Männerbande - Sylvia Pranga - E-Book

Männerbande E-Book

Sylvia Pranga

4,9

Beschreibung

Seit der College-Zeit ist John in Calum verliebt. Weil Calum sowohl verheiratet als auch sein bester Freund ist, hat John nie mit ihm über seine Gefühle gesprochen. Nach Jahren voller Einsamkeit in der selbst gewählten Opferrolle beschließt John, endlich aktiv zu werden, und seine Enthaltsamkeit aufzugeben. Doch nichts kann Calum weder aus Johns Gedanken noch aus seinem Leben, geschweige denn seinem Herzen drängen. Im Gegenteil. John ist gezwungen, sich mehr und mehr einer Liebe zu öffnen, für die er keine Chance sieht, und ahnt nicht, dass er nicht der Einzige ist, der Geheimnisse hat.

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Männerbande

Sylvia Pranga

Männerbande

Sylvia Pranga

2015 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864434761

ISBN eBook-PDF: 9783864434778

ISBN eBook-epub: 9783864434785

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Die Autorin

Kapitel 1

Fünfundzwanzig Jahre. So lange kämpfte John nun schon. Immer häufiger stellte er sich die Frage, warum er nicht längst fortgezogen war, um Seelenfrieden zu finden. Doch er konnte einfach nicht. Er konnte es nicht, weil er wusste, dass er an einem anderen Ort nur noch unglücklicher sein würde. Die Option, glücklich zu sein, gab es nicht, nur die, weniger unglücklich zu sein.

Um wenigstens das zu erreichen, musste etwas geschehen, und zwar bald.

Sein Blick schweifte vom Balkon über seinen leicht verwilderten Garten und blieb am Nachbargrundstück hängen. Ihm bot sich ein für die Kleinstadt Weybridge typisches Bild: Hohe Bäume und Sträucher verbargen beinahe das weißgetünchte Haus mit seinen dunkelgrünen Fensterläden und den gepflegten Blumenrabatten. Eine plötzliche Brise trug Rosenduft zu ihm und löste das Haar von seiner schweißnassen Stirn. Sie wirbelte auch ein paar Fotos auf dem Tisch vor ihm durcheinander. Rasch griff John danach. Eines von ihnen zeigte eine vierköpfige Familie, gekleidet im Stil der Achtzigerjahre. Ein breit grinsendes Mädchen mit Zahnlücken, eine warmherzig lächelnde Frau, ihr grimmiger Ehemann und ein schlaksiger, ernster Teenager. John starrte das Foto einige Sekunden lang an. Die Augen des Mannes schienen ihn über die Zeit hinweg zu verdammen.

Sein Blick fiel auf das Bild daneben, das ihn und seinen besten Freund zu Beginn ihrer Collegezeit zeigte. Ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf Johns Gesicht. Auch dieses Foto weckte Erinnerungen – viele schöne, einige lustige und das beständige Gefühl von Melancholie, das ihn seitdem begleitete. Es war eine lehrreiche Zeit gewesen, mit Erlebnissen, die ihn bis heute prägten und aus deren Griff er sich niemals ganz lösen konnte.

Gereizt schob John alle Bilder unter einen Stapel Reiseführer. Doch die düsteren Gedanken ließen sich nicht so leicht wegschieben. Auf der Suche nach einem Buch war er zufällig auf die alten Fotos gestoßen. Die Jahreszahl auf ihrer Rückseite hatte es ihm erschreckend bewusst gemacht. Ein Vierteljahrhundert seines Lebens hatte er unter seelischen Qualen verbracht. Das ließ wenig Hoffnung auf Besserung. Wenn er jetzt gehen würde, wäre es eine Flucht vor seinen eigenen Gefühlen. Vermutlich würde es ihm daher keine Erleichterung verschaffen. Trotzdem dachte er in letzter Zeit immer wieder darüber nach, sein Haus in Weybridge zu verkaufen und nach Kalifornien auszuwandern. Seine Zeit in San Francisco hatte er genossen.

In das Stillleben des Nachbargrundstücks kam Bewegung. John hob den Kopf, um besser über die Balkonbrüstung sehen zu können. Eine blonde Frau kam den gepflasterten Weg zum Haus herauf. Ihr weißes Kleid leuchtete zwischen dem üppigen Grün des englischen Sommers. Das Klappern ihrer Absätze zeugte von ihrer Eile.

John lehnte sich seufzend auf seinem Stuhl zurück. Er erwartete das Unvermeidliche. Die milde Luft wurde von einer schrillen Stimme durchschnitten.

„Andy, Reuben, holt die Sachen aus dem Auto. Seid mit den Gläsern vorsichtig. Ist euer Vater schon zu Hause?“

Mürrisches Murmeln aus dem Inneren des Hauses.

„Nein, nicht gleich, sondern sofort.“

Zwei schlaksige Teenager schlurften widerwillig aus dem Haus und zum Auto. Erheitert beobachtete John, wie die beiden Jungen sich gegenseitig die schweren Einkäufe zuschoben, bis eine Kiste zu Boden fiel. Es klirrte laut. Das waren vermutlich die Gläser, mit denen sie vorsichtig hätten sein sollen. Die Teenager starrten sich einen Moment erschrocken an. Dann begannen sie mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Bevor dies in einer Rangelei enden konnte, stürzte ihre Mutter aus dem Haus und brachte mit ihrem Geschrei ihre Söhne zum Schweigen.

John schüttelte amüsiert den Kopf und nahm einen Schluck Kaffee. Auf seinem Balkon fühlte er sich manchmal wie in einer Theaterloge. Der Eintritt war kostenlos, und jeden Tag wurde ein neues Stück aufgeführt. Jetzt hatte seine Lieblingsfigur, die ihn ein wenig an Algernon aus ‚The Importance of Being Earnest‘ erinnerte, ihren Auftritt. Calum gesellte sich zu seiner Familie. Unbeeindruckt von der Verärgerung seiner Frau sprach er in so ruhigem Ton mit ihr und seinen Söhnen, dass John kein Wort verstehen konnte.

Angelockt durch Calums Stimme stieß nun auch der Golden Retriever Sammy zu seiner Familie. Die Aufregung und das Geschrei schienen ihm gut zu gefallen. Er rannte bellend um die vier Menschen herum. Als er damit keine Aufmerksamkeit erregen konnte, sprang er an Diane hoch. Ihr Kreischen musste in der ganzen Straße zu hören sein. Sie wischte über die dunklen Flecke auf ihrem Kleid und verteilte den Schmutz damit gleichmäßig über den Rock. Die Jungen lachten, woraufhin Diane ihr Schicksal beklagend ins Haus stürmte. Calum schien die Augen gen Himmel zu verdrehen und entdeckte dabei John. Er winkte und John grüßte zurück.

Nach diesem kurzen Intermezzo wandte sich John wieder dem Bücher- und Papierstapel auf dem Tisch zu. Das meiste war Arbeit für den Verlag. Doch es befanden sich auch einige Reiseführer und Sachbücher über die nordamerikanische Westküste und im Besonderen San Francisco darunter. Allein ihr Anblick löste gemischte Gefühle in John aus. Wollte er das wirklich? Diese Frage beschäftigte ihn schon einige Jahre, seit Victor ihn verlassen hatte. Seine innere Stimme flüsterte wieder einmal, dass es nur eine Flucht und keine Lösung sein würde. Als er sie um alternative Vorschläge bat, schwieg sie wie üblich.

John seufzte und schlug eines der Sachbücher auf. Ein Hochglanzfoto der Golden Gate Bridge fesselte ihn sofort. Es weckte Erinnerungen an seine Zeit in San Francisco. Im Rückblick erschien ihm alles einfach und angenehm. Aber war es wirklich so gewesen? Er hatte Victor kennengelernt, was eindeutig für die Stadt sprach. San Francisco war schön und eine Schwulenhochburg, aber das durch die Bucht bedingte feuchte Klima löste bei ihm häufig Migräne aus.

Gereizt schob er die Bücher beiseite. Er ließ seinen Blick wiederum über seinen Garten wandern und runzelte die Stirn, als er Sammy entdeckte, der schwanzwedelnd ein Loch in den gepflegten Rasen grub. Von der Nachbarsfamilie war niemand mehr zu sehen. John zuckte zusammen, als im Erdgeschoss eine Tür knallte. Das konnte nur bedeuten, dass Calum gleich hier sein würde. Eilig klappte er das Notebook zu und schob die Bücher unter ein paar Papiere. Schon waren Schritte auf der Treppe zu hören. Gleich darauf betrat Calum den Balkon. Seine Bürokleidung hatte er bereits gegen alte Jeans und ein T-Shirt getauscht. Er warf sich in den zweiten Stuhl und begutachtete die Getränkeauswahl, die der Tisch zu bieten hatte. Wasser und Eistee verlockten ihn nicht.

„Wo ist dein Single Malt?“

„Es ist fünf Uhr.“

Calums Brauen wanderten nach oben.

„Schläft er noch?“

„Ja, mindestens bis acht.“

Calum grinste und bediente sich an den Erdbeeren auf dem Tisch.

„Hat Diane sich beruhigt?“

„Wieso? Oh, ihr Kleid. Sie hat noch ungefähr hundertzwanzigandere, es sollte also keine Tragödie sein. Wie hast du deinen freien Tag verbracht?“

„Das fragst du mich jeden Mittwoch. Ich habe gefaulenzt.“

„Kannst du die Antwort nicht variieren? Es wird sonst langweilig.“

Calum griff nach einer weiteren Erdbeere. Dabei fiel sein Blick auf die Papiere, die John über den verräterischen Büchern drapiert hatte. Er runzelte die Stirn.

