Männerbündnis - Sylvia Pranga - E-Book

Männerbündnis E-Book

Sylvia Pranga

4,6

Beschreibung

Seit Kurzem sind John und Calum ein Paar und ihr Leben hat sich dadurch grundlegend verändert. Doch noch können sie es nicht recht genießen. Zum Einen verbringen sie eindeutig zu wenig Zeit miteinander, zum Anderen halten sie ihre Beziehung nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor Calums Familie geheim. Sie ahnen nicht, dass ihnen genau das gefährlich werden kann, denn ausgerechnet die falschen Personen bekommen heraus, dass der wohlhabende und erfolgreiche Schriftsteller John, alias Hiram Becker, eine Affaire mit einem Mann hat. Während John und Calum versuchen ihre neue Beziehung zu definieren, braut sich eine Gefahr zusammen, die alles aufs Spiel setzt.

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MÄNNERBÜNDNIS

Sylvia Pranga

MännerbündnisSylvia Pranga

2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-UmstadtCovergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864435904ISBN eBook-PDF: 9783864435911ISBN eBook-epub: 9783864435928

www.sieben-verlag.de

Kapitel 1

Es fühlte sich falsch an. Das war nicht sein Bett. Der Geruch von Holz und muffigen Decken drang Calum in die Nase. Mit einem unwilligen Seufzen drehte er den Kopf auf die andere Seite.

Schmerz schoss durch seine Schläfen und strahlte bis zu seiner Stirn aus. Calum stöhnte und öffnete die Augen. Dunkelheit. Er richtete sich auf. Die pochenden Kopfschmerzen ließen Übelkeit in ihm aufsteigen.

Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, fühlten sich Magen und Kopf etwas besser an. Er suchte den Raum nach einer Lichtquelle ab und fand sie links von sich. Ein schmaler Streifen Helligkeit drang kurz über dem Boden ins Zimmer. Es musste eine Tür zu einem angrenzenden Raum sein.

Er schwang die Beine über die Bettkante. Dabei bemerkte er, dass er vollständig bekleidet war. Seine Hände ertasteten eine Patchworkdecke. Wo befand er sich? Wie war er hierher gekommen? Sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Unbehagen erhöhte seinen Pulsschlag und ließ die Kopfschmerzen hämmernd wiederkehren.

„John?“ Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren, rau und belegt. Wie er bereits befürchtet hatte, bekam er keine Antwort.

Im Zimmer war es unheimlich still, auch von außerhalb drang kein Geräusch herein. Es musste eine harmlose Erklärung für diese Situation geben. Hatte er sich auf einem Ausflug verletzt und war in ein fremdes Haus gebracht worden? Hatte er zu viel getrunken und war nun in einem billigen Motel aufgewacht? Das würde seine Kopfschmerzen und den muffigen Geruch im Zimmer erklären. In diesem Fall musste es am Bett einen Nachttisch mit einer Lampe geben.

Mit schon ruhigerem Puls tastete Calum sich am Bett entlang zum Kopfende. Tatsächlich stießen seine Finger auf einen kleinen Holztisch. Bei der weiteren Suche hätte er die Lampe beinahe umgestoßen. Doch schließlich fand er einen Plastikschalter und betätigte ihn.

Schlagartig wurde es im Zimmer hell. Calum kniff die Augen zusammen. Das Licht schien ihm direkt ins Gehirn zu stechen. Für einen Moment waren die Kopfschmerzen unerträglich. Dann öffnete er seine Augen vorsichtig blinzelnd wieder.

Vor sich sah er einen Holzhocker, der als Nachttisch diente. Darauf stand ein Lampenständer ohne Schirm, dessen Birne grelles Licht verbreitete. Daneben befand sich eine zu einem Drittel geleerte Wasserflasche. Stirnrunzelnd sah Calum sich im Zimmer um.

Als erstes fiel ihm auf, dass alle Wände aus dicken Baumstämmen bestanden. Offensichtlich befand er sich in einer Blockhütte. Es war ihm ein Rätsel, wie und warum er hierher gekommen war. In London oder Weybridge konnte er sich jedenfalls nicht befinden.

Sein Puls beschleunigte sich wieder. Was war geschehen? Er versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Doch sein Gedächtnis ließ ihn weiterhin im Stich. Das bereitete ihm ebenso große Sorge, wie der rätselhafte Ort, an dem er sich befand.

Vorsichtig stand er auf. Ein kurzes Schwindelgefühl erfasste ihn, aber dann konnte er die ersten wackligen Schritte machen. Abgesehen von dem Feldbett, auf dem er gelegen hatte, und dem Hocker war der Raum leer. Links von ihm befand sich eine Tür, durch deren Spalt zuvor das Licht gedrungen war.

Er seufzte erleichtert. Im angrenzenden Zimmer musste sich also jemand aufhalten, den er fragen konnte, wo er sich befand und warum er hier war.

Er ging zur Tür und drückte die Klinke herunter. Es war ein deutlicher Widerstand zu spüren, und die Tür ließ sich nicht öffnen. Man hatte ihn eingeschlossen. Warum?

„Hallo? Ist dort jemand? Machen Sie die Tür auf.“

Calum legte sein Ohr an die Holztür. Er meinte im Nebenzimmer Geräusche zu hören, konnte sich aber täuschen. Das dicke Holz ließ bestimmt nicht alles durch. Wahrscheinlich war es schwierig, sein Rufen im Nebenraum zu hören. Daher hämmerte er mit aller Kraft gegen die Tür und lauschte danach wieder angespannt.

Nichts rührte sich, kein Geräusch war zu hören. Calum atmete schwer. Seine Hand und sein Kopf schmerzten. Was war hier los? Warum kam niemand? Er spürte, wie Panik emporzusteigen begann und atmete tief durch. Das konnte er sich jetzt nicht leisten. Er musste nachdenken, musste sich erinnern, wie und warum er hierher gekommen war. Dann würde er auch wissen, wie er aus diesem Zimmer herauskam.

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er tastete die Taschen seiner Jeans ab. Nichts. Seine Hemdtasche. Auch nichts. Wo war seine Jacke? Sie lag am Fußende des Feldbettes. Doch auch in ihren Taschen fand er sein Handy nicht. Warum sollte jemand ihm sein Telefon abnehmen? Geld und Papiere waren noch da, er war demnach nicht überfallen worden. Eine dunkle Ahnung lauerte in seinem Unterbewusstsein, aber Calum verdrängte sie. Das konnte nicht sein.

Er sah sich genauer in dem Raum um. Gegenüber der verschlossenen Tür befand sich ein Fenster. Dreckige Vorhänge verbargen es. Calum zog den Stoff zurück. Dahinter befand sich ein zweiflügeliges Fenster mit Holzrahmen.

Mit einem erleichterten Lächeln stellte er fest, dass er den rechten Flügel öffnen konnte. Kühle Luft strömte ihm entgegen. Allerdings befand sich zwischen ihm und der Außenwelt noch ein Holzladen mit Lamellen. Calum versuchte, ihn aufzudrücken. Der Laden rührte sich nicht. Verzweifelt begann er, an dem Holz zu rütteln, auf es einzuschlagen. Das hatte nicht einmal ein Wackeln in den Angeln zur Folge.

Schwer atmend wich Calum ein paar Schritte vom Fenster zurück und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Jetzt konnte er die Panik nicht mehr unterdrücken. Es war auch nicht mehr möglich, sich einzureden, dass er sich in einem Motel befand. Das hier war ein Zimmer in einer Blockhütte. Tür und Fenster waren versperrt. Niemand reagierte auf sein Rufen und man hatte ihm sein Telefon genommen.

Er war eingesperrt und von der Außenwelt abgeschnitten worden. Das konnte nur eins bedeuten. Calum schüttelte den Kopf, doch seine Schlussfolgerungen ließen sich nicht widerlegen. Grauen kroch seine Kehle hinauf und schnürte sie zu.

Er setzte sich auf das Feldbett und vergrub den Kopf in den Händen. Mit aller Macht versuchte er sich daran zu erinnern, was passiert war, bevor er in diesem Raum aufgewacht war. Was waren seine letzten Erinnerungen? Er sah sich an seinem Schreibtisch in der Agentur sitzen. An diesem Tag hatte er drei Außendienste gehabt. Wie in solchen Fällen üblich, musste er länger arbeiten, um die Wünsche der Kunden in die Datenbank einzupflegen.

