Märchenhaft-Trilogie (Band 3): Märchenhaft erblüht - Maya Shepherd - E-Book

Märchenhaft-Trilogie (Band 3): Märchenhaft erblüht E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Der Tag der Entscheidung rückt immer näher. Aber was, wenn Herz und Kopf gegeneinander arbeiten? Ein Maskenball soll Prinz Lean Klarheit verschaffen. Doch seine Wahl muss warten, als erneut die Schwarze Hexe auftaucht. Sie hat sich geschworen, erst zu ruhen, wenn die Liebe im Keim erstickt ist. Das Königreich bangt nicht nur um den Prinzen, sondern auch um seine gesamte Zukunft. Auch dieses Mal muss der Prinz nicht allein gegen das Böse kämpfen. Heera und seine Freunde stehen ihm tapfer zur Seite. Wird es ihnen gelingen, die Schwarze Hexe endgültig zu besiegen? Und wie hoch ist der Preis dafür?

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1 - Heera

Kapitel 2 - Lean

Kapitel 3 - Medea

Kapitel 4 - Heera

Kapitel 5 - Erina

Kapitel 6 - Heera

Kapitel 7 - Erina

Kapitel 8 - Heera

Kapitel 9 - Erina

Kapitel 10 - Heera

Kapitel 11 - Erina

Kapitel 12 - Heera

Kapitel 13 - Erina

Kapitel 14 - Lean

Kapitel 15 - Erina

Kapitel 16 - Lean

Kapitel 17 - Medea

Kapitel 18 - Heera

Kapitel 19 - Heera

Kapitel 20 - Amphion

Kapitel 21 - Lean

Kapitel 22 - Medea

Kapitel 23 - Lean

Kapitel 24 - Erina

Kapitel 25 - Lean

Kapitel 26 - Niobe

Kapitel 27 - Heera

Kapitel 28 - Heera

Kapitel 29 - Heera

Kapitel 30 - Heera

Kapitel 31 - Heera

Kapitel 32 - Heera

Kapitel 33 - Lean

Kapitel 34 - Heera

Kapitel 35 - Heera

Kapitel 36 - Lean

Kapitel 37 - Heera

Kapitel 38 - Silas

Kapitel 39 - Medea

Kapitel 40 - Heera

Kapitel 41 - Lean

Kapitel 42 - Medea

Kapitel 43 - Erina

Kapitel 44 - Medea

Kapitel 45 - Erina

Kapitel 46 - Heera

Kapitel 47 - Lean

Kapitel 48 - Medea

Kapitel 49 - Lean

Kapitel 50 - Medea

Kapitel 51 - Heera

Kapitel 52 - Lean

Kapitel 53 - Lean

Kapitel 54 - Heera

Kapitel 55 - Lean

Kapitel 56 - Heera

Kapitel 57 - Lean

Kapitel 58 - Heera

Kapitel 59 - Lean

Kapitel 60 - Heera

Kapitel 61 - Lean

Kapitel 62 - Heera

Kapitel 63 - Lean

Kapitel 64 - Heera

Kapitel 65 - Heera

ZUR INSPIRATION GENUTZTE MÄRCHEN

DANKSAGUNG

 

Maya Shepherd

 

 

Märchenhaft erblüht

Band 3

 

 

Fantasy

 

 

Die Märchenhaft-Trilogie (Band 3): Märchenhaft erblüht

Der Tag der Entscheidung rückt immer näher. Aber was, wenn Herz und Kopf gegeneinander arbeiten?

Ein Maskenball soll Prinz Lean Klarheit verschaffen. Doch seine Wahl muss warten, als erneut die Schwarze Hexe auftaucht. Sie hat sich geschworen, erst zu ruhen, wenn die Liebe im Keim erstickt ist. Das Königreich bangt nicht nur um den Prinzen, sondern auch um seine gesamte Zukunft.

Auch dieses Mal muss der Prinz nicht allein gegen das Böse kämpfen. Heera und seine Freunde stehen ihm tapfer zur Seite. Wird es ihnen gelingen, die Schwarze Hexe endgültig zu besiegen? Und wie hoch ist der Preis dafür?

 

 

 

 

 

Die Autorin

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher.

Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Im August 2015 gewann Maya Shepherd mit ihrem Roman ›Märchenhaft erwählt‹ den Lovely Selfie Award 2015 von Blogg dein Buch.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Juni 2021

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2021

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat/Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-173-4

ISBN (epub): 978-3-03896-194-9

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Lena.

Trau dich, nach den Sternen zu greifen.

 

 

 

Liebe ist ein Segen

für all jene,

die lieben und zurückgeliebt werden.

Liebe ist ein Fluch

für all jene,

denen die Liebe verwehrt bleibt.

Wandelt sich Segen in Fluch,

zersplittert das Herz

und jeder Schritt gleicht einem Marsch durch ein dunkles Dornenmeer.

 

 

 

Kapitel 1 - Heera

 

Gedankenverloren strich Heera mit der Bürste über das hellbraune Fell des Hengstes. Haare flogen auf und kitzelten ihr in der Nase. Ihr Atem hinterließ eine Wolke in der kühlen Winterluft. Außerhalb des Stalls fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Es roch nach Schnee, Stroh und Holz. Sie konnte das gleichmäßige Schnauben des Tieres unter ihrer aufgelegten Handfläche spüren.

In den ersten Tagen nach dem Ball hatte sie es nicht ertragen können, das Pferd zu sehen. Es war ein Geschenk von Lean und trug auch noch seinen Namen. Allein die Vorstellung, in die warmen, treuen Augen des Tieres zu blicken, hatte so sehr in ihrer Brust geschmerzt, dass die Tränen ihr über die Wangen gerollt waren. Sie hatte viel geweint – mehr als je zuvor in ihrem Leben.

Dort, wo einst ihr Herz gewesen war, schien nur noch ein entzündeter und schmerzender Muskel zu sitzen, der sich bei jedem Schlag wie ein Dorn immer tiefer in ihr Fleisch bohrte. Ein Schnupfen verging, eine Lungenentzündung konnte behandelt werden und ein gebrochener Knochen wuchs wieder zusammen, aber selbst der beste Heiler der Welt konnte nichts gegen ein zersplittertes Herz tun.

Der Kummer umschloss sie wie eine dunkle Wolke und legte sich schwer auf ihre Schultern. Sie wollte nicht mehr daran denken, was geschehen war, wollte nicht mehr an seine Worte denken und am wenigsten daran, dass er ihr nicht einmal dabei hatte in die Augen schauen können.

Er war feige! So verdammt feige! Sie wollte ihn beschimpfen, verfluchen, verprügeln und hassen, aber nichts davon tat sie – nichts davon konnte sie.

Stattdessen verkroch sie sich wie eine Maus in die hintersten Winkel des Landguts, auf dem sie nun mit ihrer Familie lebte, und fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie Prinz Lean wieder gegenübertreten musste.

Natürlich hatte sie letztendlich doch eingewilligt, seine Jägerin zu werden. Wie hätte sie dieses Angebot ausschlagen können? Ihr Vater war alt und seine Knochen müde. Ihre Mutter fror im Winter, stand mit knurrendem Magen auf und legte sich mit diesem auch wieder zur Ruh. Die kleine Elena konnte nur von Süßigkeiten und schönen Kleidern träumen. Heera hatte ihrer Familie zuliebe an der Auswahl teilgenommen, und wenn sie nun ihr Leben zum Besseren wenden konnte, dann war sie bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Sie hätte sich allerdings niemals träumen lassen, dass sie dafür ihr Herz würde opfern müssen.

Während ihre Familie sich jeden Tag wohler in ihrem neuen Zuhause zu fühlen schien, empfand Heera die Unterkunft wie ein goldenes Gefängnis.

Das Landgut war ein großes Gebäude mit einer Fassade, so weiß wie Schnee, und Fensterläden, so grün wie die Tannen des Waldes. Beinahe in jedem Raum befand sich ein Ofen, der jedes einzelne Zimmer des großen Hauses wärmer hielt, als es in ihrer Hütte, weit weg vom königlichen Schloss, jemals gewesen war. Die Wände waren mit edlen Tapeten bezogen, deren Stoff teurer war als alles, was sie sich jemals für ihre Kleider hätten leisten können. Weiche Polstermöbel und auf Hochglanz polierte Holzmöbel statteten die Zimmer aus.

Heeras Mutter wurde nicht müde, durch die Räume zu tanzen und sich mit vor Freude funkelnden Augen im Kreis zu drehen wie ein kleines Kind. Ihr Gesicht sah nun nicht mehr abgemagert und erschöpft aus, sondern ihre Wangen glühten rosig wie die eines jungen Mädchens, so voller Leben. Am liebsten wechselte sie mehrmals am Tag die Kleider, die sie von der Königin zum Einzug geschenkt bekommen hatte. Fast so, als fürchtete sie, dass ihr Glück schon bald wieder vorbei sein könnte.

Selbst ihrem Vater konnte Heera ansehen, wie sehr er den Luxus genoss, wenn er in dem weichen Sessel vor dem warmen Kaminfeuer mit geschlossenen Augen saß und dem Knistern der Flammen lauschte. Er hatte es sich verdient, endlich die Füße hochlegen zu dürfen.

