Ein Kind begreift die Welt nicht mehr - Cornelia Waller - E-Book

Ein Kind begreift die Welt nicht mehr E-Book

Cornelia Waller

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! »Wir bekommen demnächst Besuch aus Südamerika, Frau Lindes. Es ist der Direktor eines großen Werkes, mit dem wir künftig eng zusammenarbeiten werden, ein gebürtiger Deutscher übrigens. Bitte, kümmern Sie sich um Zimmer im ›International‹, und zwar mit allem Komfort. Na ja, und so das übliche eben, wenn wir ausländische Gäste haben. Sie wissen ja Bescheid.« Dr. Cordes zog an seiner Brasil und unterschrieb die Akte, die Juliane ihm gerade vorgelegt hatte. »Wann kommt der Herr?« fragte sie sachlich, wie es sich für eine gute Sekretärin gehörte. »Und wie viele Begleiter bringt er mit?« »Am Montag. Und es sind drei Herren insgesamt.« »Erwarten Sie sie selbst am Flugplatz?« Meistens ließ sich der Chef das nicht nehmen, wenn es sich um bedeutende Besucher handelte. »Das geht leider nicht. Meine Frau kommt in die Klinik und würde… Also ich muß sie natürlich begleiten«, erwiderte der Gewaltige etwas kleinlaut. Beinahe hätte Juliane gelächelt. Es war ja bekannt, daß Dr. Cordes ziemlich unter dem Pantoffel seiner besseren Ehehälfte stand.

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Mami Bestseller – 57 –

Ein Kind begreift die Welt nicht mehr

Was ist bloß mit Daniels Mutter los?

Cornelia Waller

»Wir bekommen demnächst Besuch aus Südamerika, Frau Lindes. Es ist der Direktor eines großen Werkes, mit dem wir künftig eng zusammenarbeiten werden, ein gebürtiger Deutscher übrigens. Bitte, kümmern Sie sich um Zimmer im ›International‹, und zwar mit allem Komfort. Na ja, und so das übliche eben, wenn wir ausländische Gäste haben. Sie wissen ja Bescheid.«

Dr. Cordes zog an seiner Brasil und unterschrieb die Akte, die Juliane ihm gerade vorgelegt hatte.

»Wann kommt der Herr?« fragte sie sachlich, wie es sich für eine gute Sekretärin gehörte. »Und wie viele Begleiter bringt er mit?«

»Am Montag. Und es sind drei Herren insgesamt.«

»Erwarten Sie sie selbst am Flugplatz?« Meistens ließ sich der Chef das nicht nehmen, wenn es sich um bedeutende Besucher handelte.

»Das geht leider nicht. Meine Frau kommt in die Klinik und würde… Also ich muß sie natürlich begleiten«, erwiderte der Gewaltige etwas kleinlaut.

Beinahe hätte Juliane gelächelt. Es war ja bekannt, daß Dr. Cordes ziemlich unter dem Pantoffel seiner besseren Ehehälfte stand.

»Wenninger vertritt mich, und damit auch eine charmante Dame dabei ist, dachte ich, daß Sie ihn begleiten. Die Südamerikaner fliegen ja auf hübsche blonde Frauen. Sie werden also sozusagen strategisch eingesetzt.« Er lächelte.

Juliane seufzte komisch.

»Ja, ja, so wird man zweckentfremdet. Ich werde doch um eine Gehalts­erhöhung nachsuchen müssen, Herr Doktor.«

»Einverstanden«, antwortete ihr Chef so umgehend, daß Juliane ihn verblüfft ansah. »Wenn diese Verbindung zustande kommt, werden Sie in Form einer Erhöhung honoriert. Also seien Sie nicht so sparsam mit Ihrem Charme.«

»Und auf welche Namen soll ich die Zimmer bestellen? Oder geht das über unsere Firma?«

»Selbstverständlich, Frau Lindes. Und nun machen Sie mal Feierabend, es ist schon wieder später geworden, wie ich sehe.«

Ja, das wurde es eigentlich immer, dachte Juliane Lindes und seufzte insgeheim. Nur geruhte der Chef es selten zu bemerken. Dann beeilte sie sich aber, ihre Schreibmaschine im Vorzimmer abzudecken und mit ein paar Handgriffen Ordnung auf ihrem Arbeitstisch zu machen.