Er konnte sich erinnern, wie genervt er gewesen war, weil ihm das Programm zwei Mal abstürzte und er sich auf ein gemütliches Abendessen mit John gefreut hatte. Doch schließlich hatte er es geschafft, alle Daten waren gesichert. Mit Helm, Lederjacke, Handschuhen, Schal und Tasche beladen, hatte er sein Büro verlassen. Unten in der Halle hatte er sich warm eingepackt. Er erinnerte sich, dass Schneeflocken ihn umwirbelten, als er das Gebäude verließ. Es war höchste Zeit, nach Hause zu fahren. John würde sich Sorgen machen, weil er bei so einem Wetter mit dem Motorrad fuhr.

Mit dem Zündschlüssel in der Hand trat er zu seiner Honda. Und dann? Nichts. Dunkelheit. Was war passiert? Er wusste es nicht. Da war nur eine schwache Erinnerung an einen unangenehmen, stechenden Geruch. Chloroform?

Calum sprang auf. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Er war entführt worden. Sein Herz raste. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er rannte zur Tür und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen.

„Hallo?! Öffnen Sie die Tür!“

Schwer atmend und mit pochendem Schädel wartete Calum auf eine Reaktion, die nicht kam. Verzweifelt ließ er sich auf den Boden sinken und lehnte den Rücken gegen die Tür. Warum? Er hatte keinerlei Erklärung warum man ihn entführen sollte.

Er starrte auf das verrammelte Fenster direkt gegenüber. Das Zimmer war klein. Calum spürte, wie eine andere Art von Panik auf einen Ausbruch zu lauern begann. Nein, das durfte er nicht zulassen. So klein war dieser Raum nun wirklich nicht. Er versuchte, an einen Tag am Strand zu denken. Das weite Meer, der unendliche Himmel.

Aber davon wollte sein Unterbewusstsein nichts wissen. Es ließ das Ungeheuer Platzangst frei. Calum sprang auf und rannte zum Fenster. Dort schlug er mit den Fäusten gegen das Holz der Läden und schrie um Hilfe. Keine Reaktion.

Zurück zur Tür, wiederum wildes Hämmern und Schreie um Hilfe. Nichts rührte sich. Calum drehte sich wieder zum Zimmer um. Er fühlte sich wie ein in einem engen Käfig gefangenes Tier. Er musste hier raus. Jetzt! Aber es gab keine Möglichkeit. Er war gefangen. Aber er musste sofort hier raus. Er konnte es nicht mehr ertragen.

Sein Atem kam in keuchenden Zügen. Sein Schädel schien zerspringen zu wollen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Schwindel erfasste ihn. Das Zimmer schwankte. Dann kam die Schwärze.

Kapitel 2

Einige Wochen zuvor …

Mit einem mulmigen Gefühl blickte John nach oben. Der knallrote Stoff des Heißluftballons blähte sich immer mehr auf, so dass der Gigant sich langsam in die Höhe hob. Schließlich schwebte er, noch etwas schwerfällig, über dem Korb, der mit dicken Seilen an ihm befestigt war.

Die Herbstsonne ließ den Ballon vor dem Hintergrund des strahlend blauen Himmels leuchten. Doch das schöne Wetter und die herrlichen Farben konnten Johns Skepsis nicht vertreiben. Unbehaglich betrachtete er aus einigen Metern Entfernung das glänzende Ungetüm. Der Korb darunter erschien ihm klein und zerbrechlich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen darin sicher waren.

Außerdem konnte alles, was sich in die Luft erhob, auch abstürzen. Das war ihm anschaulich vor Augen geführt worden, als vor einigen Monaten ein Heißluftballon ohne Zustimmung der Insassen auf seinem Haus abgestürzt war. Er fragte sich, wie er seine Einwilligung zu einer Fahrt mit so einem Monstrum hatte geben können.

„Du musst dir einen Schal umbinden und die Jacke zuziehen.“

Julie sah lächelnd zu ihm hoch. Sie hatte sich auf die Fahrt vorbereitet, indem sie ihr langes, rotbraunes Haar zu einem Zopf geflochten und sich in einen Wintermantel und ein warmes Halstuch gehüllt hatte. Offenbar war sie völlig entspannt und freute sich auf die Tour. Dafür fehlte John das Verständnis, da es Julie gewesen war, die mit dem Ballon auf seinem Haus abgestürzt war.

„Ich habe keinen Schal dabei. Vielleicht ist es besser, wenn ich auf dem Boden bleibe und Fotos vom Abflug mache.“

Julie stemmte die Hände in die Hüften und reckte das Kinn vor.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir haben lange genug gebraucht, um dich zu dieser Fahrt zu überreden. Jetzt wirst du nicht kneifen.“

Das hatte John befürchtet. Er startete einen letzten Versuch. „Mir geht es nicht gut. Ich glaube nicht, dass ich mein Frühstück bei mir behalten kann. Da sollte ich nicht in einen Ballon steigen.“

Jetzt schmunzelte Julie und rieb beruhigend seinen Arm.

„Du hast nur die Hosen voll. Das wird vergehen, sobald wir oben sind und du die fantastische Aussicht genießen kannst.“

Johns Magen versuchte, sich hinter seinem Rückgrat zu verkriechen, das er eigentlich gar nicht hatte.

„Das bezweifle ich.“

Julie lachte nur und ging dann zum Ballon hinüber, um die letzten Vorbereitungen zu überwachen.

„Hier sind ein Schal und Tabletten gegen Übelkeit.“

Calum war plötzlich neben ihm aufgetaucht. Mit einem leicht spöttischen Grinsen reichte er ihm die Notfallausrüstung. Widerwillig nahm John die Sachen entgegen.

„Du Verräter.“

Calum lachte gutmütig und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

„Wenn ich dich zu deinem Glück zwingen muss, dann tue ich das. Das ist meine Aufgabe. Oh, offenbar können wir einsteigen.“

Julie, die bereits im Korb stand, winkte sie zu sich. Mit einem flauen Gefühl folgte John Calum zum Ballon. Während sich sein Freund geschickt hineinschwang, fragte er sich, wie er hineingelangen sollte, ohne sich lächerlich zu machen.

„Komm schon, John. Wir wollen starten. Brauchst du Hilfe beim Einsteigen?“

Julie streckte ihm eine Hand entgegen und John sah sie beide auf dem Boden vor dem Ballon liegen.

„Nein, das schaffe ich schon.“

John wollte sich vor den Schaulustigen, die sie aus einigen Metern Entfernung beobachteten, keine Blöße geben. Daher nahm er zu viel Schwung und stieß mit Calum zusammen. Das fing ja gut an.

Julie justierte den Gasbrenner und gab dann das Zeichen, dass die Verankerungen gelöst werden konnten. Mit einem sanften Ruck hob der Korb vom Boden ab und begann zu schweben. John drehte sich der Magen um. Während Julie dafür sorgte, dass sie langsam immer mehr an Höhe gewannen und Calum begeistert über den Rand des Korbes spähte, zog John sich in die Mitte zurück. Hier fühlte er sich zumindest etwas sicherer.

„Was machst du denn, John? Du verpasst ja das Beste, komm her.“

Widerstrebend trat er zu Calum an den Rand des Korbes und sah hinunter. Sofort wurde ihm schwindlig. Nachdem er beide Hände auf den Rand des Korbes gelegt hatte, wurde es etwas besser. Er zwang sich, nicht direkt nach unten zu sehen, sondern Richtung Horizont. Dadurch konnte er die Aussicht tatsächlich ein bisschen genießen. Die Luft war klar, man konnte in der Ferne sogar London erkennen. Die geernteten Felder bildeten unter ihnen braune und beige Rechtecke, die Baumkronen leuchteten in herbstlichen Farben. John merkte, dass sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht stahl.

„Okay, wir sind in der richtigen Luftströmung, um nach Weybridge zu gelangen.“

John riss erschrocken den Kopf zu Julie herum. „Was? Aber wir fliegen doch nicht über mein Haus?“

Julies Lächeln war fröhlich und unbekümmert.

„Genau das habe ich vor. Reuben und Sammy warten im Garten auf uns.“

John sah Calums Sohn Reuben und den Hund schon platt unter dem Korb des Ballons liegen. Warum musste er so eine lebhafte Fantasie haben?

„Wenn du wieder auf meinem Balkon abstürzt, werde ich dir das nicht verzeihen.“

Julie lachte nur über seine Besorgnis und tätschelte beruhigend seine Schulter.

„Keine Sorge, dieser Ballon ist neu und fit.“

„Oh, sieh mal, wir sind direkt über den Bäumen.“ Calum beugte sich weit über den Rand des Korbes. Beim Anblick dieser waghalsigen Aktion stockte John der Atem. Er wollte Calum zurückreißen, war aber wie erstarrt.