„Du hast einen Makler engagiert? Willst du eine zweite Immobilie kaufen?“

John verfluchte sich innerlich für seine Unachtsamkeit, während er nach einer unverfänglichen Antwort suchte.

„Ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht wäre eine kleine Wohnung in London praktisch.“

„Tatsächlich? Du arbeitest doch nur drei Tage in der Woche. Lohnt sich das?“

„Darum sagte ich ja, dass ich mir nicht sicher bin.“

„Ich finde die Idee gut, wenn ich dort ab und zu übernachten darf.“

„Das wäre kein Problem. Aber ich hätte gedacht, dass du die Abende lieber mit deiner Familie verbringst.“

Calum verzog das Gesicht, erwiderte aber nichts. In John verdichtete sich seit Längerem der Verdacht, dass es in Calums Ehe ernsthafte Probleme gab. Er wollte ihn jedoch nicht zu einem Gespräch darüber drängen und wechselte daher das Thema.

„Wie wäre es mit einer Partie Schach?“

Calum seufzte.

„Heute Abend leider nicht. Diane hat ein paar Leute eingeladen, um die nächste Wohltätigkeitsveranstaltung zu planen. Ich bin dabei das schmückende Beiwerk, das nicht fehlen darf.“

John grinste und beobachtete, wie sein Freund eine Schachtel Zigaretten aus einer in der Ecke deponierten Plastikkiste holte. Diane hasste, dass ihr Mann rauchte. Selbst Calum bezeichnete es als schlechte Angewohnheit und rauchte trotzdem weiterhin. Allerdings war es ihm in seinem Haus und sogar auf seinem Grundstück strengstens verboten. Daher gab es mehrere Zigarettenverstecke bei John.

„Ist auch noch etwas für mich in unserer Sündenbox?“

Mit der glühenden Zigarette zwischen den Lippen bückte sich Calum ein weiteres Mal und zeigte ihm einen Schokoriegel. Dieser dunklen Versuchung konnte John nur selten widerstehen. Während er den Geschmack von Nüssen und Karamell genoss, beobachtete er seinen Freund möglichst unauffällig. Glücklich sah Calum nicht gerade aus. Er meinte, Zeichen von Anspannung um den Mund und in den blauen Augen zu erkennen. Es war nun die Frage, ob ihm der Gedanke an Dianes Besucher die Laune verdarb oder ob es ernsthafte Probleme waren.

Ein Rauschen lenkte Calums Aufmerksamkeit Richtung Himmel. John folgte seinem Blick. Ein halbes Dutzend Heißluftballons schwebten vor dem langsam dunkler werdenden Blau.

„Wir sollten einmal mitfliegen. Es ist bestimmt fantastisch.“

John erschauderte bei diesem Vorschlag.

„Ich bin nicht schwindelfrei. Außerdem können diese Dinger abstürzen.“

„Sehr unwahrscheinlich. Die Aussicht muss grandios sein.“

„Wenn dir nicht jede Woche eine neue Art einfällt, wie du dich umbringen könntest, bist du nicht zufrieden.“

„Und du bist so abenteuerlustig wie Tante Polly.“

„Wer braucht in meinem Alter noch Abenteuer?“

„Ich. Sonst wäre das Leben langweilig.“

Calum lehnte sich waghalsig weit über die Balkonbrüstung, um den Ballons nachzusehen. Es kostete John viel Beherrschung, nicht aufzuspringen und seinen Freund beim Gürtel zu packen. In diesem Moment schrie Diane nach ihrem Mann. Calum erschrak und verlor einen Moment lang das Gleichgewicht. Sein Griff nach dem Geländer verhinderte eine Katastrophe. Das verschaffte John die Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn man fast einen Herzschlag bekam. Er sprang auf und stellte sich neben seinen Freund, um weitere Gefahren abzuwenden.

„Oh nein, ein Brandloch.“

„Das ist jetzt deine größte Sorge? Du wärst beinahe vom Balkon gefallen.“

John atmete immer noch schwer vor Schreck, sein Puls raste. Seine Fantasie beschwor ein Bild von Calum herauf, der mit zerschmetterten Knochen im Garten lag. Er zitterte, während Calum die Ruhe selbst zu sein schien.

„Aber eben nur beinahe. Das Brandloch ist tatsächlich in meinem T-Shirt. So kann ich nicht nach Hause gehen.“

John atmete tief durch, bevor er antwortete.

„Diane weiß doch, dass du rauchst.“

„Ja, aber wir tun beide so, als wäre das nicht der Fall.“

John verdrehte die Augen. Er fragte sich, ob diese seltsamen Verhaltensweisen in einer Ehe normal waren. Calum war bereits auf dem Weg in sein Schlafzimmer, und John folgte ihm. Sein Puls beruhigte sich langsam, da Calum nun nicht mehr auf dem Balkon stand.

Als er in den Raum kam, stand Calum vor seinem geöffneten Kleiderschrank und wühlte in den Shirts. Dabei fiel ihm eine braune Locke in die Stirn und seine Zungenspitze schaute zwischen den Lippen hervor. Diese Angewohnheit hatte John bereits bei ihrem ersten Treffen amüsiert.

„Kannst du nicht das Oberste nehmen?“

„Nein, es soll aussehen, als wäre es meins.“

„Merkt Diane nicht sowieso, wenn du mit einem anderen Oberteil nach Hause kommst?“

„Nein, so genau sieht sie mich nicht an.“

Calum zog ein weinrotes T-Shirt über den Kopf, das ein wenig zu groß war. Im Gegensatz zu John war ihm ein Bauchansatz bisher erspart geblieben. Diane rief ein weiteres Mal nach ihrem Mann. Calum verdrehte die Augen und verließ das Zimmer. Einige Sekunden später streckte er nochmals den Kopf herein.

„Wenn du einen lauten Schrei hörst, ruf nicht die Polizei.“

Das schelmische Funkeln in den blauen Augen brachte John zum Schmunzeln.

„Was hast du gemacht?“

„Nichts. Aber ich werde mich weigern, bei der Wärme einen Anzug und Krawatte zu tragen.“

„Verständlich.“

Andererseits musste John sich eingestehen, dass er an Dianes Stelle auch darauf bestehen würde. Calum sah im Anzug umwerfend aus.

„Nicht für Diane. Diese Garderobe ist auch bei einer kleinen Dinnerparty unerlässlich.“

Den letzten Satz hatte Calum mit Fistelstimme und affektierter Miene gesprochen. Er sah aus wie eine seiner Karikaturen. John schüttelte grinsend den Kopf, als Calum die Treppe hinunterpolterte.

Dann ließ er sich auf sein Bett zurückfallen. Einige Mitglieder seiner wertvollen Teddysammlung fielen dadurch auf ihn, als wollten sie ihn trösten. John stellte sich die Frage, ob er diesen Abend lieber in der Haut seines Freundes oder in seiner eigenen verbringen würde. Sicherlich klagte Calum oft über Dianes Verhalten und in letzter Zeit schienen sie mehr Differenzen zu haben als gewohnt. Doch John erinnerte sich gut daran, wie sich die beiden kennengelernt hatten, an ihre Hochzeit und wie sie gemeinsam die finanziell schwierige Zeit überstanden hatten, als die Jungen noch klein waren und Calum wenig verdiente. Sie hatten ein doppeltes Bollwerk gegen die Welt gebildet und gemeinsam auf vieles verzichtet. Doch mit der stetigen Besserung der finanziellen Lage schien ihre Beziehung weniger eng und vertraut geworden zu sein. Diane, die ursprünglich geplant hatte, wieder arbeiten zu gehen, verbrachte immer mehr Zeit mit modernen Sportarten, langen Aufenthalten in Edelboutiquen und Wohltätigkeitsveranstaltungen.

Anfangs lud Diane John zu jeder dieser Veranstaltungen ein.

Sie war der Ansicht, dass sein Reichtum und seine Großzügigkeit andere Teilnehmer zu höheren Spenden ermuntern würden. Aber John verabscheute Menschenansammlungen jeglicher Art fast so sehr wie den damit einhergehenden, nichtssagenden Small Talk. Er probierte, mit mürrischem Gesicht in einer Ecke zu stehen und sich auf keinerlei Gespräche einzulassen. Daraufhin deklarierte ihn Diane als exzentrischen Millionär, und die Damen waren hingerissen. Sein nächster Versuch bestand darin, auf den Partys Unmengen an Alkohol zu trinken. Das brachte ihm durch Dianes Getuschel mit ihren Freundinnen das Etikett des leidenden Singles ein, den all sein Geld nicht vor Einsamkeit bewahrte. Die Damen waren außer sich vor Mitgefühl. Schließlich erschien er in einer engen rosa Hose, einem Netzhemd und barfuß. Der einzige Erfolg war, dass Calum wegen eines Lachanfalls fast an einem Schluck Wein erstickte. Diane ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und erzählte allen Anwesenden, dass er furchtbare Probleme mit seinem Coming-out gehabt hätte, die er noch aufarbeiten müsste. Die Damen waren sehr verständnisvoll und boten an, ihn mit Schwulen aus ihrem Bekanntenkreis zu verkuppeln.