Heera wünschte, sie könnte sich mit ihnen freuen, doch sie fühlte sich elend dabei, auch nur in dem Bett zu schlafen, das die königliche Familie ihnen geschenkt hatte.

Es kam ihr vor, als hätte man sich ihr Wohlwollen erkauft, als könnte Lean mit all den Geschenken wiedergutmachen, was er ihrem Herzen angetan hatte.

Wäre es nur um sie gegangen, hätte er sie nie wiedergesehen. Sie wäre der Sonne entgegengezogen und so weit gelaufen, wie ihre Füße sie getragen hätten. Vielleicht hätte jeder Schritt, den sie zwischen sich und Lean gebracht hätte, den Kummer gelindert, sie ihn vielleicht sogar vergessen lassen.

Irgendwann würde sie ihm wieder unter die Augen treten müssen. Früher, als ihr lieb war. Eigentlich hätte sie bereits am Vortag mit den anderen Jägern zum Training mit den Falken der westlichen Prinzessin Fjodora erscheinen sollen, und am Morgen hätte sie sich zur Arbeit in den Wald begeben müssen, doch nichts davon hatte sie getan.

Vielleicht war das der Grund, warum ihre Mutter fürchtete, bald aus diesem neuen Leben wie aus einem Traum aufzuwachen und sich erneut in der kalten und windschiefen Hütte wiederzufinden. Doch gleichzeitig wagte sie nicht, Heera deshalb Vorwürfe zu machen. Wann immer sie ihr begegnete, schien sie mit den Tränen zu ringen und streckte ihre Hände tröstend nach ihr aus, doch Heera konnte ihr Mitleid noch weniger ertragen als ihren Zorn. Sie sehnte sich nach ihren Schimpftiraden genauso sehr wie nach dem undichten Dach ihres alten Zuhauses. Wenn nur alles wieder so wie früher wäre – bevor sie Lean kennengelernt hatte –, könnte sie vielleicht so tun, als schlage ihr Herz immer noch im selben Takt.

Nach Tagen voller Selbstmitleid hielt Heera es nicht länger in dem Gefängnis aus, das nun ihr Zuhause sein sollte, und schlich sich deshalb in den Stall, in dem nun ihre altersschwache Ziege zusammen mit dem Pferd und der Kuh, die sie von Lean geschenkt bekommen hatte, lebte.

Sie sattelte den großen Kaltblüter und stieg auf seinen breiten Rücken, ehe sie es sich doch noch anders überlegen konnte. Für die Jagd war es bereits zu spät am Tag, dennoch wollte sie in den Wald, um bei einem Ausritt die Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch dafür musste sie durch die Stadt – am Schloss vorbei.

Sie hoffte, dass Lean zu beschäftigt damit sein würde, aus goldenen Bechern zu trinken, Kleider aus Seide zu tragen, Edelsteine zu bewundern und mit ihrer Schwester den Hochzeitswalzer zu üben, um sich seine Zeit mit dem gemeinen Volk zu vertreiben.

Es war nicht das, was sie wirklich über ihn dachte, aber es half ihr, sich in ihr engstirniges Denken von früher zu flüchten, in eine leichtere Welt. Trotzdem versteckte sie ihr haselnussbraunes Haar unter dem dicken dunkelgrünen Wollumhang der Jäger und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Alle würden nur einen schmächtigen Jäger auf einem Pferd sehen und nicht Heera – das Mädchen, das dumm genug gewesen war, zu glauben, dass aus einem hässlichen Entlein ein Schwan werden könnte.

 

Das geschäftige Treiben der Stadt war schon aus der Ferne zu hören und zu riechen. Aus den Schornsteinen und offenen Feuerstellen stiegen dicke Rauchschwaden in den Himmel und trugen den Geruch von verbrennendem feuchten Holz viele Meilen weit. Das Geschrei der Marktschreier schwoll zu einem unverständlichen Grölen an, begleitet von dem Gackern, Kreischen und Schimpfen der Tiere, die zum Kauf angeboten wurden oder sich durch die Straßen trieben.

Niemand schien Notiz von Heera zu nehmen, als sie über die Schwelle des Stadttores ritt und sich einen Weg durch die Gassen bahnte. Sie war dankbar für das wilde Treiben, in dem sie unsichtbar werden konnte. Früher war sie ein Teil davon gewesen. Sie hatte die Tiere, die sie im Wald mit ihrem Bogen erschossen hatte, dort verkauft oder getauscht. Jeder kannte sie als die furchtlose Heera, die mehr Junge als Mädchen war.

Als sie den Marktplatz erreichte, musste sie von ihrem Pferd absteigen, um sich einen Weg durch die Menschenmassen bahnen zu können. Zur Mittagszeit war hier am meisten los.

Ihre Füße berührten den Boden und sie vernahm das scheue Räuspern und Flüstern einer hellen Kinderstimme: »Bist du Heera die Furchtlose?«

Hinter ihr stand ein Mädchen mit blonden Zöpfen, magerem Gesicht und schmutziger Kleidung, das hoffnungsvoll zu ihr emporblickte. Am liebsten hätte sie ihr gesagt, dass es diese Heera nicht mehr gebe, denn sie war nicht länger furchtlos.

Doch die Kleine sah voller Zuversicht zu ihr auf, sodass sie es nicht wagte, sie zu enttäuschen. Stattdessen beugte sie sich zu ihr runter, zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Ja, das bin ich. Warum möchtest du das wissen?«

Die Augen des Kindes weiteten sich voller Staunen, und sein Mund verzog sich zu einem bewundernden Lächeln. »Ich möchte auch so furchtlos und mutig sein wie du und eines Tages Jägerin werden.«

Heera war versucht zu lachen. Nie hatte irgendjemand so sein wollen wie sie, die meisten hatten sie immer nur belächelt oder gar die Nase gerümpft.

Ehe sie sichs versah, drehte sich das Mädchen plötzlich um und rief aus vollem Halse: »Das ist Heera!«

Erst jetzt sah Heera die anderen Kinder, die sich hinter einem Brunnen versteckt hatten und nun auf sie zugeströmt kamen. Es waren alles Mädchen, etwa in dem Alter ihrer jüngsten Schwester Elena. Sie trugen keine Puppen unter dem Arm oder selbst gebastelte Kronen auf dem Kopf, wie es für Mädchen in ihrem Alter, die davon träumten, einmal eine Prinzessin zu werden, üblich gewesen wäre, sondern hielten selbst gebastelte Bögen und Pfeile in den schmutzigen Kinderhänden.

Aber nicht nur die Kinder hatten Notiz von ihr genommen, plötzlich schienen sich die Augenpaare aller Anwesenden auf sie zu richten. Männer und Frauen sämtlichen Alters drängten sich in ihre Nähe.

Man tätschelte ihr anerkennend die Schultern, beglückwünschte sie und drückte seine tiefe Bewunderung aus. Niemand machte sich lustig über sie. Ganz im Gegenteil: Direkt mehrere Frauen schimpften voller Empörung darüber, dass Lean sich gegen sie entschieden hatte. »Du bist unsere Königin der Herzen«, hörte Heera immer wieder.

Die Reaktion der Menschen war völlig anders, als sie es erwartet hätte. Sie hatte geglaubt, man würde über sie lachen, sie gar verspotten, stattdessen fühlten sie mit ihr, nahmen Anteil an ihrem Leid. Trotz des bitteren Schmerzes der Zurückweisung breitete sich in ihrem Inneren eine wohlige Wärme aus.

Die Auswahl hatte sie verändert – sie wurde von fremden Menschen geschätzt und bewundert. Sie erkannten ihren Mut und ihre Furchtlosigkeit an.

Trotzdem konnte die Wärme den Kern ihres Herzens nicht erreichen, denn was nützte es ihr, von Fremden gemocht zu werden, wenn der, den sie liebte, ihre Gefühle nicht erwiderte? Der Mut zur Liebe hatte ihr die Anerkennung der anderen eingebracht, doch sie hatte dafür ihre Furchtlosigkeit, die sie wie einen Schutzmantel um sich getragen hatte, verloren.

Sie lächelte und zeigte sich dankbar für das Lob, gleichzeitig schien sich ihr die Luft abzuschnüren.

Als sie die Tore der Stadt erreichte und wieder auf den Rücken ihres Pferdes stieg, schnappte sie nach Luft, als hätte man sie unter Wasser gedrückt.

Das, wofür man sie bewunderte, war nur noch eine dünne Fassade. Ihr Inneres war leer, nichts war mehr von der alten Heera übrig. Liebe war wertlos, wenn sie nicht erwidert wurde.

Kapitel 2 - Lean

 

Schneeflocken tanzten vor dem Fenster, an dessen Rand noch die letzten Eisblumen der Nacht wuchsen. Leans Atem beschlug die Scheibe, sodass er mit der flachen Hand über das Glas wischen musste, um wieder etwas sehen zu können. Sein Zimmer bot Blick auf den Innenhof des Schlosses, in dem die Jäger gerade das Schießen übten.

