MANIPULATION - Matthias Benz - E-Book

MANIPULATION E-Book

Matthias Benz

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Beschreibung

Eine neue Ära der Menschheit kam, ohne dass diese es erfassen würde. Der Tag begann zumindest für einige verhältnismäßig normal. Doch plötzlich findet sich Dr. Louis Steinwald in einem Strudel wieder, in dem er unfähig war die Geschicke zu lenken. Ein Auftraggeber schwingt sich in Selbstherrlichkeit dazu auf die Realitäten für andere Personen festzulegen. Wessen Wahrnehmung wäre imstande den Sieg davon zu tragen? Selbst die von Louis so geschätzte Fähigkeit andere Menschen einzuschätzen versagt kläglich. Noch viele Schachfiguren mussten an die ihnen bestimmten Orte versetzt werden. Sowohl mit als auch ohne Bauernopfer. Die einzige Frage war: Wer manipulierte wen.

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Dank an:

Tatsächlich gibt es viele denen zu danken Wert wäre. Insbesondere jedoch meiner Frau, die so wertvoll ist - weil sie einfach sie selbst ist.

Matthias Benz

Manipulation

In meiner Hand

© 2017 Matthias Benz

Umschlag, Illustration: Matthias Benz

Lektorat, Korrektorat: F. Benz, H. Benz, I. Böhme

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

978-3-7345-4529-0

Hardcover

978-3-7345-4530-6

e-Book

978-3-7345-4531-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

I. Morgenbeginn

(Zyklus 1.1)

Es war einer dieser Tage an denen man aufsteht und den ganzen Tag über verteilt taucht immer wieder der eine Gedanke auf „ich hätte heute im Bett bleiben sollen.“

Jeder Versuch das Blatt zu wenden und auch diesen Tag zu einem sinnvollen, erfüllten oder zumindest zu einem einigermaßen ertragbaren umzubiegen wird schon im Keim erstickt. Und so wurde die Prophezeiung des Gedankens seit dem ersten Aufblitzen desselben wahr.

„Wäre ich doch heute Morgen nur ….“ Aber wie immer, stirbt die Hoffnung zuletzt und wo wäre da der positive Sinn, der Überlebens-Instinkt, der Spaß mit dem Louis Steinwald das Leben seit über 40 Jahren in sich hinein zu saugen schien und nicht zu vergessen, das kleine Lächeln, dass einige als gespielt andere als süffisant an Louis empfanden. Dieses Lächeln war zum Teil nicht mehr als ein dezentes Schmunzeln, wenngleich es auch der Schlüssel für so vieles in seinem zwar noch nicht sehr langem aber durchweg ausgefüllten Leben war.

Obwohl es meist wie ein Geheimnis schien warum jemand nur immer ein Lächeln auf den Lippen haben konnte, wenn es doch für jedermann keinen ersichtlichen Grund dafür gab, ja nicht mal eine rationale Erklärung, waren viele in seinem Umfeld davon angetan. Die ausdrucksstarke Freundlichkeit seiner stahlblauen Augen mit der Weichheit und Fröhlichkeit des Lächelns hatte ihren Reiz. Auf der anderen Seite jedoch waren genau diese Menschen auch mit einer gewissen Portion Ungewissheit behaftet, ob er sich jetzt über sie, über den Senffleck auf dem Hemd seines Gegenübers oder gar über die Welt selbst lustig machte. Der Einfachheit halber schob man es auf die Problemlosigkeit seines Lebens. „Wenn ich es so einfach hätte wie Louis, ja dann hätte ich auch viel zu lachen“, oder „so ein Leben möchte ich auch haben.“

Aber es war nicht einfach. Zumindest nicht mehr oder weniger einfach als bei allen anderen um ihn herum. Louis empfand sein Leben als schön, manchmal sogar als eines der schönsten das man haben konnte, aber es war nicht einfach. Und die empfundene Schönheit war mehr auf seiner Sicht der Dinge gegründet als auf die nackte Einfachheit und Problemlosigkeit.

Er scherte sich wenig darum wie andere sein Leben betrachteten, wenngleich ihm die Menschen um ihn herum nicht egal waren. Daher war eines der Dinge, die ihm immer wieder Kopfzerbrechen bereitete: „Warum macht ihr euch das alle selbst so schwer.“

Mit den Jahren hinterließ dieses leichte Lächeln auch eine Falte in seinem Gesicht. Aber es war eine schöne Falte. Nicht groß – nur ein leichter Hinweis auf einen manifestierten Schwung im Leben, gepaart mit dem Willen sich nicht unterkriegen zu lassen.

Diesen Morgen gab es nicht viel zu Lächeln. Der Schlaf war kurz, der Wecker war laut, das Schlafzimmer war kalt, und die Überlegung ob er doch lieber noch etwas später aufstehen sollte und noch im Bett weiterdöst wurde nicht wirklich ausdiskutiert.

Bei dem ersten Blick in den Spiegel stellte sich die Frage, ob er heute jemals vollständig wach werden würde. Aber für den Griff zur Zahnbürste schien es zu reichen. Wenn es denn nur das einzige an diesem Tag sein könnte, das seine Gedanken sichtlich umhertreiben würde, in eine nicht endend wollende Rastlosigkeit …

II. Routine

(Zyklus 2.1)

Die Menschen liefen völlig durcheinander mit viel angedeuteter Eile. Aus dem Stimmengewirr ließ sich nichts Bedeutsames erkennen. Man konnte jedoch sehen, dass irgendetwas anders war. Anders als der ganz normale Tagesbeginn in der U-Bahn am Hauptbahnhof. Heute klappte es auch irgendwie nicht damit, die Umgebung um sich herum auszublenden. Normalerweise war es egal, wo sich Francis befand. Egal wie viele Leute da waren, egal wie laut es irgendwo war.

Sie hatte sich an die morgendliche Freakshow an der U-Bahn Haltestelle gewöhnt. So wie jeden Tag klammerte sie sich an ihren Coffee-To-Go Becher, gefüllt mit der lieblichen braunen Flüssigkeit, einen Schuss Milch und mit mal mehr mal weniger Wasser mit dem Sie den Espresso aufgegossen hatte. Die Freakshow begann immer mit dem Obstverkäufer in ersten Untergeschoss. Sie fragte sich jedes Mal wie diese Dornenhecke, die unter seiner Nase wuchs ihm nicht selbst wehtun konnte. Diese klobigen Augen kamen noch hinzu. Wenn das was er Schnurrbart oder Schnauzer nannte denn jemals einen Hauch von Pflege bekam, konnte dies wohl nur mit einer diamantgeschliffenen Heckenschere zur Einmalbenutzung passieren. Na ja, oft schien das ja sowieso nicht der Fall gewesen zu sein. Die Optik des Verkäufers hinterließ leider auch Spuren in der vorgestellten Geschmacksvielfalt des zu verkaufenden Obstes. Deswegen kam Francis nicht einmal ansatzweise auf die Idee dort ein Stück zu kaufen, auch wenn das Geschäft auf dem Weg lag. Obwohl tatsächlich die Ware noch so in den schönsten Farben leuchtete und manchmal den Eindruck erweckte, die Papaya hätte noch den Morgentau des Baumes an sich haften, an dem sie vor ein paar Minuten hing.

