Marconi und der verschwundene Wattschützer - Daniele Palu - E-Book

Marconi und der verschwundene Wattschützer E-Book

Daniele Palu

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Beschreibung

«Noch nie von Spaghetti Krabbonara gehört? Dann wird es Zeit, Commissario Marconi kennenzulernen.» Petra Cosy Crime und Culture Clash in St. Peter-Ording: der 2. Fall für Massimo Marconi, Italiener im hohen Norden. In einer Julinacht verschwindet der Naturschützer Piet Lorenzen. Schnell drängt sich der Verdacht auf, dass die Tat in Verbindung zur umstrittenen Ölbohrinsel «Mittelplate A» steht, die vielen Anwohnern von St. Peter-Ording ein Dorn im Auge ist. Doch dies ist nicht die einzige Spur, der Marconi und sein Team – wieder einmal auf eigene Faust – nachgehen.  Was hat es mit der Klage wegen Rufmords und Beleidigung auf sich, die gegen Lorenzen läuft? Und worum ging es bei dem Streit mit seiner schwangeren Freundin am Vorabend des Verschwindens? Auch privat ist Marconi wieder voll im Einsatz. Seine Nichte Klara ist verknallt – und das ausgerechnet in Marconis Erzfeind Fabian Holthausen von der Umweltschutzorganisation GreenPlanet. Chaos an allen Fronten. Währenddessen versucht Marconi weiterhin, den Kindern ein guter Ersatzvater zu sein, kocht mit ihnen «Labskausagne» und muss sich gegen das Jugendamt behaupten. Als dann eine Leiche gefunden wird – mit Öl übergossen und Möwenfedern übersät –, verdichten sich die Indizien im Fall Lorenzen zu einer ungeahnten Tragödie.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Daniele Palu

Marconi und der verschwundene Wattschützer

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Verbrechen mit Aussicht: Marconi ermittelt in St. Peter-Ording.

In einer Julinacht verschwindet der Naturschützer Piet Lorenzen. Die Tat scheint in Verbindung zur umstrittenen Ölbohrinsel «Mittelplate A» zu stehen. Aber das ist nur eine der Spuren, denen Marconi und sein Team – zum Missfallen der Kripo Kiel – nachgehen. Auch in Marconis Privatleben regiert das Chaos: Seine Nichte Klara ist verknallt und Marconi heillos überfordert. Während er versucht, die Kinder mit «Labskausagne» bei Laune zu halten, muss er sich gleichzeitig gegen das Jugendamt behaupten. Als dann eine Leiche gefunden wird – mit Öl übergossen und Möwenfedern übersät –, verdichten sich die Indizien im Fall Lorenzen zu einer ungeahnten Tragödie.

«Feine Mischung aus norddeutscher Gelassenheit und italienischem Temperament.» Stern

«Sommerlektüre par excellence.» Hamburger Abendblatt

 

Über Band 1 der Reihe, «Marconi und der tote Krabbenfischer»:

«Menschlich, melancholisch, witzig und immer hart am Meer – Marconi hat der Nordsee gerade noch gefehlt!» Sven Stricker«Suchtgefahr!» Petra 

«Amüsant und packend!» Für Sie

«Ein Muss für alle Krimifans und Liebhaber von atmosphärischen Küstenregionen.» Good Health

Vita

Daniele Palu schreibt als Journalist für viele große Magazine und Zeitschriften sowie als leitender Autor für den erfolgreichen True-Crime-Podcast Hollywood Crime. Wann immer er kann, fährt er an die Nordsee, wo ihm die Idee zur Krimi-Reihe um Massimo Marconi kam. Im Sommer 2023 residierte Daniele Palu zudem als Stadtschreiber in Otterndorf, wo er viel über die Eigenheiten der Nordlichter erfahren hat. Offenbar war die Liebe gegenseitig, denn er wurde für 2025 gleich noch einmal eingeladen. «Marconi und der verschwundene Wattschützer» ist der zweite Band um den italienischen Ermittler im hohen Norden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Getty Images; www.buerosued.de

ISBN 978-3-644-01700-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Qui dove loco

Non ha pietà

Seggio di foco

Per te sarà.

(Coro di Demoni)

 

Wo Erbarmen

keinen Platz hat,

wird ein Feuersessel

für dich bereitet.

(Chor der Dämonen)

 

Stefano Landi (1587–1639): «Il Sant’Alessio»

1Marconi hat nichts unter Kontrolle

Heute war wieder so ein Tag, an dem Massimo Marconi sich zurück in seine Münchner Heimat sehnte. Am Wetter konnte es dabei ausnahmsweise einmal nicht liegen. Nur vereinzelt zogen Wolken über den strahlend blauen Nordhimmel. Die Julisonne wärmte sein Gesicht und ließ die Sonnenblumen in den Vorgärten golden leuchten. Sie schien auf die alten Mauern vom Wanlik Hüs, dem ältesten denkmalgeschützten Haus der Gemeinde, und auf die gelbbraunen Reetdächer der anderen Häuser in der Dorfstraße. Es war so windstill wie selten seit Marconis Ankunft in Sankt Peter-Ording vor einem Monat, weshalb die Türen und Fenster der Geschäfte einladend offen standen. Der würzige Geruch des Meeres hing in der Luft, mit feinen Noten von Salz und Tang und feuchtem Sand. Alles in allem ein fast erträglicher Arbeitstag, wäre es nicht genau das: ein Arbeitstag.

Der Grund für Marconis fehlenden Arbeitseifer lag in der kleinen Schar von Demonstrierenden, die nach ihrer Kundgebung auf dem Seebrücken-Vorplatz zwischen Strandgut Resort und Ambassador Hotel nun vor ihm entlangmarschierte. Die in die Luft gereckten Transparente erklärten den Anlass der Demo: Keine neuen Bohrungen im Wattenmeer! war darauf zu lesen und Stoppt die Ölförderung bis 2030!

Statt auf Verbrecherjagd, wie während seiner Zeit als Kriminalhauptkommissar bei der Münchner Mordkommission, war Marconi hier als Aufpasser für ein paar im Naturschutz engagierte Heranwachsende abgestellt. Nicht gerade die Erfüllung seiner Träume, um es vorsichtig zu formulieren.

«Watt statt Öl! Watt statt Öl!», skandierte die Gruppe im Chor, die von einem gut aussehenden jungen Mann mit gebräuntem Gesicht, Dreitagebart und Megafon in der Hand angeführt wurde. Marconi kannte ihn nur zu gut: Fabian Holthusen, Naturschützer mit überbordendem Selbstbewusstsein, war vor Kurzem schon einmal in den Fokus seiner polizeilichen Ermittlung geraten. Die Ärmel hatte er bis über die Ellenbogen hochgekrempelt, sodass sie den Blick auf seine sehnigen Unterarme freigaben. Die oberen drei Knöpfe seines Jeanshemdes waren strategisch aufgeknöpft und stellten eine definierte Brust zur Schau. Marconi verzog abschätzig den Mund. Für ihn war Fabian nicht mehr als ein Blender, der einer an sich guten Sache seinen narzisstischen Stempel aufdrückte.

