Männer im Herbst - Gerhard Burtscher - E-Book

Männer im Herbst E-Book

Gerhard Burtscher

4,9

Beschreibung

Geschichten von Männern, alle jenseits der Sechzig. Nicht mehr ganz frisch, aber immer noch gut. Im Kampf mit dem Ruhestand, dem Nichtmehrgebrauchtwerden, ihrer Einsamkeit und ihren Ängsten. Sie hadern, klagen an, leisten Widerstand. Doch dann lehrt sie ein Zufall, eine Begegnung, dass die Dinge nicht schlechter, nur anders geworden sind. Dass auch in ihrem Leben noch Raum ist für Glück. Dass ihre Zeit noch lange nicht gekommen ist. Dass es halt Herbst ist und nicht mehr Frühling. Und plötzlich erkennen sie den Reichtum dieser ganz besonderen Zeit.

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Für Karin, meine Frau,

und meine Freunde und Wegbegleiter, die mir Wind

unter den Flügeln sind und waren.

Inhalt

Ein Wort vorab

Die Heimkehr des Wolfgang L.

Ein Gruß aus dem Jenseits

Ferien in den Bergen

Die Wienfahrt

Eine Reise nach Brandenburg

Projekt Liebe 2.0

Ein Wort vorab

Die meisten von uns tun sich schwer, das Älterwerden anzunehmen oder gar zu mögen. Es ist wie ein ungeschicktes Kind, mit dem keiner spielen will. Wie sollte es auch anders sein. Es schneidet uns ab von dem, was gewesen ist, was wir kannten und was in der Rückschau so wunderbar war, und es macht uns Angst vor dem Unbekannten, dem, was auf uns zukommt.

Älter werden ist Veränderung, und Veränderung mögen wir nicht. Obwohl wir wissen, dass sie das einzig Beständige in unserem Leben ist.

Als wir noch Kinder waren, war das anders. Da hieß Älterwerden mehr dürfen, mehr Teilhabe, Wachstum. Wir konnten es nicht erwarten, die Kindheit endlich hinter uns zu lassen und älter, erwachsen zu werden. Nicht müssen, endlich frei sein von der engen Welt und den Ge- und Verboten unserer Eltern und Erzieher. Es war die Sehnsucht des Bergsteigers nach dem Gipfel.

Jetzt, da der Gipfel knapp hinter uns liegt, dreht die Perspektive. Die Endlichkeit unseres Daseins wird uns immer wieder vor Augen geführt. Plötzlich bedeutet älter werden nicht mehr Aufstieg, sondern Abstieg. Weniger werden, schwächer, vergehen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen da runter, weil da unten unser Ursprung und unser Ende liegen.

Weil wir das Ziel unseres Abstiegs nicht mögen, mögen wir auch den Weg dahin nicht. Achtlos lassen wir die Geschenke, die entlang des Weges auf uns warten, links liegen und schreiten mürrisch und klagend voran. Obwohl wir wissen, dass wir gar nicht anders können. Dass, wenn wir nicht schreiten, wir halt geschritten werden. Weil das Leben gar keine Zeit hat, mit uns zu diskutieren. Es tut, was es tun muss. Es geht seinen Gang.

Und so verplempern wir unsere Zeit, indem wir laut lamentierend den Umstand beklagen, dass jetzt, im Herbst, nicht mehr Frühling ist, und laufen Gefahr, in ein paar Jahren plötzlich im Winter zu landen, ohne den Herbst je erlebt zu haben.

Die Geschichten der Männer in diesem Buch legen nahe, dass wir dem Älterwerden unrecht tun. Wir verurteilen es und nehmen ihm vorauseilend die Chance, uns von den Vorteilen späterer Tage zu überzeugen.

Würden wir akzeptieren, was ohnehin nicht vermeidbar ist und uns einlassen auf den Fluss des Lebens, würden wir uns viel Frust ersparen und den Weg für Lichtblicke freimachen, die sehnsüchtig darauf warten, von uns entdeckt zu werden.

Dass es irgendwann trotzdem aus ist, gehört zum Leben. Aber stellen Sie sich vor, Sie lägen da, im Sterben begriffen, starrten zur Decke und müssten erkennen, dass Sie die Schönheit des Herbstes nicht genossen haben.