„Soll ich noch ein bisschen tiefer gehen, damit du ein Foto machen kannst?“

John war davon ausgegangen, dass Julie scherzte. Aber ein paar Minuten später schwebten sie fast zwischen den Bäumen, und Calum lehnte sich mit der Kamera in der Hand noch weiter aus dem Korb. Entsetzt schob John seine Finger unter Calums Gürtel und bemühte sich, ihn so zu sichern.

„Du schnürst mir die Luft ab, John!“

Das war nicht zu fassen. War Calum lebensmüde?

„Es wäre natürlich viel besser, dich aus dem Korb stürzen zu lassen. Dann musst du dir keine Gedanken mehr darüber machen, wie du Luft holst.“

Calum richtete sich wieder auf. Sein Gesicht war gerötet, die blauen Augen leuchteten noch mehr als sonst. Er drückte ein paar Knöpfe an der Kamera und zeigte John seine Fotos. John schwankte zwischen dem Drang, ihn wegen seiner Tollkühnheit anzuschreien und dem Wunsch, ihn in seine Arme zu ziehen, weil er in seiner Begeisterung so hinreißend war.

„Ist das nicht schön?“

Mit einem Ächzen löst John seine verkrampften Finger von Calums Gürtel. Eines Tages würde ihn wegen Calums Abenteuerlust noch vor Angst der Schlag treffen.

„Du bist vollkommen wahnsinnig. Von unten sieht das Blätterwerk genauso aus, und man riskiert nicht sein Leben für ein paar Bilder.“

Calum und Julie lachten, während John um Fassung rang. Zum Glück stiegen sie nun wieder, so dass die verführerischen Bäume außerhalb ihrer Reichweite waren. Das glitzernde Band der Wey kam in Sicht.

„Okay, Jungs, wenn wir den Fluss überquert haben, gibt es für jeden ein Küsschen. Das habe ich zu meiner Tradition erkoren.“

John schüttelte amüsiert den Kopf. Julie steckte voller skurriler Ideen. Mit ihr wurde es nie langweilig. Trotzdem sehnte er sich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Sobald die Wey hinter ihnen lag, küsste Julie die beiden Männer auf die Wangen. Dann sah sie sie mit frech funkelnden Augen an.

„Jetzt seid ihr an der Reihe.“

John konnte noch einen Blick auf Calums spitzbübisches Lächeln erhaschen, dann spürte er die Lippen seines Freundes auf seinem Mund. Er schloss unwillkürlich die Augen, als sein Puls zu hämmern begann und sich Hitze mit Lichtgeschwindigkeit von seinen Lippen durch seinen ganzen Körper verbreitete. Wenn Calum ihn küsste, fühlte er sich wie ein liebestrunkener Teenager und vergaß alles um sich herum – sogar, dass er sich in einem Gefährt befand, das abstürzen konnte.

Als sie sich wieder voneinander lösten, starrte Julie sie groß an. Sprachlos hatte John sie noch nie erlebt, das war ein Novum. Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Schließlich fand sie die Sprache wieder.

„Was war das denn? Warum weiß ich davon nichts? Warum wird mir monatelang weisgemacht, dass Calum hetero ist?“

John lächelte entschuldigend. „Wir wollten es dir unbedingt persönlich sagen. Über Skype fand ich es unpassend. Deswegen haben wir auf deinen Besuch gewartet. Dieses Outing war so allerdings nicht geplant. Offenbar hat Calum sich von dir herausgefordert gefühlt.“

Julie schnaubte, aber John konnte an ihren Augen sehen, dass sie ihnen nicht wirklich böse war.

„Das ist ja eine tolle Erklärung. Wenn ich den Fluss-Kuss nicht erwähnt hätte, wann hättet ihr euch bequemt, es mir zu sagen?“

Calum, der zu Johns Schrecken lässig am Korbrand lehnte und einen Arm herausbaumeln ließ, grinste Julie frech an.

„Heute beim Tee, damit du dich nicht wunderst, warum wir zusammen im Schlafzimmer verschwinden.“

„Calum!“ John stupste ihm tadelnd in die Seite.

Julie lachte laut und applaudierte. „Jungs, das ist die beste Nachricht seit Langem. Was habe ich dir unzählige Mal gepredigt, John? Niemals aufgeben. Siehst du, ich habe recht gehabt. Lasst euch knuddeln.“

Julie umarmte sie so begeistert, dass der Korb leicht ins Wanken geriet. Doch bevor John in Panik geraten konnte, hörte die Bewegung bereits wieder auf.

Ein Blick nach unten zeigte John, dass Weybridge in der Ferne in Sicht kam. Man konnte bereits erkennen, wo das Flüsschen Wey in die Themse mündete. John konnte sich nicht entscheiden, was ihm größeres Unbehagen verursachte, über Land oder über Wasser zu schweben. Wäre es schlimmer, im herbstkalten Wasser unter Massen von Ballonstoff zu ertrinken oder auf dem Boden zerschmettert zu werden? Mit aller Willenskraft drängte er diese morbiden Gedanken zurück und beobachtete ein paar Ruderboote auf der Wey.

Langsam schwebten sie über das Flüsschen hinweg und näherten sich Wohngebieten. Mit ein paar Justierungen an der Gaszufuhr sorgte Julie dafür, dass sie nicht direkt über die Häuser gerieten. Dabei sanken sie etwas, so dass John sich orientieren konnte. Die Häuser von Calum und ihm waren nicht mehr weit entfernt. Kurz darauf konnte er seinen Swimming-Pool als blauen Fleck ausmachen.

Julie ließ den Ballon tiefer sinken. Da es verboten war, direkt über ein Wohngebiet zu fahren, konnte John nur vermuten, dass die sich bewegenden Punkte auf seinem Rasen Reuben und Sammy waren. Er bildete sich ein, aufgeregtes Bellen zu hören und winkte, auch wenn Reuben es vermutlich nicht sehen konnte.

Dann näherten sie sich einer großen Wiese ein paar Meilen hinter der Siedlung. Dort sollte ihr Landeplatz sein. Die Helfer waren bereits eingetroffen, wie John an den geparkten Autos erkennen konnte. Zu seiner Erleichterung sanken sie nun immer mehr. Als sie endlich mit einem kleinen Ruck auf dem Boden aufsetzten, fiel die letzte Anspannung von ihm ab. Er hatte es geschafft, ohne sich übergeben zu müssen. Calums nächste Worte setzten seiner Freude jedoch schnell ein Ende.

„Das war fantastisch, Julie. Wann können wir das wiederholen?“

John schüttelte den Kopf und hob mit einer abwehrenden Geste die Hände.

„Du kannst gern ein zweites Mal fahren, Cal, aber ich bleibe auf dem Boden. Warum versuchst du es nicht mit Drachenfliegen? Das ist bestimmt eine noch aufregendere Methode, um sich in Lebensgefahr zu bringen.“

Calum wandte sich eifrig Julie zu. „Gibt es in eurer Gruppe auch Drachenflieger? Das würde ich gerne probieren.“

„Leider nicht, denn es ist bestimmt aufregend.“

John schüttelte resigniert den Kopf. Es war ihm schon immer ein Rätsel gewesen, warum Calum diese Art von Abenteuer brauchte. Für ihn war es bereits beunruhigend, im Meer zu schwimmen, weil er den Gedanken nicht verdrängen konnte, was für Getier sich vielleicht unter oder neben ihm befand. Nicht zum ersten Mal spürte er den Stich der Besorgnis, dass er Calum als Partner zu langweilig und spießig sein könnte. Rasch schob er diesen unschönen Gedanken beiseite. Er wollte keine schlechte Laune riskieren, die ihm und den anderen den Tag verderben könnte.

Inzwischen hatten Calum und Julie beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, weil das Wetter so schön war. John war nicht begeistert, verkniff sich aber jeden Protest. Nachdem er gerade wieder seine fehlende Abenteuerlust unter Beweis gestellt hatte, wollte er nicht auch noch als Bewegungsmuffel wahrgenommen werden. Also stapfte er neben den anderen beiden über die feuchte Wiese und stellte fest, dass seine Schuhe nicht wasserdicht waren. Er verbot sich jede Bemerkung darüber und versuchte stattdessen, am Gespräch teilzunehmen.