Ihr tötet das Wattenmeer, las Marconi auf einem der Schilder und verdrehte bei dieser Übertreibung die Augen. Soweit er wusste, hatte es in den mehr als dreißig Jahren, in denen in der Nordsee am südlichen Rand des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer Öl gefördert wurde, noch nie ein Unglück gegeben. Ja, nicht einmal einen Störfall, bei dem etwas ausgetreten wäre. Fand er es trotzdem seltsam, dass in einem UNESCO-Weltnaturerbe Öl gefördert wurde? Definitiv. Aber er machte hier nur seine Arbeit, auch wenn Klara ihn eines Besseren belehren wollte. Klara, ausgerechnet! Er hatte seine dreizehnjährige Nichte nicht davon abbringen können, bei diesem Theater mitzumachen.

«Ich gehe zu dieser Demo, und wenn es das Letzte ist, was ich für meine Generation tue», hatte sie ein paar Tage zuvor seiner Ansicht nach reichlich melodramatisch festgestellt.

Seinen Hinweis, dass die letzte Naturschützerdemo, an der sie ohne sein Wissen teilgenommen hatte, eskaliert war, hatte sie mit einer Handbewegung abgetan. «Sei doch froh, dass ich dir diesmal Bescheid sage.»

Doch diesen Einwand hatte Marconi nicht gelten lassen. Er war überzeugt, dass Klara ihn nur informiert hatte, weil sie wusste, dass er den Demonstrationszug durch Sankt Peter-Ording als Dienststellenleiter der örtlichen Polizeistation begleitete. «Letztes Mal hast du gemotzt, dass ich nichts gesagt habe, weil du sonst angeblich mitgekommen wärst. Hast du jedenfalls behauptet. Jetzt weißt du Bescheid und bist sogar dabei, also verstehe ich nicht, was das Problem ist.»

Ernst hatte sie ihm ein Pamphlet von GreenPlanet überreicht, das er in ihrem Beisein hatte lesen müssen: Deutschland versuche seit Jahren, die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu verringern. Deshalb werde über eine Ausdehnung der Ölförderung im Wattenmeer nachgedacht. Sowohl die Fläche solle ausgeweitet als auch die Laufzeit verlängert werden. Aktuell fördere die Bohrinsel Mittelplate A aus dem darunterliegenden Ölfeld Mittelplate rund eine Million Tonnen Öl jährlich. «Das macht aber nur ein Prozent des deutschen Verbrauchs aus», erklärte Klara, und Marconi war gegen seinen Willen beeindruckt von ihrem Wissen. Er las weiter: Einen relevanten Beitrag zur Versorgungssicherheit in Deutschland leiste Mittelplate demnach nicht. Dafür gefährde die Plattform aber jedes Jahr Hunderttausende Watt- und Wasservögel, die im Wattenmeer Zwischenstopp machten. «Das können wir doch nicht einfach zulassen», sagte Klara, nachdem er fertig gelesen hatte, so entschieden, als spreche sie in ein Mikrofon der Tagesschau.

Ein schlichtes Vielleicht, aber du bist dafür zu jung, hatte Marconi sich verkniffen und klein beigegeben. Nur den Vorschlag, auch Stefano mitzunehmen, hatte er dann doch abgelehnt und Klaras kleinen Bruder fix zu einem Freund gefahren.

So hatte Klara sich triumphierend dem Protestzug angeschlossen. Und nicht nur das: Sie stand ungefähr fünfzehn Meter vor Marconi gleich in der ersten Reihe, direkt neben diesem Fabian. Den Straßenrand säumten mehr Menschen, als Marconi erwartet hatte. Warum all die Touristen bei diesem Wetter nicht am Strand lagen, wollte ihm nicht in den Kopf. Vielleicht war es der Mangel an spektakulären Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, der die Menschen dazu brachte, der unspektakulären Protestaktion beizuwohnen. Sand und Meer wurden manchem schon mal langweilig. Das konnte kaum jemand besser nachvollziehen als er.

Die Demo war beinahe am Ziel angelangt, als die Gruppe die genehmigte Strecke unvermittelt verließ. Während Marconis Kollege Jens im Polizeiwagen vorweg weiter im Schritttempo die Pestalozzistraße entlangfuhr, bog der Zug unter Fabians Führung rechts in ein Wohngebiet ab. Schlagartig tauchte Marconi aus seinem Stand-by-Modus auf. Er versuchte, sich einen Weg durch die Demonstrierenden zu bahnen, um Fabian zurechtzuweisen. Doch wie auf Kommando hakten einige Leute einander unter und bildeten eine Wand, die er nicht zu durchdringen vermochte. Zumindest nicht, ohne Gewalt einzusetzen.

«Stehen bleiben!», brüllte er. Weil niemand reagierte, wiederholte er es zwei weitere Male – ebenso vergeblich. Ehe Marconi begriff, was vor sich ging, vernahm er das unverkennbare Knattern eines Lastwagens, der am Ende der Sackgasse mit laufendem Motor auf die Gruppe wartete. Marconi schwante Übles. Er konnte keine Baustelle entdecken, und was sonst sollte ein Lkw-Lader hier an einem Sonntag mitten im Wohngebiet zu suchen haben? Mit lautem Piepen setzte der Lkw zurück, bis er zeitgleich mit der Protestgruppe vor einem zweigeschossigen Wohnhaus zum Stehen kam.

Marconi begriff noch immer nicht, was hier vor sich ging, aber sein Puls war mittlerweile alarmierend hoch. Während er noch überlegte, ob er den Schlagstock einsetzen musste, begann der Sattelschlepper, seine Ladefläche nach oben zu fahren. Eine graubraune, unansehnliche Masse ergoss sich über den weißen Holzzaun, der das Grundstück von der Straße abgrenzte, und floss von dort weiter durch den kleinen Vorgarten über den Gehweg bis zur Eingangstür des Wohnhauses. Mit offenem Mund verfolgte Marconi diesen Albtraum einer Szene.

Wie auf Kommando zog ein halbes Dutzend Demonstrierender kleine Plüschmöwen aus ihren Rucksäcken, klemmte sie zwischen die Latten des Zauns und übergoss sie mit schwarzem Schweröl aus einem Kanister, den Fabian herumreichte. Gleichzeitig ertönte ein schrilles, ohrenbetäubendes Trillerpfeifenkonzert. Marconis erster Gedanke galt Klara. Aber seine Nichte schien der Lärm nicht zu kümmern, sie blies selbst mit dicken Backen in eine Trillerpfeife. Marconi fühlte sich hintergangen und verraten. Doch das musste warten.

«Schluss jetzt! Das ist Nötigung und Sachbeschädigung und damit illegal!», brüllte er ohne jede Wirkung. Warum hatten sie hier in der Provinz eigentlich nicht mehr Polizisten zur Verfügung?! Gerade als er die Menschenkette vor sich durchschlagen wollte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter.

«Du den Typen mit dem Megafon, ich den Kerl im Kipplader?», raunte Jens.