Erst an diesem Punkt fasste John den Mut, Diane unmissverständlich zu sagen, dass er zu keiner dieser Veranstaltungen mehr kommen würde. Alle weiteren Einladungen lehnte er kategorisch ab, steckte Calum aber jedes Mal einen Spendenscheck zu. Nach einem Jahr gab Diane es endlich auf.

Heute Abend würde er also nicht mit Calum tauschen wollen. Doch im Allgemeinen stellte er sich dessen Leben einfacher und angenehmer vor. Damit wollte er ihm nicht unrecht tun oder ihm gar fehlenden Tiefgang unterstellen. Calum war jedoch viel extrovertierter als er und hatte dadurch einen großen Freundeskreis. Bei dem Gedanken daran hatte John schon immer eine Mischung aus Neid und Abwehr empfunden. Auf der einen Seite gefiel es ihm ganz und gar nicht, so viel allein zu sein. Andererseits fühlte er sich unbehaglich, wenn er einen anderen Menschen als Calum zu dicht an sich heranließ. Er wollte sich anderen nicht öffnen, wollte aber auch keine oberflächlichen Gespräche mit ihnen führen und ebenso wenig ständig allein sein. Wahrscheinlich brauchte er einen Therapeuten, um diese Paradoxien aufzulösen.

Seufzend stand er auf und schloss die Schranktüren. Die Spiegel auf der Außenseite der Türen zeigten ihm wenig Erfreuliches. Er hatte wieder einmal vergessen, Sonnencreme zu benutzen. Sein Gesicht war stark gerötet und verschwitzt. Die Nase war am schlimmsten verbrannt und wirkte dadurch noch größer, als sie ohnehin schon war. John knurrte missmutig und fuhr sich durchs Haar. Nun standen die dunklen Strähnen in alle Richtungen ab. Ein fernes Donnergrollen sagte ihm, dass die erfrischende Dusche noch warten musste. Sein Notebook, die Papiere und Bücher lagen auf dem Balkon und durften nicht dem Regen zum Opfer fallen.

Als er nach draußen kam, schlug ihm drückend schwüle Luft entgegen. Über dem nahen London hatten sich dunkle, tief hängende Wolken zusammengezogen. Ein erster kühlender Windzug trocknete den Schweiß auf Johns Gesicht. Er seufzte erleichtert. Feuchte Hitze empfand er als unangenehm und sehr störend für seine Konzentration. Rasch sammelte er seine Sachen zusammen und brachte sie in das angrenzende Arbeitszimmer. Dann kehrte er auf den Balkon zurück, um das herannahende Gewitter zu beobachten. Grollender Donner und grelle Blitze hatten ihn bereits als Kind fasziniert. Als kleiner Junge hatte er immer darauf gehofft, dass in der Nähe der Blitz einschlagen würde, um danach den Schaden begutachten zu können.

Als die ersten kühlenden Tropfen auf seinen nackten Armen auftrafen, ging er ins Arbeitszimmer zurück und schloss die Balkontür. Eines der Bücher war auf den Boden gefallen. John hob es auf und betrachtete nachdenklich die Painted Ladies, die berühmtesten viktorianischen Häuser San Franciscos, auf dem Einband. Konnte er sich wirklich vorstellen, dauerhaft dort zu leben?

Kapitel 2

Eine Brise bewegte die Vorhänge vor dem geöffneten Fenster und trug den Duft von Rosen und frisch gemähtem Gras ins kühle Schlafzimmer. Die weißen Möbel sollten laut Diane geschmackvoll und edel wirken, doch Calum erinnerten sie eher an ein Krankenhaus. Im Laufe der Jahre hatte er sich an die unterkühlte Atmosphäre des Raums gewöhnt. Sie passte zu Diane, wie Calum sich mit einem ironischen Lächeln eingestehen musste.

Er nippte an seinem Eistee und lehnte sich wieder auf dem Bett zurück. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich einbilden, wieder ein sorgloser, fröhlicher Student zu sein. Im Haus war es still genug für diese Fantasie, da weder Diane noch die Jungen da waren. Ein genüsslicher Seufzer stahl sich über seine Lippen. Doch dann begannen Gewissensbisse, an ihm zu nagen. Als Familienvater sollte er die Zeit, die er allein verbrachte, nicht so sehr genießen. Es war auch nicht richtig, seine Frau als unterkühlt zu bezeichnen und sich im Haus seines Freundes wohler zu fühlen als im eigenen.

Um diese düsteren Gedanken zu vertreiben, griff Calum nach dem Roman, den er gerade las. Vielleicht kam es bald zu einer erotischen Verwicklung der beiden Protagonisten. Der Autor, Hiram Becker, war dafür bekannt, seine Leser in einem Agententhriller mit deftigen Sexszenen zu überraschen.

Calum hatte gerade einen Absatz gelesen, als die Haustür aufgeschlossen wurde. Alles in ihm verkrampfte sich vor Unwillen. Fast gleichzeitig hatte er Schuldgefühle wegen dieser Reaktion auf das Eintreffen seiner Frau. In den letzten Jahren hatte sich bei ihm immer mehr der Eindruck verfestigt, dass er für Diane nur noch ein nützliches, aber nerviges Arbeitstier war. Allerdings hatte er nie mit ihr darüber gesprochen.

Ihre hohen Absätze klapperten auf den Fliesen der Diele. Ein Seufzen und unterdrücktes Fluchen zeigten, dass er oder die Jungen etwas getan oder nicht getan hatten, was ihr nicht passte. Dann ihre eiligen, energischen Schritte auf den Marmorstufen der Treppe. Calums innere Anspannung verstärkte sich. Nach so vielen Jahren des Zusammenlebens konnte er an ihren Schritten erkennen, dass sie schlechte Laune hatte. Die Schlafzimmertür wurde aufgerissen, und Diane stürmte herein. Sie stutzte, als sie ihn auf dem Bett liegen sah.

„Hier bist du. Wolltest du nicht die Garderobe in der Diele abbauen? Die neuen Möbel kommen morgen.“

Es konnte keine Rede davon sein, dass er das wollte. Natürlich meinte Diane aber, dass er es musste.

„Ich habe es nicht vergessen. Wenn ich dieses Kapitel gelesen habe, mache ich mich an die Arbeit.“

Diane runzelte unwillig die Stirn, erwiderte aber vorerst nichts. Sie streifte die Sandaletten von den Füßen und eilte ins angrenzende Bad. Von dort aus setzte sie ihr Gespräch fort, was ihre Stimme unangenehm hallen ließ. Der Inhalt ihrer Worte gefiel Calum auch nicht besser.

„Hast du es dir endlich anders überlegt?“

„Was?“

Calum wusste genau, was sie meinte, wollte aber Zeit schinden.

„Ich rede natürlich von Marys Party heute Abend. Es ist eine der wichtigsten Wohltätigkeitsveranstaltungen dieses Jahres. Du solltest unbedingt mitkommen.“

Die Wohltätigkeit seiner Frau kostete Calum mehrere Tausend Pfund im Jahr. Wenn dieser Betrag ausschließlich als Spende verwendet werden würde, hätte Diane seine volle Unterstützung gehabt. Doch sie gab Unsummen für Kleidung, Schuhe, Schmuck und Accessoires aus, um auf diesen Veranstaltungen angemessen gekleidet zu sein, wie sie es nannte. Seit ihr vierzigster Geburtstag für sie in bedenkliche Nähe rückte, war sie außerdem überzeugt, dass sie mindestens zwei Schönheitsoperationen bräuchte, um sich weiterhin auf diesen Partys blicken lassen zu können. Calum war dafür, dass sie sich nicht operieren ließ und den Wohltätigkeitsveranstaltungen fernblieb. Diese Einstellung sorgte für noch mehr Zündstoff zwischen ihnen.

Er hörte die Dusche rauschen und begann wieder zu lesen. Völlig vertieft in die erste Sexszene des Romans bemerkte er zu spät, dass das Wasser nicht mehr lief. Diane kam nur mit BH und Höschen bekleidet ins Schlafzimmer zurück. Während sie den Inhalt ihres riesigen Kleiderschranks musterte, ließ Calum seine Augen über ihren Körper wandern. Dank strenger Diäten und eines akribisch eingehaltenen Sportpensums war Diane nicht nur gertenschlank, sondern hatte auch sehr straffe Muskeln. Es hatte eine Zeit gegeben, als ein Blick auf sie, wenn sie ein enges Kleid oder einen Bikini trug, genügt hatte, um seine Lust zu wecken. Heute suchte Calum vergeblich nach einem Rest dieses Verlangens. Es schockierte ihn, dass nichts davon übrig war. Eine Zeit lang hatte er befürchtet, impotent geworden zu sein. Doch dann hatte er festgestellt, dass die gewünschte Reaktion nur bei Diane ausblieb. Die Sexszene im Roman erregte ihn mehr als seine halbnackte Frau.

„Hast du deinen grauen Anzug aus der Reinigung geholt?“

„Nein.“

Calum erschrak über seine reflexartige Lüge. Der Anzug zerknitterte seit zwei Tagen auf dem Rücksitz seines Wagens. Doch in letzter Zeit verspürte er immer häufiger den Drang, Diane zu provozieren. Ein blaues Cocktailkleid in der Hand drehte sie sich zu ihm um.