Vom Ballonfahren und Drachenfliegen waren Julie und Calum zum Snowboarden und Skifahren geschwenkt. Schließlich stand der Winter vor der Tür. Vor Johns innerem Auge erschienen sofort von Lawinen verschüttete Menschen. Er verstand selbst nicht, warum er so gut wie jede sportliche oder aufregende Betätigung sofort mit Gefahr für Gesundheit und Leben in Verbindung brachte. Den Spaß daran sah er nie.

Als sie endlich den Gehsteig erreichten, waren seine Füße vor lauter Nässe eiskalt. Er hätte gleich barfuß gehen können, so war es ihm ohnehin am liebsten. Aber in diesem Fall war Calum derjenige, der wegen der unnötigen Risiken protestierte. Allerdings hatte er im Laufe der Jahre vier Wespenstacheln, drei Glasscherben und einen rostigen Nagel aus Johns Fußsohlen entfernen müssen, da John kein Blut sehen konnte. Da musste man wohl Verständnis haben, dass Calum ihn immer wieder zum Tragen von Schuhen ermahnte. Plötzlich beendete Julie das Gespräch über die Vorteile des Snowboardens und wandte sich an John.

„Warum bist du so still?“

John zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich kann mit dem Thema Wintersport nicht viel anfangen. Meine Füße würden niemals in die Schuhe und Halterungen von Skiern oder Snowboards passen.“

Julie senkte den Blick auf seine nassen Sneakers.

„Tatsächlich? Welche Schuhgröße hast du?“

Calum schnaubte abfällig. „Dieselbe wie ich, und mir passen die Schuhe problemlos.“

Das wollte John nicht auf sich sitzen lassen. Es reichte ihm, als Spaßverderber dazustehen, der immer neue Ausreden fand, um nichts Neues ausprobieren zu müssen.

„Okay, mag sein. Trotzdem werde ich es nie wieder probieren. Ein Mal hat mein Vater mich zum Skifahren zwingen wollen. Er half mir in die Schuhe und auf die Bretter, ließ mich los und ich fiel sofort um und verstauchte mir den Fuß. Die ganzen Ferien waren verdorben.“

Julie tätschelte ihm mitleidig den Arm. „Damals warst du noch ein Kind. Du solltest es noch einmal probieren, es macht wirklich Spaß.“

John verkrampfte sich vor Unwillen. Warum mussten seine Mitmenschen ihn ständig zu wildem Aktionismus drängen?

„Oh ja, vielleicht gelingt es mir beim nächsten Mal sogar, mir ein Bein zu brechen.“

Calum lachte gutmütig und legte kurz einen Arm um John.

„Gib auf, Julie. Du wirst ihn nie für Sport und aufregende Unternehmungen begeistern können.“

John bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie nahe ihm diese Äußerung ging. Er fühlte sich wie ein spießiger, überängstlicher Opa, der am liebsten in der Ecke hinter dem Ofen saß und anderen das echte Leben überließ. Wenn Calum ihn auch so sah, würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um für ihn interessant zu bleiben.

Ein Bellen schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken auf. Reuben und Sammy kamen ihnen vom Ende der Straße entgegen. Der Golden Retriever zerrte an der Leine. Vermutlich konnte er es gar nicht erwarten, zu ihnen zu gelangen und seine überschüssigen Haare auf Johns Hose zu verteilen. Warum der Hund dermaßen vernarrt in ihn war, hatte John nie verstanden.

Während des letzten Jahres hatte er ihn nicht immer gut behandelt, da Sammy ihn oft genervt hatte. Seit er mit Calum zusammen war, hatte sich das geändert. Er hatte sich selbst im Verdacht, dass er die überwältigenden Gefühle, die er für Calum hatte, aber sich noch nicht in vollem Ausmaß zu zeigen traute, auf den Hund projizierte.

Sammy durfte auf seiner Couch liegen, Braten fressen und Pflanzen ausgraben, ohne dafür Ärger zu bekommen. Calum und Reuben hatten ihn deswegen schon öfter kritisiert, aber er konnte es einfach nicht lassen. Inzwischen war der Junge fast in Hörweite, und John schoss ein erschreckender Gedanke durch den Kopf. Er hielt Julie am Arm zurück.

„Wir haben außer dir noch niemandem von unserer Beziehung erzählt. Es soll vorerst ein Geheimnis bleiben, bis Diane die Scheidungspapiere unterzeichnet hat.“

Julie sah beruhigend lächelnd zu ihm hoch. „Ich verstehe. Von mir erfahren Reuben und die anderen bestimmt nichts.“

Gleich darauf schmiegte sich Sammy an seine Beine und Reuben stellte, typisch für einen Fünfzehnjährigen, unzählige Fragen über die Ballonfahrt. Daher konnte John davon ausgehen, dass seine Schweigsamkeit unbemerkt bleiben würde.

Der Höllenkreis seiner selbstzweiflerischen Gedanken drehte sich einmal mehr. Er fragte sich, ob alle frisch verpaarten Menschen diese Sorgen hatten. Vermutlich nicht, denn sonst würde wohl keine Beziehung die ersten Wochen überstehen. Warum konnte er dann seine neue Liebesbeziehung nicht genießen? Vielleicht waren Calum und er zu lange gute Freunde gewesen, als dass es jetzt einfach sein könnte, in den Beziehungsmodus zu wechseln. Diese These warf wiederum die Frage auf, ob es Calum ähnlich wie ihm erging. John seufzte leise.

Kurz darauf erreichten sie sein Haus. In der Diele streifte John Schuhe und Socken von den Füßen. Calum beobachtete ihn kopfschüttelnd.

„Du musst grenzenloses Vertrauen in deine Fußbodenheizung haben.“

„Nein, aber nasse Schuhe und Socken.“

Calum riss die Augen auf, sein Ton war erschrocken.

„Warum hast du nichts gesagt? Wir hätten uns nach Hause fahren lassen können.“

John zuckte die Schultern. „So schlimm war es nicht. Außerdem kann ich mich jetzt vor dem Kamin mit einer Tasse Tee aufwärmen.“

Zu dritt machten sie es sich vor dem Kaminfeuer bei Tee und Gebäck gemütlich. Reuben war nach dem ausführlichen Bericht über die Ballonfahrt zu Freunden gegangen, vermutlich um sich darüber zu beklagen, dass man ihn nicht hatte mitfahren lassen.

Sammy lag vor dem Feuer und schnarchte. Der Geruch von feuchten Hundehaaren mischte sich in den Duft der ersten Weihnachtsplätzchen, aber John ließ den Hund weiterschlafen. Nach der aufregenden Fahrt und dem langen Spaziergang war er selbst kurz vorm Eindösen. Julies Stimme ließ ihn jedoch aufschrecken.

„Ich war letzte Woche auf deinem Anwesen. Warum du es unbedingt kaufen wolltest, ist mir offen gestanden schleierhaft.“

Calum unterbrach seine Suche nach dem größten Keks, die John amüsiert beobachtet hatte. Jetzt allerdings stockte ihm kurz der Atem. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Julie so schnell auf dieses Thema zu sprechen kommen würde. Calum sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.

„Was für ein Anwesen?“

John war froh, dass die redselige Julie das Antworten für ihn übernahm. Er wusste selbst nicht, warum er Calum bisher nichts davon gesagt hatte.

„John hat ein kleines Cottage in der Nähe von Galway gekauft. Dazu gehört ein Grundstück, auf das exakt fünf Schafe passen würden, wenn man sie wie Sardinen in der Dose zusammendrängt.“

John schluckte trocken und zwang sich zum Sprechen, bevor Julie noch mehr Schaden anrichten konnte.

„Du übertreibst, Julie. Ich plädiere auf acht Schafe und Sammy als Hütehund.“

Calum stellte die Schale zurück, ohne einen Keks genommen zu haben und beugte sich mit ernstem Gesicht zu ihm.

„Warum hast du es gekauft?“

Es war schwierig, Calums Frage zu beantworten, besonders nachdem er gerade wieder gezeigt hatte, wie abenteuerlustig und draufgängerisch er war. John dagegen sehnte sich nach Ruhe und ländlicher Idylle, gern mit Calum als halbnacktem Schäfer direkt vor seiner Haustür.

„Ich weiß es nicht genau. Irland gefällt mir, Galway noch mehr. Da gibt es eine fantastische Statue von Oscar Wilde. Die Umgebung ist herrlich pittoresk, voller Gras, Schafe und Ponys. Mittendrin steht dieses heimelige Cottage, mit einem „Zu Verkaufen“-Schild davor. Ich musste es einfach haben.“

Calum lehnte sich zurück und verdrehte die Augen. John hoffte, dass er es gutmütig, und nicht abfällig, meinte.

