Trost in schweren Stunden - Yvonne Bolten - E-Book

Trost in schweren Stunden E-Book

Yvonne Bolten

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! »Papa, ich kann jetzt aber wirklich nicht mehr weitergehen. Wann machen wir denn endlich einmal eine Rast?« fragte Thomas und seufzte aus tiefster Seele auf. Fritz Vonheiden blickte seinen siebenjährigen Sohn mißbilligend an. »Thomas, du mußt dich auch einmal ein bißchen anstrengen. Sieh dir doch einmal deinen Bruder an. Nimm dir ein Beispiel an ihm. Hanno ist schon gleich auf dem Berg dort oben. Dem macht solch eine kleine Wanderung überhaupt nichts aus. Also komm jetzt endlich, Junge.« »Aber ich bin wirklich schrecklich müde«, murmelte Thomas und ließ die Schultern noch weiter sinken. Seine Mutter strich ihm über die blonden Lockenhaare. »Wenn wir auf dem Hügel dort oben sind, ruhen wir uns alle aus, Thomas. Gib mir deine Hand, Schatz. Ich zieh dich ein wenig wie ein Pferdchen den Wagen.« Fritz runzelte zornig die Brauen. »Es ist wirklich kein Wunder, wenn das Kind jede Anstrengung scheut. Du unterstützt ihn ja ständig in seiner Bequemlichkeit, Annalena!« Weder Annalena noch Thomas gaben eine Antwort.

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Mami Bestseller – 72 –

Trost in schweren Stunden

Wir wollen einander immer zur Seite stehen

Yvonne Bolten

»Papa, ich kann jetzt aber wirklich nicht mehr weitergehen. Wann machen wir denn endlich einmal eine Rast?« fragte Thomas und seufzte aus tiefster Seele auf.

Fritz Vonheiden blickte seinen siebenjährigen Sohn mißbilligend an. »Thomas, du mußt dich auch einmal ein bißchen anstrengen. Sieh dir doch einmal deinen Bruder an. Nimm dir ein Beispiel an ihm. Hanno ist schon gleich auf dem Berg dort oben. Dem macht solch eine kleine Wanderung überhaupt nichts aus. Also komm jetzt endlich, Junge.«

»Aber ich bin wirklich schrecklich müde«, murmelte Thomas und ließ die Schultern noch weiter sinken.

Seine Mutter strich ihm über die blonden Lockenhaare. »Wenn wir auf dem Hügel dort oben sind, ruhen wir uns alle aus, Thomas. Gib mir deine Hand, Schatz. Ich zieh dich ein wenig wie ein Pferdchen den Wagen.«

Fritz runzelte zornig die Brauen. »Es ist wirklich kein Wunder, wenn das Kind jede Anstrengung scheut. Du unterstützt ihn ja ständig in seiner Bequemlichkeit, Annalena!«

Weder Annalena noch Thomas gaben eine Antwort. Eine Kluft schien sich zwischen ihnen aufzutun.

Annalena umfaßte Thomas’ schmale Hand fester. Sie wußte, wie Thomas litt, wenn sein Vater mit ihm schimpfte. Thomas nahm sich alles immer viel mehr zu Herzen als sein robuster Zwillingsbruder. Hanno machte es überhaupt nichts aus, wenn sein Vater ihm einmal zürnte. Er warf dann den Kopf in den Nacken, schob die Unterlippe ein wenig vor und tat dann doch, was er wollte.

Annalena gestand sich ein – und wie immer schämte sie sich deshalb ein wenig –, daß sie sich dem schwächeren Thomas noch inniger verbunden fühlte als Hanno, der ihrer Hilfe fast nie bedurft hatte.

Hanno war als pausbäckiges Baby auf die Welt gekommen, rund und rosig und ganz bezaubernd. Um Thomas hatten sie wochenlang gebangt, ob er überhaupt am Leben bleiben würde, so schwach war er gewesen.

Er war ein überzartes Pflänzchen gewesen, das seine Mutter mit unendlicher Geduld aufgezogen, gehegt und gepflegt hatte. Während Hanno sich am liebsten im Freien aufhielt, verließ Thomas nur sehr selten die schützende Nähe seiner Mutter. Er suchte sich keine Freunde. Alles, was er brauchte, waren seine Mutter und seine geliebten Bilderbücher.