„Warum nicht?“

„Ich habe es vergessen.“

„Das glaube ich nicht. Du hast nur einen Grund gesucht, um nicht mit auf die Party zu müssen.“

„Stimmt.“

Er wusste, dass er sie in Rage brachte, war jedoch nicht in der Lage, dieser Versuchung zu widerstehen.

„Es ist nicht zu fassen. Warum unterstützt du mich nicht?“

„Wobei? Ich finde es nicht wohltätig, in Designerklamotten und überteuerten Schuhen auf langweilige Partys zu gehen.“

Mit einem Wutschrei warf Diane ihr Kleid auf den Boden, rannte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Calum wusste, dass sie nicht eher wieder herauskommen würde, bis sie sicher war, dass er das Schlafzimmer verlassen hatte. Würde er sich noch länger hier aufhalten, bekäme er die Schuld dafür, dass sie zu spät zur Party erschien. Mit einem spöttischen Grinsen, für das er sich gleichzeitig schämte, rappelte er sich vom Bett hoch und ging ins Erdgeschoss, nicht ohne die Schlafzimmertür deutlich hörbar ins Schloss fallen zu lassen.

Als er die Garderobe öffnete, stellte er fest, dass Diane und die Jungen es nicht für nötig gehalten hatten, ihre Sachen auszuräumen. Seine Laune verschlechterte sich bei diesem Anblick nochmals. Ungeduldig zerrte er einige von Dianes Jacken und Mänteln hervor und warf sie auf den Boden. Ihm war egal, dass sie das wütend machen würde. Nein, er musste zugeben, dass es ihm nicht egal war. Es würde ihn freuen.

Also riss er ihre restliche Kleidung aus der Garderobe und ließ sie ebenfalls auf die Flurfliesen fallen. Auf der unteren Ablage stapelten sich mindestens ein Dutzend Paar Schuhe. Calum schüttelte fassungslos den Kopf. Im ersten Stock befand sich direkt neben ihrem Schlafzimmer ein Raum, der eigentlich als Gästezimmer vorgesehen war. Vor einigen Jahren hatte er ihr riesige Wandschränke einbauen lassen, die ausschließlich der Aufbewahrung von Dianes Schuhen, Handtaschen und Accessoires dienten. Doch diese Schuhe schienen dort nicht mehr hineinzupassen. Wütend schob Calum sie mit einer ausholenden Armbewegung von der Ablage. Jetzt war die Garderobe endlich leer.

„Was machst du da?“

Reuben war mit seinem Skateboard unter dem Arm durch die Haustür in die Diele gekommen.

„Wonach sieht es aus? Ich räume euren Krempel weg, damit Diane ihre neue Garderobe aufstellen lassen kann.“

„Warum brauchen wir denn eine neue?“

„Das entzieht sich meinem beschränkten männlichen Begriffsvermögen.“

Reuben lachte. „Ich habe übrigens nur eine Jacke da drin gehabt. Entschuldige, dass ich sie vergessen habe.“

Es überraschte Calum immer wieder, wie höflich und freundlich Reuben seinen Eltern gegenüber war. Von für sein Alter typischer Rebellion war nichts zu merken. Er war ein sehr guter Schüler, machte meistens, was man von ihm verlangte und schien keine Neigung zu nächtlichen Abenteuern, Zusammenstößen mit der Polizei oder chronischem Schulschwänzen zu haben. Da sein älterer Bruder das genaue Gegenteil war, fand Calum, dass er sich Reuben als zweiten Sohn verdient hatte.

„Brauchst du Hilfe mit der Garderobe?“

Für einen Fünfzehnjährigen war das eine verblüffende Frage.

„Ja. Ich wollte gerade John holen gehen.“

„Lass das lieber. Dann muss er Schuhe anziehen und bekommt deswegen schlechte Laune.“

Calum musste lachen. Johns Schrullen waren amüsant und liebenswert. Selbst kurz vor dem ersten Schnee lief sein bester Freund am liebsten barfuß. In seinem Besitz befanden sich höchstens fünf Paar Schuhe. John hasste es, sie anziehen zu müssen. Angeblich hatte er für normales Schuhwerk einfach zu große und zu breite Füße. Das war natürlich Unsinn. Aber John nahm lieber in Kauf, im Sommer in Wespen und Glasscherben zu treten und sich im Herbst die Zehen blau zu frieren, als dass er Schuhe anziehen würde.

Calum wusste, dass John das weder ahnte noch beabsichtigte, aber mit seinen nackten Füßen, den engen Jeans und seinem dichten, widerspenstigen Haarschopf sah er aus wie ein cooler Rebell. Die Frauen verfielen ihm reihenweise, ohne dass er es bemerkte.

Gemeinsam mit Reuben hob Calum die Garderobe an und trug sie über den Hof in die Garage. Dort sollte sie angeblich von einer Wohltätigkeitsorganisation abgeholt werden.

„Dad, hast du Sammy gesehen?“

„Nein, heute noch gar nicht.“

„Er ist ständig verschwunden. Ich wollte ihn mit zu Martin nehmen.“

„Tut mir leid. Vielleicht findest du ihn in Johns Garten. Er gräbt gern die Pflanzen dort aus.“

„Echt? Ach du Schande. Warum hat John nie etwas gesagt?“

„Du weißt, dass er sich nie beschweren würde. Aber ich glaube, dass in ihm ein Wutvulkan brodelt, der bald ausbrechen und Sammy heimsuchen wird.“

Tatsächlich würde der warmherzige, pazifistische John dem Hund nie etwas zuleide tun.

Reuben lachte. „Du solltest Schriftsteller werden.“

„Nein. Wenn ich Erfolg hätte, würde ich damit womöglich Diane einen Gefallen tun.“

Calum bereute seine Worte sofort. Er wollte die Jungen unter keinen Umständen in seine Streitereien mit Diane hineinziehen. Aber Reuben grinste nur und ging zu Johns Garten hinüber.

Calum sah auf seine Uhr. Der Abbau der Garderobe hatte nicht einmal eine Stunde gedauert. Das bedeutete, dass Diane noch nicht mit ihrem Make-up fertig sein würde und er somit nicht zu seinem Buch und der Feierabendgemütlichkeit zurückkehren konnte. Er seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick auf Johns Haus. Nein, er konnte ihn nicht schon wieder besuchen. Irgendwann würde das selbst John auf die Nerven gehen. Aber er konnte Reuben bei der Suche nach Sammy helfen. Fröhlich pfeifend joggte er in Johns Garten.

Schon von Weitem hörte er Stimmen am Swimmingpool. Als er dort ankam, sah er John und Reuben am Rand stehen, während Sammy im Wasser paddelte. Er unterdrückte ein Grinsen, weil er wusste, dass John nicht erfreut darüber war, dass der Hund sich dauernd in seinem Haus und auf seinem Grundstück befand und überall seine Spuren hinterließ. Außerdem schien Reuben frustriert zu sein, da Sammy sich trotz all seiner Bemühungen weigerte, den Pool zu verlassen.

Calum pfiff, und der Hund wandte ihm den Kopf zu und bemühte sich, im Wasser mit dem Schwanz zu wedeln. Dann sprang er aus dem Pool und schüttelte direkt neben Calum das Wasser aus seinem Fell. Trotz treuherzigem Blick und viel Wedelns weigerte sich Calum, Sammy für diese Aktion mit einem Kraulen zu belohnen.

„Wieso war er im Pool?“

Reuben zuckte die Schultern. „Wenn ich das wüsste. Ich fand ihn bei John im Arbeitszimmer. Als ich ihn mitnehmen wollte, hat er sich gesträubt. Schließlich habe ich ihn angeschnauzt. Da ist er losgerannt. Ich dachte, dass er nach Hause laufen würde. Aber als wir auf die Terrasse kamen, schwamm er schon im Pool. John, das tut mir echt leid. Soll ich den Filter sauber machen und versuchen, die Haare mit einem Kescher abzuschöpfen?“

John schüttelte lächelnd den Kopf. Einige Strähnen seines schon wieder zu lang gewordenen Ponys fielen ihm dabei in die Augen.

„Nein, mach dir keine Gedanken. Die Haare landen alle im Filter, und den reinigt meine Gärtnerin regelmäßig.“

Calum schaltete sich in das Gespräch ein.

„Wieso lässt du ihn immer wieder ins Haus, wenn er sich so schlecht benimmt?“

John sah ihn an und runzelte die Stirn. Er schien schon wieder auf dem Balkon in der Sonne gewesen zu sein, denn die Haut auf seiner markanten Nase war gerötet.

„Ich lasse ihn nicht freiwillig rein. Seit ein paar Wochen achte ich sogar besonders darauf, dass im Erdgeschoss alle Türen und Fenster geschlossen sind. Darum müssen die Jungs jetzt immer an der Tür läuten. Aber Sammy ist trotzdem jeden Tag im Haus.“

Calum lächelte. Er musste sich eingestehen, dass er Sammy beneidete. Der Hund konnte, ohne Ausreden erfinden zu müssen, ständig bei John sein.

„Er liebt dich eben so sehr, dass er für dich durch Wände geht.“

Reuben befestigte inzwischen die mitgebrachte Leine am Halsband des Hundes.

„Ich denke auch, dass er dich unheimlich gern hat, John. Aber wenn er dir auf die Nerven geht, sperre ich ihn zu Hause ein, wenn ich unterwegs bin.“

John beugte sich zu dem Retriever hinab und strich ihm über den Kopf. Sammy schloss genüsslich die Augen und fiepte. Es klang wie eine Bitte nach mehr. Das bestätigte ein weiteres Mal Calums Vermutung, dass Hunde einen Sensor für warmherzige, tierliebe Menschen hatten.