Eilig schlüpfte sie in ihren Mantel und nahm die Umhängetasche. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, daß ihr Äußeres tadellos wie immer war. Das halblange blonde Haar fiel locker und seidig, ihr schmales Gesicht umrahmend, herunter, das dezente Make-up hob die tiefblauen Augen strahlend hervor, und die Lippen, weich und sanft geschwungen, erhielten nach einem Strich mit dem Lippenstift auch wieder die nötige Farbe.

Es war kein Wunder, daß der jungen Frau auf der Straße bewundernde Männerblicke folgten, wie sie langbeinig und in der ihr eigenen beschwingten Art ausschritt.

Juliane Lindes war knapp dreißig, aber man schätzte sie gut und gern fünf Jahre jünger. Daß sie bereits einen achtjährigen Sohn hatte, traute ihr auf den ersten Blick wirklich keiner zu.

Ihr Sohn! Ein leises Lächeln lag um ihre Lippen, ihr Schritt wurde noch schneller. Daniel wartete gewiß schon auf die Mami! Er befand sich, während sie arbeitete, in einer Kindertagesstätte.

Es war ein großes Glück für sie, ihn hier ganztägig untergebracht zu haben; denn wer hätte das Kind betreuen sollen, nachdem ihre Mutter vor zwei Jahren plötzlich verstorben war, die bis dahin liebevoll für den Kleinen gesorgt hatte.

Nach der Schule ging er dorthin, seine Aufgaben wurden überwacht, und er hatte Spielgefährten. Juliane wußte ihn versorgt und konnte unbelastet ihrer Arbeit nachgehen. Sie verdiente gut als Sekretärin, sie hatten eine hübsche Dreizimmerwohnung, und materielle Sorgen kannte sie eigentlich nicht. Natürlich gab es offene Wünsche, die hatte schließlich jeder, aber mancher ledigen Mutter ging es weitaus schlechter als ihr.

Ja, Juliane war unverheiratet, Daniel ein sogenanntes uneheliches Kind! Da war einst ein Mann gewesen, den sie geliebt hatte, der erste Mann ihres Lebens! Aber Harald Heuser hatte Abenteuerblut in den Adern gehabt, von fremden Ländern hatte er geträumt, von kühnen Pioniertaten, die er vollbringen wollte.

Eines Tages hatte er ihr gestanden, daß er sich um eine Auswanderung nach Südamerika bemüht hatte. Südamerika! Nun wußte Juliane auch, warum sie auf dem Heimweg an ihn denken mußte. Der Geschäftsbesuch kam ja auch dorther.

Nie wieder hatte sie von Harald gehört, seit eines Tages sein Schiff von Genua abgegangen war. Sie war zu stolz gewesen, ihn halten zu wollen, und sie hatte sich gefragt, ob sie mit einem Mann glücklich werden konnte, der ihretwegen große Pläne aufgegeben hätte!

Und dann – seit seinem Fortgang waren drei Wochen vergangen – merkte sie, daß sie ein Kind erwartete! Noch heute stand in ihrer Erinnerung die Panik, die sie überfallen hatte!

Da schwamm der Vater ihres Kindes irgendwo auf den Weltmeeren, sie wußte nichts weiter, als daß er nach Buenos Aires in Argentinien fuhr! Was sollte sie tun?

*

Das weiße langgestreckte Haus inmitten von Kinderspielplätzen und Rasenflächen machte schon einen stillen Eindruck. Die kleinen Gestalten, die es den ganzen Tag bevölkerten, waren verschwunden.