Platz zwei der morgendlichen Freakshow belegte ein junger Typ, der seinem Gang und dem inne liegenden Gesichtsausdruck nach sich gab wie der Vorstandsvorsitzende der Société Général. Das mögen seine Ziele gewesen sein. Na ja, für den Moment wäre es schon ein Fortschritt, wenn er einen Anzug kaufen würde, der ihm auch wirklich passte. Nicht das seltsam anmutende Stück, das ihm entweder eine findige Verkäuferin empfohlen hatte, da es schon seit Jahren aus dem Lager wegmusste. Eine weitere Möglichkeit wäre bei ihm auch noch, dass er den Anzug in seiner monatlich abonnierten Managerzeitschrift sah und er ihn ebenfalls unbedingt zur Geltendmachung seiner Kompetenz und hochklassigen Wichtigkeit haben musste.

Francis hoffte jedoch, dass er auch nicht in diesem Aufzug zu einem Vorstellungsgespräch als Pförtner bei der Société Général gehen würde. Vielleicht sollte man auch nicht die Frisurempfehlungen, Accessoirevorschläge und die Modebilder von verschiedenen Jahrgängen dieser Managerzeitschrift kombinieren. Das Gesamtbild lies anmuten, dass die Miles & More Frequent Traveler Card aus dem Farbdrucker selbst erstellt kam, aber mit einem Stolz getragen wurde, ein Stolz, als wenn der Präsident eines reich geschmückten Landes bei einem Staatsempfang in den Ballsaal schreiten würde.

Es hatte irgendwie seinen ganz eigenen Reiz die gewohnten Gesichter jeden Morgen wieder zu sehen. Und so kamen auch immer wieder neue Elemente in die Freak-Show. Francis Augen suchten den Bahnsteig nach Kandidat Nummer drei ab. Aber er war heute nicht zu finden. Nirgends auch nur ein Hinweis von ihm. Obwohl sie schon die Rangfolge korrigieren wollte und sie sich fragte, ob er nicht Platz 1 verdient hätte. Bisher hatte er noch nie gefehlt. Auch wenn Francis ab und zu im Urlaub war fragte sie sich, ob er nicht auch wie immer da wäre. Er war einfach immer da wenn sie morgens am Bahnhof stand. Nur heute nicht.

III. Perfektion

(Zyklus 3.1)

Die Sonne schillerte leicht durch die Wolken, sodass die weichen Kanten in einem wunderschönen hellem Goldgelb erglühten, weitergeführt von einem reinen Weiß, wie es selten zu sehen ist. In breiten, mächtigen Streifen schienen die Sonnenstrahlen sich durch die weiße feste Masse zu schneiden und den Erdboden wuchtig zu treffen. Ein Schaubild, dass ihm immer wieder die Brillanz der Natur vor Augen führte. Ein Eindruck, der alles andere verblassen ließ. Und bei seinem Lebensstil konnte es nicht viel geben, was daneben blass aussah.

Sein Streben nach Perfektion wurde von der Perfektion der Natur angetrieben. Es war das Einzige dem er sich öffnete, das Einzige, das ihm seine Menschlichkeit gewahr werden ließ.

Alles andere war zu kontrollieren. Nur der Himmel nicht. Alles andere ließ sich mit Geld oder anderen Mechanismen wie auf Knopfdruck regeln. Dabei spielte es keine Rolle um welche Person es ging, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielten oder wie viel vermeintliche Macht sie innehätten. Alles konnte sich seinem Willen beugen – nur die Natur nicht. In der gleichen Intensität wie er es liebte wenn seine Pläne, die von ihm gestaltete Perfektion funktionierten, genauso genoss er die Ohnmacht davor, die Himmelsphänomene und die Naturschauspiele in der Hand zu haben.

Einmal wagte es doch jemand ihm zu widersprechen und den Menschen und die Fähigkeit zur vollständigen Beherrschung derselben zu erheben. Wer die Macht hat etwas zu zerstören, so war die Meinung dieses Wissenschaftlers, der würde die vollständige Macht der Kontrolle haben.

Er hörte diesem Wissenschaftler geduldig zu und mit einem teilnahmslosen Blick in Richtung des Fensters, hinauf in Richtung der Wolken, ließ er alles seinen natürlichen von ihm geplanten Gang gehen. Mit einem seichten Kopfschütteln schloss er die granatensichere Glaswand des Labors, dessen Motorunterstützung leise surrte und mit dem Einrasten diesen Bereich hermetisch abriegelte. Mit einem leichten Schmunzeln ging er den Korridor entlang und entfernte sich aus dem Labor Areal.

„Viel Freude mit Ihrer Fähigkeit die Natur zu kontrollieren Herr Wissenschaftler“ - dachte er lautlos, so wie er sich langsam, aufrecht und würdig, fast schon schreitend immer weiter entfernte. „Lassen wir alles seinen natürlichen Gang gehen.“

Der Wissenschaftler, der alleine im Labor verblieben war, interpretierte das als Ignoranz. War er doch das eine oder andere exzentrische Verhalten bereits gewohnt. Während er ihm durch die dicke Glaswand nachsah dachte er sich, es mache ihm nichts aus, jeder konnte seine eigene Meinung haben. Soll er doch denken was er will.

„Die Wissenschaft ist dafür da alles zu erklären und Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. Natur, Natur …“ Als er wieder einatmen wollte, war es, als ob er im Begriff sei zu verstehen, was sein Besucher ausdrücken wollte. Sehr zum Entsetzen des Wissenschaftlers, dessen Verständnis leider zu spät kam, was wirklich geschah.

IV. Zeremonie

(Zyklus 1.2)

Während die Zahnbürste so in seinem Mund hin und her wanderte, dachte er sich, dass der Tag eigentlich gar nicht so schlecht sei. Sicherlich, frei haben wäre schöner, aber es gab auch beträchtlich Schlimmeres als ihm heute bevorstand. Nach einem tief schwarzen Espresso sieht die Welt doch wieder ganz anders aus. Selbstverständlich besser, wesentlich besser. So als ob die Schwärze des Getränks als das dunkle dieser Welt sammelt, in sich vereint und man es einfach hinunterschluckt.