Sie würden es sich nie verzeihen.

Die meisten Namen in diesem Buch sind

frei erfunden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden

Personen können nicht ausgeschlossen werden.

Die Heimkehr des Wolfgang L.

Als Korbinian Hauerwaas im April vorigen Jahres von dem Lokalreporter einer Münchener Zeitung gefragt wurde, wie er sich denn fühle, jetzt, nach fünfzehn Jahren in Haft, wieder in Freiheit zu gelangen, und was er denn als erstes tun würde nach seiner Entlassung, waren seine Antworten klar und auf den Punkt.

Er hätte, so meinte er auf die erste Frage, jetzt mit zweiundsechzig Jahren eigentlich keine Veränderung mehr gebraucht und gut damit leben können, wenn er bis an sein Lebensende in der Anstalt hätte bleiben müssen. Draußen hätte sich seit seiner Verurteilung ja viel verändert und vor allem beschleunigt, und ob er da überhaupt noch mitkommen würde, sei die Frage. Kurzum: Er wäre lieber geblieben, wo er war.

„Aber“, so fügte er an, „wenn es denn sein soll, dass ich in Freiheit komme, werde ich das sicher eine Zeit lang überleben.“

Immerhin war er ja vor dem „Unglück“, wie er es nannte, ein unbescholtener, erfolgreicher Versicherungsvertreter und Anlageberater und hatte Erfahrung im Umgang mit klassischen Geldanlagen wie Aktien, Anleihen und den unterschiedlichen Sparformen; ein Wissen, das vor allem seine betagte Klientel gerne abgriff, wenn es darum ging, ihr mühsam Erspartes für das Altenteil zu retten.

Im Gefängnis hatte er die dramatischen Entwicklungen an den Finanzmärkten laufend im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen verfolgt, und in seinem Kopf irrlichterte schon die eine oder andere Idee, wie er sich in seinem alten Metier wieder nützlich machen könne. Er hatte extra zu diesem Zweck auch einen Computerkurs belegt und sich mit den neuesten Tradingtechniken vertraut gemacht.

Auch einige seiner Mitinsassen hatten Dienstleistungsbedarf für den Fall angemeldet, dass Hauerwaas wieder in die Freiheit gelange und sicherten ihm zu, ihn angemessen für seine Dienste zu entlohnen. Der „Banker“, wie sie ihn hier nannten, hatte also berechtigte Hoffnung auf einen Neuanfang ohne finanzielle Not.

Dass er seine Frau und seine Schwiegermutter in jener denkwürdigen Nacht im Dezember 1990, nach einer Weihnachtsfeier seiner Firma, im Suff erschlagen und dann im Keller seines Bauernhauses verscharrt habe, hat Hauerwaas von Anfang an zugegeben. Auch dass er die Polizei mit einer fingierten Vermisstenanzeige an der Nase herumgeführt hätte, gab er zu. Was er aber bis zuletzt bestritt, war, die Tat mit Vorsatz begangen zu haben. Also fällte das Gericht sein hartes Urteil auf der Basis einer Reihe von Indizien, die sich unisono gegen ihn richteten.

Aber all das sei verschüttete Milch, sagte er unwirsch zu dem Reporter, der in dieser Wunde noch einmal rühren wollte, und bedeutete ihm, dass er kein Interesse habe, die Vergangenheit aufzuwärmen.

Punktum.

Die Frage, was er denn als Erstes nach der Entlassung zu unternehmen gedenke, beantwortete er dagegen gerne und mit einem aufgeregten Vibrato in der Stimme.

„Als erstes,“ sagte er, „werde ich meine Schwester aufsuchen. Die hat sich bereit erklärt, mich vorübergehend bei sich aufzunehmen. Dann werde ich ein Bad nehmen, mich rasieren, meine Haare waschen und meine Kombination mit dem blauen Blazer anziehen. Dann gehe ich in das Steakhouse beim Alten Peter und bestelle mir das größte Ribeye-Steak, das sie im Angebot haben. Dazu trinke ich eine Halbe Augustiner Edelstoff und zur Krönung ein Viertel Rioja.