„Nein, lass das. Das arme Tier. Er kann schließlich nichts dafür, dass er verrückt ist.“

Reuben verabschiedete sich und zerrte den widerstrebenden Hund hinter sich her. Calum wandte sich an John, der seine offensichtlich vom Sonnenbrand juckende Nase rieb.

„Hat Sammy irgendetwas beschädigt, was ich ersetzen müsste?“

John senkte die Hand, sodass Calum ihm direkt in die braunen Augen sehen konnte. Eine von Dianes Freundinnen hatte einmal geschwärmt, dass dieses Braun bei Sonnenlicht wie Bernstein wirkte. Damit hatte sie nicht unrecht.

„Nein, natürlich nicht. Er nervt mich nur. Wenn ich mich umdrehe, ist er jedes Mal da. Er drückt sich an mich, will gestreichelt werden und hält alles, was ich in der Hand habe, für ein Spielzeug. Wenn ich nicht aufpasse, spielt er mit meinem neuen Smartphone fangen.“

„Aber wie kommt er bloß ins Haus?“

John zuckte mit den breiten Schultern.„Ich werde einen Privatdetektiv auf ihn ansetzen.“

„Das ist ein schöner Auftrag für Reuben. Ich habe manchmal den Eindruck, dass er sich in dieser ruhigen Wohnsiedlung ein bisschen langweilt. Lass ihn herausfinden, wie Sammy das macht.“

John wischte über die Pfotenabdrücke auf seinem weißen Shirt und nickte.

„Meinetwegen. Ich könnte eine Belohnung für des Rätsels Lösung in Aussicht stellen.“

„Das ist keine gute Idee. Reuben würde das Geld nicht annehmen, weil er ohnehin schon ein schlechtes Gewissen wegen Sammy hat. Außerdem würde es Andy auf den Plan rufen. Offenbar hat er eine neue Freundin und ist deswegen ständig pleite.“

Johns breites Lächeln ließ ihn jungenhaft erscheinen.

„Wie können deine Söhne nur so unterschiedlich sein?“

Calum zuckte die Schultern. „Vielleicht ist Reuben schwul.“

Mit einem energischen Kopfschütteln setzte John sich auf einen der Terrassenstühle. Calum nahm ihm gegenüber Platz.

„Mit Sicherheit nicht. Er ist genauso hundertprozentig hetero wie sein Vater.“

„Höre ich da ein wenig Herablassung in deiner Stimme?“

„Natürlich nicht. Eher Schadenfreude. Ihr müsst euch eindeutig bei beiden darum sorgen, dass sie euch frühzeitig zu Großeltern machen.“

Calum verzog bei dieser Vorstellung das Gesicht. Großvater zu sein klang nach Rheumadecken, Gehhilfen und Glatze. Das war noch weit, weit weg. Noch war er jung und wollte diese Zeit mit John nutzen. Gemeinsam konnten sie noch viel erleben – wenn Diane ihn ließ.

„Bring mich nicht auf so schreckliche Gedanken. Ich fühle mich schon alt genug.“

„Mittlerweile sind wir schon ältere Herren. Weißt du noch, wie wir in Reubens Alter Männer wie uns Opas genannt haben?“

Calum ächzte entsetzt. Natürlich hatte John recht. Aber schließlich hielten Teenager selbst Fünfundzwanzigjährige für alt. John zumindest sah kein bisschen wie ein älterer Herr aus. Bei sich selbst wollte er sich kein Urteil erlauben.

„Möchtest du, dass ich Depressionen bekomme?“

John lachte ihn gutmütig aus.„Stell dich nicht so an. Du bist nicht der Typ für eine Midlife-Crisis.“

„Wer weiß, wie ich mich nach den nächsten drei Wohltätigkeitsveranstaltungen fühle, auf die Diane mich schleppt. Vielleicht kaufe ich mir dann einen Sportwagen und fahre damit jedes Wochenende in die Disco.“

Calum sah zu seinem Haus hinüber. Er brauchte einen Vorwand, um noch hierbleiben zu können.

„Hättest du Lust auf eine Partie Schach?“

John seufzte und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dabei rutschte sein Shirt etwas nach oben und zeigte seinen imaginären Bauchansatz.

„Ich weiß nicht. Du gewinnst immer.“

So schnell wollte Calum sich nicht geschlagen geben.

„Wie wäre es mit Backgammon?“

John schnaubte unwillig.„Wann hast du dabei das letzte Mal gegen mich verloren?“

„Ich kann mich nicht erinnern. Du musst dich damit abfinden, dass ich dir immer und überall überlegen bin.“

John ließ die Arme wieder sinken und nahm Calum ins Visier. „Mit wie vielen Männern hattest du schon Sex?“

Calum stemmte die Hände in die Hüften und starrte seinen Freund mit gespielter Empörung an. Er liebte ihre fingierten Wortgefechte, da John ein mehr als ebenbürtiger Gegner war.

„Das ist nicht fair. Andererseits habe ich noch eine Menge Zeit, um aufzuholen. Wie hieß noch gleich die Schwulen-Bar, in die du früher so gern gegangen bist?“

John schüttelte nur den Kopf. „Okay. Lass uns Backgammon spielen.“

Erfreut folgte er seinem Freund ins Haus, wobei er ignorierte, dass Diane nach ihm rief.

Kapitel 3

Das Kapitel schien sich von selbst zu schreiben. Johns Finger konnten kaum so schnell über die Tastatur tanzen, wie ihm die Sätze in den Sinn kamen. Vor lauter Ungeduld ranger sich nicht einmal dazu durch, einen Schluck Eistee zu trinken oder sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. In diesem Moment könnte ihm schon eine Idee oder eine außergewöhnliche Formulierung abhandenkommen. Die intensiven Strahlen der Nachmittagssonne heizten seine rechte Körperseite auf Fieberhöhe auf. Doch der Schirm blieb eingeklappt, wie in Trance tippte John Zeile um Zeile.

Erst als er am Ende des Kapitels angelangt war, lehnte er sich erleichtert im Stuhl zurück. Nun spürte er seinen brennenden Durst, den Sonnenbrand in seinem Nacken und die schmerzende Verspannung seines Rückens. Er stürzte ein Glas Eistee hinunter. Der Geschmack des warmen Getränks ließ ihn eine Grimasse ziehen. Er sah auf die Uhr. Seit mindestens einer Stunde hatte er in glühender Sommerhitze wie hypnotisiert geschrieben, nichts getrunken, sich nicht bewegt, nicht einmal aufgesehen. Das rächte sich nun.

John blinzelte in die flirrende Luft und bemerkte einen großen rosa Fleck auf dem blendend blauen Himmel. Für einen Moment zog er eine Halluzination infolge von Dehydrierung in Erwägung. Dann erkannte er, dass es sich um einen Heißluftballon handeln musste, der in der windstillen Luft zu stehen schien. Er schmunzelte, als er sah, dass der Ballon die Form eines Elefanten hatte. Jetzt hörte er aus der Ferne das Rauschen der Gaszufuhr.

Mit einem schmerzerfüllten Ächzen quälte sich John aus dem Stuhl und schlurfte in sein Arbeitszimmer. Die Temperatur hier empfand er als wohltuend kühl. Um sich den Weg in die Küche zu ersparen, öffnete er den kleinen Kühlschrank in der Ecke. Er hatte Glück, denn seine Haushälterin Katy hatte ihn mit Getränken und seiner Lieblingsschokolade gefüllt. Im Moment war jedoch kaltes Wasser alles, was er wollte.

Die geöffnete Flasche nahm er mit auf den Balkon. Er war begierig darauf, das Kapitel, das er gerade geschrieben hatte, nochmals zu lesen. Wenn er in einer solchen Trance schrieb, war das Ergebnis meistens hervorragend. Bevor er sich setzte, wanderte sein Blick ein weiteres Mal neugierig zu dem Heißluftballon am Himmel. Das rosa Gebilde war nun wesentlich näher gekommen, befand sich schon fast über seinem Grundstück.

Stirnrunzelnd überlegte John, ob es erlaubt war, über Wohngebiete zu fahren. Bisher war noch kein Ballon seinem Haus so nahe gekommen. John meinte, aufgeregte Stimmen aus dem Korb zu hören. Die Worte konnte er jedoch nicht verstehen. Bei näherer Betrachtung wirkte der rosa Elefant reichlich runzlig und eingefallen. Das konnte nicht der Normalzustand sein.

Als der Korb über die Wipfel der nahe stehenden Bäume geschleift wurde, war John endgültig klar, dass die Insassen Probleme hatten. Der Ballon war jetzt sehr tief und kam bedrohlich näher. Es sah aus, als würde er in den nächsten Sekunden gegen sein Haus prallen. Das reichte John. Er flüchtete in sein Arbeitszimmer, um von dort aus das weitere Geschehen zu beobachten. Dabei überlegte er hektisch, wo sein Handy war. Sollte der Ballon tatsächlich abstürzen, könnte das für die Insassen übel enden. Er würde schnell einen Rettungswagen alarmieren müssen.