Aber es war nicht einfach nur ein Espresso. Jeder Einzelne für sich war ein Meisterwerk. Oh wie er doch diese Leute hasste, die „Expresso“ sagten. Diese Menschen konnten tatsächlich die Leichtigkeit seines Lächelns aus seinem Gesicht verbannen. Und diese Kaffee-Pad-Trinker – alle mit einander …

Ein Hoch auf die Psychologie des Marketings, das jeden völlig geschmackssinnlosen Menschen auf die Ebene eines Baristas erhob. Die meisten konnten doch noch nicht mal unterscheiden, ob das Pad das zweite oder das erste Mal durchläuft. Genauso wie wenn man Kindertraubensaft zu einem edlen Cabernet Sauvignon ernennen würde, so steht heute überall Espresso darauf. Nein, alleine daran kann man erkennen, in welche Abgründe die menschliche Gesellschaft geschwunden ist, fern ab jeglichen ehrlichen Selbstverständnisses, ganz zu schweigen von einem objektiven Selbstbild. Und überhaupt ist die wahre Seele eines Menschen an seinem ….

So lange wollte er gar nicht seine Elektrozahnbürste strapazieren. Bei diesem Thema gingen jedoch immer wieder dieselben Emotionen mit ihm durch. Aber er mochte es. Das Echauffieren über die Kaffeegewohnheiten und Gourmetfähigkeiten seiner Mitmenschen, hat ihm schon so manche langweilige Zeit versüßt. Louis fühlte die Kräfte zurückkommen, noch bevor der erste Hauch eines Kaffeeduftes seine Nase erreichen konnte. Alleine das Thema erfüllte ihn mit einer Inbrunst, sodass der Tag nur noch gut werden konnte.

Nach einer, seiner Meinung nach ausreichenden Zeit der morgendlichen Körperpflege im Bad wechselte er das Stockwerk um in sein liebstes Reich zu gehen. Dort wo auch sein liebstes Möbelstück stand. Die La Pavoni®. Falls jemals das Haus einstürzen sollte, Louis würde sich auf den Kaffee-Siebträger stürzen und ihn mit seinem Körper und Leben beschützen.

Alleine die Vorbereitung für die eigentliche Zubereitung des Espresso würde für andere gefühlt Tage dauern. Für ihn ist es nur ein Augenblick. Als der heiße, weiße Nebel aus der kleinen dickwandigen Espressotasse nach oben schwebte um sich dann in nichts aufzulösen, wurde das liebliche Aroma mit Genuss von Louis aufgesogen. Eine Zufriedenheit und wieder das so für ihn typische Lächeln erschienen auf dem vom frühen Morgen gezeichneten Gesicht. Er hatte sich für die Mischung No. 27 entschieden und war sichtlich zufrieden mit seiner Wahl. So zufrieden wie ein Nashorn in Simbabwe, das seinen seit Monaten ausgetrockneten Tümpel nach einem plötzlichen Regenfall wieder aufsucht und sich genüsslich in das Nass wirft.

Wie es immer an solchen Tagen ist, klingelte genau in diesem Moment das Telefon. Was jeden anderen fürchterlich gestört hätte, das war nicht einmal mehr im Bereich des Wahrnehmbaren von Louis. Er hatte ausgiebig und exzessiv das Ignorieren des Telefons geübt und praktiziert. Es konnte nichts existieren, das sich nicht mit einem Rückruf klären lassen konnte. Und vieles war es nicht einmal wert sich davon unterbrechen zu lassen oder hatte sich bis zum Zeitpunkt des Rückrufes sowieso erledigt.

V. Arbeitsweg

(Zyklus 2.2)

Es war noch mehr anders als an den sonstigen Tagen, den wie gewöhnlich langweiligen Minuten während Francis auf die U-Bahn wartete, wenn nicht die Freak-Show immer wieder neue Überraschungen für sie bereithalten würde. Nicht nur das Freak Nr. 3 fehlte. Es lag eine Art Anspannung in der Luft die, wie sie dachte, nur sie selbst auffing. Sie hatte den Eindruck dass all die anderen um sie herum sich zwar von dieser Anspannung beeinflussen ließen, diese jedoch nicht bewusst registrierten. Es war, als ob die Menschenmassen fremdkontrolliert und ferngesteuert ihr Tagewerk verrichteten.

Es durchfuhr sie plötzlich. „Langsam wirst Du paranoid, Du solltest wohl aufhören immer so seltsame Filme zu schauen“ sagte sie zu sich.

Sie hatte es wohl wirklich übertrieben. Jedoch konnte sie sich nicht des Gefühls erwehren, die Gewohnheit verlassen zu haben und sich einer Veränderung gegenüber zu stehen. Irgendetwas war heute anders. Sie fühlte sich deplatziert, nicht zugehörig, herausgerissen aus dem sonst so normalen morgendlichen Ablauf am Bahnsteig.

Als jemand sie anrempelte und sich freundlich im Weitergehen entschuldigte, wäre ihr fast der Coffee-To-Go Becher aus der Hand gefallen. Aber es holte sie wieder aus den Gedanken in die Realität zurück. Sie lächelte zurück „Nichts passiert!“ - und dachte sich dabei „Wie kann man nur bei diesem Wetter einen Mantel tragen.“ Natürlich war es nicht mehr Hochsommer, aber ein sehr schöner warmer Tag. Francis hatte immer schon ein gutes Gespür dafür ihre Umwelt und vor allem die Menschen darin wahrzunehmen, egal ob Große oder kleine Details.

Ihr Arm tat mehr weh, als sie erst zu Beginn bei dem Rempler vermutet hatte, aber insgesamt fühlte sie sich wacher und besser als zuvor. Als sie wieder an ihrem Kaffee nippte, durchfuhr sie nochmals ein Schrecken. „Mein Geldbeutel!!! Das war doch wohl kein Taschendieb, der mich angerempelt hat?“

Am liebsten hätte sie den Kaffee weitschwingend hinter sich geschleudert um beide Hände frei zu haben, damit sie wild in den Tiefen Ihrer Handtasche wühlen könnte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein … - dabei hat der Mann so freundlich ausgesehen … und die ganze Zeit die ich brauche um wieder alle Dokumente zu besorgen … das kann doch nicht sein.“

„Also so etwas gemeines“ das war das Letzte, was ihr durch den Kopf schoss während sie mittlerweile völlig aufgeregt alles in ihrer Handtasche von links nach rechts und von oben nach unten geräumt hatte. Von den Dimensionen und dem Füllvermögen erinnerte sie mehr an einen Wanderrucksack als ein eine kleine zierliche Damenhandtasche. Nur eben in schön und vom Design her weit weg von einem brachialen Rucksack.

Im nächsten Atemzug ertastete sie ihren Geldbeutel, was für einen Mann jenseits jeglichen Verständnisses ist in Taschen dieser Größe überhaupt irgendetwas finden zu können. Ein leichtes Aufstöhnen entfloh ihr, das die tiefe Erleichterung verursacht hatte. „Alles ok, da ist er.“

Es ist ja nicht, dass es nicht schon 573 mal zuvor genauso gewesen wäre mit dem angenommenen panischen Geldbeutelverlust und dem schnellen Wiederfinden in der Handtasche, jedoch musste diese Aufregung erst einmal mit ein paar ordentlichen Schluck Kaffee hinunter gespült werden, bis der Becher leer war. Mit einem letzten Blick ob sich Freak Nr. 3 nicht doch noch irgendwo erblicken ließe, drückte sie auf den rot leuchtenden Knopf der U-Bahn Tür. Nachdem sie sich vergewisserte, dass nicht noch jemand die Haltestelle verschlafen hätte, jetzt plötzlich aus der U-Bahn um die Ecke schoss und sie übersehen könnte, setzte sie zum Einstieg an.