Und dann“, jetzt blitzten seine Augen kurz auf, „dann gehe ich in den „Eierkratzer“, den Puff am Euro Industriepark, und schaue, ob sich ein einfühlsames Mädchen findet, das bereit ist, meiner schwindenden Erinnerung an diese Art von Glück behutsam auf die Sprünge zu helfen.“

So ungefähr stand es dann auch in der Meldung, die der „Münchener Nachtbote“ in großer Aufmachung zwei Tage darauf unter dem Titel „Fehlurteil? Ein neues Leben nach fünfzehn Jahren Haft.“ als Aufmacher brachte. Nur die Namen der Etablissements wurden nicht genannt, und aus dem Puffbesuch wurde der Besuch eines Nachtclubs.

Wolfgang Liebeskind, scheidender Marketing- und Vertriebschef eines Münchener Softwarekonzerns, kam zur Originalfassung dieser Geschichte, weil Peter Grasmüller, der Verfasser des Zeitungsartikels, ein alter Weggefährte aus Münchener Studienzeiten war und dieser es für eine gute Idee hielt, diese Begebenheit im Rahmen seiner Laudatio für Liebeskind zum Besten zu geben. Diese wiederum war Teil einer pompösen Verabschiedungsfeier, mit der sich die Firma bei ihrem frischgebackenen Rentner für seinen herausragenden Beitrag in den letzten dreißig Jahren bedankte.

„Ich wünsche Dir,“ sagte Grasmüller am Ende seiner Rede „dass Du, lieber Wolfgang, nach all den Jahren im Gefängnis Deiner Arbeitswelt, mit ähnlich klaren Vorstellungen und angstfrei vor die Türe treten und Deine neue Freiheit in vollen Zügen genießen kannst!“

Lautstarker Applaus bestätigte, dass die Geschichte beim Publikum gut angekommen war.

Liebeskind stand auf, gab Grasmüller die Hand und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann trat er ans Rednerpult, strich sein verschwitztes, langes Haar aus der hohen Stirn, rückte seine Brille zurecht und merkte als Erstes an, dass er die Metapher, mit der Grasmüller gearbeitet hatte, nicht wirklich schlüssig fände.

„Zum einen“, sagte er, „habe ich meine Berufswelt nie als Gefängnis, sondern vielmehr als eine große Spielwiese betrachtet, auf der ich mich nach Kräften ausleben und meine Krallen schärfen konnte, zum anderen war für mich meine Arbeit nicht weniger als mein Leben.“

In der Tat stammte die Mehrzahl seiner Sozialkontakte aus dieser Welt, und auch die Themen, die ihn nach Dienstschluss interessierten, waren fast ausschließlich geschäftlicher oder wirtschaftlicher Natur.

Was ihn aber schon mit Hauerwaas, dem entlassenen Sträfling, in ein Boot setzte, war die Tatsache, dass ihm die Welt außerhalb seiner Geschäftsumgebung in all den Jahren fremd geworden war. Seine Angst vor dem unbekannten Umfeld, das zuhause auf ihn wartete, war weit größer als die Vorfreude, die er beim Gedanken an die Freiheit nach dem Arbeitsleben empfand.

Die meisten Sorgen bereitete ihm die Tatsache, dass Sabine, seine Frau, seit einem Jahr in Rente und demzufolge, trotz einer Nebenbeschäftigung, öfter zuhause war als früher. Sie würden also zwangsweise sehr viel Zeit miteinander verbringen müssen, und ihm stand so gut wie keine Fluchtmöglichkeit offen. Er war ihre tägliche Nähe einfach nicht gewohnt und malte sich das Nebeneinander in den dunkelsten Farben aus.

Einladungen von und bei Sabines Freunden, die Teilnahme an Vernissagen, Konzerten und Theaterbesuchen, sowie die wöchentlich im Haus stattfindenden Bridgerunden der Damen standen vor seinem geistigen Auge wie riesige schwarze Gespenster und glotzten ihn an.