Marconi nickte, schob zwei untergehakte Personen rüde auseinander, stürmte zu Fabian und wollte ihm das Megafon aus der Hand reißen. Der ließ aber nicht los, weshalb Marconi noch fester daran zog. In dem Handgemenge, das dabei entstand, wurde Fabian das Megafon gegen den Kopf geschlagen. Marconi hätte nicht sagen können, ob sein eigenes Unterbewusstsein ihm dabei die Hand geführt oder ob Fabian kräftig nachgeholfen hatte. Der Schlag war nicht besonders fest gewesen, doch Fabian ging mit einem Aufschrei in die Knie und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Empörte Rufe der Protestierenden waren zu hören. «Der Bulle hat Fabian geschlagen!», brüllte jemand, «Polizeigewalt!», ein anderer. Marconi spürte, wie an ihm gezerrt wurde. Fabians Mitstreiter glaubten offenbar, sie müssten ihren Anführer aus den Klauen der Polizei retten, bevor Marconi ihn totschlagen konnte. Zwei der jüngeren Protestierenden packten ihn am Revers und rissen ihn so heftig von Fabian weg, dass er das Gleichgewicht verlor und auf dem Hintern landete. Sofort wollte er wieder aufspringen, doch die beiden Männer stießen ihn erneut zu Boden und trafen ihn dabei im Gesicht. Aus Marconis Nase schoss Blut. Er rammte dem einen der beiden seinen Ellenbogen in die Kniekehle und trat dem anderen mit voller Wucht gegen das Schienbein. Beide schrien auf und sanken wunderbar synchron vor ihm auf die Knie. Marconi hatte keine Zeit, seinen Triumph auszukosten, denn gleich drei weitere Männer, die Kapuzen ihrer Hoodies tief ins Gesicht gezogen, kamen mit erhobenen Fäusten auf ihn zu. Sie waren nicht mehr als zwei Schritte von ihm entfernt, als plötzlich der schrille Schrei eines Mädchens zu hören war. Marconi erblickte Klara, die mit weit aufgerissenen Augen die Szene verfolgte. Die Stille, die sich daraufhin einstellte, hatte eine kathartische Wirkung und ließ all seinen Zorn verebben. Auch alle anderen schienen wieder zur Besinnung zu kommen.

Marconi duckte sich an den drei Schlägertypen vorbei und winkte Klara zu sich, die sich widerstrebend in Bewegung setzte. Sie musterte sein lädiertes Gesicht, weniger mit Sorge, wie ihm schien, als vielmehr mit dem Interesse, das sie auch einem seltenen Käfer entgegenbringen würde.

«Was sollte das hier, Klara?» Bevor Klara antworten konnte, ertönte ein zweiter Schrei. Marconis Blick fiel auf eine Frau, die, die Hand auf den Mund geschlagen, aus ihrer Haustür trat und fassungslos die graubraune Katastrophe in ihrem Vorgarten begutachtete. Jens kam in sein Sichtfeld. Er schob einen Mann vor sich her, dessen Hände mit Handschellen hinter dem Rücken fixiert waren.

«Keiner bewegt sich, alle bleiben, wo sie sind», rief Marconi in die Menge und, an Jens gewandt: «Ruf Eva aus ihrer Bereitschaft. Sie soll kommen und dir helfen, die Personalien aufzunehmen. Kannst du den Typen hinten in den Polizeiwagen packen und Klara auf den Beifahrersitz? Und dann kümmer dich bitte um diesen Fabian.» Bevor Klara oder Jens reagieren konnten, suchte Marconi nach einem Weg durch den flüssigen Watthaufen hindurch, der aussah, als hätte eine riesige Kuhherde sich vor dem Haus erleichtert. Doch er fand keinen, weshalb er der Frau, die geschrien hatte und noch immer entsetzt im Türrahmen stand, mit Gesten anzeigte, dass er zum Fenster an der Westseite des Hauses kommen würde. Sie verstand und verschwand im Haus.

Während Marconi am Fenster auf sie wartete, streifte sein Blick den Himmel, der sich zuzuziehen begann. Seine App hatte das am Morgen schon angezeigt: Unwetterwarnung. Von den vielen Dingen, die die Küste aus seiner Sicht vermissen ließ, war dies die Sache, die der Norden am wenigsten konnte: Sommer.

«Sie wohnen hier?», fragte Marconi, sobald das Fenster von innen geöffnet wurde.

Die Frau funkelte ihn wütend an. «Und ob. Und ich habe die Schnauze so voll von diesem Scheiß.»

«Es ist also nicht das erste Mal, dass Ihnen das halbe Wattenmeer in den Garten gekippt wird? Wer sind Sie denn? Und was soll dieses ganze Theater?»

«Mein Name ist Lenke Manthey», entgegnete sie mit säuerlicher Miene. «Aber warum fragen Sie nicht diese Chaoten da, was dieses Theater soll? Ich habe keine Ahnung.»

Marconi verstand die Wut der Frau, obwohl es ihn ärgerte, dass sie auch Klara gerade als Chaotin bezeichnet hatte. Allerdings verstand er immer weniger, was hier gerade vor sich ging. «Es muss doch einen Grund geben, warum eine Lkw-Ladung Watt und ölgetränkte Möwen ausgerechnet vor Ihrer Haustür abgeladen wurden und nicht vor meiner!»

Lenke Manthey seufzte und fuhr sich durch das kinnlange schwarze Haar, wobei sie ihren perfekt frisierten Pony durcheinanderbrachte. «Ich war es nicht, die die politische Entscheidung getroffen hat, Mittelplate zu errichten und dort Öl zu fördern. Ich bin nur die Managerin der Plattform. Kein Grund also, mir den ganzen Rotz vor die Tür zu kippen.»

Sie schlug mit der Hand gegen den Fensterrahmen und sah Marconi herausfordernd an. «Warum haben Sie die Aktion nicht verhindert?»

Tja, gute Frage. Die würde er sicher auch seinen Vorgesetzten in Flensburg beantworten müssen, sobald sie von der Eskalation hier Wind bekamen.

Sein Schweigen schien Lenke Manthey nur noch mehr zu provozieren. Sie stieß schnaubend Luft aus. «Wenn die Polizei es nicht schafft, ihre Bürger zu schützen, heuere ich eben einen privaten Wachdienst an. Der macht mit dem Pack da draußen kurzen Prozess.»

Marconi verdrehte innerlich die Augen. Diese Protestaktion schien im Vorfeld sorgfältig geplant worden zu sein. Das hätte keine Polizei und kein privater Wachdienst der Welt vorhersehen und verhindern können. «Ich kann verstehen, dass Sie empört sind», bemühte er sich um einen freundlichen Tonfall. «Aber ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Selbstjustiz in Deutschland unter Strafe steht. Gemeinsam finden wir sicher einen Weg, um Sie in Zukunft besser zu schützen.»

«Selbstjustiz?», ertönte eine tiefe Stimme aus dem Inneren des Hauses. Doch statt Mantheys Ehemann, wie Marconi erwartet hatte, tauchte eine Frau in einem neonpinken Blazer und mit passendem Lippenstift neben ihr im Fenster auf. Sie sah Marconi empört an. «Ist Lenke jetzt die Täterin oder wie? Nach allem, was da gerade passiert ist?!»

«Svea, bitte.» Lenke Manthey legte der Frau beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm.

«Sie drehen mir die Worte im Mund herum, Frau …?»

«Das ist Svea, Svea Berger. Meine persönliche Assistentin und eine gute Freundin.»