Juliane legte noch einen Schritt zu. Da wartete die nette Schwester Mar­tha wohl wieder ihretwegen mit dem Nachhausegehen. Schon als sie das Gartentörchen öffnete, ging die Tür auf, und Daniel stürzte heraus.

»Mami! Mami!« schrie er und flog in ihre Arme.

Juliane schwenkte ihn herum.

»Tag, mein Herzle! Gelt, ich bin wieder arg spät heute? Hat Schwester Martha nicht schon geschimpft?«

»Schwester Martha schimpft nie«, versicherte der kleine Blondschopf mit den blauen Augen der Mutter ernsthaft.

Und da kam die Gute auch schon lächelnd heraus. Sie winkte ab, als Juliane sich entschuldigen wollte.

»Ich habe sowieso noch aufzuräumen, Frau Lindes. Der Daniel hilft mir immer fleißig, gelt, Kleiner?«

»Hm!« Er nickte und hüpfte von einem Bein aufs andere. »Und gebastelt haben wir was für dich, Mami. Aber das kriegst du erst am Muttertag.«

»Na, da bin ich aber gespannt«, lächelte Juliane.

Hand in Hand gingen Mutter und Sohn dann nach Hause. Es war von hier aus nicht weit, höchstens fünf Minuten durch eine Anlage.

Tief atmete Juliane ein. Es war die Zeit der Blüte, zarte Düfte erfüllten die Luft. Frühlingszeit, Zeit der Liebenden! Ach, was für dumme Gedanken! Juliane konzentrierte sich auf das muntere Geplauder ihres Sohnes.

Das Haus, in dem sie wohnten, war eines jener typischen Neubauten mit vielen Mietern. Nach dem Tod der Mutter hatte sich Juliane dieses neue Domizil gesucht, weil es der Tagesstätte und Schule näher lag. Aber die Wohnung hatte sie sehr individuell ausgestattet, modern, aber nicht kalt, zweckmäßig, aber nicht unpersönlich.

Daniel hatte ein wunderhübsches Bubenzimmer, das Reich für sich, das Kinder so dringend brauchen. Julianes Zimmer war praktisch ein zweites Wohnzimmer, mit der buntbezogenen Liege und den hübschen Anbaumöbeln, und der Wohnraum selbst war ihr ganzer Stolz, mit seinem Berberteppich, den olivgrünen Cordsesseln und dem Kirschbaumschrank, alt und wertvoll, von den Großeltern geerbt.

Die Küche war klein, aber ausreichend und mit einigen technischen Erleichterungen versehen, wie sie eine berufstätige Hausfrau zu schätzen weiß. Das Bad war winzig, aber groß genug für Daniels abendliche Überschwemmungen, die er darin veranstaltete.

Juliane bereitete ein leichtes Abendessen. Daniel aß in der Tagesstätte gut und sie selbst im Betrieb, dennoch kochte sie abends gern noch etwas.

»Heute gab’s ekelhafte Linsen«, hatte ihr Daniel gerade erzählt.

Da mußte natürlich noch ein kleines Leibgericht gekocht werden. Eierpfannkuchen zum Beispiel.

»Kommt Onkel Bertram heute?« erkundigte sich der Kleine, als sie einander am Eßtisch gegenübersaßen und sich die goldgelben Eierkuchen munden ließen.

»Nein, Herzle, heute nicht«, antwortete Juliane, und sie dachte, wie sehr Daniel doch an Bertram Jantzen hing.

Bertram war ein guter Bekannter, fast schon ein Freund. Sie kannten sich jetzt über ein Jahr, und Bertram liebte sie, das wußte Juliane.

Sie selbst war sich über ihre Gefühle nicht so im klaren. Sie schätzte ihn, mochte ihn sehr und wußte, sie konnte sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Aber das gewisse Herzklopfen, die Spannung der erotischen Anziehung fehlten bei ihr.

