn führte die Verhandlungen mit den auswärtigen Geschäftspartnern und kümmerte sich um die weitverzweigten Niederlassungen – das war die offizielle Version. Aber man munkelte, daß er vor allem sein Leben genoß, das Leben eines reichen jungen Mannes, der sich nichts zu versagen braucht und überall dort zu finden ist, wo die große Welt sich trifft.

Am Freitagabend war er völlig überraschend auf dem Betriebsfest der Firma aufgetaucht, zum Entzücken der anwesenden Damen, zur Verärgerung der Herren, die sich von diesem blendend aussehenden Playboy in den Schatten gestellt fühlten.

Christiane fand es peinlich, wie ihre Kolleginnen ihm schöne Augen machten, und sie sah betont gleichgültig über ihn hinweg. Gewiß, Uwe Hallweg sah sehr gut aus mit seinem dunklen Haar, der gebräunten Haut und den dunklen Augen, aber sein ganzes Auftreten, sein strahlendes Lächeln mit blitzendweißen Zähnen erschien ihr allzu erfolgsgewohnt.

Sonderbarerweise hatte er sie zuerst zum Tanz aufgefordert. Er tanzte wunderbar, aber sie hatte nur spöttisch gelächelt, als er zu ihr sagte: »Sie sind das schönste Mädchen im ganzen Saal.«

»Sie werden heute abend sicher noch oft Gelegenheit finden, dieses liebenswürdige Kompliment anzubringen, Herr Hallweg!«

Zuerst hatte er sie verdutzt angesehen, wahrscheinlich hatte er eine andere Wirkung seiner Worte erwartet, dann lachte er. »Sie irren sich. Ich möchte, daß Sie meine Partnerin sind, nur Sie allein!«

»Ist das ein Befehl?«

»O nein. Eine Bitte!« Dabei hatte er ihr tief in die Augen geblickt und sie etwas näher an sich gezogen. Es erregte sie auf eine seltsame Weise. Und gleichzeitig packte sie ein gewisser Übermut.

»Ich fürchte, Sie können es sich nicht erlauben, Ihr ganzes Interesse einer einzigen Dame zuzuwenden. Als Sohn des Gastgebers haben Sie doch Pflichten, oder?«

Er verzog den Mund ein wenig. Es klang arrogant, als er entgegnete: »Ich kann mir alles erlauben, und das Wort ›Pflicht‹ höre ich gar nicht gern.«

Sie hatte gedacht: Wenn du nicht zufällig als Sohn eines Millionärs zur Welt gekommen wärst, dann wüßtest du eher, was es heißt, Pflichten zu haben. So ist deine Karriere natürlich gesichert, ohne daß du in den Niederungen des harten Alltags herumzukriechen brauchst. Sie fühlte seinen Blick, und sie erwiderte ihn. Uwe Hallweg lächelte hintergründig.

»Sie scheinen nicht ganz einverstanden mit mir zu sein. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Christiane Mellin.«

»Christiane. Ich werde Sie Chris nennen. Trinken Sie ein Glas Sekt mit mir, Chris?«

So hatte es angefangen. Uwe Hallweg flirtete mit ihr, und sie ging aus irgendeiner Laune heraus auf dieses Spiel ein. Sie spürte die neidischen Blicke der anderen in ihrem Rücken und fühlte sich dadurch herausgefordert.

Man hatte ihr oft genug zu verstehen gegeben, wie komisch es sei, daß sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch keinen Freund hatte. Die Gespräche der Mädchen drehten sich um nichts anderes, und selbst ihre Freundin Barbara, mit der sie sich sonst gut verstand, hatte ihr einmal unverblümt erklärt, sie müsse nicht ganz normal sein, wenn sie ohne Liebe leben könne.

»Wie oft waren Sie schon verliebt, Chris?« fragte Uwe Hallweg, als es auf Mitternacht zuging und sie einen Letkiss zusammen tanzten.

»Tausendundeinmal«, lachte Christiane. Was ging es ihn an, daß sie noch nie verliebt gewesen war? Auch diesmal war sie es nicht, ihr Verstand blieb wach und kühl, sie beobachtete sich selbst neugierig, während sie dem stürmischen Werben Uwe Hallwegs mit einem Lächeln begegnete.

