Wir zwei sind noch zu haben - Gisela Reutling - E-Book

Wir zwei sind noch zu haben E-Book

Gisela Reutling

5,0

Beschreibung

Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Christine knetete gerade Teig, als die Türglocke summte. Mit einem Seufzer versuchte sie, die Finger von der mehligen Masse zu befreien. Als ihr das nicht gelang, beugte sie sich seitlich zum offenen Küchenfenster und sah nach unten. Es war der Postbote. »Das geht nicht in den Briefkasten, Frau Sander!« rief er zu ihr empor und zeigte ihr einen großen, dicken gelben Umschlag. »Könnten Sie runterkommen, oder soll ich's Ihnen raufbringen?« »Ich komm schon«, rief Christine gutmütig zurück, um dem älteren Mann die Treppen zu ersparen. Die Hände weit von sich gestreckt, ging sie zum Spülbecken, wusch und trocknete sie ab und lief dann rasch hinunter. »Das andere ist schon im Kasten«, bemerkte der Grauhaarige. Christine nickte ihm freundlich zu. »Danke, Herr Walker.« Er war eine vertraute Figur in diesem Stadtviertel, in dem er schon seit vielen Jahren die Post austrug. Was sie entgegennahm, war aber nur, wie sie sofort erkannte, der umfangreiche Katalog eines Versandhauses, bei dem sie mal etwas für die Söhne bestellt hatte. Seitdem wurde ihr dieser mit schöner Regelmäßigkeit zugeschickt. Das hier im Briefkasten schien auch nichts Besonderes zu sein, die Telefonrechnung, eine Einladung zu einer Kaffeefahrt – aber halt, da war noch ein Luftpostbrief aus Chile! Rosita hatte geschrieben! Ihr Patenkind, das freilich schon lange kein Kind mehr war.

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Mami Classic – 34 –

Wir zwei sind noch zu haben

Gisela Reutling

Wir zwei sind noch zu haben

Roman von Gisela Reutling

Christine knetete gerade Teig, als die Türglocke summte. Mit einem Seufzer versuchte sie, die Finger von der mehligen Masse zu befreien. Als ihr das nicht gelang, beugte sie sich seitlich zum offenen Küchenfenster und sah nach unten. Es war der Postbote.

»Das geht nicht in den Briefkasten, Frau Sander!« rief er zu ihr empor und zeigte ihr einen großen, dicken gelben Umschlag. »Könnten Sie runterkommen, oder soll ich’s Ihnen raufbringen?«

»Ich komm schon«, rief Christine gutmütig zurück, um dem älteren Mann die Treppen zu ersparen.

Die Hände weit von sich gestreckt, ging sie zum Spülbecken, wusch und trocknete sie ab und lief dann rasch hinunter.

»Das andere ist schon im Kasten«, bemerkte der Grauhaarige.

Christine nickte ihm freundlich zu. »Danke, Herr Walker.« Er war eine vertraute Figur in diesem Stadtviertel, in dem er schon seit vielen Jahren die Post austrug. Was sie entgegennahm, war aber nur, wie sie sofort erkannte, der umfangreiche Katalog eines Versandhauses, bei dem sie mal etwas für die Söhne bestellt hatte. Seitdem wurde ihr dieser mit schöner Regelmäßigkeit zugeschickt.

Das hier im Briefkasten schien auch nichts Besonderes zu sein, die Telefonrechnung, eine Einladung zu einer Kaffeefahrt – aber halt, da war noch ein Luftpostbrief aus Chile!

Rosita hatte geschrieben! Ihr Patenkind, das freilich schon lange kein Kind mehr war. Kaum wieder oben, öffnete sie gespannt den Brief. Ob ihrer beider Wunsch wohl in Erfüllung gegangen war?

Liebste Mamita! stand da auf dem dünnen Blatt zu lesen. Nun ist es bald soweit, mein Praktikum im Kinderdorf Sonnhalde zu machen. Meine Freude darüber ist unbeschreiblich. Wenn Du mir gestattest, werde ich Deine Einladung, zwei Ferienwochen bei Dir und Deiner Familie zu verbringen, bevor ich dort anfange, nur zu gern annehmen. Ich habe den Flug zum 1. Mai gebucht. In Liebe und Dankbarkeit, Deine Rosita.