Bertram Jantzen war Lehrer an einem Gymnasium. Er unterrichtete in Sport und Mathematik und war ein glänzender Pädagoge, sehr beliebt bei seinen Schülern, weil er eine natürliche Autorität besaß, diese kaum ausspielte und mehr ein kameradschaftliches Verhältnis zur Jugend suchte.

Sie hatten sich auf einer kleinen Festlichkeit kennengelernt, die eine Freundin von Juliane gegeben hatte. Irgend jemand hatte den jungen Mann, der fremd in der Stadt war, mitgebracht. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen, hatten sich den ganzen Abend vorzüglich miteinander unterhalten. Da waren gleiche Interessen und Vorlieben herausgekommen, und es war eigentlich ganz natürlich gewesen, daß Bertram sie um ein Wiedersehen gebeten hatte.

Von da an hatten sie sich regelmäßig getroffen und waren miteinander in Theater und Konzert, in Aus­stellungen und Museen gegangen. Eine freundliche Nachbarin paßte auf Daniel auf, wenn sie fortging, da gab es zum Glück keine Schwierigkeiten. Und eines Tages hatte sie Bertram zu sich eingeladen, damit er ihren kleinen Sohn kennenlernte, von dem sie sie ihm schon soviel erzählt hatte.

Sie hatten sich auf Anhieb gemocht, die zwei. Bertram verstand es vorzüglich, auf den Kleinen einzugehen, und es gab natürlich Dinge, die ein Mann einem Jungen einfach besser nahebringen konnte als sie, die Mutter. Und Daniel schloß den großen, kräftigen Mann ins Herz, der so fabelhaft mit ihm toben konnte, so herzhaft lachte und mit ihm die neue elektrische Eisenbahn in Gang setzte. »Onkel Bertram«, nannte er ihn bald.

So verbrachten sie die Wochenenden zu dritt, fuhren mit Bertrams Wagen hinaus ins Grüne, wo sie wanderten oder schwammen oder im Winter im Schnee herumtollten.

Wie eine komplette Familie wirkten sie dann auf Fremde, und der Tag kam, da Bertram sie bat, daß man es doch sein möge. Juliane hatte sich Zeit ausbedungen.

»Ein paar Monate noch«, hatte sie gebeten. »Ich möchte meiner Gefühle sicher sein, weißt du.«

»Gelt, du hängst immer noch an dem Mann…, an Daniels Vater«, hatte Bertram traurig geantwortet.

Sie hatte es bestritten, aber insgeheim verglich sie die beiden Männer tatsächlich. Harald hatte so viel Charme gehabt, er war so faszinierend gewesen. Wenn er in ihrer Nähe gewesen war, hatte ihr Herz gezittert, jeder Kuß hatte sie erbeben lassen, jeder Nerv hatte vibriert. Und er war ein Bild von einem Mann gewesen, nicht kleiner als Bertram, der sehr groß war, schmaler gebaut, aber immer gebräunt, mit tiefdunklen Haaren und blauen Augen in einem sehr männlichen, gut geschnittenen Gesicht. Viele Frauen hatten ihm nachgestarrt, wenn sie mit ihm gegangen war.

Gewiß, auch Bertram war stattlich, sehr kräftig von Gestalt, mit dunkelblonden Haaren und grauen Augen. Sein Gesicht verriet Intellekt und Ener­gie, seine Augen strahlten Güte aus. Aber wenn er den Arm gelegentlich um ihre Schultern legte, blieb ihr Herz ruhig, und wenn er sie küßte, zitterte sie nicht.

Konnte man aber in eine Ehe gehen, wenn man so ruhig blieb in den Armen eines Mannes? Tat sie ihm nicht Unrecht, wenn sie ihn heiratete und nicht empfand wie er?

»Mami, du antwortest gar nicht, hörst mir überhaupt nicht zu«, sagte Daniel jetzt vorwurfsvoll, und sie sah ihn reuevoll an.

»Ich dachte gerade, was du mir wohl gebastelt haben könntest«, erklärte sie nicht ganz wahrheitsgemäß.