„Schafe, einsame Idylle und Oscar Wilde? Da musste ja so etwas passieren.“ Calum lachte. „Was willst du jetzt damit anfangen?“

Verunsichert zuckte John mit den Schultern.

„Ich dachte mir, dass ich dort von Zeit zu Zeit Urlaub machen könnte oder mich dorthin zurückziehe, wenn ich viel Ruhe zum Schreiben brauche.“

Julie klaute Calum die Keksschale und lächelte verschmitzt.

„Gute Idee. Ich hoffe allerdings, dass dein Notebook einen Akku mit Durchhaltevermögen hat. In dem Häuschen gibt es nämlich keinen Strom.“

Calum riss entsetzt die Augen auf. In diesem Moment war John klar, dass es ihm nie gelingen würde, seinen Liebsten in dieses romantische Cottage zu locken.

„Was? Und da willst du Urlaub machen? Ohne Fußbodenheizung?“ Calum grinste spöttisch.

John war gekränkt und hörte es in seiner Stimme. Den anderen beiden schien es allerdings nicht aufzufallen.

„Ich werde einen Generator installieren lassen und bei der Gemeinde fragen, ob die Anbindung an das Stromnetz möglich ist.“

John wollte sich seine Freude an seinem neu erworbenen Schatz nicht verderben lassen, nicht einmal von Calum.

„Dann müsst ihr wohl getrennt Urlaub machen, John im Cottage und Calum in den Bergen.“

Julie hatte einen gutmütigen Witz gemacht, aber John zuckte zusammen. Genau das befürchtete er auch. Er musste sich bald etwas einfallen lassen, um in ihrer Beziehung nicht als Langweiler und Spaßbremse zu enden.

„Auf keinen Fall! Wer garantiert mir, dass keine attraktiven Schäfer an der Cottage-Tür klopfen? Da lasse ich John nicht allein. Außerdem möchte ich das Häuschen sehen.“

Calum lächelte ihn an und John entspannte sich wieder. Zumindest war Calum zu Kompromissen bereit, wenn er auch nicht gerade vorurteilsfrei an die Sache heranging. Julie unterbrach seinen Gedankengang.

„Also doch ein Liebes-Urlaub im romantischen Cottage, wie schön. Aber jetzt müsst ihr mir ganz genau erzählen, wie ein Paar aus euch geworden ist. Meine Neugier bringt mich sonst um.“

Julie machte es sich im Schneidersitz in einer Sofaecke bequem und sah sie auffordernd an. Calum schmunzelte und übernahm zu Johns Erleichterung das Sprechen.

„Tatsächlich hast du dabei eine maßgebliche Hilfestellung geleistet, Julie.“

Sie richtete sich mit einem verzückten Lächeln auf.

„Was, ich? Davon weiß ich ja gar nichts. Aber es gefällt mir, erzähl weiter.“

„Erinnerst du dich noch an die Geschichte über deine Cousine Hazel? Sie wollte endlich Klarheit und hat mit dem Mann, in den sie seit langem verliebt war, „Wahrheit oder Wagnis“ gespielt. Als ich das hörte, fand ich es ziemlich albern. Aber dann dachte ich mir, dass es einen Versuch wert wäre. So hätte ich die Möglichkeit, John in angeblich betrunkenem Zustand von meiner Bisexualität zu erzählen und zu sehen, wie er darauf reagiert.“

Jetzt musste John lachen. Er konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie Calum vollkommen abgefüllt auf seiner Terrasse eingeschlafen war.

„Angeblich betrunken? Du warst total hinüber.“

Calum senkte die Augen und rutschte auf seinem Sessel herum. Seine Wangen röteten sich etwas.

„Hm. Eigentlich nicht. Den größten Teil des Whiskys hat dein Olivenbaum bekommen. Leider war er nicht trinkfest und ist an einer Alkoholvergiftung gestorben.“

John richtete sich kerzengerade auf. Was war das für eine Geschichte?

„Was? Warum hast du mir denn etwas vorgemacht? Du hättest doch auch nüchtern mit mir darüber sprechen können.“

Calum hob den Kopf und sah ihn verunsichert an. Dieser Ausdruck hatte bei ihm Seltenheitswert.

„Das fand ich, gelinde gesagt, sehr schwierig. Also habe ich ein bisschen getrunken, um die Nervosität zu vertreiben, aber nicht so viel, dass ich nicht mehr die richtigen Fragen hätte stellen können.“

John war sprachlos. Offenbar hatte sich Calum bereits im Vorfeld ihrer Beziehung mehr Gedanken gemacht, als er jemals vermutet hätte. Das gefiel ihm.

„Nun spannt mich nicht auf die Folter. Wie ist das Spiel ausgegangen?“

John schrak auf und übernahm der Fairness halber die Fortsetzung der Erzählung.

„Calum hat mir auf Umwegen seine Bisexualität gebeichtet. Dann ist er auf der Terrasse eingeschlafen, oder hat es zumindest vorgetäuscht. Ich konnte einfach nicht glauben, was er mir erzählt hatte. Also brauchte ich irgendeinen Beweis. Daher nahm ich sein Handy und rief Robin an, der angeblich keine Frau, sondern ein Mann war.“

Julie beugte sich vor Spannung so weit vor, dass John Angst hatte, sie würde vom Sofa kippen.

„Wer ist Robin?“

Calum sprang auf und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. Seine Augen funkelten empört.

„Dir habe ich das zu verdanken! Eine ganze Woche lang hat Robin mich mit Anrufen genervt, weil ich mich angeblich wieder bei ihm gemeldet hätte.“

John zuckte schuldbewusst die Schultern.

„Tut mir leid. Ich war betrunken und wollte unbedingt eine Bestätigung deiner Aussage.“

Julies neugierige Stimme drängte sich in ihren Disput und ließ John auf Ablenkung hoffen.

„Wer ist Robin?“

Leider ließ Calum sich nicht so leicht aus dem Konzept bringen. Offenbar hatte Robin ihn arg genervt.

„Warum konntest du nicht bis zum nächsten Morgen warten oder mich wecken? Dann hätte ich dir auf andere Art bewiesen, dass Robin ein Mann ist.“

Julies Stimme war jetzt lauter und nahm einen drohenden Unterton an. Aus dem Augenwinkel nahm John wahr, dass sie aufgestanden war und sie anstarrte. Trotzdem hielt er seinen Blick auf Calum gerichtet.

„Jungs, ich verliere langsam die Geduld. Könntet ihr mir bitte sagen, wer dieser Robin ist?“

John gab ihr schnell Antwort, um es hinter sich zu haben.

„Calum hatte eine Affäre mit ihm. Er hatte mir davon erzählt, aber mich in dem Glauben gelassen, dass Robin eine Frau wäre.“

Die Information schien Julies Neugier vorerst zu befriedigen. Sie setzte sich wieder auf die Couch und griff nach einem Keks.

„Interessant. Macht weiter.“

John warf ihr einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern.

„So viel gibt es nicht mehr zu erzählen. Ich wusste bereits, dass Calum die Scheidung eingereicht hatte und somit theoretisch frei für eine neue Beziehung war.“

Calum schien sich langsam zu beruhigen, wie John erleichtert feststellte. Er hatte sich wieder in den Ohrensessel fallen lassen und angelte nach der Keksschale. Auch seine Stimme klang versöhnlich.

„Allerdings hat es viel Überzeugungsarbeit gekostet, bis John begriffen hat, dass nur er für eine solche Beziehung in Frage kommt. Tatsächlich wollte er nach San Francisco flüchten.“

„Das durftest du natürlich nicht zulassen, da gibt es viel zu viele Schwule.“

„Genau.“ Calum verfeinerte seinen Tee mit einem kräftigen Schuss Rum und reichte die Flasche dann an Julie weiter. John fragte sich, wann Kekse und Alkohol endlich bei ihm landen würden.

„Wie geht es jetzt weiter? Wann erzählt ihr allen anderen, dass ihr ein Paar seid?“

Calum nahm einen Schluck Tee und schnalzte genießerisch mit der Zunge, bevor er antwortete.