Mit den Augen fixierte er jeden Einzelnen von ihnen – sie war nicht unter ihnen. Es hätte ihn überrascht, wenn es anders gewesen wäre.

Er hatte Heera seit dem Ball nicht mehr gesehen. Sie hatte ihm über Medea mitteilen lassen, dass sie sein großzügiges Angebot, seine Jägerin zu werden, annehmen würde.

Seltsamerweise hatte er sich nicht einmal darüber freuen können. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass selbst Medea bedrückt dabei ausgesehen hatte und Lean ganz genau wusste, dass Heera nicht seinetwegen blieb, sondern allein wegen ihrer Familie. Sie lebten nun in einem Landgut, das nicht weit vom Schloss entfernt lag.

Seine Mutter hatte es ausstatten lassen und war selbst schon auf einen Tee zu Gast gewesen. Danach hatte sie von Cynthias Gastfreundschaft und Elenas Lieblichkeit geschwärmt. Heera hatte sie jedoch mit keinem Wort erwähnt.

Den ersten Tag, den Heera nicht zur Arbeit erschienen war, hatte er unbeachtet gelassen. Am zweiten Tag hatte er sich jedoch genötigt gefühlt, Silas zu dem Landgut zu schicken, um sich nach Heera zu erkundigen. Das ganze Königreich wusste immerhin, dass Heera nun als erste Frau zu der königlichen Jagdmannschaft gehörte, und es würden Gerüchte entstehen, wenn sie sich dort nicht blicken ließ.

Heeras Vater hatte Silas die Tür geöffnet, und als er hörte, weshalb er gekommen war, hatte er ihm ziemlich unwirsch mitgeteilt, dass seine Tochter erkrankt sei und sie kommen werde, sobald es ihr wieder besser gehe. Zudem hatte er Lean ausrichten lassen, sollte er Zweifel an ihrem Zustand hegen, könne er gerne vorbeikommen, um sich selbst davon zu überzeugen. Es hatte fast wie eine Aufforderung geklungen, der Lean jedoch unmöglich nachkommen konnte.

Sein Herz sehnte sich nach Heera mit jedem Schlag, aber er schämte sich zu sehr, um ihr unter die Augen zu treten.

Zwar bereute er seine Entscheidung nicht und war immer noch von ihrer Richtigkeit überzeugt, aber er bedauerte, damit Heera so sehr verletzt zu haben.

Nachdem er sich auf dem Ball gegen sie entschieden hatte, ertrug er es nicht, sie anzusehen, und trotzdem hatte er gewusst, dass sie weinte. Es war fast, als würde sein Herz bei jeder Träne, die sie vergoss, bluten und zerspringen.

Sie war mit stolzgeschwellter Brust, erhobenem Kopf und einem vorlauten Mundwerk an den Hof gekommen – unbeugbar und unerschütterlich. Nun versteckte sie sich vor ihm wie ein scheuer Hund, der von seinem Herrn zu oft geprügelt worden war und nie wieder einer menschlichen Hand trauen würde. Die Liebe hatte sie gebrochen.

Er hatte sie gebrochen.

Aber nicht nur sie. Lean hegte keinen Zweifel daran, dass er Heera liebte. Er liebte sie so sehr, dass alles andere plötzlich unwichtig erschien. Und genau das war der Grund, warum sie nicht zusammen sein konnten. Ihre Liebe war zu groß. Er war der zukünftige König und nichts und niemand durfte über dem Wohl von Chóraleio stehen.

Ein leises, respektvolles Klopfen gegen das Holz der Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken und er wendete dem Fenster den Rücken zu.

»Herein.«

Die Tür öffnete sich. Eine seiner Wachen stand dahinter. »Es ist Zeit, mein Prinz.«

Lean zwang sich, nicht missmutig das Gesicht zu verziehen. Er war mit Medea verabredet. Jeden Tag verbrachte er Zeit mit einer seiner drei Finalistinnen, um sie besser kennenzulernen und so eine Entscheidung fällen zu können.

Er mochte die drei Mädchen und er konnte sich mit jedem von ihnen ein gemeinsames Leben vorstellen, doch es war nicht das Leben, das er sich wünschte oder ausgesucht hätte, wenn er eine wirkliche Wahl gehabt hätte.

 

Medea erwartete ihn im Schlosshof. Schneeflocken hatten sich auf ihren dunklen Umhang gelegt, unter dem ihr schwarzes Haar hervorschaute. Ihre Haut war fast so weiß wie der Schnee, der sich über jedes Haus, jede Wiese und jeden Baum legte. Das Blau ihrer Augen leuchtete wie Saphire, als sie ihn erblickte und sich ihre Lippen zu einem höflichen Lächeln verzogen.

Sie verneigte sich vor ihm, ganz so, wie man es ihr beigebracht hatte. Königin Niobe wäre äußerst zufrieden mit ihr gewesen.

»Schön, dich zu sehen, Medea«, begrüßte Lean sie und reichte ihr seinen Arm, in den sie sich einhakte, dabei sah sie ihn jedoch für einen Augenblick so ungläubig an, als würde sie es besser wissen.

Doch bereits einen Moment später war ihr Gesicht wieder zu der perfekten Maske der Glückseligkeit erstarrt. Sie lächelte zufrieden, ihre Augen strahlten und sie hatte einen stolzen Gang, wie man es von einer zukünftigen Königin erwarten würde. So machten sie sich zusammen in die Stadt auf.

Medea mochte den Trubel. Es machte ihr nichts aus, wenn die Menschen sie umringten und von allen Seiten auf sie einredeten. Ganz im Gegenteil: Sie schien dabei geradezu aufzublühen, blieb immer freundlich und hatte für jeden ein Lächeln übrig. Wann immer sie gebeten wurde, zu singen, kam sie der Aufforderung nach. Ihr Gesang war wie ein Zauber – er machte die Menschen glücklich, er ließ sie für kurze Zeit alle Sorgen vergessen. Selbst Lean konnte sich seiner Wirkung nicht gänzlich entziehen.

Kaum dass sie das Schlosstor verließen und über die Brücke des Burggrabens schritten, wurden sie bereits von den ersten Stadtbewohnern bemerkt, die ihnen sogleich fröhlich applaudierten. Die Hochzeit war nicht nur für Lean ein aufregendes Ereignis, sondern für das ganze Volk. Umso schwerer wog die Verantwortung auf seinen Schultern.

Welche der drei Finalistinnen würde die neue Königin werden?

Zu Ehren des frisch gekrönten Brautpaares sollten die Feierlichkeiten eine ganze Woche andauern. Besucher aus abgelegenen Dörfern und Gäste aus anderen Königreichen würden in die Stadt strömen und damit auch die Geschäfte ankurbeln. Die Häuser würden geschmückt werden und es gäbe selbst für die Ärmsten der Armen ein Festmahl.

Als sie den Marktplatz erreichten, hatte sich bereits eine dicke Menschentraube um sie herum gebildet. Es herrschte wildes Stimmengewirr, doch plötzlich spürte Lean, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte.

Als er zu seiner Rechten schaute, erblickte er eine alte, gekrümmte Frau, deren knochige Finger auf dem weichen Samtstoff seines Umhangs lagen. Aber ihr Blick war so aufgeweckt wie der eines jungen Mädchens.

»Mein Prinz, Euer Mund ist zu einem Lächeln verzogen, doch in Euren Augen lese ich den Kummer eines gebrochenen Herzens.« Sie hielt ihm einen Teller mit duftenden Küchlein unter die Nase. »Kostet, auf dass der Zucker Euren Schmerz lindere.«

Er starrte die Alte fassungslos an und merkte dabei gar nicht, wie still es um ihn herum geworden war.

Diese Fremde hatte ihn durchschaut, obwohl er sich Mühe gegeben hatte, seine wahren Gefühle vor ihr und allen anderen zu verbergen. Hatte sie ausgesprochen, was alle sahen? War es wirklich so offensichtlich?

Höflich griff er nach einem Küchlein, dabei sagte er: »Habt Dank, gute Frau. Doch seid gewiss, mein Herz ist nicht gebrochen. Wie könnte es auch in der Begleitung einer wundervollen Frau wie Medea?«

Er hielt das Küchlein Medea hin, die nach einem kurzen Moment des Zögerns davon abbiss. Sie schloss genießerisch die Augen und machte »Mhmmmm«.

Lean nahm nun ebenfalls einen Bissen, und als auch er den Geschmack lobte, schien der Ausspruch der alten Frau wieder vergessen zu sein.

Medeas Lippen waren noch von dem Puderzucker des Kuchens bestäubt, als Lean sie sanft bat: »Bitte sing für uns!«

Ihre Wangen erröteten und sie schlug bescheiden die Augen nieder, bevor die ersten Worte aus ihrer Kehle drangen. Augenblicklich schienen alle den Atem anzuhalten, um nicht den kleinsten Ton ihres Liedes zu verpassen.