»Aber, Mami, du hast selbst gesagt, man soll nicht so neugierig sein!«

»Hast ja recht, mein Kleiner«, lächelte Juliane und fuhr ihm über den Blondschopf.

*

Dietrich Wenninger, Produktionsleiter der Cordes-Werke, sah Juliane bewundernd an.

»Wie haben Sie sich hübsch gemacht, Frau Lindes! Und alles im Interesse der Firma sozusagen, tz, tz, tz! Lohnt man Ihnen das denn?«

Juliane lachte. »Jedenfalls hab’ ich um eine Erhöhung schleunigst nachgefragt. Da muß man ja clever sein beim Alten.…, beim Chef wollte ich sagen«, verbesserte sie sich verlegen. Aber Wenninger grinste.

»Na, na, nun tun Sie sich bloß keinen Zwang an. Auch bei den Herren der Geschäftsleitung ist der Alte der Alte. So, und nun wollen wir mal steigen, wie?«

Juliane warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Doch, man konnte mit ihr zufrieden sein.

In Dietrich Wenningers Mercedes fuhren sie zum Flughafen.

Die Maschine wurde pünktlich angesagt. Wenninger und Juliane begaben sich in die Empfangshalle. Es dauerte nicht lange, und die ersten Passagiere strömten durch die geschlossene Gangway, die direkt in die Halle führte. Die Zollabfertigung ging sehr schnell.

»Woran erkennen wir die Herren überhaupt?« erkundigte sich Juliane.

»Also erstens sind es ja drei Herren, und dann habe ich einen von ihnen schon einmal kurz kennengelernt«, erwiderte Wenninger. Er war schon zu Vorverhandlungen in Argentinien gewesen. »Notfalls lassen wir sie auch ausrufen, aber verlassen Sie sich nur auf meinen Scharfblick.«

Sie entdeckten die drei Herren gleichzeitig. Zwei davon entsprachen genau der Vorstellung des typischen Südamerikaners, einschließlich des Menjourbärtchens auf der Oberlippe. Wenninger ging schon auf sie zu und nannte ihre Namen halb fragend. Die beiden lächelten höflich, nickten und wiesen dann auf den dritten.

Langsam trat auch Juliane näher und stockte dann jäh mitten im Schritt. Alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, als sie den dritten Mann jetzt richtig ansah.

Das konnte doch nicht wahr sein! Sicher täuschte sie sich! Aber sie wußte augenblicklich, daß sie keineswegs einer Sinnestäuschung erlegen war. Dieser Mann war Harald Heuser, der Geliebte aus der Vergangenheit, der Vater ihres Sohnes.

»Gestatten die Herren, daß ich Sie mit einer reizenden Repräsentantin unserer Firma bekannt mache?« Wenninger wandte sich zu Juliane um, nahm leicht ihren Arm und schob sie näher. »Es ist Frau Lindes, die rechte Hand unseres Chefs, Herrn Dr. Cordes.«

Mechanisch streckte Juliane Harald ihre Hand hin, um ein konventionelles Lächeln bemüht. Sie konnte doch hier in Gegenwart der anderen keine Wiedersehensszene aufführen!

Sie bemerkte, daß Harald sozusagen auch die Luft wegblieb im ersten Moment, als er sie erkannte. Und natürlich erkannte er sie. Neun Jahre waren zwar eine lange Zeit, aber nicht lang genug, um sich nicht zu erkennen.

Auch er bemühte sich um Fassung, und da er schon immer gewandter als sie gewesen war, gelang es ihm vorzüglich, sein Erstaunen zu verbergen.

»Was für eine reizende Überraschung, gnädige Frau«, sagte er und beugte sich über ihre Hand. »Ich sehe schon, die Firma Cordes wird uns in jeder Beziehung überlegen sein.«

Auch die anderen beiden Herren waren von der hübschen blonden Dame äußerst angetan. In englischer Sprache machten sie ihr temperamentvoll Komplimente, da weder Wenninger noch Juliane der spanischen Sprache mächtig waren.