Was genau würde wohl seine Rolle sein in diesem Leben? Worüber könnte er sich definieren in diesen Schlangengruben von selbsternannten Kunstexperten, Musikkennern und Golflangweilern? Was würde er antworten, wenn sie ihn fragten, was ihn antreibt, wofür er brennt? Wie würde er reagieren, wenn Sabine ihm den Mülleimer in die Hand drücken und ihn bitten würde, ihn eben mal nach draußen zu bringen? Würde er ein rechtloser Nützling, dem die, die noch am aktiven Leben teilnahmen, beliebige Aufgaben stellen und deren Erledigung erwarten durften? Würde er seinen Enkel hüten und mit ihm spielen müssen?

Diese und andere Fragen raubten ihm schon seit Tagen den Schlaf, und er hatte so gut wie keine Antworten, geschweige denn einen Plan. Ihm war auch bewusst, dass die alte Welt für einen wie ihn keine Rückkehrmöglichkeiten bot.

Wie oft hatte er erlebt, dass ein eben pensionierter Kollege versucht hatte, ihn für eine private Aktivität zu gewinnen und er dies für unergiebig erachtet hatte, weil dieser Mann ja keine Rolle mehr spielte in seinem Leben, weil er eine „lame duck“, eine lahme Ente war, und jetzt war er selber eine.

Also entschloss er sich an diesem Abend, seine Abschiedsfeier künstlich bis zum frühen Morgen auszudehnen, um so lange wie möglich in seiner alten Welt verbleiben zu können.

›Das Morgen wird für sich selber sorgen‹, dachte er.

Erst als Ernst, der dicke Hausmeister, mit dem er kurz zuvor noch Brüderschaft getrunken hatte, schwer angeschlagen und zusammengesunken vor der ramponierten Musikbox auf dem Steinfußboden hockte und das Lied: „Ich hatt ´ einen Kameraden“ intonierte, wusste er, dass der Höhepunkt überschritten und es Zeit war, der Realität ins Auge zu blicken.

Er trank das allerletzte Glas Glenmorangie auf Firmenkosten und schlief auf der Stelle ein. Die Putzfrau, die ihn kurz vor sieben fand, schwor ihm bei allem, was ihr heilig war, niemandem von seinem Anblick und seinem Zustand zu erzählen.

›Was für ein Jammer, dass so ein Prachtexemplar von einem Mannsbild schon jetzt zum alten Eisen geworfen wird‹, dachte sie bei sich. ›Den hätte ich noch gut gebrauchen können.‹

Dann richtete sie sich mit einem Seufzer auf und bestellte ein Taxi.

Sie war der letzte vertraute Mensch, den er in seiner alten Welt zurückgelassen hatte.

„Die Feier muss ja ein Riesenerfolg gewesen sein“, meinte Sabine, als er gegen acht Uhr morgens, zerknittert und müde, die große Wohnküche betrat, wo sie gemeinsam mit Benjamin, ihrem Sohn, beim Frühstück saß.

Sein Anzug schaute aus, als ob er darin geschlafen hätte, seine Krawatte baumelte lose an seinem Hals, und auf dem Revers seines Jacketts hatte sich ein Fleck breitgemacht, der aussah wie ein Orden, den man dem frisch gebackenen Jungrentner angeheftet hatte. Die Ringe unter den Augen und das zerzauste Haar sprachen Bände.

„Eine ausgiebige Dusche wird Dir jetzt sicher guttun“, meinte Benjamin und grinste. „Das lässt Dich und die Welt wieder in einem ganz neuen Licht erscheinen. Man kann Deine Erschöpfung riechen.“

Liebeskind hatte keine Kraft, auf die ironische Bemerkung seines Sohnes zu reagieren und verschwand wortlos im Bad. Er brauchte jetzt zuallererst etwas gegen seine rasenden Kopfschmerzen. Und außerdem war er hundemüde.

Als er nach seiner Wiederherstellung in der Küche erschien, waren seine Frau und sein Sohn schon aus dem Haus. Marie, seine Tochter, lebte schon seit Jahren mit ihrer kleinen Familie in den eigenen vier Wänden im Süden von München.