Es war wohl doch nichts so anders heute. Mit dem Schrecken in den Gliedern ließ sie sich auf einen Sitzplatz nieder und zog die Luft in großen Zügen ein. Die Türen schlossen sich und die Bahn setzte sich mit einem dezenten Surren in Bewegung. Ihre Augen glitten teilnahmslos nach draußen, vorbeifahrend an den Leuten am Bahnsteig entlang. Kurz bevor das Schwarze des Tunnels begann, erhaschte sie nochmals einen Blick auf den Mann mit dem grauen Mantel, der sie angerempelt hatte.

„Warum ist er noch am Bahnsteig, wenn er es doch so eilig hatte?“ Aber eigentlich war ihr das ja egal, es war nicht ein böser Taschendieb, der ihre Unachtsamkeit ausgenutzt hatte, sondern ein freundlicher Mensch, der sich für seine eigene Unachtsamkeit entschuldigte. Wie oft wird man sonst über den Haufen gerannt, als ob das Leben davon abhing zuerst in den Zug zu steigen, ohne Freundlichkeit und ohne Entschuldigung. Die Ansage der nächsten Haltestelle in mäßig bis schlechtem Englisch amüsierte sie ein weiteres Mal und lies sie an den Tag denken, der vor ihr läge.

VI. Zeitkontrolle

(Zyklus 3.2)

Der Triumph hätte sich nicht größer anfühlen können als er die E-Mail der Status Meldungen auf seinem Pad überflog. Wenn es einen triumphalen Triumph gäbe, dann wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Nicht, dass er nicht schon vom Erfolg verwöhnt gewesen wäre, aber dennoch liebte er das Gefühl, wenn alle Stücke sich nach und nach zusammenfügten.

Nur eine Person auf dem gesamten Planeten kannte den gesamten Plan. Nur er konnte ermessen auf was die Unternehmung selbst, und noch viel mehr die ganze Welt zusteuerte. Vertrauen war noch nie seine Stärke, außer dem Vertrauen zu sich selbst. Andere Menschen waren Ressourcen in seinem Leben die nach Belieben platziert, re-lokalisiert und auch manchmal aufgelöst werden mussten. Im besten Fall handelte es sich um neutrale Objekte, die seiner Beachtung nicht würdig waren. In diesem Fall hatten eben diese Objekte Glück.

Punkt für Punkt auf dieser Liste schien ihn noch mehr in das Hochgefühl zu treiben. Dass niemand ihn persönlich kannte, sondern nur das, was er seinen tausenden von Kontakten rund um den Globus Glauben machte, gab ihm das Bewusstsein unerreichbar zu sein und sich den Geschicken dieser Welt zu entziehen. Nicht mal seinen Namen kannten sie. Nur diese momentane Person, die für den Augenblick für eben diese Situation für seinen Plan gebraucht wurde. Diese Person tauchte auf und verschwand ebenso schnell wieder. Es sei denn ein paar Rollen, die er immer wieder in der Öffentlichkeit einnahm, welche sich wiederholten.

Sein Streben nach Perfektion war der Schlüssel der Glaubwürdigkeit der Vielzahl der künstlichen Personen. Wenn er in eine Rolle schlüpfte, dann war das keine Rolle. Er dachte - er fühlte - er lebte darin. Nur die reine Vernunft zwang ihn, sich dieser momentanen Person zu entledigen und nicht das Gesamtbild zu vergessen und gänzlich darin aufzugehen.

Der rote weiche Samt des Stuhles schmiegte sich an den Rücken. Jetzt war nicht die Zeit zum Nachdenken und zur Planung der nächsten Schritte. Jetzt war es an der Zeit den Fortschritt zu begrüßen und sich dessen zu freuen. Sicher, der Weg war noch weit, aber dennoch irgendwie greifbar. Und solange die Statusmails ein solches Ausmaß an Erfreulichkeiten beinhalteten, konnte er sich auch diese Zeiten der Erfüllung gönnen.

Der Blick weitete sich in die Tiefe des Raumes. Die über 3m hohen Fenster in fülliger Breite zu beiden Seiten des Raumes ließen so viel Sonnenlicht herein, dass man beinahe schon von der Helligkeit geblendet wurde. Auch wenn er die direkte Sonne auf der Haut nicht leiden konnte, so war es doch wunderschön für ihn, die Sonnenstrahlen, die wuchtig und schneidig eindrangen, anzusehen. Zu allen Fenstern entlang des 30m langen Raumes gesäumt von Wandmalereien- und Verzierungen schnitten sie sich ihren Weg durch das Glas und die seidenartigen Vorhänge.

Die Zeit arbeitete nicht für ihn, aber auch nicht gegen ihn. Deshalb konnte er auch hier den Moment genießen. Wann immer er wollte. Denn auch das war etwas, was er liebte – die Kontrolle. Und bei alle dem was er vorhatte, konnte ihm auch die Zeit keinen Strich durch die Rechnung machen.

Zeit – etwas von Menschen geschaffenes. Zyklen sind natürlich, aber die Zeit ist ein Auswuchs der Vergänglichkeit des Menschen. Zeit ist nicht natürlich. Zeit lässt sich kontrollieren oder zumindest durch hochgradig detailliertes planen weitestgehend kontrollieren. Die Zeit war auf seiner Seite und konnte sich nicht seinem eisernen Griff entziehen. Jetzt war es an der Zeit zu warten.

VII. Verwunderung

(Zyklus 1.3)

Das Telefon war eine Seuche aus seiner Sicht. Die ewig währende Erreichbarkeit. Natürlich hatte es auch Vorteile – aber was konnte schon von Vorteil sein gestört zu werden bei der Gelassenheit des Vergessens von Raum und Zeit, gepaart mit der mannigfaltigen Aufhäufung von Aromen die sich in jedem Mundwinkel anders entwickeln – oder was andere so einfach und banal Kaffee trinken nennen würden.

Nach einer nochmaligen ausgiebigen Würdigung seiner Wahl für diesen Tagesbeginn war Louis zwar nicht genervt, aber dennoch nicht gerade begeistert davon jemanden, wer es auch immer sei, zurückzurufen. Dieses Gefühl verbesserte sich nicht gerade, als er das Handy in die rechte Hand nahm, die Bildschirmsperre mit einem gekonnten Wisch mit dem Daumen entfernte und die Nummer erblickte. Es war nicht schlimm. Eigentlich mochte er Marie sogar. Aber sie hatte auch das Potential ihm auf die Nerven zu gehen. Na ja, nicht wirklich, er nannte es nur manchmal etwas anstrengend.