Thomas war immer sehr blaß und zart gewesen. Jahrelang hatte Annalena deshalb Ärzte konsultiert, aber alle hatten ihr bestätigt, daß das Kind völlig gesund sei.

Mit ihrem Mann wagte Annalena schon bald gar nicht mehr über Thomas’ übergroße Zartheit zu sprechen. Er war davon überzeugt, daß dieser Sohn einfach bequem sei. Würde er sich mehr in frischer Luft bewegen, mit anderen Kindern herumtollen und nicht am Schürzenbändel der Mutter hängen, dann wäre er nicht blaß, sondern braungebrannt und gesund wie sein Bruder.

Wie oft war es vorgekommen, daß Fritz Thomas zum Spielen aus dem Haus geschickt hatte. Thomas war dann zum Waldrand gegangen, hatte sich dort hingesetzt und sich Geschichten ausgedacht, die er später seiner Mutter erzählte. Es waren phantastische, abenteuerliche buntfarbige Geschichten gewesen, die Annalena entzückten.

Um Thomas abzuhärten und ein wenig auf Trapp zu bringen, wie Fritz sich ausdrückte, hatte er bestimmt, daß die Sonn- und Feiertage für die ganze Familie zu Wandertagen wurden.

Stundenlang wanderten sie durch den Schwarzwald. Hanno immer voller Begeisterung vornweg… Thomas mit Annalena hinterher. Fritz irgendwo dazwischen, zornig über die ewigen Nachzügler.

Thomas keuchte plötzlich, als der Berghang steiler wurde. Er schien noch bleicher zu werden.

»Wenn du ein wenig trainieren und nicht immer in der Wohnung hocken würdest, dann müßtest du jetzt auch nicht so keuchen!« rief Fritz aufgebracht.

Thomas traten die Tränen in die Augen, die er mit seiner freien Hand rasch fortwischte.

Endlich erreichten sie die Kuppe des Hügels. Annalena deutete auf den Waldrand und sagte mit liebevollem Blick auf ihr Söhnchen: »Dort ist es schön schattig, Thomas.«

Hanno kam herangelaufen. Seine braunen Augen sprühten, sein braunes Haar, das sich über der Stirn wie das seines Vaters kräuselte, war völlig verwuschelt. Er war ein Sinnbild der Lebensfreude und Gesundheit.

»Papa, Mama, ich hab vier Bussarde gesehen. Thomas, soll ich dir mal den Baum zeigen, auf dem die Bussarde ihren Horst haben?«

»Ich möchte mich erst ausruhen…«

Thomas schluckte und senkte den Blick.

»Jetzt reicht es mir aber« rief Fritz. »Was soll denn aus dir werden, Thomas? Du gehst jetzt mit Hanno und bewegst dich. Ich habe jetzt keine Geduld mehr mit dir! Das wird ja immer schlimmer.«

Thomas ließ die Hand seiner Mutter los, und ohne seine Eltern anzusehen, folgte er seinem Bruder, der bereits über die Wiese mit den vielen Blumen stürmte.

»Warum läßt du das Kind nicht so sein, wie es ist? Er ist nun einmal anders als du, Fritz. Erkennst du denn nicht, daß du ihn nur unglücklich machst mit deinen ständigen Forderungen?« rief Annalena aufgebracht.

Fritz warf seinen Kopf mit dem üppigen kastanienbraunen Haar in den Nacken. Über seinen braunen Augen lag ein kalter Glanz.

»Ich will keinen Versager zum Sohn haben. Wenn er nicht gesund wäre, gut, dann würde ich ja alles noch einsehen. Aber er ist gesund. Mehr als zehn Ärzte haben dir das bestätigt. Er ist nur faul… ein Stubenhocker und Bücherwurm. Und dagegen muß man etwas tun. Sieh ihn dir doch nur an, wie er Hanno hinterherläuft…« Fritz stockte mitten im Satz.