Ein lautes Rauschen ließ ihn zusammenfahren. Der Gestank nach Gas breitete sich bis in sein Arbeitszimmer aus. Dicke Seile schlugen mit Wucht gegen das Balkongeländer. Dann knallte es ohrenbetäubend, und zwei Menschen schrien. In John verkrampfte sich alles. Hoffentlich war den beiden nichts passiert. Vorsichtig spähte er durch die Tür zum Balkon. Die Welt war hellrosa geworden. Über ihm, halb eingedrückt von der Hausmauer und dem Giebel, an dem er sich verhakt hatte, hing der Heißluftballon. Vorerst schien seine Lage stabil zu sein. Direkt vor ihm spannten sich die dicken Seile, die den Korb trugen. Dieser musste sich demnach direkt am oder unter dem Balkon befinden.

John rannte zum Geländer und sah hinunter. Er musste herausfinden, was mit den Leuten im Korb passiert war. Eine besorgte weibliche Stimme war von rechts unter ihm zu hören.

„Ist alles in Ordnung, Dad?“

Die Antwort klang mürrisch, aber zum Glück nicht schmerzerfüllt.

„Ja, ich lebe noch.“

„Gibst du jetzt zu, dass der Ballon zu alt ist?“

Der Ton der Männerstimme wechselte von mürrisch zu aufgebracht.

„Ist das wichtig? Wir müssen hier raus.“

John beugte sich so weit wie möglich über das Geländer und sah nun die Insassen. Der Korb war bei dem Unfall nicht gekippt, die beiden Menschen schienen unversehrt zu sein. John atmete auf.

„Strecken Sie Ihre Arme aus. Dann kann ich Ihnen auf den Balkon helfen. Es ist nicht hoch.“

Eine Frau mit langem rotbraunem Haar blickte zu ihm hoch und antwortete mit irischem Akzent.

„Das klingt gut. Allerdings wird die Aussicht von Ihrem Balkon nicht mehr so schön sein.“

John grinste erleichtert. Zumindest hatte sie ihren Humor nicht verloren, was hoffentlich ein Zeichen dafür war, dass sie unverletzt war.

„Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ich habe noch nie einen rosa Elefanten zu Besuch gehabt. Das entschädigt mich.“

John streckte ihr seine Arme entgegen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, sodass er ihre Hände ergreifen konnte. Sie stützte sich nach dem ersten Ruck auf dem Rand des Korbes ab, und John zogsie zu sich auf den Balkon. Ihr langes Haar war zerzaust, das Gesicht sehr blass. In ihren hellen Augen konnte John den erlittenen Schreck lesen, aber Verletzungen warennicht erkennbar. Sie wiederholten dieselbe Prozedur mit dem zweiten Insassen, einem älteren Mann mit grauem Haar, der Murren und unterdrücktes Schimpfen für die angemessene Reaktion auf seine Rettung hielt. Rasch führte John diebeiden unverhofften Gäste in sein Arbeitszimmer. Er traute dem Ballon nicht und wollte vermeiden, dass sie unter Stoffbahnen begraben wurden.

„Ist einer von Ihnen verletzt? Soll ich den Notarzt rufen?“

Die junge Frau lächelte ihn dankbar an.„Mir geht es gut. Aber ein Arzt sollte nach meinem Vater sehen.“

Der Alte geriet sofort in Rage, seine durchdringenden Augen funkelten.„So ein Unsinn. Mir fehlt nichts. Der Ballon ist ja nicht einmal zu Boden gestürzt, sondern nur an diesem dämlichen Haus hängen geblieben.“

John unterdrückte sein Lachen, um den Mann nicht noch mehr zu verärgern. Zu einer ironischen Antwort sah er sich allerdings berechtigt.

„Ich möchte mich aufrichtig dafür entschuldigen, dass mein Haus Ihrem Ballon im Weg stand. Es hat immer noch nicht gelernt, in solchen Fällen schnell zur Seite zu springen.“

Die Rothaarige quittierte seine Worte mit einem schelmischen Schmunzeln, bevor sie sich an ihren Vater wandte.

„Dad! Wie kannst du so einen Unsinn reden? Wir müssen froh sein, dass er uns geholfen hat. Dabei fällt mir ein, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Ich bin Julie Parker, und das ist mein Vater Richard.“

„Sehr erfreut. Ich bin John Warner. Bedienen Sie sich bitte an den Getränken und Keksen dort im Kühlschrank. Ich suche mein Telefon und rufe einen Arzt und die Feuerwehr.“

Der alte Mann sah ihn mit böse blitzenden Augen an.

„Wozu brauchen wir die Feuerwehr?“

„Ein riesiger Heißluftballon hängt an meinem Haus, verhakt am Giebel. Ich weiß nicht, wie ich ihn da wieder herunterbekommen soll.“

Der Alte schnaubte abfällig.„Seien Sie nicht so ein Weichei. Wenn ich ausgetrunken habe, ziehen wir beide Bertram da runter.“

„Bertram? Ich nehme an, Sie meinen den Ballon. Ich werde ganz gewiss nicht versuchen, ihn von meinem Haus zu zerren. Ich möchte nicht unter Massen von Seidenstoff begraben und erstickt werden.“

„Was für eine Memme sind Sie denn?“

Julie versetzte ihrem Vater einen empörten Klaps auf die Schulter.

„Dad! Lass das. John hat recht. Das müssen Fachleute machen.“

„Meinetwegen. Aber wenn er das will, zahle ich die Rechnung dafür nicht.“

Julie stöhnte verzweifelt. Offenbar hatte sie es mit ihrem sturen Vater nicht leicht.

„Machen Sie sich keine Sorgen, John. Wir werden für die entstehenden Kosten aufkommen.“

„Schon gut. Dann erledige ich jetzt die Anrufe.“

So schnell gab sich der Alte nicht geschlagen.„Ich will aber keinen Arzt.“

„Dad, jetzt reicht es mir aber. Du hast letztes Jahr einen Herzinfarkt gehabt.“

John hatte genug gehört. Er lief zum Telefon im Erdgeschoss und rief seinen Hausarzt und die Feuerwehr an. Letztere sah einen Ballon, der an einem Haus hing, nicht als Notfall an und sagte ihm zu, am nächsten Tag ein paar Leute mit entsprechender Ausrüstung zu schicken. Er sollte sich von seinem Balkon und dem entsprechenden Bereich vor dem Haus fernhalten. Der Arzt versprach, innerhalb einer halben Stunde bei ihm zu sein.

Als er die Treppe hinaufstieg, hörte er bereits einzelne gegrummelte Wortfetzen wie „verfluchte Engländer mit ihren Angeber-Hütten“ und „die blöde Memme, hat Schiss vor einem kleinen Ballon“. Dazwischen konnte er Julies geflüsterte Worte nicht verstehen. Grinsend dachte John, dass ihm wohl ein unterhaltsamer irischer Abend bevorstand. Er betrat sein Arbeitszimmer.

„Der Arzt ist unterwegs, die Feuerwehr kommt morgen.“

Sofort war Richard Parker auf den Füßen.„Erst morgen? Ich brauche meinen Ballon heute noch zurück.“

„Dad, was soll der Quatsch?“

„Wollen Sie damit nach Irland fliegen?“

Offenbar fühlte sich der alte Mann dadurch herausgefordert. „Warum denn nicht? Das hat Bertram schon mehr als ein Mal geschafft. Wenn wir die Gaszufuhr wieder in Gang bekommen, ist das überhaupt kein Problem.“

Julie drängte ihren aufgebrachten Vater in den Sessel zurück.

„Wir werden gar nicht mehr mit diesem Ballon fahren, Dad. Er ist einfach zu alt. Die Reparaturkosten sind höher als sein Wert. Darum wollte ich überhaupt nicht mitfahren.“

„Warum hast du es dann getan?“

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Damit lag ich nicht falsch.“

Richard brummelte erbost, stand auf und verschwand auf den Balkon, um nach seinem geliebten Bertram zu sehen. Julie sah John peinlich berührt an.

„Ich muss mich für meinen Vater entschuldigen. Er meint es nicht böse. Es ist nur so, dass er sein halbes Leben mit diesem Ballon gefahren ist. Er will ihn nicht aufgeben, auch wenn es mittlerweile gefährlich ist.“

„Darf er nach seinem Herzinfarkt überhaupt noch fahren?“

„Seine Ärzte sagen Nein, mein Vater sagt Ja. Wer gewonnen hat, siehst du ja.“

„Nun, nach dem Absturz dürfte endgültig Schluss mit den Touren sein.“

Julies Blick wurde düster vor Sorge.„Da bin ich mir leider nicht sicher. Es lohnt sich eigentlich nicht mehr, die Gaszufuhr zu reparieren, aber mein Vater ist so stur.“

„Julie, komm und hilf mir mit Bertram!“

„Siehst du? Dad, ich werde dir nicht helfen. Der Ballon bleibt, wo er ist.“

John konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Eine solche Feierabendunterhaltung hatte er noch nie gehabt. Er mochte sogar den mürrischen, englandkritischen Richard. Vater und Tochter waren erfrischend authentisch und damit eine willkommene Abwechslung zu affektierten Menschen wie Diane, mit denen er für seinen Geschmack zu oft in Kontakt kam. Außerdem gefielen ihm Julies trockener Humor und die Leichtigkeit, mit der sie eine so heikle Situation meisterte. Zum ersten Mal seit langer Zeit wollte er jemanden gern näher kennenlernen. Dafür fiel ihm nichts Kreativeres ein, als mit Small Talk zu beginnen.