Auf diese Weise würde niemand auf die Idee kommen, Lean noch einmal auf seine Gefühle oder gar Heera anzusprechen. Sosehr die Menschen auch Medea und die anderen beiden Finalistinnen mochten, Heera schienen sie, seitdem Lean sich gegen sie entschieden hatte, zu lieben. Sie liebten am meisten an ihr, dass sie anders war – ihren Mut, ihre Unbeugsamkeit und ihre ungeschönte Ehrlichkeit.

Die kleinen Mädchen sahen zu ihr auf. Heera vermittelte ihnen, dass nichts unmöglich war. Ein Mädchen konnte mehr erreichen, als nur irgendjemandes Frau zu werden – es konnte alles sein, selbst eine Jägerin des Königs.

Zudem hatte sie bewiesen, dass Mut keine Frage der Größe oder Stärke war, sondern einzig und allein des Herzens. Sie war eine wahre Heldin.

Leans Blick glitt über die Menge, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dort, am Rande des Marktplatzes, huschte eine schmale Gestalt in dem tannengrünen Umhang der Jäger entlang und hatte es offenbar eilig, ungesehen aus der Stadt zu kommen. Über ihrem Rücken hing ein Köcher mit Pfeilen und ein Bogen. Leans Herzschlag stolperte – Heera war die Einzige, die mit einem Bogen anstatt einer Armbrust schoss.

Sein Magen zog sich zusammen und er hatte das Gefühl, als ergreife eine fremde Macht Besitz von ihm. Seinen ganzen Körper zog es zu der Gestalt, die nun hinter einer Ecke verschwand. Ehe er sichs versah, rannte er bereits los.

Er bahnte sich einen Weg durch die Menschen, wobei er nur am Rande ihre verständnislosen Blicke wahrnahm, doch ihre Gesichter verschwammen zu einem.

Als er die Straßenecke erreichte, sah er gerade noch, wie der grüne Umhang am Ende der Straße nach links abbog.

Es gab für ihn kein Halten mehr. Er wusste nicht, warum er ihr nachrannte und was er sagen sollte, wenn er sie einholte. Er wusste nur, dass er in ihre Augen blicken musste, welche die Farbe des Waldes hatten.

Alles, was er sagen könnte, würde nicht ungeschehen machen, was er ihr angetan hatte. Aber vielleicht war ihre Liebe groß genug, dass sie eines Tages Freunde sein könnten.

Am Ende der Straße befand sich das Stadttor, das zum Wald führte. Der Umhang verschwand zwischen den Bäumen, und Lean wusste, wenn er sie jetzt nicht einholte, würde er sie in den Tiefen des Waldes aus den Augen verlieren.

»Warte!«, schrie er laut und rannte über den Weg, sodass der frische Schnee unter seinen Füßen knirschte. »Warte auf mich!«

Zu seinem Erstaunen hielt die Gestalt tatsächlich inne und drehte sich in seine Richtung. Atemlos erreichte er sie und erschrak beinahe zu Tode, als er nicht in das herausfordernde Gesicht von Heera, sondern in das eines fremden Jünglings blickte.

»Was ist los, mein Prinz? Ist etwas passiert?«, fragte dieser besorgt und sah sich zu allen Seiten um.

Lean schüttelte ungläubig den Kopf und deutete auf den Bogen, der über dem Rücken des Jungen hing. »Woher hast du diesen Bogen?«, stieß er anklagend hervor.

Der junge Jäger trat einen Schritt zurück. »Selbst gebaut. Ich wollte nur einmal ausprobieren, damit zu schießen. Ist Euch das nicht recht, mein Prinz?« Er schien sich zu fürchten.

Erst jetzt bemerkte Lean, wie wahnsinnig er auf den Jungen wirken musste. Nicht nur dass er ihm durch die gesamte Stadt nachgerannt war, nun schrie er ihn auch noch an, weil er einen Bogen anstatt einer Armbrust trug.

Der Prinz straffte die Schultern, zwang sich, ruhig zu atmen, und schüttelte dann den Kopf. »Verzeih, ich habe dich mit jemandem verwechselt«, murmelte er verlegen und wandte sich zum Gehen, nachdem er ihm noch viel Erfolg bei der Jagd gewünscht hatte.

Am Stadttor wartete Medea auf ihn. Sie musste alles mit angesehen haben.

Wie sollte er ihr nur sein Verhalten erklären?

Doch er brauchte nichts zu erklären, denn sie hatte bereits eins und eins zusammengezählt und stellte mit einer bedauernden Miene fest: »Du hast gedacht, es wäre Heera.«

Kapitel 3 - Medea

 

Auf dem Weg zurück zum Schloss entschuldigte sich Lean mehrfach dafür, dass er Medea einfach allein auf dem Marktplatz hatte stehen lassen und ohne jede Erklärung davongerannt war. Medea ihrerseits versicherte ihm immer wieder, dass es sie nicht stören würde.

Sie hatte gelogen.

Es störte sie zwar, aber nicht aus Eifersucht, nein, sie hatte nur gehofft, Lean würde ihr mehr vertrauen und nicht versuchen, ihr etwas vorzumachen. Heera war immerhin nicht nur irgendeine ehemalige Konkurrentin, sondern ihre Schwester, und sie hatte in den letzten Tagen sowohl sie als auch den Prinzen leiden sehen.

Wenn sie zuvor mit Lean allein gewesen war, hatte er ihr immer seine volle Aufmerksamkeit geschenkt und ihr zumindest für den Moment das Gefühl gegeben, dass sie die Einzige für ihn sei. Nun lächelte er sie zwar an, verhielt sich höflich und nickte interessiert mit dem Kopf, wenn sie sprach, aber sie merkte deutlich, dass er weder ihr noch irgendjemand anderem mehr richtig zuhörte.

Sein leerer Blick verriet ihn. Alles schien an ihm vorbeizurauschen. Leben kam nur in seinen Körper, wenn einer der Jäger den Raum betrat. Jedes Mal zuckte er zusammen, genauso schnell kam die Enttäuschung, wenn er erkannte, dass es nicht Heera war.

Er gab sich zwar Mühe, seine königliche Haltung zu wahren und sich nichts anmerken zu lassen, aber selbst dem Volk entging nicht, wie sehr er unter der Trennung litt. Niemand verstand, warum er sich gegen Heera entschieden hatte, wo doch sein Herz so eindeutig für sie schlug.

Niemand außer Medea. Sie kannte zwar nicht seine Beweggründe, aber sie wusste, dass die Entscheidungen des Herzens nicht immer jene waren, die einem auf Dauer Glück und Sicherheit brachten. Herz und Kopf mussten im Einklang stehen und wenn sie das nicht taten, wurde es schwierig.

Sobald sie das Schloss erreichten, trennten sich Leans und Medeas Wege. Auch wenn sie sich höflich verabschiedeten, blieb ein ungutes Gefühl zurück – eine Last, die sich nicht in Worte fassen ließ, die mehr wie ein Stein im Schuh war, nur dass er sich nicht in die Fußsohle bohrte, sondern in das Herz.

Als Medea ihr Gemach erreichte, hielt sie kurz inne. Sie fürchtete sich vor dem Anblick des leeren Vogelkäfigs, der noch immer auf ihrer Fensterbank stand, als könnte ihr geflügelter Gefährte jederzeit zu ihr zurückkehren. Sie wusste, dass dies nicht geschehen würde. Ohne Amphions Magie war die Lerche nur ein gewöhnlicher Vogel, der lieber seine Freiheit genoss, als eingesperrt zu sein. Trotzdem hatte Medea es nicht geschafft, sich von dem verlassenen Käfig zu trennen. Sie vermisste ihren treuen Freund, dabei war er nie weit entfernt von ihr. Nur dass er anstelle seines Federkleides nun menschliche Haut trug.

Medea ahnte, dass ihr Amphion aus dem Weg ging. Früher hatte sie ihn immer in der Nähe von Lean gesehen und nun verschwand er stundenlang in seinem Zimmer im Nordturm, ohne dass jemand wusste, was er dort den ganzen Tag tat. Sie hätte ihn besuchen und einfach fragen können, so wie sie auch zuvor keine Geheimnisse vor ihm gehabt hatte.

Der Lerche hatte sie sich offenbart mit all ihren Schwächen und Fehlern, während Amphion sich schon damals vor ihr versteckt hatte.

Es war nicht so, dass sie nicht verstand, warum er sich auf diese heimliche Weise genähert hatte, dennoch hatte sie sich zu Beginn von ihm betrogen gefühlt. Doch das Gefühl war schon bald einer tiefen Sehnsucht gewichen.

Die Lerche fehlte ihr – ihr engster Vertrauter.

Auch wenn sie wusste, dass die Lerche und Amphion ein und dieselbe Seele waren, schaffte sie es nicht, sie auch gedanklich als eins zu sehen.

Medea stand noch immer vor ihrer geschlossenen Zimmertür und drückte sich davor, einzutreten, als sie plötzlich Amphion auf dem Korridor entdeckte. Der weiche Teppichboden musste seine Schritte gedämpft haben, sodass sie ihn erst wahrnahm, als er nicht mehr fern war. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke, nicht länger als für einen Wimpernschlag, denn dann war Amphion schon wieder verschwunden.

Verschwunden wie im Erdboden versunken.