«Ich sage bloß, dass wir in einem Rechtsstaat leben und Aktionen Reaktionen hervorrufen können, Frau Berger.» Erleichtert sah Marconi seine Kollegin Eva vom Fahrrad steigen. Auch sie wirkte einigermaßen fassungslos, während Jens sie über die Ereignisse ins Bild setzte.

«Entschuldigung, langweile ich Sie?», versuchte Lenke Manthey Marconis Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. «Oder wären Sie jetzt so freundlich, meine Aussage aufzunehmen?»

Marconi sah noch immer zu der Gruppe auf der anderen Seite des Zauns. Einige Protestler schienen sich nicht ausweisen zu wollen, und Jens schielte hilfesuchend zu ihm herüber. In dem Moment stieg ein großer, athletischer Mann aus einem hellblauen Wagen, den er einige Meter von dem Chaos entfernt geparkt hatte.

«Ach! Schön, dass du dich auch mal blicken lässt, Paul», ätzte Lenke Manthey, als der Mann ans Gartentor kam und pikiert das Chaos beäugte.

«Ist das Ihr Mann?», fragte Marconi, und Lenke Manthey deutete ein Nicken an, während sie weiter ihren Ehemann fixierte. Marconi schätzte ihn auf Mitte vierzig, aber unter dem zackigen Tonfall seiner Ehefrau wirkte Paul Manthey eher wie ein gerügter Schuljunge. Während sich die beiden weiter zankten, erregte eine Auseinandersetzung auf der anderen Seite des Zauns Marconis Aufmerksamkeit. Eva stritt mit einer Demonstrantin, die ihr offenbar ihre Personalien nicht nennen wollte. Da er sich ohnehin wenig Chancen ausrechnete, zwischen den Mantheys zu Wort zu kommen, beschloss er, lieber Eva zu unterstützen.

«Ich sehe später noch mal bei Ihnen vorbei, versprochen. Ich muss erst den Kollegen helfen.»

Das ließ Lenke Manthey aufmerken. «Aber ich …», setzte sie an.

Marconi war schon fast am Zaun, als er sich noch einmal umdrehte. «Ich veranlasse bei der Stadtreinigung oder wie das hier heißt, dass der Dreck beseitigt wird.»

Und damit stürzte sich Marconi ins Getümmel. Auch wenn er es nicht zugeben würde, war ein kleiner Teil von ihm froh darüber, dass der Arbeitstag deutlich weniger langweilig enden würde, als er begonnen hatte.

2Ein Mann erlebt die unbequemste Autofahrt seines Lebens

Er stöhnte, als er das Bewusstsein wiedererlangte. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden, die scharfen Kanten des Kabelbinders schnitten in seine Haut. Er versuchte, sich zu orientieren, doch die Dunkelheit war undurchdringlich. Das monotone Dröhnen eines Motors mischte sich in das Prasseln des Regens über ihm. Er konnte das Vibrieren der Straße unter sich spüren und das dumpfe Spritzen von Pfützen hören, wenn das Auto hindurchfuhr. Er zitterte, vor Kälte und vor Angst. Sein Hinterkopf pochte schmerzhaft, etwas lief in sein rechtes Auge. Noch während er die Flüssigkeit fortblinzelte, kam die Erinnerung zurück.

Er war wutentbrannt aus der Tür gestürmt. Dann ins Thalamegus, um seine Nerven zu beruhigen.

«Allns Slampen, bet op Mutti», hatte der Wirt im tiefsten Platt gelacht, wobei es eher wie ein Röcheln klang, weil er mittendrin husten musste. Mit einem angedeuteten Nicken hatte er dem Mann für den Aufmunterungsversuch gedankt, der nicht wissen konnte, was seinem Gast auf der Seele lag. Dann hatte er die Lippen aufeinandergepresst und wieder in sein Whiskeyglas gestarrt, während aus der Jukebox in der Ecke Freddy Quinn in Endlosschleife dudelte.

Er hatte ewig keinen Alkohol getrunken, seit Jahren nicht. Aber in diesem Moment war es genau das Richtige, nach der Schockwelle, die Emma mit ihren Worten bei ihm ausgelöst hatte.

«Fruen, mien Bester, sünd so as de Wind up de hogen See», unternahm der Wirt einen neuen Versuch, ihn aufzumuntern. «Unberekenbor, aver mitünner bringt se di na Steden, wo du nie dacht hest, du kümmst dor an.»

Er verdrehte die Augen. Die Kalendersprüche des Mannes gingen ihm auf den Keks, so nett sie auch gemeint waren. Er rutschte vom Barhocker, ließ das Portemonnaie fallen, bückte sich, taumelte, zahlte. Auf dem Weg zur Tür bemerkte er das ausgestopfte Krokodil, das kopfüber über den Putz kroch. Daneben glotzten ihn mehrere Hummer und sogar der präparierte Kopf eines Haifischs aus toten Augen an. Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper trat er ins Freie.

Durch die alkoholbedingten Nebelschwaden registrierte er verwundert, dass auf dem asphaltierten Platz vor dem Thalamegus keine Menschenseele zu sehen war – obwohl die Kneipe in einer der belebtesten Straßen Sankt Peter-Ordings lag, mit zahlreichen Hotels, Ferienwohnungen, Restaurants und Läden. Während er noch schwankend überlegte, wie das sein konnte, kroch ihm die Erkenntnis ins benebelte Bewusstsein, dass es an der Sturmwarnung liegen musste, die am Morgen durch die Medien gegangen war. Tatsächlich hatte es merklich aufgefrischt. Mehr als das: Der Wind rüttelte so heftig an den drei Kiefern am Rande des Vorplatzes, als wollte er sie samt Wurzeln aus dem Boden reißen.

Er musste verrückt sein, bei diesem Wetter betrunken durch die Gegend zu stolpern. Anstatt die Route über die Hauptstraße zu nehmen und dann den Alten Badweg entlangzugehen, wollte er auf schnellstem Wege nach Hause. Rechts an der Gaststätte führte ein schmaler Pfad vorbei, den er kurzerhand einschlug.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Knacken, und als er nachsehen wollte, hatte ihn der Schlag bereits aus dem Nichts getroffen. Wie eine vom Wind entwurzelte Kiefer war er der Länge nach in die Dunkelheit gestürzt …

***

… und in diesem verfluchten Kofferraum wieder aufgewacht. Nach dem Schmerz an seiner Stirn sowie der Konsistenz der Flüssigkeit zu schließen, musste es sich um Blut handeln, das ihm ins Auge lief. Was sollte das hier? Wer hatte ihn niedergeschlagen und in einen Kofferraum gesperrt? Und vor allem, warum? Wie lange war er bewusstlos gewesen? Würde ihn vielleicht jemand hören, wenn er schrie? Sein Herz schlug wild, als er sich auf den Rücken drehte und begann, mit den Beinen gegen den Kofferraum zu treten. Erst mit vereinzelten, kräftigen Tritten, dann in einem nicht enden wollenden Stakkato. Er hatte keine Ahnung, ob bei diesem Wetter überhaupt jemand unterwegs war. Aber er wollte nicht wissen, was passierte, wenn sie am Ziel dieser Fahrt ankamen. Aufgeben war keine Option. Er trat so fest gegen die Wände des Kofferraums, dass er meinte, spüren zu können, wie das Blech nachgab.

«Hilfe!» Seine eigenen Rufe hallten ihm in den Ohren, und doch befürchtete er, dass sie sich im Brausen des Windes draußen verloren.