„Aus welchem Teil Irlands kommt ihr?“

„Wir leben in Galway.“

„Oh, das ist eine wunderschöne Stadt, nicht nur, weil sie eine der besten Statuen von Oscar Wilde hat.“

Julie lächelte schelmisch. „Bist du ein Fan seiner Bücher oder seiner Neigung?“

„Beides.“

„Das war ja klar. So ein Prachtexemplar muss natürlich schwul sein.“ Julie seufzte theatralisch.

Ihre Worte verunsicherten John und ließen seine Wangen vor Verlegenheit heiß werden. Mit Komplimenten wusste er nicht umzugehen, da er sie fast nie bekam, gleichgültig von welchem Geschlecht. Eine Bemerkung wie Julies verärgerte ihn deswegen sonst. Aber diese junge Frau war so offen und warmherzig, dass er bei ihr Spott ausschließen konnte.

„So hat mich noch nie jemand genannt. Ich gehe von Ironie aus.“

Julie zog die Brauen hoch und musterte ihn verwundert. Offenbar war seine Reaktion überraschend und somit nicht gesellschaftskonform gewesen.

„Nein, absolut nicht. Hättest du dich nicht rechtzeitig geoutet, dann hätte ich dich innerhalb der nächsten Stunde angebaggert.“

Ihre Bekräftigung verschlimmerte Johns Verunsicherung und Verlegenheit. Irgendwo, ganz tief in ihm, spürte er auch ein Fünkchen Freude, dass jemand, selbst wenn es eine Frau war, ihn attraktiv genug zum Flirten fand.

„Sehr schmeichelhaft.“

Auf dem Balkon klapperte etwas. Julie sah kopfschüttelnd hinüber.„Dad! Komm endlich ins Haus. Du erstickst da draußen noch.“

„Wenn du mir nicht helfen willst, lass mich in Ruhe.“

Julie verdrehte bei dieser geblafften Antwort die Augen.

„Ich habe keine Ahnung, wie Mom ihn von seinen verrückten Einfällen abhält.“

Es läutete, und John stand auf. „Das muss der Arzt sein. Versuch doch, deinen Vater vom Balkon zu locken. Ich glaube nicht, dass Dr. Middler ihn dort untersuchen wird.“

Als John mit Dr. Middler zurückkam, saß Richard missmutig in einem Sessel. Der Arzt war ein willkommenes neues Angriffsziel.

„Ich bin nicht krank. Diese beiden Waschweiber wollten Sie unbedingt rufen. Ich zahle die Rechnung nicht.“

Dr. Middler ignorierte diese Unverschämtheiten und öffnete seinen Arztkoffer. Als er ein Blutdruckmessgerät hervorholte, gebärdete sich Richard, als hätte er so etwas noch nie gesehen.

„Was haben Sie vor? Völlig unnötig, das Ganze!“

Als der Arzt mit einem milden Lächeln und ein paar beruhigenden Worten die Manschette um seinen Oberarm legen wollte, wich Richard schimpfend zurück.

„Was soll das kosten? So ein Ding haben wir auch zu Hause. Meine Tochter schikaniert mich dauernd damit.“

Dr. Middler bewies eine fast übermenschliche Geduld.

„Das glaube ich Ihnen. Aber Sie sind gerade mit einem Ballon abgestürzt und Ihr Messgerät ist in Irland. Ich muss aber jetzt Ihren Blutdruck messen, um sicher zu sein, dass es Ihnen gut geht.“

„Meinetwegen, aber beeilen Sie sich. Ich habe noch einiges zu erledigen und nicht ewig Zeit.“

John sah, dass Julies Wangen rot wurden und sie den Kopf senkte. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was sie in diesem Moment empfand. Das Benehmen seines Vaters war ihm auch schon oft peinlich gewesen, allerdings aus anderen, ernsteren Gründen.

„Der Blutdruck ist etwas zu hoch. Eigentlich ist es nicht besorgniserregend, aber nach diesem Erlebnis wäre es mir lieber, wenn Mr. Parker zur Beobachtung die Nacht im Krankenhaus verbringen würde.“

Richards Reaktion auf diese Ankündigung war bühnenreif. Mit seinen buschigen Augenbrauen und dem wütend verzerrten Gesicht erinnerte er John an Jack Nicholson in ‚Shining‘. Der Arzt blieb unbeeindruckt und stellte ihn vor die Wahl, sich von ihm ins Krankenhaus bringen zu lassen oder unter Zwang in einem Notfallwagen dorthin gebracht zu werden. Unter viel Murren lenkte der alte Mann ein und fuhr einige Minuten später mit Dr. Middler davon. John blieb mit Julie und Bertram zurück. Die Erschöpfung zeichnete sich nun deutlicher in ihrem Gesicht ab. Sie seufzte leise.

„Kennst du ein günstiges Hotel in der Nähe?“

„Nein. Aber du bist herzlich eingeladen, die Nacht in meinem Gästezimmer zu verbringen. Wie du weißt, hast du von mir nichts zu befürchten.“

Julie grinste, wobei sich ihre Züge wieder entspannten.

„Wie schade. Aber die Einladung nehme ich trotzdem gern an. Ich hoffe, dass ich dir nicht zu viele Umstände mache. Kann ich dir bei der Vorbereitung des Abendessens helfen?“

„Nein. Das schafft der Italiener um die Ecke seit Jahren ganz allein.“

„Typisch Junggeselle. Kannst du gar nicht kochen?“

„Ich habe es noch nie probiert.“

„Wenn meine Mutter mich nicht dazu gezwungen hätte, hätte ich es wohl auch nie gelernt.“

In diesem Moment raste ein hellbrauner Blitz an John vorbei und stürzte sich hechelnd auf Julie. Die lachte überrascht und kraulte den entzückten Sammy.

„John, wo bist du?“

Calum klang etwas besorgt, wie John grinsend feststellte. Das wäre er wohl auch gewesen, wenn ein riesiges rosa Etwas am Nachbarhaus hängen und sein Freund nirgendwo zu sehen sein würde.

„Hier oben.“

Schritte auf der Treppe, dann stürmte Calum ins Arbeitszimmer. Seine Augen waren vor Schreck geweitet, sein Atem kam in schweren Zügen. Offenbar war er von seinem Haus bis hierher gerannt, und Johns Garten war riesig.

„Was ist passiert? Was ist das für ein Ding an deinem Haus?“

„Das ist Bertram.“

Calum starrte ihn nur an. Erst als Julie kicherte, rührte er sich wieder und sah sie verwirrt an. Von seinem Schreck schien er sich noch nicht erholt zu haben.

Nachdem John die beiden einander vorgestellt und Bertrams Geschichte erzählt hatte, konnte auch Calum herzlich darüber lachen. Sie bestellten beim Italiener und machten es sich bei ein paar Gläsern Wein gemütlich.

John konnte sich nicht erinnern, je einen so unterhaltsamen Abend verbracht zu haben. Julie fügte sich in ihre kleine Männerrunde perfekt ein, zog die Schuhe aus, legte die Füße auf das Sofa und trank Whisky. Zu fortgeschrittener Stunde erzählte sie ein paar Anekdoten aus ihren Beziehungen, die Calum zum Lachen brachten und John verwirrten. Heterosexuelle waren merkwürdige Wesen. Gegen Mitternacht klingelte das Telefon, und Diane forderte ihren Mann zurück. Widerwillig machte Calum sich auf den Heimweg.

John half Julie, es sich im Gästezimmer bequem zu machen und lieh ihr eines seiner T-Shirts als Nachthemd. Schläfrig kuschelte sie sich mit einem seiner Teddys auf dem Bett ein und lächelte ihn an.

„Hier bleibe ich, das gefällt mir.“

„Du bist herzlich willkommen. Der Abend war schön. Eine Wiederholung würde mir sehr gefallen.“

Julie gähnte herzhaft, bevor sie antwortete.

„Du kannst mich gern in Galway besuchen. Aber dann müsstest du wohl bei Oscar Wilde auf der Bank übernachten, weil meine Wohnung so klein ist.“

„Das würde mich nicht stören, im Gegenteil.“

„Er wird aber nicht heimlich angetatscht.“

John schüttelte grinsend den Kopf.„Ich lasse mich zumindest nicht dabei erwischen.“

Julie lächelte müde. Sie wirkte, als würden ihr gleich die Augen zufallen. „Wie lange bist du schon mit Calum befreundet?“

„Seit fünfundzwanzig Jahren.“

Bei der Angabe der Zeit zog sich alles in John zusammen. Er wollte nicht an dieses Problem erinnert werden. Nicht nach so einem schönen Abend. Doch es war zu spät. Seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. So viele Jahre.

„Das merkt man. Ihr seid sehr vertraut miteinander.“

„Das liegt nicht nur an der langen Zeit.“

„Ja, ihr harmoniert perfekt. Ihr wärt auch ein schönes Paar.“

„Calum ist hetero.“ Seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren, als hätte er seine Stimmbänder mit Gewalt zu den Lauten zwingen müssen.

„Wie schade.“

„So denkt er bestimmt nicht.“

Julie kicherte. „Aus reiner Neugier, was würdest du machen, wenn du dich in einen Hetero verliebst?“

John zuckte zusammen und konnte nur hoffen, dass Julie es vor lauter Müdigkeit nicht bemerkte. Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde und ihm der Schweiß ausbrach. Hektisch suchte er nach einer unverfänglichen Antwort auf diese Frage, um Julie nicht zu viel anvertrauen zu müssen.