Verschwunden wie von Geisterhand aus dem Bild radiert.

Verschwunden wie in Luft aufgelöst.

Medea hielt verwirrt den Atem an und runzelte die Stirn. Spielten ihre Augen ihr nun schon Streiche? Erging es ihr wie Lean, der in jedem Jäger glaubte Heera zu sehen? Sie vermisste nicht Amphion, den Menschen, aber Amphion, die Lerche. Es war jedoch nicht der Vogel gewesen, den sie vor lauter Sehnsucht gesehen zu haben glaubte, sondern der Mann.

Ihre Brust hob und senkte sich nervös, als sie misstrauisch eine Hand auf die Türklinke legte. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Als würden fremde Augen jeder ihrer Bewegungen folgen.

Vor ihrer Zimmertür hielt sie erneut inne und sah sich um.

Zu beiden Enden des langen Flurs waren Wachen aufgestellt, die nicht einmal in ihre Richtung blickten. Ansonsten war dort niemand.

Dennoch spürte sie die Anwesenheit eines anderen Menschen so deutlich, als würde er direkt vor ihr stehen. Die Zeit im Zauberberg der Schwarzen Hexe hatte sie gelehrt, weniger ihren Augen, mehr ihrem Gefühl zu vertrauen.

Ruckartig ließ sie ihre Hand in die Luft schnappen und bekam Stoff zwischen ihren Fingern zu fassen. Es war ein erschrockenes Keuchen zu hören, bevor aus dem Nichts vor ihr ein Mensch wurde – Amphion.

Obwohl Medea gewusst, nein, gespürt hatte, dass er dort war, starrte sie ihn genauso entsetzt an wie er sie und ließ auf der Stelle von ihm ab.

Sie wich vor ihm zurück und verschränkte wütend und verlegen zugleich die Arme vor der Brust. »Warum versteckst du dich vor mir?«

Amphion senkte den Kopf, dennoch sah Medea, wie sich seine Wangen tiefrot färbten. Seine Stimme war ein Flüstern. »Ich verstecke mich nicht, sondern übe.« Dabei scharrte er unsicher mit den Füßen.

»Was übst du denn? Planst du eine Karriere als Schlossgespenst?«, spottete Medea.

Amphions Mundwinkel zuckten für einen kurzen, unüberlegten Augenblick. Es sah beinahe wie ein Lächeln aus. Doch nur beinahe.

Als er zu ihr durch seinen wuscheligen Haarschopf aufsah, war davon nichts mehr zu erkennen. Stattdessen waren seine großen braunen Augen voller unausgesprochener Vorwürfe. Warum kannst du einen Vogel lieben, mich aber nicht? »Ich arbeite an meinen Fähigkeiten als Zauberer.«

Medea hatte ihn bisher nie als ehrgeizig erlebt. Seit seiner frühen Kindheit wohnte er im Schloss und war für Lean der Bruder, den er nie gehabt hatte. Seine Zauberei nutzte er sonst nur zum Gefallen der königlichen Familie.

Er beschwor Drachen aus Goldstaub, verwandelte gewöhnliche Pferde in Einhörner und konnte Besen dazu bringen, ohne menschliche Hand zu arbeiten. Bevor er Medea gekannt hatte, hatte er nie auch nur einen Zauber zu seinem eigenen Nutzen angewendet.

»Und es ist dann wohl purer Zufall, dass du ausgerechnet vor meinem Zimmer übst?«, fragte sie mit spitzem Tonfall.

Sofort wichen seine Augen erneut ihrem Blick aus und sein Kopf senkte sich ertappt in Richtung seiner Schuhspitzen.

»In meinem Zimmer konnte ich schlecht herausfinden, ob der Zauber der Unsichtbarkeit funktioniert«, murmelte er verlegen.

»Er funktioniert«, bestätigte Medea ihm kühl und griff nach der Klinke ihrer Zimmertür.

Erst hatte sie sich mehr darüber gefreut, ihn zu sehen, als sie selbst gedacht hätte, doch nun, da er genauso unehrlich zu ihr war wie eh und je, ärgerte sie sich nur noch, sowohl über ihn als auch über ihr wild klopfendes Herz.

»Offenbar nicht gut genug«, erwiderte der junge Zauberer und sah sie mit einem schiefen Lächeln an.

Allein durch diese schlichte Geste war Medea geneigt, ihm zu verzeihen. Er hatte so etwas durchweg Unschuldiges an sich. Wenn er log, dann nur aus Unsicherheit und Angst.

»Hätte ich dich nicht im Flur gesehen, wärst du mir vermutlich nicht aufgefallen«, versuchte sie ihn aufzumuntern, dabei kam ihr jedoch der Gedanke, dass es womöglich nicht das erste Mal war, dass Amphion den Zauber ausprobierte.

Hatte er sie schon häufiger beobachtet, ohne dass sie es gemerkt hatte? Sie wagte nicht, ihn danach zu fragen.

»Gibt es einen Grund, warum du gerade jetzt beschlossen hast, deine Fähigkeiten zu erweitern?«, erkundigte sie sich stattdessen.

»Es ist kein schönes Gefühl, sich nutzlos vorzukommen«, gestand Amphion.

Er wirkte verloren, wie er mit hängenden Schultern und traurigem Blick vor ihr stand.

Medeas Hand lag immer noch auf der Türklinke, doch sie konnte sich nicht dazu bringen, sie auch herunterzudrücken und zu gehen. »Du bist ein Zauberer, wie könntest du jemals nutzlos sein?«, wollte sie verblüfft von ihm wissen.

»Die Schwarze Hexe hat Lean schon zwei Mal entführt und beide Male konnte ich nichts tun, um ihn zu beschützen. Ich will nicht noch ein drittes Mal tatenlos dabei zusehen müssen.«

Die Erwähnung der Schwarzen Hexe ließ Medea erschaudern. Bei ihrer letzten Begegnung wäre sie beinahe gestorben. Ihre Stimme zitterte, als sie fragte: »Glaubst du, wir sehen sie wieder?«

»Die Frage ist nicht, ob wir sie wiedersehen, sondern wann. Solange sie lebt, wird sie immer wieder versuchen, Lean etwas anzutun und Chóraleio in ihre Macht zu bringen.«

Medea erkannte, dass die Vorstellung, Amphion könnte den Plan verfolgen, sich der Schwarzen Hexe allein entgegenzustellen, sie ängstigte. Aber das sagte sie ihm nicht. »Vielleicht wartet sie bis zum Tag der Hochzeit, um erneut zuzuschlagen.«

»Das würde ihr ähnlichsehen«, stimmte Amphion zu. »Die Liebe ist ihr ein Dorn im Auge und es würde ihr sicher große Freude bereiten, den schönsten Tag zweier Menschen zu zerstören.«

»Dabei hat Lean sich selbst schon genug bestraft …«, entfuhr es Medea, ohne über ihre Worte nachzudenken. Als sie es bemerkte, verstummte sie, aber es war zu spät – die Worte waren bereits gesprochen.

Amphions Augen weiteten sich ungläubig. Er schien geglaubt zu haben, dass Medea nicht merken würde, wie sehr Lean ihre Schwester vermisste. Gleichzeitig war er in der letzten Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um zu sehen, wie sehr sein Freund unter der Trennung litt.

»Wie geht es Heera?«, erkundigte er sich höflich. »Ich habe sie seit dem Ball nicht mehr im Schloss gesehen.«

»Sie versteckt sich nicht nur vor Lean, sondern vor der ganzen Welt. Wenn du ihr anbieten würdest, deinen Unsichtbarkeitszauber an ihr auszuprobieren, würde sie das Angebot sicher dankend annehmen.« Auch wenn nun Amphion und nicht die Lerche vor ihr stand, spürte Medea plötzlich sein Mitgefühl, ohne dass er etwas sagen musste. Es lag in seinen warmen Augen und hüllte sie wie eine Decke ein, sodass sie ihr Herz sprechen ließ. »Ich erkenne meine eigene Schwester nicht mehr wieder. Ich dachte immer, dass nichts und niemand sie ängstigen könnte. Wenn die Liebe sogar meine furchtlose Schwester bricht, was vermag sie dann erst mir anzutun?«

Amphion schwieg einen Atemzug lang, doch dieses Mal wendete er den Blick nicht ab. Stattdessen lag er auf Medea – fast wie eine tröstende Hand. »Was gebrochen ist, kann auch wieder zusammengesetzt werden. Heera und Lean waren Freunde, bevor sie zu Liebenden wurden.«

Medea war froh, dass er das sagte. »Freundschaft ist doch auch etwas wert, oder nicht?« Zum Ende des Satzes schnellte ihre Stimme unsicher in die Höhe.

Der Zauberer ließ ihre Frage unbeantwortet. »Vielleicht könnten sie wieder Freunde sein, wenn sie sich aussprechen würden.«

»Das könnten sie gewiss«, erwiderte Medea zuversichtlich. »Wenn die Liebe keine Option ist, so ist es doch besser, in Freundschaft zu stehen, als sich ganz zu verlieren.«

Obwohl sie über Heera und Lean sprach, so schien sie zugleich auch für sich selbst zu sprechen.