Annalena öffnete ihren Mund, als wolle sie schreien. Dann stürzte sie zusammen mit ihrem Mann den Hügel hinunter.

Thomas hatte sich zusammengekrümmt. Er stieß mit beiden zu Fäusten geballten Händen in die Luft, brach dann zusammen. Das Gras war an der Stelle so hoch gewachsen, daß er darin verschwand.

Fritz erreichte Thomas zuerst. Er hob das zarte Kind, das nach Atem rang, auf seine Arme.

»Thomas… mein Liebling… mein kleiner lieber Liebling…«, rief Annalena. Verzweifelt strich sie ihrem Sohn, der am Ersticken zu sein schien, das feuchte Haar zurück. Sie bedeckte sein schmales Gesicht, das eine bläuliche Farbe angenommen hatte, mit kleinen Küssen. Annalena wußte nicht, daß Tränen über ihre Wangen strömten.

Fritz hatte sich niedergekniet, seine rechte Hand unter das Baumwollhemd seines Sohnes geschoben und versuchte, sein Herz zu massieren. Das Kind röchelte, stieß spitze Laute aus, die sich anhörten wie die Angstrufe eines kleinen Vogels. Dann wieder rollte er sich ganz in sich zusammen, sog die Luft ein, blieb schließlich kraftlos liegen.

»Vielleicht hat er sich verschluckt, Papa« rief Hanno, der mit weit aufgerissenen Augen neben seinen Eltern stand.

Annalena hielt Thomas’ Kopf in ihren Armen. Seine Lippen waten dunkelblau, auf seinen geschlossenen Augenlidern zeigte sich ein bläuliches Netzwerk feiner Äderchen.

Sie sog tief die Luft ein, als könne sie damit ihren Atem in die Lungen ihres Kindes pressen.

Plötzlich entspannte sich Thomas. Sein schmaler Kopf rutschte zur Seite, die Arme fielen kraftlos herunter. Er konnte wieder atmen.

Annalena wurde von einem Weinkrampf erfaßt. Sie versuchte unter Aufbietung aller Kräfte sich zu beherrschen, ruhig und gelassen zu erscheinen. Aber es wollte ihr nicht gelingen.

Sie hielt ihr Kind an ihre Brust gepreßt, während ihr ganzer Körper von Schluchzen geschüttelt wurde.

»Annalena… ich bitte dich«, sagte Fritz und legte ihr begütigend eine Hand auf ihr weiches, hellblondes Haar. Hanno wischte mit seiner erdverkrusteten Jungenhand über das Gesicht seiner Mutter. Seine Lippen zuckten.

»Mama…«, hauchte Thomas.

»Sei ruhig, mein Liebling, sei ganz ruhig…«, bat Annalena unter Schluchzen und wischte mit dem Handrücken ihre Tränen fort. Sogleich strömten aber neue nach.

»Jetzt ist alles wieder gut. Ich… ich hab nur keine Luft mehr bekommen«, flüsterte Thomas.

Sein Blick glitt zu seinem Vater hinüber. Angst tauchte darin auf. Würde sein Vater ihn wegen seiner Schwäche wieder ausschimpfen?

Aber diesmal schimpfte er nicht. »Du bist jetzt ein kleiner Affe, ein Klammeräffchen, und hältst dich an meinem Hals fest«, sagte Fritz. »Ich trag dich den Berg hinunter. Was, das werden wir beide doch wohl schaffen, Thomas?«

»Ich heb Tommy auf deinen Rücken rauf, Papa!« rief Hanno, froh darum, etwas tun zu können.

Wie ein ganz kleiner Junge lag Thomas dann auf dem Rücken seines Vaters. Fritz ging absichtlich vorgebeugt, damit Thomas sich nicht zu sehr anstrengen mußte, wenn er sich an ihm festklammerte.

Annalena ging hinter ihrem Mann und ihrem Sohn her. Hanno kam zu ihr, und zum ersten Mal seit länger Zeit schob er seine Hand in die seiner Mutter.

»Geht es Tommy sehr schlecht? Muß er jetzt vielleicht ins Krankenhaus?« fragte er leiser als sonst.