Gerührt sah Christine auf die feinen, sorgfältig gesetzten Schriftzüge, denen man es ansah, daß Wort für Wort mit Überlegung in der fremden Sprache geschrieben worden war.

War es zu fassen – das Vorhaben hatte geklappt!

Sie legte endlich den Brief beiseite und ging wieder an ihre Tätigkeit. Sie gab noch Mehl an den etwas zu dünn geratenen Teig für den Kuchen, doch während sie weiter daran arbeitete, flogen ihre Gedanken über das weite Meer hin zu Rosita. Wann hatte das alles angefangen mit ihr? Vor zehn, elf Jahren… Wie doch die Zeit verging!

Damals war, eines Tages, ein SOS-Kinderdorf-Brief in ihrer Post gewesen. Lauter traurige Kindergesichter mit großen tiefdunklen Augen hatten sie angeblickt, die Ärmsten der Armen aus der dritten Welt.

Mußte man da nicht helfen?

Patrick war damals gerade zwei Jahre gewesen, ein geliebtes, behütetes Kind mit glänzenden blauen Augen. Es mochte sein, daß sie mit einer Spende auch etwas Glanz in eines jener dunklen, traurigen Augenpaare bringen konnte. Es mußte nicht viel sein, denn auch wenig, so stand da geschrieben, galt dort schon viel.

Also schrieb Christine an die SOS-Kinderhilfe, und sie bekam ein Foto von der zehnjährigen Rosita aus Chile. Rosita hatte keine Eltern mehr. Ein Hilfswerk in Santiago hatte das verlassene kleine Mädchen aufgenommen.

Christine übernahm die Patenschaft. Ihrem Mann war es recht. Jeden Monat zahlten sie einen bestimmten Betrag für das chilenische Kind. Ihnen tat es nicht weh, und ihm reichte es zum Leben.

Wieviel Freude besonderer Art sie dadurch im Laufe der Jahre erfahren durften, hatte das Ehepaar Sander freilich nicht geahnt. Daß Liebe und Zuneigung doch Grenzen und Meere überwinden konnten! Denn diese Gefühle wuchsen zwischen ihnen, vertieften sich mehr und mehr. Rosita war sehr intelligent und lerneifrig, sie lernte auch Deutsch, um ihrer Pflegemutti, die sie zärtlich Mamita nannte, von ihren Fortschritten in der Schule berichten zu können, wo sie gefördert wurde. Dazu wurde sie immer hübscher, wie die Fotos zeigten, auf denen sie sich stolz und mit einem glücklichen Lächeln in einem von der Mamita geschickten Kleidungsstück präsentierte.

So wuchs dieses junge Mädchen heran in dem Bewußtsein, daß sie aus der Ferne wie in einer Familie geborgen war. Für Christine war es fast, als sei Rosita ihr drittes Kind, denn es war ihnen noch ein Söhnchen geschenkt worden, Stefan, der nun acht Jahre alt war.

Rosita hatte ihr Abitur gemacht und eine Lehrerausbildung für Problemkinder, die sie im Kinderdorf unterrichten wollte.

Sie, Christine, war es gewesen, die ihr vorgeschlagen hatte, hier in dem unweit ihrer Stadt gelegenen Kinderdorf das geforderte Praktikum vor dem letzten Examen abzulegen. Wäre das nicht eine wunderbare Möglichkeit, sich endlich nicht nur in Gedanken nahe zu sein?

Sie hatten es in die Wege geleitet. Christine hatte sich mit dafür verwendet, und jetzt hatte sie es schwarz auf weiß, daß das Unternehmen von Erfolg gekrönt war.

Am 3. Mai – mein Gott, das war ja schon in zehn Tagen, durchfuhr es Christine, als sie den gedeckten Apfelkuchen in den Ofen schob. Was würden ihre Jungs dazu sagen, und Rolf, daß sie einen Gast bekamen?

Sie teilte ihnen dies mit, als sie zwei Stunden später um den Mittagstisch saßen. Stefan, ihrem Jüngsten, blieb der Mund vor Staunen offenstehen. Die Gabel mit dem aufgespießten Salatblatt in der Luft haltend, fragte er verblüfft: »Sie kommt, echt? Das ist ja ’n Ding.«

»Mach den Mund zu, Kleiner«, sagte sein großer Bruder überlegen. »Davon war doch schon öfter die Rede. Das hast du wohl mal wieder nicht mitgekriegt, was?«

Stefan konnte es nicht ausstehen, wenn Patrick ihn ›Kleiner‹ nannte!