Natürlich wollte er sie dann nach Hause bringen, und natürlich küßte er sie unterwegs. Er verstand sich aufs Küssen ebensogut wie aufs Tanzen, und als er sie bat: »Du kommst mit zu mir, Chris?«, da widersprach sie nicht.

Warum sollte es nicht Uwe Hallweg sein, mit dem sie ihr erstes Liebeserlebnis hatte?

Aber es war kein Glück dabei, im Gegenteil. Mit einem Gefühl grenzenloser Enttäuschung hatte sie auf den Mann geblickt, den fremden Mann, der sie rasch und ohne Zärtlichkeit nahm und dann an ihrer Seite eingeschlafen war. Leise war sie fortgegangen.

Nein, sie wünschte sich nicht, Uwe Hallweg wiederzusehen. Sie wollte vergessen, was in jener Nacht geschehen war.

*

Vierzehn Tage später. Christiane stand an der Haltestelle und wartete auf den Omnibus. Es war viertel nach fünf; ein häßlicher, trübgrauer Nachmittag mit Nieselregen, in den sich ab und zu ein paar wäßrige Schneeflocken mischten. Mit ihren Gedanken war sie noch bei der Arbeit. Der Brief an Laroche in Paris hatte ihr einige Schwierigkeiten bereitet wegen der zahlreichen technischen Begriffe, die darin vorkamen. Sie wollte ihn morgen noch einmal überprüfen, bevor sie ihn dem Chef zur Unterschrift vorlegte.

Jemand sagte neben ihr: »Man muß sich nur genug wünschen, dann geht es auch in Erfüllung!«

Zuerst wurde es ihr gar nicht bewußt, daß diese Worte ihr galten, doch dann sah sie plötzlich in das Gesicht eines jungen Mannes, der ihr bekannt vorkam. Ach ja, das war der junge Mann, der sie auf der Brücke vor einem vermeintlichen Selbstmordversuch bewahren wollte. Sie nickte ihm freundlich grüßend zu, und er lächelte freudig zurück.

»Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, meine schöne Unbekannte in dieser großen Stadt wiederzufinden«, gestand er ihr. »Hoffentlich sagen Sie mir jetzt nicht, daß Sie gar keine Zeit dazu haben, mit mir eine Tasse Kaffe zu trinken!«

»Etwas Zeit habe ich schon«, gab sie zu, »und eine Tasse Kaffee würde mir jetzt sicher ganz guttun.«

Er lächelte wie jemand, dem man eine große und unverhoffte Freude gemacht hat, und eine kleine warme Welle schlug in ihr empor.

Es waren nur ein paar Schritte bis zu einem netten Café.

Bevor sie sich an einem der kleinen runden Tische niederließen, stellte der junge Mann sich vor: »Ich heiße Andreas Veidt, bin vierundzwanzig Jahre alt und studiere Volkswirtschaft.«

»Also nicht hauptberuflich Zeitungsfahrer«, meinte Christiane lächelnd, während sie sich von ihm den Mantel abnehmen ließ.

»Nein, obwohl das ein guter Job ist. Ich verdiene mir damit, wenigstens teilweise, mein Studium. Anders wäre es für meine Eltern eine zu große Belastung, ich habe noch einige jüngere Geschwister.«

Verständnisvoll nickte sie ihm zu. Auch seine offene, ungezwungene Redeweise berührte sie angenehm. Sie nahmen Platz, und nun nannte auch Christiane ihren Namen.

»Christiane, das ist hübsch, das paßt zu Ihnen«, meinte Andreas Veidt spontan. »Ich hatte Ihnen in meinen Gedanken schon einige Namen gegeben: Elisabeth, Charlotte, Margaret – ja, komisch«, unterbrach er sich etwas verlegen, »es waren lauter altmodische Namen, die mir in den Sinn kamen.«

Christiane zog belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment ist«, meinte sie lachend. »Halten Sie mich etwa für ein altmodisches Mädchen?«

»Aber nein, um Gottes willen!« wehrte er rasch ab. »So habe ich das doch nicht gemeint. Aber Sie scheinen mir meilenweit entfernt zu sein von einer gewissen Sorte moderner junger Mädchen, die sich hopp-hopp von einem Mann ins Bett ziehen lassen.« Als er merkte, daß Christiane unvermittelt rot wurde, fügte er etwas zerknirscht hinzu: »Entschuldigen Sie, Fräulein Mellin, unter Studienkollegen lernt man, sich etwas salopp auszudrücken.«

Sie unterhielten sich angeregt über dieses und jenes. Auch Christiane erzählte von sich, daß sie frühzeitig auf sich gestellt war, in Abendkursen Französisch und Englisch erlernt hatte und seit einem Jahr als Fremdsprachensekretärin bei der Firma Hallweg arbeitete.