„Sobald meine Scheidung rechtskräftig ist. Ich traue Diane nicht über den Weg. Sie war von Anfang an gegen die Scheidung. Nicht, weil sie mich noch lieben würde, sondern weil sie ihren Lebensstandard halten will. Wenn sie erfährt, dass ich mit John liiert bin, wird sie die Scheidungspapiere nicht unterschreiben, sondern mit der Behauptung zu ihrem Anwalt rennen, dass John und ich seit Jahren heimlich ein Paar sind. Der ganze Fall würde noch einmal aufgerollt und mir möglicherweise die Schuld an der Zerrüttung der Ehe zugeschoben werden. Dann müsste ich für den Rest meines Lebens große Summen an Diane zahlen, die bei der Ausbildung meiner Söhne fehlen würden.“

Julie lächelte verständnisvoll.

„Das kann ich gut verstehen. Aber es ist bestimmt eine Erleichterung für euch beide, wenn ihr endlich zu eurer Beziehung stehen könnt.“

John sah, dass Calum mit einer Antwort zögerte. Seine Anspannung kehrte zurück. Wollte Calum wirklich nur wegen Diane und den Jungen ihre Beziehung geheim halten? Oder steckte vielleicht doch mehr dahinter? Zweifelte er daran, dass ihre Liebe Bestand haben würde? John fühlte sich plötzlich elend.

„Grundsätzlich ist es so. Ich möchte unsere Beziehung nicht länger als unbedingt nötig geheim halten. Allerdings muss ich zugeben, dass mir etwas vor der Reaktion meiner Söhne graut. Sie sind Teenager, müssen gerade die Scheidung ihrer Eltern verkraften und erfahren dann auch noch, dass ihr Vater bi und nun mit ihrem Patenonkel liiert ist. Ich habe Angst, dass sie aus Wut und Unverständnis vorerst den Kontakt zu mir abbrechen könnten. Das wäre die Hölle für mich.“

In Julies Augen meinte John Verständnis und Mitgefühl zu lesen. Er schämte sich, weil er sich darüber ärgerte. Fünfundzwanzig Jahre hatte er auf Calums Liebe warten müssen. Jetzt wollte er am liebsten jedem stolz erzählen, dass sie endlich ein Paar waren und durfte es nicht.

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass die beiden Vorurteile gegen Menschen haben, die nicht hetero sind. Schließlich sind sie mit John als Patenonkel aufgewachsen und lieben ihn.“

Calum hatte den Kopf nachdenklich geneigt, seine ganze Aufmerksamkeit war auf Julie gerichtet. John bekam dadurch das Gefühl, dass er mit dem Gesprächsthema nicht das Geringste zu tun hatte.

„Ich denke auch nicht, dass sie mir meine Bisexualität vorwerfen würden, sondern dass ich sie so lange vor ihnen und ihrer Mutter verheimlicht und sie somit hintergangen habe. Wahrscheinlich werden auch sie den Verdacht hegen, dass ich schon viel länger mit John liiert bin und ihre Mutter bei der Scheidung ausgetrickst habe.“

Mit einem Seufzer lehnte Julie sich auf dem Sofa zurück und nahm einen Schluck Tee.

„Das ist wirklich eine schwierige Situation. Aber sie wird nicht dadurch einfacher, dass du es noch länger verheimlichst.“

„Ich weiß. Daher werde ich nach der rechtsgültigen Scheidung sofort mit Andy und Reuben sprechen.“

John atmete auf. Jetzt war er Julie dankbar dafür, dass sie das Thema angeschnitten hatte, das er selbst so feige vermieden hatte. Oft genug hatte er sich selbst innerlich als gemeinen Egoisten beschimpft, der nur an seine Gefühle dachte und keine Rücksicht auf die Kinder seines Partners nahm. Jetzt konnte er sich sicher sein, dass die Wartezeit bis zum Outing begrenzt sein würde.

Kapitel 3

„Dieser Anzug gefällt mir an Ihnen besonders gut. Das Jackett betont Ihre breiten Schultern und die Farbe passt perfekt zu ihrem Teint.“

Diane schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln. Hatte er sich zuvor noch zweifelnd im Spiegel betrachtet, schien er jetzt um einige Zentimeter gewachsen zu sein. Nun war er blind für das langweilige Grau des Anzugs und bemerkte nicht, dass das Jackett über seinem Rücken spannte.

„Meinen Sie wirklich? Er gefällt mir auf jeden Fall besser als die anderen Modelle.“

Diane bemühte sich, ihre Erleichterung zu verbergen. Nachdem der Kunde mehr als zehn Anzüge anprobiert hatte, war sie kurz vorm Verzweifeln gewesen. Seine merkwürdige Figur schien in kein Modell zu passen, egal welche Größe und welchen Schnitt sie wählte. Da ihm nichts, was sie im Angebot hatten, stehen würde, hatte sie kein schlechtes Gewissen, ihm nun einen der teuersten Anzüge zu verkaufen.

„Ich bin ganz Ihrer Meinung. Der Schnitt ist ideal für Ihre Figur. Darf ich Ihnen noch eine passende Krawatte heraussuchen?“

„Sehr gern.“

Während sich der Kunde im Spiegel bewunderte, ging Diane zu dem Ständer mit den Krawatten hinüber. Nach kurzer Überlegung wählte sie ein dunkelblaues Modell aus dem höchsten Preissektor. Es würde Calums Augen wunderbar zur Geltung bringen, bei ihrem Kunden jedoch jegliche Wirkung verfehlen. Mit einem Lächeln trat sie zu dem untersetzten Mann.

„Diese hier würde sehr gut zu dem Anzug und Ihrer Augenfarbe passen.“

Sie konnte sehen, dass er sich geschmeichelt fühlte. Ohne die Krawatte genauer in Augenschein zu nehmen, stimmte er dem Kauf zu. Diane vermutete, dass er später ihr Dekolleté wesentlich besser beschreiben könnte, als das Accessoire. Doch wenn sie dadurch hohe Summen einnehmen konnte, würde sie keine Einwände erheben. Trotzdem entschlüpfte ihr ein erleichtertes Seufzen, als der Mann zahlte und die Boutique verließ. Ihre Kollegin Nadine gesellte sich mit einem anerkennenden Lächeln zu ihr.

„Respekt. Das hätte ich vermutlich nicht geschafft.“

Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Diane an die Ladentheke. Ihre schicken Schuhe drückten.

„Glaub mir, ich bin selbst überrascht, dass es mir gelungen ist.“

Nadine lachte verständnisvoll und öffnete einen Karton mit neu eingetroffenen Hemden. Als sie sich darüber beugte, spannte der Rock über ihrem breiten Po. Diane zog eine verächtliche Grimasse, während Nadine weiter plapperte.

„Du hast dich schnell eingearbeitet. Offensichtlich hast du Talent für diesen Job. Tim wird begeistert sein und dich in Vollzeit einstellen wollen.“

Das war auch Dianes Hoffnung und sie wusste, dass sie nicht unberechtigt war. Neben ihr wirkte Nadine wie ein Bauerntrampel. Allein durch ihre Attraktivität konnte Diane schon doppelt so viel wie sie verkaufen.

„Das wäre mir nur recht. Vielleicht könnte ich mir dann eine kleine Wohnung in der Nähe leisten.“

Nadine richtete sich mit hochrotem Gesicht auf und knallte den ersten Packen Hemden auf die Ladentheke.

„Oh, ich dachte, du hättest einen Lebenspartner, bei dem du wohnst?“

Diane versicherte sich, dass sich momentan tatsächlich keine Kunden in der Boutique aufhielten, bevor sie Nadine antwortete.

„Die Bezeichnung Lebenspartner passt nicht zu Brian. Wir sind erst seit kurzer Zeit liiert und ich bin nur aus der Not heraus zu ihm gezogen.“

Nadine sah sie mit großen Augen an, die ihre Neugier nicht verbergen konnten.

„Sag mir bitte, wenn ich zu aufdringlich bin. Aber mich interessiert natürlich, was für eine Notlage dich dazu gebracht hat.“

Diane seufzte und überlegte, wie sie sich im besten Licht erscheinen lassen konnte, ohne zu viel zu lügen. Sie war vorerst auf Nadines Wohlwollen angewiesen und wollte es sich daher nicht mit ihr verderben.

„Das ist eine längere Geschichte. Mit meiner Ehe lief es in den letzten Jahren immer schlechter. Leider muss ich zugeben, dass ich zumindest einen Teil der Schuld daran trage. Ich habe mich wohl zu sehr in meine Wohltätigkeitsarbeit hineingesteigert und zu wenig Zeit für meinen Mann gehabt.“

Nadine sah sie mit ihren Kuhaugen mitfühlend an und drückte ihre Hand.