Mal sehen, was sie diesmal auf dem Herzen hatte. Ein einfacher Klick auf das hübsche Bild mit dem Namen, das sie damals im Regen machten und was ihm immer wieder ein Schmunzeln in das Gesicht trieb, genügte und schon erklang das Wartezeichen. Während er still die Anzahl der Wartezeichen zählte, überlegte Louis warum er sich denn nicht freute, wenn Marie anrief. Als freier wissenschaftlicher Berater konnte er schließlich selbst wählen, zu welchen Aufträgen er „Ja“ sagt. Marie vermittelte nur und kümmerte sich um Papierkram, damit er sich um seine Tätigkeit und um sein Leben kümmern konnte und nicht mit den administrativen Dingen belegt wäre.

Mehr, als die dafür notwendige Zeit, fürchtete er seine Liebe zum Detail und seinen freien Geist mit solchen Routinen zu belegen, was dadurch den Kopf völlig vernebelte.

„Sie sprechen mit Marie …“ Er würde es später nochmals probieren. Mailboxnachrichten waren nur semi-brauchbar. Keiner weiß ob und wann die Nachricht abgehört werden würde. OK, bei Marie wusste man es. Sie war immer sehr schnell im Beantworten von Nachrichten, unabhängig davon, über welchen Kommunikationskanal sie sie erreichen würden. Wenn man Marie auf dem Mond ohne jegliche Technik und Strom aussetzen würde, könnte man sich immer noch sicher sein, dass sie bald antwortet. Außerdem wusste Louis überhaupt nicht, was er denn auf der Mailbox hinterlassen sollte. Schließlich wollte sie ja etwas von ihm.

Na ja, die Neugierde hielt sich in Grenzen und somit war die Verschiebung des erneuten Rückrufes keine große Sache für ihn. Und, er hatte bereits einen Auftrag angenommen. Nichts Bewegendes, aber auch nicht ganz trivial. Er hätte gar nicht gedacht, so bekannt zu sein, sodass man ihn doch nun ausdrücklich wünschte.

Louis hatte sich schon seit ein paar Jahren aus dem akademischen Leben zurückgezogen. Sollten die nur machen. Er empfand es als wesentlich befriedigender die kulinarischen Dinge und andere Besonderheiten des Lebens zu genießen als sich um die verbalen Rangeleien und die politisch-strategischen Spielchen zu kümmern, die es sonst in diesen Kreisen gab. Die tägliche Pflege und Zurschaustellung seines Egos behagte ihm nicht. Obwohl fachlich ohne weiteres dazu in der Lage, hat er dennoch schnell damit aufgehört in Fachzeitschriften zu veröffentlichen.

Zu viel Zwischenmenschliches war damit verbunden. Er mochte Menschen, der soziale Umgang war eine Leichtigkeit für ihn. Auch das empathische Empfinden für die Gefühle und Bedürfnisse der Menschen um ihn herum war wie ein weiterer Sinn in ihm herangereift. Aber er wollte es auf einen freundlichen, aufrichtigen Kontakt belassen. Kein berechnendes psychologisches Ausloten von Möglichkeiten, kein sammeln von Punkten bei anderen, kein künstliches Aufpolieren des eigenen Images.

Selbstverständlich war er stolz auf seine Leistungen. Und es waren einige Beträchtliche. An Projekten, an denen zuvor schon ganze Teams versagten und Spezialisten aufgaben, da hatte er seine großen fachlichen Stärken bewiesen. Aber das Profilieren und herausstellen wie toll er denn sei, damit wollte er nichts anfangen. Manchmal reizte es ihn natürlich, da sein freundliches Auftreten und sein smarter Umgang mit anderen oft als unwissend, einfach und selten auch als Dummheit missinterpretiert wurde.

So mancher Spezialist dachte, als er Louis das erste Mal sah „schon wieder einer, der die Welt nicht versteht.“ „Dem muss man mal wieder sagen, was zu tun ist.“ „Der ist nicht sehr clever, den stecken wir gleich in die Tasche.“

Louis erachtete es nicht als notwendig den Beweis anzutreten. Er bemühte sich immer nur, wenn er es als Wert ansah, als sinnvoll. Sein Leben sprach Bände, dass er die Welt versteht, dass nur wenige etwas beitragen konnten, was ihm wirklich weiterbrachte und dass er sehr taschenresistent war. Wenn es um die Sache ging, zeigte er, was in ihm steckte, und die, die es seiner Meinung nach Wert wären, würden ihn zu schätzen wissen. Aber nur für das Ego oder zum Zeigen, das war nicht sein Stil. Und es waren einige, die es wussten und ihn schätzen. Andere klammerte er bewusst aus seiner Wahrnehmung aus.

Es war irgendwie nett, dass der neue Auftraggeber so sehr an ihm hing. Obwohl der Markt an freien wissenschaftlichen Beratern doch nicht so klein ist, hat sich sein Auftraggeber sehr ins Zeug gelegt. Dass das Finanzielle eine kleinere Rolle bei dieser Art von Tätigkeit spielte, war ja normal.

Aber es hatte den Eindruck gemacht, dass der Auftraggeber gerne und ohne zu zögern den ganzen Projektplan verschieben würde, nur um Louis Steinwald zu bekommen. Sein Teil schien gar nicht so elementar zu sein. Natürlich auch nicht zu gering - war die Hoffnung auf seine Erfahrung und Expertise doch groß.

In diesen Preisklassen jedoch geht es um etwas Größeres als um eine einzelne Person, die fachlich ersetzbar wäre. Umso mehr noch, da die Beziehungskarte nicht gezogen werden konnte, denn Louis war ja kein Freund der Unterhaltung von nutzbringenden, technischen Beziehungen.

Vielleicht hatte einfach das letzte Quäntchen, die letzte Feder auf der Waage sein immerwährendes leichtes Lächeln bewirkt. Der Auftraggeber wird ja wohl ökonomisch und planungsvoll vorgehen. „Er wird das schon wissen und alles unter Kontrolle haben“ entfuhr es ihm leise.

Bislang war es einfach schön zu wissen, versorgt zu sein, eine neue Herausforderung vor sich zu haben und geschätzt zu werden. Das Vertragliche erledigte wie immer Marie. Vielleicht war es ja das, weswegen sie ihn heute Morgen anrief.

Bisher gab es wenige Informationen. Es ging um organische Oberflächentechnik und ein paar weitere Parameter, die bislang an ihn übergeben wurden. Nicht viel – aber alles was man eben für eine Vertragsverhandlung und eine fixe Buchung benötigte.

Nachdem es keinen engen Zeitplan gab mit Abzeichnungsfristen und Daten zur Zwischenberichtsübergabe, störte es ihn nicht. Wo es keine Fristen gab, da konnte auch kein Stress aufkommen. Da war es auch nicht wichtig, wann welche Information floss. Es ist nur von Bedeutung, alle notwendigen Informationen zu haben, wenn es an die Arbeit ging. Doch bis dahin gab es noch so viele große und kleine Dinge des Lebens zu genießen, die nur darauf warteten gepflückt zu werden.