»Tüchtig, tüchtig!« Andreas Veidt lächelte anerkennend. Dann versank er in ein nachdenkliches Schweigen und rührte mit dem Löffel in seiner Tasse. Endlich begann er zögernd: »Aber es gibt ja sicher jemand, der Rechte auf Sie hat…«

»Wie meinen Sie das?« fragte Christiane erstaunt.

Er sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ich meine, daß ein Mädchen wie Sie sicher nicht allein ist…«

»Ach so! Nein, ganz allein bin ich nicht, ich habe einen netten Freundeskreis hier. Aber ich bin weder verliebt noch verlobt noch sonst irgendwie gebunden«, erklärte sie lächelnd.

»Dann darf ich Sie also um ein Wiedersehen bitten?« Und als Christianes Lippen das Lächeln beibehielten und er in ihren Augen keine Ablehnung las, fuhr er eifrig fort:

»Vielleicht am Sonntag? Im Künstlerhaus ist eine Ausstellung der Maler des Impressionismus, würde Sie das interessieren?«

Es interessierte Christiane, und sie verabredeten sich. Dann brachte Andreas Veidt sie zur Bushaltestelle. Kurz bevor der Omnibus kam, fragte er: »Jetzt wüßte ich nur noch gern, warum Sie neulich morgens um fünf einsam und allein auf der Brücke gestanden haben.«

Christiane blickte die Straße entlang, das Licht der Neonlampen spiegelte sich in den Pfützen. »Ich kam von dem Betriebsfest unserer Firma«, antwortete sie mit spröder Stimme. »Ich hatte Lust, zu Fuß durch die frische Luft nach Hause zu gehen.« Sie wandte sich ihm zu und reichte ihm die Hand. »Da kommt mein Bus. Auf Wiedersehen, Herr Veidt!«

»Auf Wiedersehen, bis Sonntag. Ich freue mich mehr darauf, als ich sagen kann!« Warm und fest war sein Händedruck.

*

Als sie am Sonntag, am Spätnachmittag, das Künstlerhaus verließen, pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen und trieb Schnee- und Graupelschauer vor sich her.

»Das nennt sich nun Frühling«, schimpfte Andreas Veidt und legte wie beschützend leicht den Arm um Christianes Schultern.

»Das nennt sich erst April«, hielt das Mädchen ihm lachend entgegen, während es den Regenschirm aufspannte.

»Ich glaube, hier in der Nähe gibt es eine nette Weinstube, flüchten wir uns erst mal da hinein«, schlug Andreas vor. »Sicher bekommen wir dort auch etwas Gutes zum Abendessen.« Er sah sie von der Seite an. »Oder haben Sie für heute abend etwas anderes vor?«

»Nein.« Christiane überlegte. Sie wußte, daß die in der Nähe gelegene Weinstube ein exklusives teures Restaurant war, dessen Preise nicht für den schmalen Geldbeutel eines Werkstudenten paßten. Und wie sie Andreas Veidt einschätzte, würde es ihn kränken, wenn sie ihren Anteil selbst bezahlen wollte. Deshalb sagte sie entschlossen: »Wenn Sie mit einem belegten Brot und einer Tasse Tee vorliebnehmen, könnten wir auch zu mir nach Hause fahren.«

Christianes kleine Wohnung war ohne besonderen Aufwand, aber sehr nett und persönlich eingerichtet. »Setzen Sie sich, Herr Veidt«, forderte sie ihren Gast auf und wies auf den Sessel neben der Stehlampe, die ein warmes honiggelbes Licht verbreitete.

»Schön haben Sie es hier«, meinte der junge Mann und sah sich mit einem beinahe verträumten Lächeln um. Er hatte das Gefühl, auf einer stillen Insel zu sein. Er dachte an sein kärglich möbliertes Zimmer und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er später einmal ein eigenes Heim hatte, und eine Frau wie Christiane Mellin ihn abends erwartete…

Sie tranken Tee, plauderten, betrachteten zusammen den Katalog der ausgestellten Bilder, den Christiane im Künstlerhaus erstanden hatte. Später bereitete sie einen kleinen Imbiß zu, und sie ließen es sich schmecken.