»Doch hab ich das mitgekriegt!« versetzte er heftig. »Aber war doch alles noch nicht sicher. Tu nicht so, als hättest du’s gewußt. Blödmann!« Das war seine Revanche für den ›Kleinen‹.

»Na, na, ihr Brüder«, mischte sich der Vater ein. »Ihr könntet euch schon mal darin üben, euch zu vertragen. Was soll Rosita sonst von euch denken, wie?« Mit Strenge sah er von einem zum anderen, doch allzu ernst war das nicht gemeint.

Patrick setzte denn auch sein unwiderstehliches Lausbubenlächeln auf. »Sie wird doch Lehrerin für Problemkinder«, er dehnte das Wort. »Da kann sie ja gleich bei uns anfangen.«

Christine mußte lachen. Was dieser Junge doch manchmal so von sich gab! Gott sei Dank waren ihre beiden alles andere als das. Sie kabbelten sich, und sie rauften auch manchmal, das gehörte zu einer gesunden Entwicklung. Wenn es darum ging, den jüngeren zu beschützen, war der kräftige Patrick sogleich zur Stelle.

»Jedenfalls«, sagte sie nun, »soll sie es schön bei uns haben, zwei Wochen lang. Richtige Ferien, wie wir sie kennen, gab es doch noch nie für sie. Immer war sie nur bestrebt, sich durch fleißiges Lernen dankbar zu erweisen.«

»Schrecklich«, befand Patrick und legte sich noch eine Kartoffel in die übrige Soße auf seinem Teller.

»Was ist schrecklich?« fragte seine Mutter.

»Daß sie immer nur gelernt hat und auch noch gern in die Schule gegangen ist«, sagte Patrick mit verzogenem Mund.

Der Vater runzelte die Stirn. »Du solltest dir lieber ein Beispiel daran nehmen, mein Sohn. Ich bin gespannt, wie dein nächstes Zeugnis ausfallen wird.«

»Ich auch, Papa«, antwortete Patrick ernsthaft.

Von der Schule redete auch sein Brüderchen nicht so gern. Die hielt einen nur von anderen, viel interessanteren Dingen ab. »Wieso ist der Basti heute eigentlich nicht da?« wechselte er listig das Thema.

»Onkel Joachim konnte heute mal früher aus dem Büro weg, weil Freitag ist«, erklärte Christine. »Am Nachmittag kommen sie. Deshalb habe ich auch schon den Sonntagskuchen gebacken.«

Den hatte Patrick schon in der Küche stehen sehen, der Duft hatte ihn angelockt. »Wenn dann noch was da ist«, sagte er und leckte sich die Lippen. Muttis Kuchen waren die besten.

»Dann können wir Federball spielen«, überlegte Stefan laut. »Guckst du auch noch mal nach meinem Rad, Patrick?«

»Hab ich doch schon«, antwortete sein Bruder. »Aber da muß der Papa ran. Das ist keine einfache Sache.«

»Du bist doch sonst so geschickt«, zog ihn sein Vater auf. »Willst dich wohl nur drücken?« Er sah nach der Uhr. »Ja, ich muß los. Ich will noch einen Kunden besuchen.«

Christine stellte Teller und Schüsseln zusammen, die Söhne verzogen sich in ihr Zimmer. Als die Küche wieder aufgeräumt und blitzsauber war, nahm sie sich eine Cordhose von Sebastian vor, um die Säume herauszulassen. Der Bub wuchs jetzt so schnell.

Ach, der Basti, wie sie alle ihren kleinen Neffen nannten, er war so ein Schatz. Mit seinen zehn Jahren gab er seinem Vater so viel kindliche Liebe und spendete ihm Trost damit, so gut er es vermochte.

Christine mußte daran denken, wie er einmal zu ihr gesagt hatte: »Daß die Mama sterben mußte, das ist ganz, ganz schlimm. Aber bald genauso schlimm ist es, daß der Papa nicht mehr lachen kann. Wird er jetzt gar nie mehr können, Tante Christine?«

»Es muß Zeit vergehen, Basti«, hatte sie ihm geantwortet.