»Ich weiß es nicht, Hanno. Ich weiß es wirklich nicht…« Annalenas Stimme schwankte.

»Ich habe dich schrecklich lieb, Mama«, fuhr Hanno fort.

»Ich dich auch, Hanno. Du und Thomas… ihr seid das Liebste, was ich auf der Welt habe.«

Hanno schwieg einen kleinen Augenblick, dann fragte er zögernd: »Und Papa?«

Annalena spürte, wie Röte in ihr Gesicht stieg. »Papa natürlich auch, Hanno«, beeilte sie sich zu sagen.

*

Vom Parkplatz aus waren sie direkt zum nächstgelegenen Krankenhaus gefahren. Annalena hatte darauf bestanden, während Fritz meinte, dem Kind gehe es jetzt ja schon wieder sehr gut und es genüge, wenn sie am folgenden Tag einen Arzt aufsuchen würden, um ihm den Asthmaanfall, den Thomas auf dem Bergrücken erlitten hatte, zu schildern.

Das Krankenhaus war erst wenige Jahre zuvor erbaut worden und verfügte über die modernsten medizinischen Errungenschaften. Der diensthabende Oberarzt ließ sich den Anfall genau schildern und ordnete eine Untersuchung an, die jedoch keinen Befund ergab.

»Na also… es ist nichts«, rief Fritz aus und erklärte, daß er mit Thomas nach Hause fahren werde.

»Nein«, fiel Annalena rasch ein. »Ich möchte, daß mein Kind noch einmal gründlich untersucht wird. Wenn sich der Anfall wiederholt… nein, ich verlasse das Krankenhaus nicht eher, bis…« Sie konnte nicht weitersprechen und begann wieder zu weinen.

Fritz preßte seine Lippen aufeinander und sagte dann mit gereiztem Unterton in der Stimme: »Ist es vielleicht möglich, Herr Doktor, daß meine Frau hier bei meinem Sohn im Krankenhaus bleibt, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind?«

»Selbstverständlich ist das möglich. Und ich stimme ihrer Frau bei, Herr Vonheiden, daß wir alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, um den Grund für den Anfall herauszufinden. Das war natürlich heute am Sonntag durch eine erste Untersuchung nicht möglich.«

Annalena bekam ein kleines Zimmer im Seitentrakt des Krankenhauses zugewiesen. Fritz und Hanno fuhren nach Hause. Es war verabredet worden, daß Fritz seine Frau und seinen Sohn Thomas am Abend des folgenden Tages abholen sollte. Dann wären, so versicherte der Arzt, alle Untersuchungen abgeschlossen.

»Du mußt dir aber auch nicht immer unnötige Sorgen machen, Lenchen«, hatte Fritz noch gesagt, als er Annalena zum Abschied liebevoll geküßt hatte.

Als Annalena in das Krankenhaus zurücktrat, in dem Thomas sich gerade auskleidete, nahm ihr ihre Verzweiflung fast den Atem. Sie schloß Thomas in ihre Arme, spürte den Schlag seines Herzens und dachte daran, daß sie niemals wieder glücklich werden könne, wenn ihm etwas zustoßen sollte.

»Muß ich jetzt sterben, Mama?« fragte Thomas flüsternd.

Annalena erstarrte innerlich.

»Kind… Kind, wie kannst du nur so etwas sagen…«

»Ich fühle das aber, Mama. Vorhin, als ich da auf der großen Wiese lag, da wußte ich ganz genau, daß ich bald sterben muß.«

»Sprich nicht so. Bitte nicht so Annalena verbarg ihr Gesicht an Thomas’ schmächtiger Brust. Er strich über ihr helles Haar, das er von ihr geerbt hatte.

Etwas später lag er, bis zum Kinn zugedeckt, in dem Bett, das viel zu groß für ihn war. Annalena hatte sich von einer der Krankenschwestern ein Buch geliehen, das die Abenteuer der Wikinger beschrieb.

Thomas hielt seine hellblauen Augen, auch sie waren ein Erbe seiner Mutter, auf das Gesicht Annalenas gerichtet. Er schien jedes Wort in sich aufzusaugen.