Nachdem Louis den Vormittag mit einigen Belanglosigkeiten verbracht hatte, machte er einen weiteren Versuch Marie zu erreichen. Ein Druck auf das Handydisplay, ein weiterer auf das hübsche Bild im Regen und wieder der gewohnte Ton.

Und wieder … , und wieder.

„Sie sprechen mit Marie …“

Nun reicht es aber, sie hat nun zwei unbeantwortete Anrufe auf dem Display, das muss reichen. Mehr kann man jetzt wohl wirklich nicht von ihm erwarten. Schließlich ist sie ja selbst schuld, wenn sie etwas von im wollte und dann aber nicht erreichbar ist.

„Eine Seuche, diese Erreichbarkeit“ - murmelte er vor sich hin. Dabei störte ihn im Moment eigentlich mehr die Unerreichbarkeit.

„Na ja, das ist ihr Problem“ und damit war das Gewissen wieder reingewaschen und die Bringschuld in eine entspannende Holschuld getauscht.

Sollte er nochmals einen Spaziergang zum Fluss machen?

VIII. Erster Kontakt

(Zyklus 2.3)

Francis hatte ein sehr aufgewecktes, einnehmendes Wesen, das aber niemals in eine Art Aufdringlichkeit umschwenkte. Im Gegenteil, die Kurzweil war sehr angenehm wenn sie anwesend war. Im Großen und Ganzen hatte sich immer jeder gefreut, wenn sie in den Raum trat. Diese fröhliche Beschwingtheit war ansteckend. Der Scharfsinn, der sich hinter dieser Leichtigkeit verbarg, konnte ebenfalls im Leuchten ihrer Augen bemerkt werden.

Heute leuchteten die Augen nicht ganz so wie sonst. Normalerweise wurde sie immer sehr zügig wach - auch ohne Kaffee. Spätestens wenn sie die Bürotür aufstieß war nichts mehr von der Sehnsucht nach dem Bett zu sehen. Heute war der Kaffee die letzte Hoffnung um in Schwung zu kommen. Manche Hoffnungen treffen nie ein.

Nichtsdestotrotz ging ein wohlgeformtes „Morgen“ durch das geräumige Büro, in dem alle Mitarbeiter in würfelförmigen Schreibtischkombinationen zusammensaßen. Sie erntete viele freundliche Begrüßungen und Lächeln als sie in schnellem Schritt den Raum durchquerte und zu ihrem Reich an der Seite zum Fenster hinging.

„Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist“ platzte es plötzlich aus einer Kollegin heraus.

Als Francis sich ihrer Tasche entledigte und sie auf den Schreibtisch abstellte, bemerkte sie einen Augenblick dass der Arm immer noch wehtat.

„Du wirst doch nicht, …“

„Nein, natürlich nicht. Wo denkst Du hin. Gerade, als ich heute Morgen die Bio-Cornflakes wieder zurück in den Schrank stellte, hat doch tatsächlich mein Nachbar zum Fenster hereingewunken und mich gefragt, ob ich zu der Schulanfangsparty seines Sohnes komme, die ein einem krönenden Grillfest endet. Kannst Du Dir das vorstellen?“

„Neeeeiiiiinnn“

Francis dachte sich „oh Mann, ich hätte das Nein noch länger ziehen sollen. Ich bin doch müde, können wir nicht einfach in einer Stunde dieses sehr wichtige Thema erörtern?“

Aber sie kannte ihre Kollegin schon sehr lange. Das war die Kollegin, die immer mit einem sehr schrillen und nervenaufreibenden „Morgääääääään“ das Büro willkommen hieß. An sich mochte Francis sie. Wenn man die vielen vielen unwichtigen Worte und die unglückliche sägende Stimmlage wegstrich, hatte Ihre Kollegin ein gutes Herz und war nett. Was wollte man mehr. Jeder Mensch wünscht sich einfach nette Kollegen.

Heute wünschte sich Francis nette und leise Kollegen.

„… und das, obwohl er doch seit Jahren weiß, dass ich Veganerin bin. Also so etwas. Wie kann er nur unser so gutes nachbarschaftliches Verhältnis aufs Spiel setzen.“

„Das hat er doch bestimmt nicht so gemeint – er wollte einfach freundlich sein und Dich einladen.“

„Aber wie kann er erwarten, dass ich zu einem so blutrünstigen Spektakel komme, wie einer Grillfeier.“

Das Telefon klingelte und da dröhnte es wieder das „Morgääääääään.“ Aber diesmal hatte es für Francis einen fast schon melodischen Klang. Denn es bedeutete das Ende dieser etwas abstrusen Erzählung vom unsagbar bösen Nachbarn und schlimmen Erlebnissen ihrer Kollegin. Etwas Sarkasmus konnte Francis Ihren Gedanken nicht verwehren.

Während sie den Startbildschirm ihren Notebooks am Schreibtisch in der Dockingstation anstarrte, entschloss sie sich, nach der Eingabe des Passworts zur Festplattenverschlüsselung gleich den Weg in die Küche anzutreten. Ein zweiter Kaffee sollte nichts schaden. Wenn sie schnell ist, dann schaffte sie den Weg, die Auswahl des Pads, den Espresso zu extrahieren und wieder zurück in 3 Minuten. Bis dahin ist das System hochgefahren und bereit zur Eingabe des Passwortes. Der ebenselbe Weg mit Kollegin in die Kaffeeküche würde ein Minimum von 15 Minuten benötigen. Aber die war ja gerade am Telefon.

Seitdem die Firma in den Kaffeeküchen auf Padmaschinen umstellte, waren alle gezwungen ihre eigenen Kaffeemaschinen am Fensterbrett, auf dem Schreibtisch oder in sonstigen mehr oder weniger passenden Lokalitäten abzuschaffen. Für sie war es ein Gewinn. Sie liebte die Einfachheit. Pad rein, Kaffee raus, fertig. Als sie nach dem Pad griff, glitt es ihr aus der Hand.

„Mann bin ich müde heute, wird wirklich Zeit für den zweiten Kaffee.“ Francis krümmte immer wieder ihre Finger, um den Hauch von Taubheit, den sie meinte zu empfinden abzuschütteln, griff nach dem Pad mit der stärksten Koffein Klassifizierung und steckte es in den Schlitz. Die tiefschwarze Flüssigkeit kam fast schon ölig aus dem Automaten. Recht schnell war die Espressotasse bis zur Hälfte gefüllt und sie genoss den weichen aber starken Geschmack mit einem kurzen Schluck - es tat gut.