»Es sind aber schon ein Jahr und sieben Monate vergangen, Tante Christine.«

Gewiß, in einem Kinderleben war das eine lange Zeit. Nicht aber für einen Mann, der die geliebte Frau verloren hatte. Christine konnte das große Leid ihres Bruders nur zu gut nachempfinden.

Voller Entsetzen und Trauer waren sie damals alle gewesen, als Kerstin den schweren Verletzungen erlegen war, die sie durch einen Autounfall erlitten hatte, bei dem sie keine Schuld traf. Es war auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte passiert, der Brunnen-Apotheke, die in einem Vorort lag. Dort half sie ihrem alten Chef stundenweise aus. Kerstin hatte ihren Beruf geliebt, sie hatte studiert und wollte ihre Fähigkeiten nicht ganz brachliegen lassen, seit ihr Basti nun größer und schon recht selbständig geworden war.

Daß der Junge so aufgeweckt und selbständig war, machte es den beiden möglich, ihr Leben ohne Kerstin weiterzuführen. Um nichts in der Welt wollten sie sich trennen lassen. Sebastian ging in die Schule, sein Vater ins Büro. Zum Mittagessen kam er meistens zu ihnen, während Joachim in der Kantine der Versicherungsgesellschaft aß, wo er als Sachbearbeiter tätig war. Ab fünf Uhr nachmittags waren Vater und Sohn dann wieder zusammen, sich so nahe, wie es zwei Menschen nur sein können.

Christine legte ihre Näharbeit aus der Hand, als es klingelte. Sie war gerade damit fertig geworden. »Hallo, ihr beiden! Schön, daß ihr kommt.« Sie zauste dem Basti ein wenig das Haar.

»Wir haben zu Hause gekocht, Tante Christine«, berichtete ihr der Neffe. »Lasagne italienisch, ist ganz prima geworden. Und dabei haben wir noch die Waschmaschine laufen lassen. Ist jetzt alles wunderbar sauber.«

»Uij, seid ihr tüchtig«, lobte Christine. Sie sah ihren Bruder an. »Ich habe dir aber schon oft gesagt, du sollst mir die Wäsche bringen.«

»Du tust gerade genug für uns«, wehrte Joachim ab.

»Wir beiden Männer machen das schon«, behauptete sein Sohn.

Stefan kam aus seinem Zimmer. »Tag, Onkel Joachim«, und im gleichen Atemzug: »Magst mit Federball spielen, Basti?«

»Erst trinken wir Kaffee«, bestimmte seine Mutter. »Ich habe extra einen Kuchen gebacken, weil ihr am Wochenende doch sicher nach Mannheim fahrt.«

Sie taten das einmal im Monat, denn dort lebten Joachims Schwiegereltern, die sich immer danach sehnten, den Enkel in den Arm nehmen zu können, war es doch Fleisch und Blut ihrer Tochter, über deren Verlust sie auch nicht hinwegkamen.

»Schade, daß Onkel Rolf nicht dabeisein kann, wo das so fein schmeckt«, bemerkte Basti am hübsch gedeckten Tisch.

»Er bekommt schon auch noch was davon«, lächelte seine Tante, und Patrick sagte kurz, während er sich ein zweites Stück nahm: »Geschäft ist Geschäft.« Sein Vater hatte nämlich ein Geschäft für Büro-Bedarf. BÜRO-SANDER, das war ein Begriff. Er wollte auch mal so ein cleverer Geschäftsmann werden. Auf keinen Fall länger als unbedingt nötig die Schulbank drücken, oder gar in einem Hörsaal versauern. Kam nicht in Frage! Mit Schwung klatschte er sich noch einen Löffel Sahne auf den Teller.

»Du bist aber mal wieder verfressen«, sagte sein Brüderchen. Bevor Patrick ihm eine passende Antwort geben konnte, wandte sich Stefan rasch an seinen Onkel. »Ihr wißt noch gar nicht das Neueste. Wir kriegen nämlich Besuch aus Chile!«

»Aus Chile«, wiederholte Joachim. »Wird das nun wahr, daß dein Patenkind Rosita kommt, Christine?«

»Kind ist gut«, kicherte Patrick. »Sie ist doch jetzt schon ziemlich älter. Nämlich über zwanzig schon.«

Sie unterhielten sich noch darüber, bis Patrick, rundum gesättigt nun, aufstand. »Ich geh noch mal zu Hannes, Mutti, dem sein PC ist wieder in Ordnung. Mal sehen, was er ausspuckt.«

Stefan holte die Federbälle, und mit Basti ging er hinunter in den Hof, wo sie ungestört spielen konnten.