Amphion ließ offen, ob er das genauso sah. »Wir sollten die beiden zusammenbringen. Kannst du dafür sorgen, dass Heera sich in die Nähe des Schlosses wagt?«

»Es wird nicht leicht werden, denn meine Schwester ist sturer als jeder Esel, aber ich werde sie an ihrer Ehre packen. In zwei Tagen ist die heimliche Hochzeit von Thelma und Kristópher. Nachdem wir mit den beiden eine lange Reise und ein großes Abenteuer überstanden haben, wird Heera nicht von ihrer Hochzeit fernbleiben.«

»Lean wird der Hochzeit ebenfalls beiwohnen, immerhin hat er sie ihnen vorgeschlagen. Es wird keinen besseren Zeitpunkt geben, um die beiden wieder zusammenzuführen.« Er lächelte Medea zuversichtlich an, beinahe als hätte er seinen eigenen Liebeskummer für diesen kurzen Moment vergessen.

Medea erwiderte sein Lächeln erleichtert. Sie waren keine Liebenden, nicht einmal Freunde, aber Verbündete war vorerst ein guter Anfang.

 

 

 

Zu Anfang von allem

steht das alles verzehrende Feuer.

Die Erde ist der Nährboden

allen Lebens.

Die Luft nimmt alles in sich auf

und trägt es in die Welt hinaus.

Aber erst das Wasser

lässt jedes Korn zum Leben erwachen.

Kapitel 4 - Heera

 

Heera hielt die Hand ihrer jüngsten Schwester Elena fest umklammert. Für einen Außenstehenden mochte es aussehen, als ob die Jüngere sich an ihrer großen Schwester festhielte, dabei war es genau andersherum.

Heera hatte mit sich gerungen und für sich selbst nach Ausreden gesucht, die sie davon entbinden konnten, an der heimlichen Hochzeit von Thelma und Kristópher teilzunehmen, doch ihr altes Ich hatte ihr bei jedem Vorschlag ihres neuen, ängstlichen Ichs widersprochen.

Es ging dabei schließlich nicht um Lean, sondern um zwei Menschen, die auf einer langen, gefährlichen Reise zu Freunden für sie geworden waren. Zwei Menschen, die sich jeder Schwierigkeit zum Trotz für die Liebe entschieden hatten.

Es würde eine kleine Zeremonie werden, nicht einmal der König und die Königin von Chóraleio wussten davon. Vermutlich hätten sie dem Plan auch nicht ihren Segen gegeben, um nicht in Streit mit Thelmas Vater, dem König des winterfesten Nordens, zu geraten.

Umso wichtiger war also für die beiden, dass wenigstens ihre Freunde dabei waren. Thelma hatte als Prinzessin sicher von einer anderen Hochzeit geträumt.

Nachdem dann auch noch Medea höchstpersönlich auf dem Landgut aufgetaucht war, um Heera abzuholen, hatte es für sie kein Zurück mehr gegeben. Sie hatte lediglich darauf bestanden, Elena mitzunehmen. Zum einen, weil sie wusste, dass ihre jüngste Schwester das Schauspiel lieben würde, zum anderen, weil sie hoffte, durch ihre Anwesenheit Lean aus dem Weg gehen zu können, falls er das Gespräch mit ihr suchen sollte.

Falls.

Vielleicht würde er sie auch nicht beachten und einfach so tun, als wären sie nie mehr als Fremde füreinander gewesen. Sie wusste nicht, was sie mehr verletzen würde.

Sie stapften hinter Medea, die eine Lampe trug, durch den hohen Schnee. Es war bereits dunkel und nur das Licht der Sterne und des Mondes erhellte die finstere Nacht. Die Bäume um sie herum fingen die stetig fallenden Schneeflocken ab, sodass die Äste ab und zu ein leises Knacken von sich gaben, begleitet von dem leisen Rascheln der Tiere, die sich nur bei Nacht aus ihrem Bau wagten.

Heera ertappte sich immer wieder dabei, wie sie verblüfft ihre Schwester musterte – Medea hatte sich verändert. Sie war schon immer hübsch gewesen, doch jetzt schien sie geradezu zu strahlen. Ihr Gang war aufrecht und ihr Kopf erhoben. Sie hatte bereits jetzt die Anmut und Eleganz einer wahren Königin, daran bestand kein Zweifel.

War das der Grund, warum Lean sich für sie und gegen Heera entschieden hatte?

Sie wusste, dass das Unsinn war – sie kannte den wahren Grund. Aber es fiel ihr schwer, diesen zu akzeptieren. Es war schier unmöglich und brachte sie fast um den Verstand.

Durch die Dunkelheit des nächtlichen Waldes erspähte sie den schwachen Schein von Fackeln auf einer Lichtung. Bei jedem weiteren Schritt beschleunigte sich ihr Herzschlag um ein Vielfaches. Elena schien ihre Unruhe zu spüren und drückte ihre Hand noch etwas fester.

Als sie den vom Feuerschein erhellten Treffpunkt erreichten, sprang Heeras Herz förmlich aus ihrer Brust. Es beruhigte sich erst, als sie erkannte, dass Lean gar nicht anwesend war.

Enttäuschung machte sich unwillkürlich in ihrem Inneren breit. Sie hatte ihn nicht sehen wollen und sich gleichzeitig unsagbar nach ihm gesehnt.

Kristópher stand vor einer großen Schale, in der ein loderndes Feuer brannte. Er trug seine gewöhnliche Kleidung, bestehend aus Leder und Pelzen, und nichts hätte erahnen lassen, dass er im Begriff war, eine Entscheidung zu treffen, die den Rest seines Lebens für immer verändern würde.

Nichts außer seinem Gesichtsausdruck. Die Aufregung war ihm deutlich anzusehen. Die Angst lag in seinen Augen. Angst, dass Thelma es sich im letzten Moment doch noch anders überlegen könnte.

Sie hatte so viel mehr zu verlieren als er. Im schlimmsten Fall würde ihr Vater, der König, sie sogar verstoßen.

Von Thelma fehlte bisher jede Spur. Neben Kristópher stand am Feuer eine alte, gebeugte Frau. Ihr Gesicht war von so vielen Falten gezeichnet, dass man kaum ihre Augen erkennen konnte. Ihre Finger umklammerten einen alten Stock, der ihr gesamtes Gewicht zu tragen schien. Auf ihrer linken Schulter saß ein Rabe, dessen schwarzes Gefieder im Schein des Feuers glänzte. Er krächzte, als er Heera erblickte, wie um sie willkommen zu heißen.

Heera kannte die Frau. Es war eine alte Bekannte: die Hexe des Waldes. Vermutlich hatte Lean sie eingeladen, um die Zeremonie zu vollziehen. Bei seiner eigenen Hochzeit würden alle zwölf Hexen des Königreichs zu Gast sein. Genau wie bei seiner Geburt würden sie ihm und seiner Braut Glückwünsche mit auf den gemeinsamen Weg geben.

Die dreizehnte, die Schwarze Hexe, würde natürlich nicht eingeladen werden, was sie gewiss mit Zorn erfüllen würde. Spätestens dann würde sie sicher wieder von sich hören lassen und bittere Rache an ihnen allen üben.

Aber das alles ging Heera nichts mehr an. Sie würde nicht die Frau sein, der Lean sein Jawort gab.

Neben Kristópher und der Hexe des Waldes waren auch die Prinzessinnen Leilani und Fjodora anwesend, ebenso wie Erina, Amphion, Daphne und Silas. Sie waren eine kleine Hochzeitsgesellschaft, kaum einer zukünftigen Königin würdig. Aber immerhin würde es eine Hochzeit aus tiefster, reinster Liebe sein.

Rund um das Feuer bildeten sie einen Kreis, und es begannen unsichtbare Geigen zu spielen, die von Amphion dirigiert wurden. Anstelle von Schneeflocken fielen plötzlich rosafarbene Blütenblätter vom Himmel wie an einem warmen, sonnigen Frühlingstag. Der Schnee, der den gesamten Waldboden bedeckte, schmolz und bildete einen Weg, aus dem grünes Gras und hellblaue Vergissmeinnicht hervorbrachen.

Am Ende dieses Weges stand Thelma. Während die anderen ihren Blick nicht von ihr abwenden konnten, hatte Heera nur Augen für Lean. Thelma hatte sich bei ihm eingehakt, da er die Rolle des Brautvaters übernehmen würde und ihm die Ehre zuteilwurde, sie an ihren zukünftigen Gemahl zu übergeben.

Heera hätte erwartet, dass er irgendwie anders aussehen würde, als sie ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht der Rücken nicht ganz so gerade, die Schultern nicht ganz so gestreckt und der Kopf nicht ganz so erhoben. Nur ein kleiner Hinweis darauf, dass sie ihm wenigstens ein bisschen gefehlt hatte. Doch er war noch immer der charmante Prinz, den nichts aus der Fassung brachte.

Er war ein Heuchler. Er konnte den anderen vielleicht etwas vorspielen, aber für sie war er weit entfernt von einem freundlichen, charmanten Prinzen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte die Wut in sich zu zähmen. Es erforderte ihre ganze Willensstärke, den Blick von ihm ab- und Thelma zuzuwenden.