„Hier bist Du!“

„Ja, suchst Du mich wegen etwas bestimmten?“

„Nein nein, ich wollte nur fragen, ob Du die Papiere für Kuala Lumpur von der Logistikabteilung schon fertig hast. Ich hätte heute sowieso eine kurze Mail geschrieben.“ Paul war einer dieser netten Kollegen, die …. die einfach nett waren. Er wusste genau, was er wollte, aber er hatte die Fähigkeit es in so einem angenehmen weichen Ton rüberzubringen, dass man ihm nicht böse sein konnte. Sein Aussehen tat natürlich nichts zur Sache. Außer dass er durchaus recht ansehnlich war, und sich die Herzfrequenz der meisten Frauen zwischen 19 und 60 Jahren erhöhte, wenn er mit seiner tiefen, weichen Stimme etwas anmerkte.

Francis Chef hätte gesagt: „Heute Nachmittag liegen die Dinger auf meinem Schreibtisch, wäre schön gewesen, wenn sie gestern schon fertig geworden wären.“ Aber nicht Paul. Paul wollte einfach mal kurz fragen. Das Ergebnis wäre das gleiche. Die Papiere lägen ganz ganz sicher nachmittags auf seinem Schreibtisch - sogar noch früher.

„Klar, kein Problem, ich bringe sie gleich vorbei.“ Damit trennten sich ihre Wege, denn auch sein Espresso war dank Pad-Technologie in 27 Sekunden fertig. Sie merkte gar nicht, dass auch ihre Herzfrequenz zunahm. Etwas was sie sich aber auch nie eingestehen würde. „Einfach nett.“

An ihrem Schreibtisch angekommen war das Telefonat der Kollegin schon beendet, aber so schnell sie auch Gesprächsthemen aufwarf, so schnell waren sie wieder vergessen.

„Und, wie war Dein Wochenende so?“

„Oh, ganz ok – nichts Weltbewegendes. Ich hatte endlich einmal Zeit das Fotobuch für meine Freundin anzufangen.“

„So eine Freundin hätte ich auch gerne, die sich das Wochenende um die Ohren schlägt, um mir ein Überraschungsgeschenk zu machen … oh dreh Dich um, der Chef kommt … Morgääääääään.“

„Wertes Team, ich möchte die Gelegenheit gleich beim Schopf packen, wenn alle da sind, und eine kurzfristige Teambesprechung halten. Cecilia, bitte stellen Sie den Beamer an. Ich habe ein paar Folien vorbereitet.“

Mittlerweile hatte sich Francis eingeloggt und öffnete Outlook um abzusehen, wie sie die Zeit heute hier in der Firma am nutzbringendsten einsetzen würde. Sicherlich wäre es genug Zeit die ersten Mails zu überfliegen bis der Chef endlich mal zum Punkt käme und der Aufmerksamkeit würdig wäre. Aus dem Winkel Ihres Schreibtisches und der Schrankkombination konnte sie sogar unbemerkt tippen und Mails beantworten, solange sie immer wieder nach oben blicke und das eine oder andere zustimmende Raunen unterstützte. Selbstverständlich müssten noch ein oder zwei Standardfragen zu einem Detail folgen. Damit könnte sie sich am Gespräch beteiligen, ohne, dass sie den Inhalt groß mitbekäme.

„Es sind einige beunruhigende Entwicklungen, die wir feststellen mussten, weswegen das Senior-Management entschieden hatte ….“

Und schon tauchte Francis in die erste Mail ein. Nichts Schlimmes, allerdings wieder etwas, was sie zirka eine Stunde Zeit kosten würde. Drei bis vier Meeting Einladungen zu denen Sie maximal zu einem einen wirklichen Beitrag leisten könnte. Jedoch musste sie erst noch abwägen, wer eingeladen wurde und ob es um ein politisches Thema ging. Nichts war schlimmer als zu diesen Anlässen nicht zu erscheinen. Es mag sein, dass man sich Stunden im Detail ergoss ohne Ausblick auf ein Ergebnis oder eine Richtung. Jedoch nicht in den richtigen Meetings vertreten zu sein, wenn auch nur visuell, konnte verheerende Folgen haben. Vorzugsweise könnte man einen zahlenden Großkunden verärgern oder einen größeren Teil des Budgets in den Sand setzen. Aber bei einem politisch-strategischen Meeting zu fehlen wäre ein Desaster. Ein nicht wieder gut zu machendes Ereignis, das tiefe Furchen im Lebenslauf innerhalb dieser Firma ziehen würde. Francis vertagte die Entscheidung ob und wie auf später. Sie war kein Freund von diesen Dingen, aber fand sich ganz galant auf dem Parkett zurecht.

„… Des Weiteren sind folgende Punkte zu beachten, die mit unserer diesjährigen Mitarbeiterbefragung nicht abgedeckt werden konnten … .“ Solange der Chef noch im Referenten Modus war, konnte nicht viel passieren. Sie hatte die Ohren offen, wenn sich im Raum etwas tat und unterstützte die allgemeine Reaktion der Kollegen, damit ihre Unkonzentriertheit auf das Gesagte nicht auffiel.

„Ok, die nächste Mail.“ Die kam von extern. „Diogenes … , nie gehört.“

Wieder an diesem Tag stieg die Herzfrequenz. Völlig ungewollt und unkontrolliert. Plötzlich verschwamm alles um sie herum. Nur der hell erleuchtete Monitor blieb klar. Der Atem stockte, ob sie aufgehört hatte zu atmen oder einfach die Luft anhielt, wusste sie später sowieso nicht mehr. Ungeachtet des Inhalts verklang die Rede des Chefs zu einem dezenten Hintergrundrauschen – kaum wahrnehmbar. Überhaupt hörte sie nur noch rauschen. Es fühlte sich an, als ob sie von einem Wildbach mitgerissen wurde. Die Gliedmaßen, die nach etwas Halt suchen, jedoch wild im Wasser hin und her geschleudert werden. Ein Rauschen, das fast schon ein Tosen war. Voller gewaltiger Stöße. So laut, dass sonst nichts mehr zu vernehmen war. Sie starrte nur noch atemlos auf den Bildschirm, während ihre Augen beinahe regungslos an den Buchstaben vorbeiglitten.

Von: Diogenes

An: [email protected]

Betreff: Zur Kenntnisnahme

Meine liebe Francis,

ich bitte Sie, sich auf diese Nachricht zu konzentrieren und vollständig zu lesen, da diese nach dem Öffnen in 90 Sekunden unwiederbringlich aus Ihrem System verschwinden wird.

Wenn Sie ihren hübschen blassvioletten Pulli am rechten Arm hochziehen werden Sie feststellen, dass sich an der Unterseite des Ellbogens ein leicht rötlicher Fleck gebildet hat. Dieser wird sich im Laufe des Tages tellerförmig auf eine Größe von ca. 10 cm ausweiten. Es mag sein, dass Sie bereits die eine oder andere motorische Einschränkung feststellen konnten.