Sie gingen zum Ausgang. Wenninger hielt sich an der Seite von Direktor Heuser, dem wichtigsten Mann der Delegation. Die beiden anderen rahmten Juliane ein. Sie sprühten vor Charme und Temperament. Aber Juliane hatte Mühe, ihr drolliges Englisch, das sie unter anderen Umständen sicher sehr erheitert hätte, zu verstehen. All ihre Sinne richteten sich auf den vor ihr gehenden schlanken Mann, der so elastisch wie eh und je dahinschritt.

Vor dem Flughafen riefen sie noch ein Taxi, da sie ja nicht alle in Wenningers Wagen Platz hatten. Irgendwie wußte Harald Heuser es einzurichten, daß seine Begleiter dort hinein komplimentiert wurden, während er selbst zu Wenninger und Juliane in den Mercedes stieg. Er setzte sich mit einem Scherzwort zu Wenninger hinten zu Juliane.

»Sie gestatten doch?«

Wenninger grinste verständnisvoll.

Natürlich konnten sie kein einziges privates Wort miteinander sprechen. Harald machte Konversation, wie er sie mit jeder Fremden in diesem Fall gepflegt hätte. Aber in seinen Augen las Juliane, was in ihm vorging. Daß er neben der maßlosen Überraschung Freude empfand, war nicht zu übersehen.

»Juliane, was für ein toller Zufall«, flüsterte er ihr einmal zu, als Wenninger sich ganz auf den starken Verkehr konzentrieren mußte. »Ich kann’s nicht fassen. Bist du es wirklich?«

Sie nickte statt einer Antwort und schaute in sein Gesicht, vertraut und doch fremd geworden, und es war unbeschreiblich, was sie fühlte.

Die Erinnerungen überfluteten sie förmlich, und sie stellte fassungslos fest, daß sich nichts, aber auch gar nichts geändert hatte! Sie empfand noch das gleiche für ihn wie damals, es war, als existierten die Jahre nicht mehr.

Rasch wandte sie den Blick ab, denn sie fürchtete, alles, was in ihr vorging, könne in ihren Augen zu lesen sein.

Sie erreichten die Cordes-Werke, und hier war auch Dr. Cordes inzwischen eingetroffen, um seine Gäste zu empfangen.

Man begab sich sogleich in das Chef­zimmer, dem sich ein kleiner Konferenzraum anschloß. Dort wurden zunächst Erfrischungen gereicht, ein Imbiß, und dann wurde es offiziell. Eine große Werksbesichtigung schloß sich an.

Juliane saß untätig in ihrem Zimmer. Sie war einfach nicht fähig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Nur wenn jemand hereinkam, beugte sie sich scheinbar sehr beschäftigt über ihre Akten.

*

Natürlich sah Juliane die Gäste an diesem Tag noch des öfteren, auch wenn der Chef sie zu den zunächst zwanglosen vorbereitenden Besprechungen nicht hinzuzog. Aber es fand sich keine Gelegenheit, daß Harald Heuser und sie auch nur ein einziges Wort ohne Zeugen wechseln konnten. Jedesmal fühlte sie seinen Blick zwingend auf sich, als wollte er ihr sagen, daß man einander unbedingt noch treffen müsse.

Sehr zögernd brach sie zur gewohnten Zeit an diesem Tag auf, nachdem sie zuvor bei Dr. Cordes angefragt hatte, ob sie noch benötigt werde.

»Nein, Frau Lindes, danke. Die Herren sind jetzt etwas reisemüde, wir machen auch gleich Schluß, und die Gäste werden sich dann ins Hotel begeben. Vielleicht richten Sie sich aber für morgen schon auf einen längeren Tag ein? Wäre das möglich?«

Dr. Cordes war immer sehr höflich, das mußte man ihm lassen.