Sie sah bezaubernd aus: Ihr langes hellblondes, beinahe weißes Haar fiel ihr in offenen Wellen über die Schultern bis zu ihren schmalen Hüften. Ein durchsichtiger Schleier aus einem Stoff, so zart und fein wie der Morgentau, verhüllte ihr Gesicht. Ihr Kleid war aus weißer geschmeidig fließender Seide. Nur die Ränder waren mit hellblauen Fäden bestickt, die ein Muster bildeten, das an Eisblumen erinnerte. In ihrer Hand hielt sie einen Strauß mit schneeweißen Rosen.

Als sie und Lean an Heera vorbeischritten, hielt diese unwillkürlich die Luft an. Der Wald war voller Gerüche und trotzdem fürchtete sie, sollte sie auch nur eine Spur von Leans unverkennbarem Geruch wahrnehmen, würde sie in sich zusammenbrechen.

Ihr Nacken fühlte sich wie versteinert an, so sehr zwang sie sich, nicht in seine Richtung zu blicken. Gleichzeitig glaubte sie, seinen Blick auf ihrem Gesicht zu spüren – ihre Haut schien plötzlich in Flammen zu stehen.

Der Rabe auf der Schulter der Hexe des Waldes krächzte und die Geigen verklangen.

Thelmas Hand lag noch immer auf Leans Arm, während ihr Blick mit dem von Kristópher bereits verschmolzen war. Sie hatten nur noch Augen füreinander, als wäre alles andere um sie herum vergessen.

Es war in diesem Moment nicht von Bedeutung, dass Thelma eine Prinzessin war. Dort waren eine Frau und ein Mann, die einander genug liebten, um den Rest ihres Lebens miteinander verbringen zu wollen. Für dieses Bündnis brauchte es kein rauschendes Fest, keine auserlesenen Speisen oder unzählige Gäste – die Liebe zweier Menschen war genug.

Lean ergriff feierlich die Hand der nordischen Prinzessin und legte sie auf die von Kristópher. »Ich, Prinz Lean, zukünftiger König von Chóraleio, vertraue dir, Kristópher aus der Zunft der Eiskünstler, Prinzessin Thelma, zukünftige Königin des winterfesten Nordens, an. Mögest du ihr Leben von heute an bis in alle Zeit mit deinem eigenen beschützen.«

Er zog seine Hand zurück, und die Finger von Thelma und Kristópher verschlossen sich fest miteinander.

Der Blick, den sie einander zuwarfen, bevor sie sich der Waldhexe zuwendeten, ließ keinen Zweifel daran, dass keine Macht der Welt sie je wieder würde trennen können.

Mit ihren kleinen Augen musterte die alte Hexe die beiden Verliebten, als wollte sie diese auf ihre ehrlichen Absichten testen. Sie schienen ihre Prüfung zu bestehen, denn als sie zu sprechen begann, lag ein winziges Lächeln auf ihren schmalen Lippen.

»Es ist lange her, dass ich eine Zeremonie zur ewiglichen Verbindung zweier Herzen vollzogen habe. Dabei ist noch mehr als die Liebe ein starker Wille von größter Bedeutung«, sprach sie mit rauer Stimme. »Liebe ist nicht etwas, das gegeben wird und für immer bleibt, es ist ein lebenslanger Kampf. Nur eine Liebe, die wie der Wald vom Regen und der Sonne gepflegt wird, übersteht nicht nur ein Leben, sondern auch die Ewigkeit.« Ihre Worte waren streng und ernst, doch ihr Blick wurde weicher, als sie erst Thelma und dann Kristópher in die Augen sah. »Doch wenn ich mir euch beide so ansehe, mache ich mir darum keine Sorgen. Denn ich sehe, dass ihr bereits viele gemeinsame Kämpfe ausgefochten habt. Euch heute vor mir zu sehen, ist der beste Beweis für euren Sieg in jedem einzelnen dieser Kämpfe.«

Es fand ein erneuter Blickwechsel zwischen den Brautleuten statt, bevor beide einstimmig nickten. Sie mochten schon viel gemeinsam erlebt haben, doch ihr größter Kampf stand ihnen noch bevor: die Auseinandersetzung mit Thelmas Vater. Er würde außer sich sein, wenn er von der Hochzeit erfuhr, und niemand konnte sagen, was er dann mit den beiden tun würde.

»Reicht mir eure Hände«, bat die Hexe des Waldes und streckte ihre eigene knochige Hand mit den langen Fingern aus.

Erst legte die nordische Prinzessin ihre Hand in die der Hexe. Völlig unerwartet zog diese mit der anderen Hand ein Messer aus ihrem Umhang hervor und schnitt damit in die zarte Haut des Mädchens. Thelma keuchte erschrocken auf und wollte der Alten ihre Hand entreißen, doch diese packte nur noch etwas fester zu, und Blut tropfte aus der offenen Wunde auf den schneebedeckten Boden. Das Blut bildete einen starken Kontrast zu dem hellen Weiß.

»Das ist Teil der Zeremonie«, knurrte die Hexe und forderte durch ein Fingerschnippen Kristóphers Hand ein.

Er zögerte nicht einen Moment und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als die Klinge durch seine Haut schnitt. Auch sein Blut fiel auf den Schnee und verschmolz dort mit dem seiner Geliebten.

Die Hexe legte nun einen Klumpen hart gefrorener brauner Erde in Kristóphers geöffnete Handflächen. Sie wies Thelma an, ihre Hände darüberzulegen, sodass die Erde komplett verschlossen wurde und nicht mehr zu sehen war.

»Lasst einander nicht los, ganz gleich, was auch geschehen mag«, sprach die Hexe und sah die Brautleute dabei so ernst und fordernd an, dass einem ganz bange ums Herz werden konnte.

»Die Erde ist der Nährboden allen Lebens. Doch aus dem Nichts kann kein Leben entstehen. Zu Anfang von allem steht das alles verzehrende Feuer.«

Ihre Hände begannen zu zittern und sowohl Thelma als auch Kristópher verzogen schmerzhaft das Gesicht. Plötzlich schlugen aus ihren Händen Flammen, die ihnen die Haut verbrannten, sodass sich Blasen bildeten. Doch so groß der Schmerz auch sein musste, ließen sie einander nicht los.

»Die Luft nimmt alles Leben in sich auf und trägt es in die Welt hinaus.«

Die Flammen erloschen und ein gewaltiger Wind kam auf, gegen den sich die gesamte Hochzeitsgesellschaft aufbäumen musste. Ihre Haare wurden zerzaust, und das Feuer der Fackeln flackerte so bedrohlich, dass sie fürchten mussten, gleich im Dunkeln dazustehen.

Doch so schnell der Wind gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder.

»Erst das Wasser lässt jedes Korn zum Leben erwachen.«

Wasser tropfte aus den geschlossenen Händen der Brautleute. Die Kälte des Wassers sollte ihre Schmerzen von dem Feuer lindern und wusch sämtliche Verbrennungen hinweg, sodass ihre Haut aussah wie zuvor.

»Nun öffnet eure Hände«, befahl die Hexe des Waldes, und sogleich gehorchten beide. Als Thelma sich von ihm löste, kam auf Kristóphers Handfläche ein winziger grüner Sprössling aus dem Erdklumpen zutage.

»Das ist der Spross eurer Liebe«, sprach die Hexe. »Pflanzt ihn in den Boden des Waldes, und solange eure Herzen im gleichen Rhythmus schlagen, wird auch der Spross gedeihen und zu einem großen Baum heranwachsen – unerschütterlich verankert in Liebe, biegsam im Sturm des Lebens, ein Ort der Geborgenheit, reich erfüllt mit Momenten des Glücks und der Zärtlichkeit, gleich den Blüten und Früchten dieses Baumes, die mit jedem Jahr zahlreicher werden.«

Die Brautleute machten sich an die Arbeit. Behutsam schoben sie den Schnee mit den bloßen Händen beiseite und gruben ein Loch in den harten Winterboden. Sie setzten das zarte Pflänzlein hinein. Als sie sich erhoben, war es unter all dem Schnee, den Blättern und dem Moos kaum noch zu erkennen.

Thelmas weißes Kleid hatte braune Erdflecken an den Knien, und ihre Hände waren schmutzig und rot vor Kälte, doch ihr Gesicht strahlte wärmer, als jeder Sonnenstrahl es jemals könnte.

Selbst die grimmige alte Hexe konnte sich dieser Herzenswärme nicht entziehen – ein winziges Lächeln bildete sich auf ihren faltigen Mundwinkeln. »Nun seid ihr verbunden, auf dass nicht einmal der Tod euch zu scheiden vermöge. Besiegelt euer Schicksal mit einem Kuss der wahren Liebe.«

Das ließ Kristópher sich nicht zweimal sagen und zog Thelma schwungvoll in seine starken Arme.

Als sich ihre Lippen aufeinanderlegten, erklang erneut das sanfte Geigenspiel aus Amphions magischen Händen. Die anderen Gäste begannen gerührt zu applaudieren.