„Ich finde, dass ehrenamtliche Tätigkeiten viel zu wenig gewürdigt werden. Wenn sich dein Mann vernachlässigt fühlte, hätte er dir das sagen müssen.“

Diane unterdrückte ein zufriedenes Lächeln. Sie hatte die naive Nadine auf den richtigen Weg gebracht.

„Nun, den meisten Männern fällt es ja schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. Daher kann ich sogar nachvollziehen, dass er alles in sich hineinfraß und statt mir zu sagen, dass ich ihm fehle, mehr und mehr arbeitete.“

Nadine begann, die Hemden nach Größen und Farben zu sortieren, wobei sie allerdings Diane wesentlich mehr Aufmerksamkeit schenkte, so dass sie blaue und grüne auf einen Stapel warf.

„Habt ihr denn nie über dieses Problem gesprochen?“

Diane zog die grünen Hemden von den blauen weg und fragte sich, ob Nadine möglicherweise farbenblind war. Das würde ihren grauenhaften Modegeschmack zumindest zum Teil erklären.

„Oh doch, sogar häufig. Ich habe immer wieder versucht, von ihm zu erfahren, was ihm an unserem Zusammenleben nicht gefiel und was ich ändern sollte. Doch er ist mir jedes Mal ausgewichen und zu seinem besten Freund geflüchtet. Irgendwann habe ich es dann aufgegeben. Das war ein Fehler.“

Wieder sah Nadine sie mitfühlend an und drückte mit ihren feuchten Fingern Dianes Hand.

„An deiner Stelle würde ich mir keine Selbstvorwürfe machen. Er hat blockiert und offenbar kein Interesse mehr daran gehabt, an eurer Beziehung zu arbeiten. Wenn ihm Beruf und Freunde wichtiger waren als du, darf er sich nicht über die Folgen wundern.“

Diane zuckte mit den Schultern und zog ihre Finger möglichst unauffällig aus Nadines Umklammerung. Ihre Hände waren ein wahres Feucht-Biotop.

„Sein Desinteresse war aber vielleicht auch meine Schuld. Ich bin nicht mehr so attraktiv wie früher, und er sieht blendend aus und könnte so gut wie jede Frau haben.“

Nadine stieß einen empörten Quietscher aus, wie Diane befriedigt feststellte.

„Ich bitte dich! Du siehst fantastisch aus. Allein mit deiner Figur lockst du mehr Kunden ins Geschäft als die beste Kollektion es je könnte.“

Diane strahlte. Genau das hatte sie hören wollen. In letzter Zeit hatte sie kaum mehr Komplimente bekommen. Das fehlte ihr. Wozu quälte sie sich im Fitnessstudio und stand morgens eine Stunde früher auf, um sich zu schminken, wenn es dafür keine Anerkennung gab?

„Vielen Dank. Trotzdem könnte es sein, dass ich Calums Ansprüchen nicht mehr genügt habe.“

„Dann ist er ein blinder Idiot. Ich hoffe, dass Brian dich besser behandelt.“

Diane wandte den Blick ab und seufzte mitleiderregend.

„Das kann ich leider nicht behaupten. Für ihn bin ich nur ein Betthäschen und eine Haushälterin.“

Nadines blass-blaue Augen weiteten sich erschrocken.

„Warum bist du dann mit ihm zusammen?“

„Das war nicht geplant. Aus Frust und Einsamkeit habe ich vor einigen Monaten eine Affäre mit Brian begonnen. Ich weiß, dass das nicht richtig war und kaum zu entschuldigen ist. Schließlich wollte ich meine Ehe retten, nicht zerstören.“

Diane wandte den Blick von Nadine ab und tat so, als müsste sie Tränen unterdrücken. Das war außerdem eine gute Gelegenheit, um ihre Hände aus der Reichweite von Nadine zu bringen. Die ließ sie schweigend weiterreden.

„Aber ich fühlte mich so allein und suchte nach Trost und Zärtlichkeit. Brian hat mich im Fitnessstudio angesprochen. Er war aufmerksam, hat mir Komplimente gemacht. Das habe ich genossen, weil ich es von Calum gar nicht mehr kannte. So führte leider eins zum anderen. Calum fand heraus, was ich getan hatte und trennte sich von mir. Ich musste irgendwo wohnen, also zog ich zu Brian. Das passte ihm gar nicht, es war ihm zu viel Nähe, und mir auch. Jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mehr Geld zu verdienen, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können.“

Nadine legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. Der Geruch ihres süßlichen Parfüms stieg Diane in die Nase.

„Mach dir keine Sorgen. Wenn du weiterhin so viel verkaufst, wird Tim dir bald eine Vollzeitstelle anbieten. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen. Hast du denn keine andere Einnahmequelle als diesen Job?“

Diane täuschte Fairness vor, um Nadine vollends auf ihre Seite zu ziehen. Sie war froh, dass sie Menschen schon immer gut hatte manipulieren können.

„Tatsächlich zahlt Calum meinen Teil der Miete und die Nebenkosten, was ich ihm hoch anrechne.“

„Wäre er nicht sogar zu höheren Unterhaltszahlungen verpflichtet? Zumindest sobald die Scheidung rechtskräftig ist?“ Diane stapelte neben den lindgrünen nun die hellblauen Hemden, damit sie keine Flecken von Nadines feuchten Händen bekamen.

„Theoretisch schon. Aber das möchte ich nicht, weil wir dann das Haus verkaufen müssten. Das sollen aber unsere Söhne erben, deren Ausbildung auch noch einiges kosten wird. Da stecke ich lieber zurück und arbeite mehr.“

Diane verschwieg, dass Brian bei Weitem nicht ihr einziger Liebhaber gewesen und dies Calum und den Anwälten bekannt war. Das war der wirkliche Grund dafür, dass sie nicht auf höhere Unterhaltszahlungen hoffen konnte. Jetzt umarmte Nadine sie tröstend, wobei ihre überflüssigen Pfunde mehr als deutlich zu spüren waren. Diane verzog das Gesicht.

„Genauso würde ich es für meine Kinder tun. Auch wenn wir uns noch nicht so lange kennen, mache ich dir jetzt einen Vorschlag. Ich finde es passend, weil wir beide ein ähnliches Schicksal haben. Meine Tochter ist gerade zu ihrem Lebenspartner gezogen. Eigentlich wollte ich mich daher nach einer kleineren Wohnung umsehen. Aber jetzt fände ich es toll, wenn du bei mir einziehen würdest. Mit deinem Mietanteil kann ich die Wohnung halten, du kommst von Brian weg und ich fühle mich nicht so allein. Was hältst du davon?“

Noch vor wenigen Monaten hätte Diane einen solchen Vorschlag nicht einmal einer Antwort gewürdigt. Aber es war immer noch besser, mit diesem verhuschten Hausmütterchen eine Wohnung zu teilen als mit Brian. Daher setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf.

„Das wäre wunderbar. Aber bist du dir ganz sicher, dass du mich als Mitbewohnerin willst? Wir kennen uns erst so kurze Zeit, vielleicht falle ich dir auf die Nerven.“

Nadine machte eine wegwerfende Handbewegung und Diane bildete sich ein, Tröpfchen fliegen zu sehen.

„Wir sind doch zwei erwachsene, vernünftige Frauen. Wenn wir ein Problem haben, sprechen wir darüber und schaffen es aus der Welt.“

Diane zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Ihr taten schon die Wangenmuskeln weh.

„Ich bin ganz deiner Meinung. Wann kann ich einziehen?“

Nadine griff nach den roten Hemden und knallte sie auf den Stapel mit den braunen. Sie musste farbenblind sein, eine andere Erklärung gab es dafür nicht.

„Meinetwegen sofort. Cathy wohnt bereits bei ihrem Freund.“

Diane mochte sich selbst kaum eingestehen, wie erleichtert sie war. Im Vergleich mit Brian konnte Nadine nur das kleinere Übel sein, und sie würde ja nicht ewig bei dieser Spießerin wohnen. Entweder bekam sie Calum zurück, oder sie fand einen anderen wohlhabenden Mann.

„Sehr gut. Dann spreche ich heute Abend mit Brian.“

„Viel Glück dabei. Den Kunden übernehme ich.“

Nadine stürmte zu einem jungen, schlaksigen Mann, der in den Sonderangeboten stöberte. Zufrieden lächelte Diane den Spiegel gegenüber der Kasse an. Sie fühlte sich wie eine Katze, die Sahne geschleckt hatte, ohne dabei erwischt zu werden.