Als Annalena schwieg und das Buch auf ihre Knie sinken ließ, sagte er voller Sehnsucht: »Einmal möchte ich das Meer sehen, Mama. Das muß wunderschön sein. Weißt du, ich möchte irgendwo sitzen, wo der Wind nicht hinkommt. Ich könnte in einer Düne sitzen oder hinter einer Klippe und dann würde ich mir die Wellen ansehen und vorstellen, wie die Wikinger mit den Schiffen über die Meere gefahren sind.«

Voller Zärtlichkeit und Wehmut strich Annalena über sein blasses Gesicht. »Ich verspreche dir, Thomas, daß wir ans Meer fahren, ja?«

»Wann denn, Mama? Bald schon?«

»Vielleicht schon bald, Thomas.«

»Kostet das nicht viel Geld?«

»Daran mußt du nicht denken, Thomas.«

»Ich meine ja nur, weil Papa doch immer sagt, in seiner Fabrik geht alles so schlecht und wir können in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren.«

Annalena ging nicht darauf ein. Sie wollte jetzt nicht an die Sorgen denken, die sie und ihr Mann seit über einem Jahr hatten, weil das Unternehmen, das Fritz von seinem Vater geerbt hatte, sie immer weiter in die roten Zahlen führte. Und noch weniger wollte sie mit ihrem Sohn über diese Sorgen sprechen.

»Du mußt jetzt schlafen, Thomas«, sagte sie leise. »Und morgen früh, wenn du aufwachst, komm ich zu dir. Die Schwester hat mir versprochen, daß wir zusammen frühstücken dürfen.«

*

Außer während des Frühstücks bekam Annalena ihren Sohn am folgenden Tag bis zum Abend nicht zu Gesicht. Auf ihre Fragen wurde ihr bedeutet, daß die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen seien.

Um fünf Uhr erschien Fritz. »Nun, es ist doch alles in Ordnung, nicht wahr?« rief er und nahm Annalena, die sich am Ende ihrer Kraft fühlte, in seine Arme.

Gleich darauf bat eine Schwester sie in einen kleinen, weißgekalkten Raum. Ein älterer Mann in weißer Leinenhose und weißem Polohemd trat ein. Er stellte sich als Professor Benser vor.

Noch bevor er auf die Ergebnisse der Untersuchungen zu sprechen kam, wußte Annalena, daß sie gleich etwas Schreckliches erfahren würden. Dabei gab der Professor sich alle Mühe, beruhigend aufzutreten.

»Bitte, was ist mit meinem Sohn?« fragte Annalena mit bebender Stimme.

Der Arzt sah kurz auf seine Schreibtischplatte und richtete dann seinen Blick auf Fritz, als wage er nicht, Annalena die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

»Ihr Sohn Thomas leidet seit langem an einer schleichenden Krankheit. Ich weiß, daß Konsultationen bei meinen Kollegen bisher keinen Befund ergeben haben. Das ist auch nicht weiter verwunderlich.«

»Was ist mit Thomas?« schrie Annalena auf.

Auch Fritz war blaß geworden.

»Ihr Sohn leidet an Muskelschwund, gnädige Frau.« Jetzt sah der Professor Annalena doch an.

Sie war leichenblaß geworden. Irgend etwas riß in ihr in diesem Moment. Sie wußte nicht zu sagen, was es war… aber sie ahnte, daß ihr Leben niemals wieder so sein würde wie bisher.

»Was bedeutet das, Herr Professor?« fragte Fritz mit seltsam dumpfer Stimme.

»Die Ursachen der Krankheit sind noch immer nicht hinlänglich bekannt, Herr Vonheiden. Es gibt viele Möglichkeiten, die sie hervorrufen können.«

Annalena neigte sich vor und einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie kopfüber zu Boden stürzen. Sie fing sich jedoch wieder – und fragte flüsternd: »Wie lange hat mein Sohn noch zu leben, Herr Professor?«

Der Arzt griff nach einem Bleistift wie nach einem Rettungsring. »Im günstigsten Fall zwei Jahre, gnädige Frau.«

»Zwei Jahre…«

Fritz richtete sich auf. »Dürfen wir unseren Sohn jetzt mit nach Hause neumen, Herr Professor?«

»Selbstverständlich.«

Annalena starrte auf die weißgetünchte Wand, als nehme sie gar nicht wahr, was um sie herum vorging.