»Wie geht es dir, Joachim?« fragte Christine behutsam, als sie mit ihrem Bruder allein war.

»Immer gleich«, antwortete der mittelgroße schlanke Mann mit unbewegtem Gesicht. Einem Gesicht, in das sich schon scharfe Falten

gekerbt hatten. Zu tief für seine sechsunddreißig Jahre.

Sechs Jahre jünger als ich, dachte Christine, und alt sieht er aus.

»Du solltest wieder etwas mehr unter Menschen gehen«, sagte sie leise.

»Ich bin den ganzen Tag unter Menschen…«

»Im Büro, das mag sein. Aber das meine ich nicht. Du brauchtest Zerstreuung, Ablenkung. Das Leben geht weiter, Joachim. Wenn Basti abends um acht, neun Uhr im Bett ist, dann sitzt du doch nur zu Hause und grübelst.«

»Nicht ganz«, unterbrach er sie. »Ich gehe einmal in der Woche donnerstags an den Stammtisch im ›Ochsen‹, zu einem Männergespräch. Da wird es immer zehn, halb elf, und dann gehe ich auch schlafen.«

»Ja, da redet ihr auch nur über Politik und andere unerfreuliche Dinge«, meinte Christine.

»Das stimmt allerdings«, gab ihr Bruder mit einem dünnen Lächeln zu.

»Du hast doch Freunde gehabt«, fuhr Christine fort. »Ihr seid manchmal ins Theater, in ein Konzert gegangen, habt Geselligkeit gepflegt. Warum knüpfst du da nicht wieder an? Du weißt, daß du Basti jederzeit zu mir bringen kannst, er kann auch hier schlafen, wenn es bei dir mal spät werden sollte.«

»Du meinst es gut, Christine«, wehrte Joachim mit einer müden Bewegung ab. »Aber es verlangt mich nicht nach Geselligkeit. Die paar Freunde, ja, die gibt es schon noch. Sie wollten sich auch um mich kümmern, aber nachdem ich jeder Einladung aus dem Wege gegangen bin, sind sie allmählich auch verstummt.«

»Warum gehst du ihnen denn aus dem Weg?« fragte Christine eindringlich.

Er wich ihrem Blick aus. »Sie haben ihre Familien, ihre Frauen. Als Witwer fühlt man sich da doppelt einsam.«

Bedrückt seufzte Christine auf. Sie erhob sich und trat ans Fenster. Hinter ihr sagte Joachim mit veränderter Stimme: »Morgen fahren wir ja nun wieder nach Mannheim. Es ist ja nicht so, daß ich nur zu Hause sitze, Christine. Die Schwiegereltern warten schon auf uns.«

Christine nickte obenhin. Dort herrschte auch nur Trauer vor, und Kerstin war allgegenwärtig. Sie konnte sich das vorstellen. Unten hatten die Buben aufgehört, Federball zu spielen. Sie saßen auf der niedrigen Mauer, die den Innenhof begrenzte, steckten die Köpfe zusammen und machten todernste Gesichter dabei. Ihr Stefan sah etwas verwirrt aus, während Basti redete und gestikulierte. Um was es da wohl ging bei den beiden?

Sie sollte es erfahren, als ihr Bruder und sein Söhnchen sich verabschiedet hatten. Nein, zum Abendessen hatten sie nicht bleiben wollen. Sie wollten es sich zu Hause gemütlich machen.

Rolf kam immer erst gegen halb sieben und manchmal noch später aus dem Geschäft. Patrick war auch noch nicht wieder zurück, ihn fesselte wohl der Computer von Hannes.

Stefan schlich um seine Mama herum. Er hatte ersichtlich was auf dem Herzen. Er sah sie an, als wollte er reden und schwieg dann doch.

»Was hatte dir der Basti denn zu erzählen?« fragte sie schließlich.

»Ich weiß nicht«, zögerte der Junge. »Es soll vielleicht ein Geheimnis bleiben zwischen uns. Weil ich nämlich auch gleichzeitig sein Freund bin.«