Auf dem Tisch lag die Tageszeitung und eine Notiz, die besagte, dass er sein Frühstück im Kühlschrank fände und dass seine Frau mit ihren Golfdamen zu Besuch bei einem Partnerclub in der Nähe von Nürnberg wäre. Rückkehr voraussichtlich am frühen Abend. Wann genau, stand da nicht.

Liebeskind war froh, dass er den Tag frei gestalten konnte und frühstückte ausgiebig. Nachdem er die Zeitung gelesen hatte, räumte er das Frühstücksgeschirr ab und stellte sich in die offene Terrassentür. Er streckte sich mit ausgebreiteten Armen und begrüßte den nicht mehr ganz jungen Tag. Es war kurz nach zehn. Keine Wolke stand am Himmel, und es wehte eine angenehme Brise.

›So also fühlt sich Freiheit an‹, dachte Liebeskind. ›Gar nicht übel.‹

Dann ging er in sein Arbeitszimmer, um den E-Maileingang zu überprüfen. Nachdem er das Programm hochgefahren hatte, musste er feststellen, dass seine Mailadresse in der Firma nicht mehr funktionierte. Irritiert griff er zum Telefon und rief seine Sekretärin an.

„Irgendetwas stimmt mit meiner E-Mail nicht“, sagte er und ignorierte Iris´ Frage, ob er denn gut nach Hause gekommen wäre.

„Ich werde mich gleich darum kümmern“, sagte sie.

Eine halbe Stunde später wartete Liebeskind immer noch auf eine Rückmeldung. Als er nachhakte, entschuldigte Iris sich halbherzig:

„Dr. Ammon brauchte mich kurzfristig als Protokollantin in einer Sitzung. Aber jetzt kümmere ich mich gleich um Ihr Anliegen.“

Liebeskind war pikiert. Ammon war vor Jahren als sein Assistent in die Firma gekommen und hatte sich dann im Darm des Finanzchefs hochgearbeitet. Nie hätte der früher gewagt, seine Sekretärin zu blockieren. Schon gar nicht, wenn diese mit einem Auftrag von ihm beschäftigt war.

Unwirsch klappte er seinen Laptop zu.

Fünf Minuten später war Franz Huber, der Leiter der IT-Abteilung am Telefon und erklärte ihm, dass seine Mailadresse mit dem Datum seines Ausscheidens gesperrt worden sei; ein sicherheitstechnisches Prozedere, das automatisch greift, wenn ein Mitarbeiter das Unternehmen verlässt.

„Ich bringe das für Sie in Ordnung“, sagte er noch. „Spätestens morgen früh haben Sie eine private Mailadresse. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen einen Mitarbeiter vorbei, der Ihr System auf den neuesten Stand bringt.“

„Nicht nötig“, sagte Liebeskind. „Das kriege ich gerade noch selber hin. Danke für Ihre Mühe.“

Fünf Minuten später rief Ammon an und entschuldigte sich für die Inbeschlagnahme von Liebeskinds ehemaliger Sekretärin.

„Mir war nicht bewusst, dass Sie noch unter den Lebenden weilen“, flachste er und fügte hinzu, dass er die IT-Abteilung angewiesen hätte, die Sache unverzüglich in Ordnung zu bringen.

„Wir wissen doch, was wir unseren Rentnern zu verdanken haben“, ätzte er noch.

Das war zuviel für Liebeskind. Ohne weiteren Kommentar legte er auf.

„Du kleine, miese Ratte“, zischte er und machte so seinem Ärger Luft. „Ich werde Dir noch zeigen, wo der Papa den Presssack holt.“

Dann machte er sich auf den Weg in die Stadt, um eine neue SIM-Karte für sein iPhone zu erwerben. Seine alte Karte hatte er schon am Vortag in der Personalabteilung abgegeben.

Der Vorgang gestaltete sich schwieriger als erwartet. Ein blondierter, gepiercter Knabe ergoss sein gesamtes Tarif-Knowhow ungefiltert über Liebeskind, ohne dass dieser auch nur annähernd verstanden hätte, was für ihn Sinn machen könnte. Nach einer halben Stunde verließ er entnervt, aber stolz und im Besitz einer neuen Karte den Laden. Den Vertrag konnte er später noch prüfen.