Fritz legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Komm…«, bat er leise.

Sie zuckte zusammen, stand dann hastig auf, »Herr Professor… was heißt das… im günstigsten Fall?« Auf ihren Wangen erschienen zwei blutrote Flecken. Sie hielt ihre Lippen leicht geöffnet.

Wie schön sie ist… und wie verletzbar. Sie gehört zu den Frauen, die mit ihrem Kind sterben, dachte der Arzt.

Laut sagte er: »Aufenthalt in frischer, möglichst salzhaltiger Luft. Viel Freude und Liebe. Aber die geben Sie ihm ja«, fügte er rasch hinzu.

Annalena dachte an Thomas’ Sehnsucht nach dem Meer. In diesem Augenblick wußte sie, daß sie mit ihm ans Meer fahren würde. Bis er starb.

»Ich danke Ihnen, Herr Professor«, sagte sie leise, dann ging sie an der Seite ihres Mannes aus dem kahlen Zimmer.

»Annalena, du mußt jetzt stark sein. Thomas darf nichts erfahren«, mahnte Fritz.

Voller Unverständnis und Befremden sah Annalena ihn an. Glaubte er denn wirklich, sie würde dem Kind die schreckliche Wahrheit sagen? Wußte er denn nicht, daß sie alles tun würde, um Thomas jeden Kummer zu ersparen?

Fritz legte einen Arm um die Schulter seiner Frau. Als sie durch eine gläserne Schwingtür traten, sahen sie, wie Thomas in Begleitung des Oberarztes, der sie am Vortag empfangen hatte und einer älteren Schwester quer über einen kurzgeschorenen Rasen auf sie zukam.

Er lächelte sein stilles Lächeln und wirkte noch blasser als sonst.

Annalena war sekundenlang stehen geblieben. Sie hatte das Gefühl, als setze der Schlag ihres Herzens aus. Dann lief sie auf Thomas zu, schloß ihn in ihre Arme, hob ihn hoch und küßte sein zartes Gesicht.

»Mein Liebling, wie geht es dir?« fragte sie, und es gelang ihr, nicht zu weinen.

»Es ist alles gar nicht so schlimm. Die Ärzte und die Schwestern waren alle sehr nett zu mir. Und ich wußte ja, daß du und Papa mich heute abholen würdet.«

Über die Schulter des Jungen hinweg sah Annalena, wie der Oberarzt und Fritz einen wissenden Blick wechselten.

»Fritz hat sich schon damit abgefunden«, dachte Annalena voller Verzweiflung und Bitterkeit.

Der Oberarzt bat Fritz und Annalena, ihn am folgenden Tag noch einmal aufzusuchen. Er wollte ihnen dann auch genau erklären, wie sie sich bei zukünftigen Anfällen, die eventuell zu erwarten waren, verhalten müßten.

Annalena war dem Arzt dankbar, daß er sie jetzt nicht länger aufhielt.

Im Auto setzte sie sich neben Thomas auf den Rücksitz. Thomas trug noch seine blauen Jeans vom Vortag. Zärtlich strich Annalena eine Locke aus seiner Stirn. Thomas hatte seine rechte Hand auf ihre Knie gelegt.

Ein Strom von Vertrautheit verband sie miteinander.

Ich muß irgend etwas sagen, sonst fange ich an zu weinen, dichte Annalena. Sie erzählte Thomas, daß sie noch einmal über seinen Wunsch nachgedacht habe, an die See zu fahren.

»Und ich meine, daß ist ein ganz wunderbarer Gedanke. Thomas«, sagte sie. »Gleich morgen früh werde ich die Kurverwaltungen anrufen und eine Wohnung für uns bestellen.«

In Thomas’ Augen leuchtete es auf. Er mußte seine Mutter ganz schnell einmal umarmen. »Fahren wir alle vier an die See? Kommst du auch mit, Papa? rief Thomas, aufgeregt.