Er nahm wahr, wie der Wagen langsamer wurde. Als sie abbogen, rutschte er mit dem Kopf gegen die Seitenwand. Es klang, als schabten Zweige an der Karosserie entlang, als knirschte Kies unter den Rädern. Fuhren sie durch Unterholz? Er wusste nicht, warum, aber ihn beschlich das Gefühl, dass das keine gute Entwicklung für ihn sein konnte.

Das Auto stoppte schließlich mit einem Ruck. Er lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts hören außer dem Trommeln des Regens auf dem Dach. Dann vernahm er, wie die Wagentür geöffnet wurde, als Nächstes Schritte auf nassem Kies. Jemand riss die Kofferraumklappe auf. Sofort prasselte der Regen ins Innere. Er musste auch das zweite Auge zukneifen, jenes, in dem sich noch kein Blut gesammelt hatte. Blinzelnd versuchte er, den Schatten scharf zu stellen, der vor dem Wagen stand.

«Mach nicht so ’ne Welle, du Arsch», sagte der Schatten, kalte Wut in der Stimme. Ein Schlag traf ihn am Kopf. Benommen ließ er sich einen Lappen in den Mund stopfen. Das Geräusch von Klebeband, das abgerollt wurde, drang an sein Ohr. Kurz darauf spürte er, wie etwas quer über sein Gesicht geklebt wurde. Ich bekomme keine Luft, dachte er und versuchte vergeblich, gegen die wachsende Panik anzuatmen. Ein greller Blitz durchriss die Dunkelheit, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Im kurzen Lichtschein konnte er schemenhaft das Gesicht seines Peinigers erkennen. Du?, war sein letzter Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.

3Marconi chillt sein Leben nicht

Er erwachte eine Viertelstunde, bevor der Wecker klingelte. Marconi rekelte sich und strich mit einer Hand über die freie Seite seines Bettes. Die letzten Splitter seines Traums wirkten noch in ihm nach. Eine Frau hatte neben ihm gelegen. Er hatte ihr Gesicht nicht erkennen können, und doch war sie ihm nur allzu vertraut vorgekommen. «Geh noch nicht», hatte sie schlaftrunken gemurmelt und sich an ihn geschmiegt, in der Sekunde, in der er die Augen öffnete. Rasch ging er ins Badezimmer und schlüpfte aus den Boxershorts, um die intensive Erinnerung mit einer kalten Dusche abzuspülen.

Als eine Viertelstunde später die Kinder aus dem Obergeschoss zu ihm in die Küche kamen, hatte er bereits den Tisch gedeckt und das Frühstück zubereitet. Klara und Stefano setzten sich und begannen wortlos, den Obstsalat in sich hineinzuschaufeln. Beim Obstschneiden hatte Marconi überlegt, ob er Klaras Aktion vom Vortag thematisieren sollte und wenn ja, wie. Ignorieren konnte er die Tatsache nicht, dass gestern zum wiederholten Mal eine Protestveranstaltung jener Gruppe eskaliert war, mit der Klara sich neuerdings rumtrieb. «Gut geschlafen?», entschied er sich für eine neutrale Gesprächseröffnung.

Klara ignorierte die Frage und schob ihm wortlos einige Zettel mit mathematischen Gleichungen über den Küchentresen.

«Was ist das?», erkundigte sich Marconi und blätterte die Papiersammlung durch.

«Du musst nur auf der letzten Seite unterschreiben.»

Marconi schlug die letzte Seite auf. «Eine Vier?! In Mathe? Du?» Ungläubig sah er Klara an.

Sie rollte mit den Augen. «Chill mal dein Leben.»

«Ich bin gechillt, Klara.» Marconi versuchte, Ruhe zu bewahren. «Aber wenn meine Einser-Nichte plötzlich eine Vier anschleppt, darf ich wohl mal nachfragen?»

«Ich hätte auch einfach deine Unterschrift fälschen können.» Klara kniff die Lippen aufeinander und sah ihn trotzig an. Wann hatte sie sich eigentlich in einen übellaunigen Teenager zurückverwandelt? Er hatte gehofft, dass dieses Stadium hinter ihnen lag.

«Bis zum nächsten Elternsprechtag, dann wäre alles aufgeflogen. Und umso peinlicher geworden, für mich und für dich.»

«Was willst du überhaupt da? Es heißt doch Elternsprechtag.»

Marconi wusste, dass Klara ihn provozierte. Und tatsächlich versetzten ihm ihre Worte einen Stich. Äußerlich zeigte er aber keine Regung. Nicht aus der Ruhe bringen lassen, nicht auf Provokationen reagieren, dachte Marconi an die Worte, die er in dem Erziehungsratgeber «Pubertät ist, wenn die Eltern komisch werden» gelesen hatte. Und trotzdem war er davon ausgegangen, die Phase der kompletten Ablehnung überstanden zu haben. Falsch gedacht. Vielleicht lag es aber auch gar nicht an ihm, sondern an dem Chaos, das Pubertät in den Gehirnen Heranwachsender auslöste. Was wusste er schon?

Er war erst vor vier Wochen aus seinem geliebten München an die Nordseeküste gezogen und das alles andere als freiwillig. Aber nachdem erst seine Schwägerin Gesa an Krebs und nicht lange danach auch sein Bruder plötzlich verstorben waren, hatte er sein Versprechen einlösen und nach Sankt Peter-Ording ziehen müssen, um sich um seine Nichte und seinen Neffen zu kümmern. Nun lebten Klara und Stefano mit Marconi zusammen, einem beinahe Fremden. Die Begegnungen vor seinem Umzug nach Sankt Peter-Ording ließen sich an einer Hand abzählen und waren weder von allzu langer Dauer noch von allzu großer Herzlichkeit geprägt gewesen. Marconi hatte es schlichtweg nicht ertragen, Zeit in Gesas und Nevios Gegenwart zu verbringen. Lange hatte er Nevio die Schuld an dem Bruch zwischen ihnen gegeben. Doch nun ahnte er, dass sein eigener Stolz zu groß und der Verdacht, den folgenschwersten Fehler seines Lebens begangen zu haben, einfach zu beklemmend gewesen waren. Erschwerend kam hinzu, was er in Nevios Obduktionsbericht vor Kurzem eher zufällig herausgefunden hatte. Im Blut seines Bruders hatten sich zehn Schwermetalle befunden, teils in hohen Dosen. Vor allem Barium konnte ab einer gewissen Konzentration eine tödliche Spirale in Gang setzen. Wie diese Substanzen in Nevios Körper geraten waren, wusste er nicht. Aber er hatte sich geschworen, dem nachzugehen – für Nevios Seelenfrieden und seinen eigenen. Aber auch abgesehen von dieser Vorgeschichte waren die zurückliegenden Tage und Wochen ohne Übertreibung die anstrengendsten in seinem Leben gewesen. Seitdem Marconi täglich mit einem Kind in der Pubertät zu tun hatte, konnte er plötzlich nachvollziehen, weshalb manche Tiere ihren Nachwuchs auffraßen. Er seufzte, nahm den Stift, den Klara ihm mit einem auffordernden Blick direkt vor die Nase hielt, und unterschrieb.