Wir lassen Ihnen mit der Hauspost Ihres Unternehmens ein temporäres Gegenmittel zukommen und bitten Sie, sich dieses regelmäßig alle 8 -12 Stunden zu verabreichen. Andernfalls werden sich innerhalb von 24 Stunden an dieser Stelle leichte zackenartige Äderchen bilden. Wenn das Mittel über einem Zeitraum von 48 Stunden nicht verabreicht wird, ist die Ausbreitung der Mutation auf den Torso nicht mehr einzudämmen. In 72 Stunden ist der gesamte Körper davon betroffen und die Mutation lässt sich bis zum vollständigen Abschluss nicht mehr aufhalten.

Sie erhalten weitere Instruktionen.

Hochachtungsvoll

Diogenes

IX. Mentor

(Zyklus 3.3)

Was genau Herzog Carl Eugen dazu trieb das Schloss in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bauen zu lassen sei dahingestellt. Schließlich war er vor seiner Heirat im Jahre 1785 mit Freifrau Franziska Leutrum von Ertingen recht lebhaft und ungestüm. Sein Lebensstil und die Liebe zur Selbstdarstellung brachten wohl nicht nur einige Personen in seiner Umgebung an den Rand des Wahnsinns, sondern die ausschweifenden Feste, Jagden und Oper-Aufführungen brachten auch die Wirtschaft des Herzogtums an den Rand der Unerträglichkeit.

Dennoch oder vielleicht gerade deshalb war dieses Schloss ein Zeitzeuge, ein einzigartiger Beweis der Fertigkeiten der Baukunst zu dieser Zeit.

Einige, deren Aufgabe darin bestand den Reiz der Dinge, sowie das Geheimnis des Sagenumwobenen durch eine gnadenlose und kalte Definition zunichtezumachen, hätten das fürstliche Lustschloss am Übergang zum Rokoko zum Frühklassizismus beschrieben. Natürlich hatten diese Leute Recht. Jedoch war das seiner Meinung nach eine recht dürftige Beschreibung des Werkes von Herzog Carl Eugen.

Die weitreichenden pflegeintensiven Gärten um das Schloss herum, die geräumige Ausgestaltung, die Liebe zu Details in sämtlichen Räumen die mehr von Dekadenz als von Purismus zeugten – einfach jeder Winkel wies auf eine Person hin, die sich aller realistischen und normalen Überlegungen entledigt hatte. Ein Mensch, der die Erreichung seines Zieles mit einer Hingabe und Perfektion vorantrieb, welche die größten und ästhetischsten Ergebnisse hervorbrachten.

„Wie passend“ hauchte es im Palmenzimmer.

Er liebte es in der Vergangenheit, in der Geschichte der Räume in denen er sich befand zu schwelgen. Besonders, wenn es einer der sehr sorgfältig ausgewählten Räume war in denen er sich befand, wie gerade eben. Nicht das er es nötig gehabt hätte sich nach einem Vorbild auszurichten, geschweige denn gar einen Mentor zu küren - so konnte er dennoch angenehme Parallelen zu Herzog Carl Eugen ziehen.

Wie man sich so der Wirklichkeit entledigen und aus den herkömmlichen Gedankenmustern ausbrechen konnte. Das war etwas, was ihm ebenfalls lag. Alles um sich herum loslassen. Gerade an Tagen wie heute einer war. An denen er voller Bewunderung die Lichtspiegelungen der in den Raum fallenden Sonne beobachtete, wie die feinen Wandverzierungen sowohl Schatten als auch goldene Glanzlichter so vielfältig zurückwarfen, so dass es ein temporäres Kunstwerk für sich ganz alleine war.

Ein Kunstwerk, das immer wieder neu gezeichnet wurde und andere Facetten aufwies. Genauso wie Himmel, Wolken und Sonne.

Sich der Wirklichkeiten entledigen, um an etwas Großem zu arbeiten. Allem woran sich die allgemeinen Leute so klammerten. Die angeblichen Sicherheiten, denen jeder Mensch scheinbar genetisch veranlagt hinterherjagte und sich jeder wieder von neuem über den Scherbenhaufen wunderte, vor dem er stand.

Das Bekannte hinter sich lassend. Neue Wege, neue Wirklichkeiten finden. Verständnis konnte er für seine Überlegungen und Pläne nicht ernten. Aber das würde er auch niemandem abverlangen. Vielleicht war das auch ein Grund, warum nur er das Ziel und den gesamten Plan kannte. Würde Herzog Carl Eugen heute noch leben, dann könnte die Möglichkeit bestehen einen anderen Menschen zu finden, der das Ziel verstehen würde. Aber das waren ein paar zu viele Jahrzehnte dazwischen.

In diesem Wissen genügte er sich selbst. Abhängigkeit würde wieder sein Verständnis von Perfektion stören. Für ihn hieß es nicht Wirklichkeiten zu akzeptieren, sondern Wirklichkeiten anhand seiner Vorstellungen von Neuem zu schaffen.

Schließlich machten es Marketing und Politik nicht anders. Künstliche Sicherheiten werden aufgebaut, die real doch wieder nicht existieren. Nur weil die Masse der Bevölkerung es gerne glauben möchte und mit mehr oder weniger Nachdenken diese Worte als Sicherheiten akzeptiert, heißt es nicht, dass es zu einer Wirklichkeit oder Sicherheit wurde.

Alternativlosigkeit erhebt eine Sache nicht zur wirklichen Wahrheit.

Er kannte das Spiel. Schon seit Jahren. Das Spiel der Großen. Er hatte sich schon immer aus dem, was andere für Wirklichkeiten ansahen herausgezogen. Über Enthüllungs-Skandale und Überwachungs-Stories der Zeitungen konnte er nur amüsiert und überheblich lächeln. Er wusste genau, was möglich war. Er wusste was oder wer hinter John Snowden stand und warum eine Regierungschefin in den Medien sich pikiert und überrascht darüber äußerte, dass wie aus dem Nichts ihr Mobiltelefon scheinbar abgehört wurde. Das waren Wirklichkeiten für andere - für die Masse. Nicht für ihn. Er war nicht bereit, das zu akzeptieren, was andere für ihn bereitlegten und ihn glauben machen wollten. Er nutzte ähnliche Mechanismen. Nur nicht in diesem Ausmaß. Das wäre doch viel zu auffällig und würde nicht seinem Bild der Perfektion entsprechen.

Als er sich aus seinem Stuhl erhob um den Geist in der wunderschönen Allee vor dem Domizil frei zu bekommen, wischte er den durch das Sonnenlicht sichtbaren Staub von dem großzügig gestalteten Sekretär. Makellosigkeit war eines der Luxusgüter, die er sich nicht nur gönnte, sondern von sich und auch anderen regelrecht forderte.

Mit schwungvollem Schritt trat er ins Freie. Um diese Jahreszeit waren wenige Besucher und Wanderer auf dem riesigen Areal mit angrenzendem Wald zu finden. Dadurch dass dieses Schmuckstück von einem Lustschloss früher von der Regierung genutzt wurde und zwei, drei Ministerialämter dort vertreten waren, fiel er nicht wirklich auf. Auch wenn sein edler Kleidungsstil hätte auffallen müssen.