Wie üblich war es eine Herausforderung, mit High Heels in den fünften Stock hinaufzusteigen. Die schicken, aber sehr schmalen Schuhe quetschten Dianes kleine Zehen ein und rieben bei jeder Stufe an ihren Fersen. Wenn das Treppenhaus nicht so verdreckt gewesen wäre, hätte sie ihre Schuhe unten ausgezogen und wäre barfuß gelaufen.

Das erinnerte sie an John, der am liebsten nie Schuhe tragen würde. Bei dem Gedanken spannte sie sich an. Sie gab John eine nicht unerhebliche Schuld daran, dass Calum sie in den letzten Jahren immer mehr vernachlässigt und schließlich die Scheidung eingereicht hatte. Ständig hatte er seine Freizeit bei John verbracht.

Diane fragte sich, über was die beiden stundenlang sprachen und was sie so interessant aneinander fanden. Für einen Mann wie Calum sollte seine attraktive Frau doch einen größeren Reiz ausüben als sein Freund. Die Loyalität und Freundschaft der beiden Männer überstieg ihr Verständnis. Sie hatte John sogar im Verdacht, den Detektiv bezahlt zu haben, der alles über ihre Affären herausgefunden hatte. Sollte das stimmen, würde sie es ihm nie verzeihen.

Diane war endlich im fünften Stock angelangt. Aus der Wohnung rechts von ihr drang Babygeschrei und der Streit eines Paares. Sie seufzte angewidert. Alle Mieter dieses Hauses waren eindeutig der Unterschicht zuzurechnen und verhielten sich dementsprechend.

Brian bildete leider keine Ausnahme. Als sie die Wohnungstür aufschloss, schlug ihr ein Geruchspotpourri aus kalter Pizza, dreckiger Toilette und Bier entgegen. Sie zuckte zurück und wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Dass sie nicht wusste, wohin sie sich sonst wenden konnte, trieb ihr fast die Frusttränen in die Augen. Sie tröstete sich damit, dass sie nur noch eine Nacht in dieser miefenden Wohnung verbringen musste.

Im Flur stolperte sie über einen Kleiderberg. Die Wandgarderobe hatte sich aus ihrer Verankerung gelöst und war samt Mänteln, Jacken und Schals zu Boden gefallen. Putz verzierte wie schmuddeliger Zuckerguss ihren teuren Dufflecoat.

Diane ballte vor Wut die Fäuste. Jetzt musste sie alle Jacken in die Reinigung bringen, da sie sie so nicht wieder anziehen mochte. Brian musste das Chaos gesehen und es, wie üblich, ignoriert haben. Das wäre ihr mit Calum nie passiert. Er hätte zumindest alles aufgehoben und versprochen, dass er die Wandgarderobe so schnell wie möglich reparieren würde.

Unterdrückt fluchend hob sie ihre Jacken auf und trat auf ihrem Weg ins Schlafzimmer absichtlich auf die von Brian. Noch schmutziger konnten sie dadurch kaum werden.

Im Schlafzimmer angelangt, warf Diane die Sachen auf das ungemachte Bett. Die Luft in dem kleinen, vollgestopften Raum war muffig. Brian hatte wieder einmal das Fenster geschlossen. Frische Luft hielt er für überflüssig. Der Zigarettenqualm, den er in der ganzen Wohnung verbreitete, schien ihm besser zu gefallen.

Diane hasste den Gestank von kaltem Rauch in ihrer Kleidung, ihren Haaren und allen Möbeln. Aber Brian dachte gar nicht daran, Rücksicht auf sie zu nehmen und auf dem Balkon zu rauchen. Calum dagegen hatte seine Zigaretten nicht einmal auf ihrem Grundstück angesteckt, sondern war dafür zu John gegangen.

Diane streifte die Schuhe von ihren schmerzenden Füßen, riss das Fenster auf und stapfte ins Wohnzimmer. Auf der fleckigen Couch hing Brian, halb sitzend, halb liegend. Seine Augen waren wie hypnotisiert auf den Fernseher gerichtet, seine linke Hand umklammerte eine Bierflasche, in seiner rechten aschte eine Zigarette auf den Teppich.

Diane verzog angewidert das Gesicht. Sie verstand selbst nicht mehr, warum sie sich jemals von diesem Unterschichtentropf angezogen gefühlt hatte. Sie wollte ihn und seine verdreckte Wohnung nur noch hinter sich lassen.

„Ich muss mit dir reden, Brian.“

Er löste seine Augen nicht eine Sekunde vom Bildschirm. „Nicht jetzt.“

Sie unterdrückte ihre Wut, denn sie wusste, dass sie mit Geschrei kein Stück weiterkommen würde. Das hatte sie die Erfahrung gelehrt.

„Es ist aber sehr wichtig.“

Brians Stimme wurde lauter und warnend.

„Ruhe! Arsenal spielt.“

Diane verlor nun doch die Geduld. „Entweder jetzt oder gar nicht.“

Brian warf ihr einen kurzen Blick zu. Dabei schien ihn ihr enges, tief ausgeschnittenes Kleid von einem Wutanfall abzuhalten.

„Es ist gleich Halbzeit. Nur ein paar Minuten.“

Diane warf sich in einen Sessel und trommelte mit den Fingern auf die Lehne. Endlich wurde abgepfiffen, und Brian wandte sich ihr schmierig grinsend zu. Das war sein Signal, dass er sofort Sex von ihr wollte, damit sie zu Beginn der zweiten Halbzeit fertig waren.

Diane unterdrückte ein Würgen. Um die Ausführung seines Vorhabens im Keim zu ersticken, begann sie kalt mit ihrer Ansprache.

„Ich habe mir unsere Beziehung und unser Zusammenleben anders vorgestellt.“

Das erwartungsvolle Grinsen auf Brians Gesicht verwandelte sich in eine Wutfratze.

„Was passt dir nun schon wieder nicht? Ich werde nicht putzen, das ist Weiberarbeit.“

Diane schnaubte abfällig und merkte, wie ihre Wangen vor Zorn zu glühen begannen. Was hatte sie je an diesem Mann gefunden?

„Willkommen in den Fünfziger Jahren. Dieses Dreckloch lässt sich gar nicht mehr reinigen. Der Schmutz hat sich überall hineingefressen. Aber darum geht es nicht, jedenfalls nicht nur.“

Brian rülpste laut, um ihr zu zeigen, was er von ihren Worten hielt.

„Laber nicht so gestelzt. Sag mir, was du willst.“

Er schien es nicht anders zu wollen, also kurz und schnell – wie Sex mit ihm.

„Die Trennung. Wir passen nicht zueinander, daher ist es das Beste.“

Brian sprang auf. Die Bierflasche knallte auf den Teppich und der Inhalt fügte ihm einen weiteren Fleck hinzu.

„Was? Wieso? Hast du einen anderen Kerl?“

„Nein. Ich werde zu einer Kollegin ziehen.“

Er verzog das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse, und Diane wurde beinahe schlecht.

„Bist du jetzt lesbisch? Bei dem Sex, den wir hatten?“

In Diane begann es zu brodeln. Sie musste sich zur Ruhe gemahnen, denn Brian war ein Choleriker. Wenn sie ihn provozierte, könnte er vermutlich handgreiflich werden. Mit erzwungener Ruhe antwortete sie mit einer Notlüge.

„Ich bin nicht lesbisch, und der Sex war gut. Aber alles andere gefällt mir nicht.“

Brian schnaubte abfällig, ließ sich wieder aufs Sofa fallen und schnappte sich die halb ausgelaufene Bierflasche. Seine kleinen, eng beieinander stehenden Augen wanderten zurück zum Bildschirm.

„Okay, dann zieh zu der Tusse und komm zum Ficken vorbei.“

Diane zuckte zusammen. Sie verabscheute solche Ausdrücke.

„Mit Sicherheit nicht. Ich möchte einen klaren Schnitt, eine richtige Trennung. Es wird Zeit, dass ich zur Ruhe komme und über meine Zukunft nachdenke.“

Brians Rülpsen hallte von den Wänden wieder. Fast erwartete Diane, dass die Nachbarn applaudieren würden.

„Keine Ahnung, was du da laberst. Hau meinetwegen ab. Hast mich in letzter Zeit genug genervt. Zu wenig Sex, zu viel blödes Gemecker.“

Diane stand auf. Sie hatte genug gehört. Es war jetzt unvorstellbar für sie, auch nur eine einzige weitere Nacht bei Brian zu verbringen.

Auch wenn es ihr Budget überstieg, würde sie in einem Hotel schlafen und gleich am nächsten Morgen Nadines Wohnung besichtigen. Dort war es mit Sicherheit besser als hier.