»Ich danke Ihnen für diesen Tag«, sagte Andreas Veidt, als er sich verabschiedete. »Sehen wir uns bald wieder?«

»Rufen Sie mich doch in den nächsten Tagen im Büro an!« Sie duldete es, daß er ihre Hand ein paar Sekunden länger als üblich festhielt, und ihre Blicke versanken ineinander. In diesem Moment war eine prickelnde Spannung zwischen ihnen.

Wenn er mich jetzt küßt, dachte Christiane – aber er küßte sie nicht, sondern wandte sich hastig ab. »Auf Wiedersehen«, sagte er noch einmal etwas heiser und stieg die Treppen hinunter. Christiane fühlte sich beschwingt, als sie anschließend in ihrer Wohnung noch ein wenig aufräumte. Was für ein schöner Sonntag das war, dachte sie.

Ob Andreas sie bald wieder anrufen würde?

Dann lächelte sie selbstvergessen vor sich hin, weil sie ihn schon Andreas nannte.

*

Er rief bereits am Montag an.

»Hoffentlich halten Sie mich nicht für aufdringlich«, sagte er mit leichter Verlegenheit in der Stimme, »aber ich konnte es einfach nicht mehr erwarten.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, gab Christiane zurück. »Ich finde es nett, daß Sie an mich gedacht haben.«

Sie redeten ein wenig hin und her, dann fragte Andreas Veidt:

»Darf ich heute wieder zu Ihnen kommen, nur für ein Stündchen? Mir fällt augenblicklich in meinem möblierten Zimmer die Decke auf den Kopf!«

»Wie schrecklich, das kann ich natürlich nicht zulassen!« scherzte Christiane.

»Das heißt also, daß ich kommen darf?« Es klang ein wenig atemlos. Dann fügte er hinzu: »Sie müssen mir aber erlauben, daß ich diesmal etwas zu essen mitbringe. Ich will mich schließlich nicht von Ihnen durchfüttern lassen!«

Er kam, und er brachte eine Menge leckerer Kleinigkeiten mit, die er in einem Delikatessengeschäft eingekauft hatte.

»Waldorf-Salat – Schinkenröllchen – französischer Käse…« Christiane schüttelte leicht den Kopf, als sie alles auf Teller und Schüsselchen legte. »Sie sollten sich doch nicht so in Unkosten stürzen!«

Aber er strahlte wie ein Junge. »Manchmal muß man auch ein bißchen leichtsinnig sein können!« erklärte er. »Seit einer Woche ist für mich jeder Tag ein Fest!«

Christiane steckte Weißbrotscheiben in den Toaster. »Warum ausgerechnet seit einer Woche?« wollte sie wissen.

»Weil ich Sie vor einer Woche wiedergefunden habe, Christiane! – Erlauben Sie mir, daß ich Sie Christiane nenne?«

Sie hatte ein entzückendes Lächeln um den Mund, als sie ihm zunickte: »Ich erlaube es, Andreas!«

Das Blut stieg ihm in die Stirn, als er sie so lächeln sah. Vielleicht war es ihr selbst gar nicht bewußt, wie mädchenhaft und bezaubernd sie in diesem Augenblick aussah. Er hatte es ihr noch nicht sagen wollen, aber die Worte drängten sich ihm einfach über die Lippen: »Ich glaube, ich liebe Sie, Christiane!«

Sie spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte. »Das sagen Sie einfach so daher, in der Küche, bei den Vorbereitungen für das Abendessen?«

»Ja, warum nicht, wenn mir danach zumute ist? Brauchen Sie dafür Musik und Kerzenlicht? Ich nicht.« Er trat auf sie zu und umfaßte sacht ihre Arme. »Es ist wahr, ich liebe Sie, Christiane, und dagegen kann ich gar nichts machen.«

Es begann plötzlich brenzlig zu riechen, und Christiane machte sich von Andreas los, um den Toaströster abzuschalten. »Würden Sie denn etwas dagegen unternehmen, wenn Sie es könnten, Andreas?« fragte sie leise, bevor sie sich ihm wieder zuwandte.