«Darüber reden wir noch mal», sagte er und gab ihr den Stift zurück. «Es geht nicht um chillen oder nicht chillen, sondern darum, dass ich verstehen will, was mit dir los ist.»

Klara öffnete den Mund, mutmaßlich für eine weitere patzige Entgegnung, aber Marconi war noch nicht fertig. «Was Stefano und du durchgemacht habt, ist das Schlimmste, das jungen Menschen passieren kann. Aber wenn du plötzlich in der Schule dramatisch schlechter wirst und stattdessen deine Freizeit mit Kriminellen verbringst …»

«Das sind Naturschützer, keine …»

«Naturschützer, die illegale Aktionen durchführen, machen sich strafbar, werden dafür verurteilt und vom Staat als Kriminelle angesehen.»

Wieder öffnete Klara den Mund, wieder ließ Marconi sie nicht zu Wort kommen. «Wenn du so weitermachst, steht Jasmin Hegel vom Jugendamt wieder vor der Tür. Sie wird sich sicher brennend interessieren für deine Ausführungen über den Unterschied zwischen einer minderjährigen Naturschützerin, die sich zu kriminellen Aktionen hinreißen lässt, und einer minderjährigen Kriminellen, die sich selbst als Naturschützerin sieht. Aber beschwer dich dann bitte nicht bei mir, wenn man euch mir wegnimmt und Stefano und du in getrennte Pflegefamilien kommt.»

Der letzte Satz wäre besser ungesagt geblieben, denn Stefanos Augen füllten sich sofort mit Tränen. Marconi legte ihm die Hand auf die Schulter, die Stefano erfreulicherweise nicht abschüttelte. «Entschuldige, das ist mir herausgerutscht.»

Stefano sah ihn nicht an, fragte aber leise, fast flüsternd: «Muss ich wirklich alleine zu einer fremden Familie?»

Statt Marconi antwortete sein Smartphone. Stefano sah ängstlich zu seiner Schwester, die ihrerseits die Augenbrauen hochzog. Marconi wollte den Anruf schon ignorieren, ging aber nach einem Blick aufs Display dennoch ran, während er Stefano ein beruhigendes Lächeln zuwarf.

«Commissario? Sitzt du?»

«Rufst du an, um mich das zu fragen, Jens?»

«Nein.»

«Weshalb dann?»

«Entführung, hier in Sankt Peter-Ording.»

«Das ist ein Scherz, oder?»

«Leider nein!»

«Gibt’s doch nicht! Erst der Krabbenfischer, dann die Demo und jetzt das?» Marconi stieß ein Geräusch aus, das einem brünftigen Nashorn alle Ehre gemacht hätte. Dabei fiel ihm Stefanos Blick auf, der drohte von Angst in Panik zu kippen. Also riss Marconi sich zusammen, erkundigte sich nach der Adresse, beendete den Anruf und wandte sich wieder an seinen Neffen und seine Nichte. «Niemand geht nirgendwohin. Niemand nimmt euch mir weg. Alles wird gut. Aber dafür müssen wir ein Team werden. Wir können nicht einfach machen, wozu wir Lust haben und nur an uns denken.» Ihm entging Klaras genervtes Seufzen nicht. «Selbst, wenn wir meinen, es für eine gute Sache zu tun. Nur wenn wir auch auf die anderen Familienmitglieder Rücksicht nehmen und bedenken, welche Konsequenzen unsere Taten haben könnten, machen wir das Beste aus der Situation.» Er sah die beiden nacheinander an. «Okay?»

Stefano wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, Klara zuckte unbestimmt mit den Schultern.

«Ich fahre euch jetzt zur Schule, und heute Abend sprechen wir weiter.» Statt einer Antwort schob Klara den Stuhl mit einem lauten Schaben über den Holzboden, griff sich die Brotdose und stieg wortlos die Treppe zurück ins Obergeschoss, um ihren Ranzen zu holen. Stefano sah unschlüssig zwischen ihr und seinem Onkel hin und her und folgte seiner Schwester schließlich.

Marconi stützte sich mit den Händen auf der Anrichte ab und schloss die Augen. Das erneute Klingeln seines Mobiltelefons riss ihn aus seinen Gedanken. Als er das Gespräch annahm, hörte er die vertraute Stimme seiner Mutter.

«Ciao, Massimo, come stai?»

«Bene», antwortete Marconi und wechselte wie üblich schnell wieder ins Deutsche. Mit dem Italienischen mühte er sich schon genug während seiner Urlaubsaufenthalte. «Ist etwas mit Papà?»

«Nein, gar nicht. Uns geht’s gut, mach dir keine Sorgen.» Wie immer hatte die Stimme seiner Mutter eine beruhigende Wirkung auf ihn und vermittelte ihm das Gefühl, dass alles in Ordnung war oder zumindest bald sein würde. «Das heißt, uns könnte es gut gehen.»

Marconi sagte nichts und wartete ab.

«Dein Vater hält sich nicht an die Diät der Ärztin. Ich erwische ihn ständig dabei, wie er sich eine Scheibe Salami in den Mund steckt.»

Seine Mutter sprach gerne von «deinem Vater» und sein Vater von «deiner Mutter». So sehr er seine Eltern liebte, fand Marconi diesen Charakterzug nie ganz fair, weil es für ihn klang, als wäre er derjenige gewesen, der sie sich ausgesucht hatte und nun auch die Folgen verantworten musste, ganz nach dem Motto Kinder haften für ihre Eltern. Während seine Mutter sprach, konnte Marconi regelrecht sehen, wie sie die Fingerspitzen zusammenlegte und damit vor ihrem Gesicht herumwedelte, weil sich ihrem Unmut über die Unvernunft ihres Gatten mit Worten allein nicht genügend Luft machen ließ.

«Rufst du an, um dich bei mir über deinen herzkranken Mann zu beschweren?»

«Bringt ja eh nichts», sagte sie. «Ich wollte wissen, wie lange du bleibst?»

«Wie lange ich wo bleibe?»

«Bei uns.» Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: «Wenn du die Kinder in den Sommerferien zu uns bringst.»

Marconi wurde heiß. Wann begannen in Schleswig-Holstein noch gleich die Sommerferien?

«In nicht einmal drei Wochen.» Hatte er die Frage laut gestellt? Oder konnte seine Mutter neuerdings Gedanken lesen?

«Klar, hab ich natürlich nicht vergessen», log er. Allerdings war es ihm nun peinlich nachzufragen. Er konnte sich kein bisschen an ein Gespräch über die Sommerferien erinnern, weder mit den Kindern noch mit seinen Eltern.

«Ich bin ja erst ein paar Wochen hier und kann noch keinen Urlaub einreichen», versuchte er es auf gut Glück. «Also organisiere ich den Dienstplan so, dass wir freitags oder samstags gemeinsam zu euch kommen können und ich sonntags alleine wieder zurückfahre.»

«Bene. Und wie läuft’s bei euch?», erkundigte sich seine Mutter, die sich mit seiner improvisierten Antwort zufriedenzugeben schien.

«Gut», sagte er und wusste selbst nicht, warum er noch ein «blendend» nachschob.