Dieser Erfolg musste gefeiert werden. Liebeskind nahm Kurs auf sein Lieblingswirtshaus in der Dürnbräugasse und setzte sich in den Biergarten im Hof. Außer ihm waren nur zwei alte Damen anwesend, die Weißbier tranken und stilsicher an ihren Weißwürsten zuzelten.

Als die Bedienung auftauchte, bestellte er ein Helles und das Bierbratl von der Tageskarte. Es war lange her, dass er allein zu Mittag gegessen hatte. Sonst waren meist Mitarbeiter oder irgendwelche Kunden dabei. Aber sie gingen ihm nicht ab. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und das Kopfweh machte ihm wieder zu schaffen.

Nach dem Essen war ihm nach einem Kaffee und einer Schmalznudel. Das Café Frischhut in der Prälat-Zistl-Straße war wie immer brechend voll, aber er konnte noch einen Restplatz bei einer angeheiterten Runde junger Frauen ergattern, deren eine am nächsten Tag getraut werden sollte. Er gratulierte der designierten Braut, einem höchstens zwanzigjährigen, hübschen Ding mit künstlichen Zöpfen und verwischtem Augen-Makeup, spendierte einen Zehner für das junge Glück und bekam dafür einen schmalzgetränkten Kuss mitten auf die Stirn.

Etwas verwirrt schlenderte er über den Viktualienmarkt und kaufte Garnelen, frischen Knoblauch, ein Baguette und zwei Flaschen Sancerre. Damit wollte er am Abend seine Familie überraschen. Er war ein Meister in der Zubereitung dieses Gerichts. Allerdings war es auch das Einzige, wozu er als Koch imstande war.

Es war jetzt kurz vor drei. Wenn er sich beeilte, gingen sich noch ein paar Schwünge auf der Drivingrange in Grasbrunn aus. Das Abendessen hatte er für zwanzig Uhr eingeplant. Vorher waren Sabine und Benjamin sicher nicht zu Hause. Er hatte also ausreichend Zeit.

Als er kurz vor sieben zuhause ankam, blinkte der Anrufbeantworter. Sabine hatte eine Nachricht hinterlassen, wonach sie erst gegen Mitternacht zurück sein werde. Er solle mit dem Essen nicht auf sie warten. Sein Sohn tauchte kurz vor acht auf und verabschiedete sich gleich wieder. Er hatte eine Verabredung.

Liebeskind war frustriert. Jetzt war er einmal zuhause und keiner scherte sich darum. Er hatte sich den Abend mit seiner Familie anders vorgestellt. Verschnupft packte er die Vorräte für das Abendessen in die Tiefkühltruhe und machte sich auf den Weg in den Biergarten am Kleinhesseloher See.

Er hatte Hunger.

Als er vor der überbordenden Theke an der Essensausgabe stand, lachte ihn nichts an. Weder der feine Geruch der gebratenen Fische noch der Anblick der goldbraunen Hühner, die sich kopflos und träge am Spieß drehten, konnten heute seine Stimmung aufhellen. Uninspiriert bediente er sich am kalten Buffet und steuerte mit seinem Tablett vorsichtigen Schrittes auf einen freien Tisch am Wasser zu. Mürrisch saß er vor seiner Maß Bier und einem Obatztn und kaute an seiner Breze.

„Ist hier noch frei?“, tönte es plötzlich von hinten, und Liebeskind nickte, ohne sich umzudrehen. Ein junges Paar, offenbar Auswärtige, setzte sich mit einem freundlichen Lächeln an den Tisch. Auf ihrem Tablett waren Nürnberger Bratwürste mit einer Portion Sauerkraut und ein Teller mit Wurstsalat. Eine Riesenbreze diente als Zuspeise.

„Guten Appetit!“, sagten die beiden und hielten ihm ihre Maßkrüge entgegen, um mit ihm anzustoßen.

„Auch so“, reagierte Liebeskind, machte aber keine Anstalten, die Unterhaltung zu vertiefen. Er hatte jetzt keine Lust auf ein Gespräch. Er wollte leiden.