Daphne standen sogar Tränen in den Augen, die sie zu verbergen versuchte, indem sie ihren Kopf an Silas’ Brust schmiegte. Heera waren sie dennoch nicht entgangen.

Auch die Hochzeit der beiden würde bald stattfinden, doch es sollte ein großes Fest werden – einer Königin würdig. Denn auch wenn Daphne keine Königin über ein Reich oder ein Volk sein würde, so war sie die Königin von Silas’ Herz.

Elena war die Erste, die den frisch Verheirateten gratulierte. Voller kindlicher Freude fiel sie ihnen in die Arme und versicherte ihnen, dass dies die schönste Hochzeit und Thelma die schönste Braut sei, die sie jemals gesehen habe.

Heera verkniff sich zu erwähnen, dass es die erste Hochzeit war, die Elena je besucht hatte.

Auch Heera gratulierte ihren Freunden herzlich. Sie freute sich für beide von ganzem Herzen.

Als sie zurücktrat, stieß sie gegen jemanden. Sie drehte sich herum und blickte in die dunklen Augen von Lean.

Wie hätte es auch anders sein können?

Doch ihr Schmerz und ihre Wut, die vor der Zeremonie noch so allmächtig gewesen waren, ließen sie nun im Stich. Stattdessen fühlte sie sich hilflos und leer.

Dort, wo zuvor Liebe durch ihre Venen geflossen war, tröpfelte nur noch Einsamkeit.

»Hallo Heera«, sagte Lean sehr förmlich, was sie nur noch mehr verletzte, auch wenn ihr Herz vor Freude über den bekannten Klang seiner Stimme wild zu klopfen begann.

Sie konnte sich nicht auf sein Spiel einlassen und so tun, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Gerne hätte sie ihn mit irgendeiner Nichtigkeit beleidigt, doch ihr, der Unerschrockenen und Furchtlosen, fehlten die Worte, deshalb biss sie sich auf die Unterlippe und ging wortlos an ihm vorbei.

»Sprichst du nicht mehr mit mir?«, fragte er prompt gegen ihren Rücken.

Heera holte tief Luft, bevor sie zu ihm herumfuhr. »Verzeiht, mein Prinz, aber ich habe Euch nichts zu sagen«, fauchte sie, in der Hoffnung, ihn mit ihrer Zurückweisung zumindest zu kränken.

Doch anstatt mit Verständnis reagierte Lean nun mit Provokation. »Das ist sehr bedauerlich, werte Heera, denn Ihr habt eine Stelle als Jägerin an meinem Hof angenommen. Dort habt Ihr Euch bisher jedoch nicht einmal blicken lassen, solltet Ihr Euch dafür nicht bei Eurem zukünftigen König entschuldigen?«

»Entschuldigen?«, höhnte Heera fassungslos und vergaß für den Moment sämtlichen Schmerz.

Sie war einfach nur noch wütend! Wie konnte er es wagen, von ihr eine Entschuldigung einzufordern?

»Du hast gerade nicht wirklich eine Entschuldigung von mir gefordert, oder?«, platzte es ungehalten aus ihr heraus.

Lean streckte die Schultern durch und holte ebenfalls tief Luft, bevor er ihr antwortete: »Doch, das habe ich! Ganz gleich, was zwischen uns war, du hast eine Aufgabe zu erfüllen, ob dir das passt oder nicht.«

Heera lachte laut auf, so als handelte es sich bei Leans Worten um einen Witz. »Ich werde mich ganz sicher nicht bei dir entschuldigen«, ließ sie ihn empört wissen. »Der Einzige, der sich entschuldigen müsste, bist du!«

»Ich wüsste nicht, wofür«, behauptete Lean stur.

Heera funkelte ihn zornig an, bevor sie herausfordernd sagte: »Du hast recht! Ich sollte keine Entschuldigung von dir erwarten, sondern mich stattdessen lieber bei dir bedanken.«

Das schien Lean nun doch zu überraschen. »Für das Landgut?«, fragte er verunsichert.

Heera lachte erneut. »Nein, dafür, dass du mich vor dem größten Fehler meines Lebens bewahrt hast«, fauchte sie. »Mir tut deine zukünftige Frau jetzt schon leid, da kannst du dir sicher sein!«

»Ha, spricht da etwa die Eifersucht aus dir?«, höhnte Lean ungeniert zurück.

»Eifersüchtig?«, japste Heera. »Worauf denn bitte? Auf ein Leben mit einem langweiligen, eingebildeten und dummen Prinzen? Nein danke! Ein Mann, der mein Herz gewinnen könnte, müsste mir schon deutlich mehr zu bieten haben.«

»So einen Mann gibt es überhaupt nicht«, behauptete Lean herablassend. »Du würdest es schaffen, jeden zu vergraulen!«

Heera wollte gerade Luft holen, um zum Gegenschlag anzusetzen, als plötzlich eine zornige Stimme laut dazwischenrief: »Ruhe!«

Erschrocken fuhren die beiden Streithähne zusammen und blickten bestürzt in das vor Wut verzogene Gesicht von Thelma, die beide Hände in die Hüften gestemmt hatte.

»Falls ihr es vergessen habt, das hier ist meine Hochzeit!«

Heera sah schuldbewusst zu Boden, während Lean einen versöhnlichen Schritt in Richtung der Prinzessin machte. »Verzeih bitte, ich habe mich völlig vergessen.«

»Das haben wir gemerkt«, stimmte Kristópher ihm zu. »Es scheint, als hättet Ihr nicht nur Euch, sondern auch jeden um Euch herum vergessen, abgesehen von Heera.«

Die anderen Hochzeitsgäste, die alle ihren Streit hatten miterleben müssen, schmunzelten peinlich berührt, nickten eifrig oder schüttelten fassungslos über solch ein schlechtes Benehmen den Kopf.

»Ist es möglich, dass ihr euch nun zusammenreißt, oder muss ich erst deinen Zauberer bitten, euch für ein paar Stunden die Münder zu verschließen?«, wollte Thelma wütend wissen.

»Keine Sorge, ich bin froh, wenn ich mit diesem eingebildeten Prinzen keine weiteren Worte wechseln muss«, behauptete Heera mit einem herabwürdigenden Blick in Leans Richtung.

Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte: »Das geht mir nicht anders.«

Wie um ihren Standpunkt zu untermauern, brachte Heera so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Prinzen.

Um die Stimmung wieder aufzuheitern, ließ Amphion erneut die Geigen spielen, die er bei dem lauten Geschimpfe unterbrochen hatte. Silas forderte Daphne zum Tanz auf und das Brautpaar tat es ihnen gleich.

Medea trat mitfühlend neben ihre Schwester. »Du darfst nicht so ernst nehmen, was er gesagt hat. Er meint es nicht so, genauso wenig wie du.«

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt«, beteuerte Heera. »Es wurde Zeit, dass ihm mal jemand sagt, dass die Welt sich nicht nur um ihn dreht, nur weil er der Prinz ist.«

Medea verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, doch Heera bemerkte es. »Was ist? Möchtest du mir da etwa widersprechen?«

Medea wagte es nicht, ihre Schwester anzusehen. »In den letzten Tagen hat es den Anschein gemacht, als wäre genau das der Fall. Du warst so unendlich traurig, dass ich dich kaum wiedererkannt habe.«

Heera wirkte erst wütend, so als wollte sie Medea zurechtweisen und alles abstreiten, doch dann knickte sie ein. »Ich weiß gar nicht mehr, warum ich so traurig war. Es war gut, dass du mich überredet hast, mit hierherzukommen, sonst würde ich ihm womöglich immer noch hinterhertrauern.«

»Bist du denn jetzt nicht mehr traurig?«, fragte Medea überrascht.

»Nein, bin ich nicht«, stieß Heera aus und stellte verblüfft fest, dass es sogar stimmte. Ihre Trauer war plötzlich verflogen. Sie fühlte sich nicht länger schwach und einsam, sondern steckte voller Zorn und Tatendrang. »Lean ist nicht der, für den ich ihn gehalten habe, und somit gibt es keinen Grund, ihm auch nur eine Träne hinterherzuweinen.«

Sie sah, dass Medea ihr nicht glaubte, aber das war ihr gleichgültig. Genauso wie es sie nicht länger interessierte, was Lean von ihr hielt.

Der Streit mit ihm hatte ihr geholfen, wieder zu sich selbst zurückzufinden. Sie war kein Mädchen, das sich nutzlos ohne einen Mann an ihrer Seite fühlte. Es war ganz gut, dass er sich gegen sie entschieden hatte, denn sonst hätte sie ihn womöglich noch geheiratet und wäre zu jemandem geworden, der sie nie sein wollte.

Andere Mädchen hofften vielleicht auf die große Liebe, aber wer brauchte schon die Liebe, wenn sie einen nur unglücklich machte?

Kapitel 5 - Erina

 

Ein eiskalter Wind wehte Erina ins Gesicht und sie wickelte den dicken Umhang etwas fester um sich, während sie durch die Zweige der Bäume bereits die Lichter des herrschaftlichen Schlosses von Chóraleio blitzen sah.