Seine Mutter lachte laut, weil sie offenbar merkte, dass ihr Sohn krampfhaft versuchte, bella figura zu machen. Gerade, wenn es darum ging, ihr glaubhaft zu versichern, dass er mit den Kindern klarkam. Sein Bruder hatte schon immer mehr Empathie gehabt als er, hatte Stimmungen aufspüren können. Bei dem Gedanken an Nevio breitete sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend aus. Noch hatte er nicht mit seinen Eltern über den Obduktionsbericht gesprochen, den er in einer Schublade des Sekretärs im Treppenhaus gefunden hatte. Er zögerte. Sollte er seiner Mutter wirklich anvertrauen, was er herausgefunden hatte? Dass ihr Sohn möglicherweise keines natürlichen Todes gestorben war? Nicht heute, entschied er.

«Wie geht’s den Kindern?», erkundigte sich Lucia Marconi, der nicht aufgefallen zu sein schien, dass er gerade innerlich mit sich gehadert hatte.

Ja, wie ging es ihnen? Er dachte an die Auseinandersetzung eben und wusste auf die Frage keine rechte Antwort. «Ich glaube, sie vermissen euch. Und sie verfluchen den Tag, an dem ihr zurück nach München gefahren seid und ich hier eingezogen bin. Es ist … sie sind … traurig, verständlicherweise.»

«Ja, das sind sie», sagte Lucia, plötzlich mit belegter Stimme. «Wir alle sind das. Du könntest mit ihnen doch mal in Nevios Restaurant gehen, da waren sie immer gern. Vielleicht muntert sie das etwas auf.»

Darüber hatte er tatsächlich noch nicht nachgedacht. Er selbst war nie dort gewesen. Plötzlich und ohne ersichtlichen Grund hatte er einen Kloß im Hals.

«Und sag ihnen, dass wir sie schrecklich vermissen», fügte Lucia noch hinzu. «In der Zeit nach Nevios Tod sind wir richtig zusammengewachsen. Sobald dein Vater mit der ambulanten Reha durch ist, können wir dich mit den Kindern besser unterstützen. Aber das wird noch mindestens zwei Monate dauern.»

«Mach dir keine Sorgen, Mamma, wir hören uns bald. Danke für den Anruf», sagte er eilig. Noch immer mit belegter Stimme sandte er Grüße an Papà Cosimo durch den Hörer. Dann beendete er das Telefonat und wandte sich einem weiteren seiner diversen Probleme zu: Falls Jens’ Anruf kein Scherz oder falscher Alarm gewesen war, dann hatte er jetzt einen neuen Fall. Und Sankt Peter-Ording ein weit größeres Problem, als bloß ein Küstenort zu sein, der nicht am Mittelmeer lag.

4Marconi muss feststellen, dass in Sankt Peter-Ording doch nicht der Hund begraben liegt

An diesem Morgen Anfang Juli, der sich beinahe wie ein Münchner Sommertag anfühlte, war Marconi froh, seine geliebte Vespa mit in den Norden genommen zu haben. Sie war das Einzige, das ihn an sein sorgloses Leben im Süden erinnerte. Regen und Sturm der vergangenen Nacht schienen wie eine ferne Erinnerung. Und obwohl der Fahrtwind ordentlich blies, genoss er die Seeluft in seinem Gesicht. Möwen segelten mit steifen Flügeln den Deich entlang, und beinahe wirkte es, als lieferten sie sich mit ihm ein Wettrennen. Ording war der nördlichste der vier Ortsteile und lag am entgegengesetzten Ende von Marconis Haus in Böhl. Er kannte sich hier noch immer nicht gut aus und hatte die Adresse, die Jens ihm geschickt hatte, bei Google eingegeben, nachdem er die Kinder an ihren jeweiligen Schulen abgeliefert hatte. Marconi folgte der Anweisung des Navis und bog in ein Wohngebiet ab. Auf einigen Balkonen trockneten bunte Badetücher. Davor, auf den Terrassen der Cafés und Bäckereien im Erdgeschoss, wurden Mandelcroissants und Schokotörtchen serviert, Friesentorte mit Pflaumenmus und Milchkaffee oder Friesentee dazu. Eigentlich eine schöne Idylle, dachte er, bloß dass sie am falschen Ende Deutschlands lag. Und offensichtlich trügerisch war. Immerhin schien das Verbrechen hier an der Tagesordnung zu sein.

Als er die stille Seitenstraße in Ording erreichte, wurde er langsamer. Noch war der gesamte polizeiliche Zirkus nicht in Aktion. Doch wenn sie zu der Erkenntnis kamen, dass es sich hier wirklich um eine Entführung handelte, konnte es nicht mehr lange dauern, bis die Fahrzeuge von den Kripokollegen aus Flensburg und der Spurensicherung aus Husum vor dem Haus parkten. Denn auch wenn die Kollegen aus der Großstadt die Provinz, zu der Sankt Peter-Ording in ihren Augen gehörte, ansonsten geflissentlich ignorierten, rissen sie bei einem Kapitalverbrechen die Ermittlungen nur zu gern an sich. Die Erfahrung hatte Marconi bereits gemacht.

Er stellte seine Vespa ab, verstaute den Helm unter dem Sitz und ging an dem mannshohen, vergitterten Mülltonnenhäuschen vorbei auf das zweigeschossige Rotklinkerhaus zu.

«Sagt bitte, dass das ein Scherz ist!», begrüßte er Eva und Jens, die vor der Eingangstür ins Gespräch vertieft waren.

«Ich freu mich auch, dich zu sehen.» Eva grinste, und ihre blaugrauen Augen strahlten munter. Wenn Marconi nicht gewusst hätte, dass sie vor einigen Wochen eine Schussverletzung erlitten hatte, er wäre nie darauf gekommen. Frei, mutig und hart im Nehmen war das Credo der Friesen, hatte man ihm erzählt, und seine Kollegin war der lebende Beweis.

«Hattet ihr nicht gesagt, in Sankt Peter-Ording liegt der Hund begraben?»

Jetzt grinste auch Jens. Seine raspelkurzen Haare schimmerten rötlich blond im Tageslicht. «Das war, bevor du unseren beschaulichen Kurort im Sturm erobert hast.» Eine noch nicht ganz verheilte Beule am Hinterkopf wies auf den schweren Schlag und das Schädel-Hirn-Trauma hin, das er bei ihrer vorigen Ermittlung davongetragen hatte. Fast hatte Marconi ein schlechtes Gewissen, dass er als Einziger von ihnen keine sichtbaren Spuren aus ihrem letzten Fall vorzuweisen hatte.

«Wenn euer Dorf etwas auch ohne mich kann, dann stürmen.» Marconi deutete auf das Haus hinter ihnen. «Was ist das jetzt für eine seltsame Geschichte?»

«Wie es scheint, hat jemand in der vergangenen Nacht Piet Lorenzen gekidnappt.» Eva trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Offenbar konnte sie es kaum erwarten, an den Tatort zu kommen. «Er ist Lehrer und Wattschützer – führt in seiner Freizeit regelmäßig Schulklassen durchs Wattenmeer.»

Marconi wartete auf mehr, aber offenbar musste er seinen Kollegen jede Information aus der Nase ziehen. «Wer behauptet denn, dass er entführt wurde? Vielleicht war er feiern und nüchtert nur irgendwo aus.»