„Dasselbe, was du tätest, wenn du dich in einen Schwulen verlieben würdest. Nichts. Man kann nichts tun, außer irgendwie damit fertigzuwerden.“

Julie unterdrückte ein Gähnen. „Das ist traurig. Lass uns hoffen, dass uns das nie passieren wird.“

Als John am nächsten Morgen die Treppe hinunterging, hörte er aus der Küche fröhlichen Gesang, und der Duft nach Rührei und Kaffee stieg ihm in die Nase. Wenn es das bedeutete, eine Frau im Haus zu haben, würde er Julie anketten. Vor lauter Vorfreude nahm er die Ecke mit zu viel Schwung, stolperte über etwas und krachte gegen die Arbeitsplatte. Das darauffolgende Ächzen konnte er sich selbst zuordnen, das Jaulen war ihm ein Rätsel.

„Der Geräuschkulisse nach zu schließen lebt ihr beide zumindest noch. Du musstest doch damit rechnen, dass Sammy in der Küche ist. Er braucht schließlich auch sein Frühstück.“

John konnte es nicht fassen. „Hast du diesen Vielfraß etwa gefüttert?“

„Selbstverständlich. Er saß fiepend vor dem Kühlschrank, der arme Junge. Ich wusste nicht, wo du das Hundefutter aufbewahrst. Also habe ich ihm ein paar Würstchen gegeben.“

„Oh nein. Warum nur? Julie, Sammy ist nicht mein Hund.“

Julie zog die Augenbrauen bis unter den Pony hoch und musterte ihn verwundert.„Wem gehört er dann?“

„Calum und seiner Familie. Er treibt sich nur ständig bei mir herum.“

„Ehrlich? Gestern hatte ich den Eindruck, dass er dich abgöttisch liebt und Calum nur eine Randfigur für ihn ist.“

John schnaubte empört. Er ärgerte sich, wie fast immer, wenn es um den verfluchten Hund ging.

„Mir ist völlig egal, ob er mich liebt oder nur mein Haus und Essen. Ich will ihn hier nicht haben.“

„Warum nicht? Er ist so süß.“Julie kraulte enthusiastisch das dichte Fell des Retrievers.

„Ja, das kann er perfekt vortäuschen. Aber nur zwei Minuten später gräbt er in meinem Garten Pflanzen aus, badet in meinem Pool oder frisst meine Kekse.“

Julie grinste breit.„Das siehst du alles viel zu eng. Sammy meint es bestimmt nur gut und möchte dir Gesellschaft leisten.“

John schlug einen weiten Bogen um den Hund und goss sich Kaffee ein. Dabei prüfte er, wie viel Rührei sich in der Pfanne auf dem Herd befand.

„Ich will nicht mehr über dieses haarige Biest reden. Ist das Rührei für mich?“

„Ja. Setz dich. Das Frühstück ist fertig.“

„Fantastisch. Wie lange kannst du hierbleiben?“

Julie lachte. „Mir gefällt es hier auch sehr. Aber leider muss ich nachher zu meinem Vater ins Krankenhaus. Er hat sicher schon eine lange Gardinenpredigt für mich vorbereitet. Danach muss ich unsere Rückreise nach Galway organisieren.“

„Brauchst du Hilfe?“

„Nein. Ich bin es schon gewohnt, in solche Situationen zu geraten.“ Julie ließ sich resigniert auf den Stuhl ihm gegenüber plumpsen.

„Wieso sagst du das?“

„Ich bin der geborene Pechvogel.“

„So etwas gibt es nicht.“

Obwohl John eher pessimistisch eingestellt war, glaubte er tatsächlich nicht an vom Pech Verfolgte. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass eine lebenslustige Frau wie Julie so viel Unglück gehabt haben sollte.

„Oh doch. Ich schicke dir meine Memoiren.“

John lachte. „Was gefällt dir denn nicht an deinem Leben?“

Julie lehnte sich nachdenklich auf ihrem Stuhl zurück und spielte mit ihrer silbernen Halskette. John sah, dass der Anhänger die Form eines Kleeblatts hatte.

„Kannst du nicht das Gegenteil fragen? Dann bin ich schneller fertig. Wo fange ich am besten an?“

Geistesabwesend griff sie nach einer Scheibe Toast und strich Butter darauf.

„Ich habe vor acht Jahren meinen Doktor in Meeresbiologie gemacht. Seitdem träume ich davon, auf ein Forschungsschiff gehen zu können. Bisher vergeblich. Stattdessen analysiere ich in einem kleinen, langweiligen Labor Tag für Tag Wasserproben.“

Während sie sprach, ließ sie einen Klecks Marmelade auf die Brotscheibe fallen. Darauf platzierte sie ein Stück Käse. John drehte sich der Magen um.

„Ich bin Ende dreißig, unverheiratet und kinderlos, und meine letzte Beziehung liegt nicht nur sechs Jahre zurück, sondern war auch noch eine einzige Katastrophe. Meine beiden älteren Schwestern sind attraktiver, erfolgreicher und vor allem viel verheirateter als ich. Das wird mir von meiner Mutter in täglichen Telefonaten vorgehalten. Mein Vater hat sich nach zwei Töchtern sehnlichst einen Sohn gewünscht und bekam mich präsentiert. Also versucht er, mich seit meiner Geburt wie einen Jungen zu behandeln und zu erziehen. Tja, ich glaube, das war die grobe Zusammenfassung.“

Julie biss herzhaft in ihr widerliches Toast-Gebilde. Ihre Lebensgeschichte hatte ihr offensichtlich bisher weder ihren Appetit noch ihren Humor geraubt.

„Du hast einen Doktor in Meeresbiologie? Wow.“

Julie lachte laut. „Das ist die Quintessenz, die du aus meinem Bericht ziehst? Du bist hoffnungslos optimistisch.“

„Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde dieses Studienfach einfach faszinierend. Alles andere ist natürlich eine Katastrophe, da gebe ich dir recht. Ich kenne mich mit den Wünschen von Hetero-Männern nicht so aus, aber wieso findet eine so kluge, witzige Frau wie du keinen Partner?“

Julie kaute einen Moment an einem Bissen Toast. „Wahrscheinlich genau wegen dieser hohen Bildung. Zumindest ist das ein Teil der Erklärung. Ich bin nicht nur gut ausgebildet, sondern habe auch keinerlei Hemmungen, es zu zeigen. Das gefällt vielen Männern nicht. Besonders Iren wollen gern der harte Macho sein, der der Partnerin in allen Lebensbereichen überlegen ist. Das nervt mich, während es sie wiederum abstößt, dass ich nicht püppchenhaft und anschmiegsam bin.“

„Wollen die wirklich eine so langweilige Partnerin?“

Das konnte John sich nicht vorstellen. Er selbst wünschte sich einen gebildeten, humorvollen Partner. Julie hätte als Mann mit Sicherheit sein Interesse geweckt.

Julie zuckte die Schultern. „Die meisten offenbar schon.“

„Die Probleme gibt es bei Schwulen eher selten. Dafür stört es mich, dass viele Homosexuelle meinen, die Lebensweise von Heteros imitieren zu müssen. Einer übernimmt die Rolle der Frau, der andere die des Mannes. Ich bin aber weder eine Tunte noch ein Macho und möchte mich nicht in eine dieser Rollen drängen lassen.“

„Gut so! Ich finde Tunten albern und Machos abstoßend.“

John grinste. Sie gefiel ihm immer besser. Es war wirklich bedauerlich, dass sie kein Mann war.

„Wie lange bist du schon Single?“

Ihre Worte rissen ihn aus seinem seltsamen Gedankengang. „Seit fünf Jahren. Victor war Amerikaner. Nachdem er mit mir Schluss gemacht hatte, ist er zurück nach Kalifornien gezogen.“

„Warum ist die Beziehung in die Brüche gegangen?“

Julie stellte diese Frage ohne aufdringliche Neugier oder schlecht verborgene Schadenfreude. Sie schien einfach Interesse an seinem Leben zu haben. Trotz dieser heiklen Frage blieb John ganz entspannt und war sogar bereit, ihr ehrlich zu antworten.

„Victor hat mir vorgeworfen, dass ich ihn nicht so lieben würde, wie es für eine Beziehung nötig ist.“

„Hatte er damit recht?“

„Leider ja.“

Bei diesen Worten flammten die alten Gewissensbisse wieder auf. Victor hatte nicht verdient, der Lückenbüßer für einen Mann zu sein, den John nicht haben konnte. Natürlich hatte Victor ihm viel bedeutet und ihre Beziehung hatte ihn glücklich gemacht. Aber die Zweifel und Selbstvorwürfe rieben ihn innerlich auf, was Victor nicht verborgen geblieben war.

„Weißt du, warum du ihn nicht genug lieben konntest?“

John zögerte. Er verabscheute es, sich selbst den Grund ehrlich eingestehen zu müssen. Einem anderen Menschen hatte er noch nie davon erzählt.

„Ich weiß es nicht genau. Victor war großartig, und wir haben perfekt zueinandergepasst. Das sagte jeder über uns, und ich empfand es auch so. Aber trotzdem gab es bei mir immer eine innere Sperre, die ich nicht überwinden konnte. Ich habe mich nie ganz auf diese Beziehung eingelassen.“

Julie nickte mitfühlend.„Ich verstehe. Das musste Victor natürlich irgendwann spüren. Hast du seit dem Ende der Beziehung aktiv nach einem neuen Partner gesucht?“