«Das wird uns hoffentlich gleich seine Freundin Emma erklären, die vorhin angerufen hat», sagte Jens und drückte einen der fünf Klingelknöpfe, auf dem die Namen Lorenzen und Lassen standen. Der Summer ertönte. Eva verteilte Schutzhandschuhe, kurz darauf waren sie im Treppenhaus. Ein ganz und gar durchschnittliches Treppenhaus in einem ganz und gar durchschnittlichen Wohnhaus. Drei Etagen, fünf Mietparteien. Die grauen Briefkästen neben der Tür waren ebenfalls durchschnittlich, genau wie der Beigeton, in dem die Wände gestrichen waren.

Das konnte man von der Frau, die im ersten Stock in der Tür auf sie wartete, allerdings nicht behaupten. Emma Lassen hatte eine üppige, etwas undisziplinierte hellbraune Lockenfrisur, die an vielen Menschen vielleicht gewollt retro ausgesehen hätte, an ihr jedoch lässig wirkte. Marconi schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war kleiner als Eva, ihre definierten Schultern und straffen Oberarme ließen auf regelmäßige Besuche im Fitnessstudio schließen. Sie wirkte überraschend ruhig, wenn man bedachte, dass ihr Partner möglicherweise das Opfer einer Entführung war. Emma Lassen hielt die Tür auf, damit sie ihr folgten, doch Marconi hob mahnend den Zeigefinger.

«Wir sind hier nicht im Fernsehkrimi, wo Ermittler sorglos durch einen Tatort trampeln. Falls es sich wirklich um den Schauplatz eines Verbrechens handelt, können wir nicht ohne Ganzkörperanzug in Ihre Wohnung.»

«Verbrechen», wiederholte sie und ihre Augen wurden feucht. Aber sie schien sich unter Kontrolle zu haben, denn die Tränen blieben, wo sie waren.

«Fühlen Sie sich in der Lage, uns zu berichten, was passiert ist?», fragte Marconi.

«Hier?» Emma Lassen deutete ins Treppenhaus. Als Marconi bestätigend nickte, zuckte sie mit den Schultern, seufzte tief und schloss für einen Moment die Augen. «Ich habe bei einer Freundin übernachtet, und als ich vorhin nach Hause kam, war Piet nicht da.»

«Ihr Freund?», hakte Marconi nach.

«Mein Verlobter, Piet Lorenzen. Wir wohnen hier zusammen. Am Anfang hab ich mir nichts weiter dabei gedacht. Wird wohl in der Schule sein, dachte ich. Aber dann hab ich den Zettel gefunden.» Sie hielt ihnen ein DIN-A4-Papier entgegen, auf dem ein paar Worte in gedruckten Großbuchstaben standen:

TU WAS ICH SAGE UND PIET PASSIERT NICHTS.

«Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, den Zettel vielleicht besser nicht anzufassen?» Marconi sah zwischen dem Blatt in ihrer Hand und ihrem Gesicht hin und her.

«Oh.» Nun schien Emma Lassen zu dämmern, worauf Marconi hinauswollte. «Spurensicherung. Verstehe. Sorry.»

Im Stockwerk über ihnen wurde eine Tür geöffnet. Es blieb verdächtig still.

«Hallo?», rief Marconi.

«Hallo?», echote eine dünne, gebrechliche Stimme von oben.

«Ich übernehm das», sagte Jens und sprang die Treppen so leichtfüßig hinauf, als würde er den ganzen Tag nichts anderes machen.

Während Jens die immer gleiche Frage so laut wiederholen musste, dass ein Gespräch eine Etage tiefer unmöglich war, rief Marconi, so freundlich es seine Ungeduld zuließ, nach oben, ob sie das Geschrei in der Wohnung des Mannes fortsetzen könnten. Kurz darauf war Ruhe, endlich.

«Tut mir leid», sagte Marconi. «Ich würde diese Unterhaltung auch lieber in Ihrer Wohnung führen. Können Sie mich noch mal durch den gestrigen Abend und den heutigen Morgen führen?»

«Wie gesagt.» Emma Lassen legte die Hände ineinander und presste die Lippen zusammen. Ihre Stimme war ganz leise. «Ich bin gestern Abend mit unserem Auto zu einer Freundin gefahren. Wir haben so lange gequatscht, dass es zu spät wurde, um noch zurückzufahren. Deshalb habe ich spontan bei ihr übernachtet. Als ich heute nach Hause kam, war Piet weg, und dann habe ich den Zettel gefunden.»

«Wo lag die Nachricht?», wollte Marconi wissen.

«Auf dem Esstisch, warum?»

«Gibt es Anzeichen eines Kampfes?», ignorierte Marconi die Gegenfrage.

Sie stockte. «Nein.»

«Ist sein Handy noch in der Wohnung?»

Sie stockte erneut. «Keine Ahnung», sagte sie dann.

«Sie haben nicht versucht, ihn anzurufen?» Marconi war überrascht.

«Moment, ich sehe nach.»

«Tun Sie das. Bitte ohne allzu viel anzufassen.»

«Kennst du diesen Piet?», raunte er Eva zu, nachdem Emma Lassen in der Wohnung verschwunden war.

Eva nickte. «Und du auch.»

«Was? Woher?»

«Vom Treffen der Umweltschützer von GreenPlanet neulich, bei dem du abgerauscht bist, ohne Bescheid zu sagen. Ich durfte dann eine Dreiviertelstunde nach Hause laufen.»

Er ignorierte die Spitze. «Piet war bei dem Treffen?», platzte es aus ihm heraus, und sofort dämpfte er seine Stimme wieder.

Eva half seinem Gedächtnis auf die Sprünge. «Ja, Lorenzen hat sich mit Fabian gestritten, deinem speziellen Freund. Sie hatten unterschiedliche Auffassungen über den künftigen Kurs der Gruppe. Piet war für Information und Aufklärung statt Krawall. Aber Fabian hat seine Einwände komplett ignoriert. Also ist Piet während der Versammlung einfach rausgestürmt.»

Nun dämmerte Marconi, wen Eva meinte. «Der war richtig angepisst. Beste Freunde sind die beiden sicher nicht.»

Emma Lassen tauchte wieder in der Tür auf. «Kein Handy, jedenfalls habe ich es auf die Schnelle nicht gefunden.»

Eva ließ sich Piets Nummer diktieren und ging dann nach draußen, um das Handy orten zu lassen. Marconi gab ihr die Anweisung mit auf den Weg, auch Kripo und Spurensicherung zu benachrichtigen.

Erneut standen Tränen in Emma Lassens Augen. Sie wandte sich ab und schaute an Marconi vorbei aus dem Fenster im Treppenhaus. «Wer entführt denn Piet? Und warum?»

«Das würde ich auch gern wissen», entgegnete Marconi. «Haben Sie denn keinen Verdacht?»

Emma Lassen stand eine Weile wie verloren da. In ihrem marineblauen Hemdblusenkleid aus Leinen wirkte sie noch jünger, als sie vermutlich war.

«Hatte Piet Feinde?», fragte Marconi.

«Feinde?» Sie schüttelte so heftig den Kopf, als hätte ihr jemand kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. «Quatsch!»

«Oder hatte er andere Probleme? Drogen?»

Empört schaute sie Marconi an, schnaubte aber nur unwillig.

«Geld, das es sich zu erpressen lohnt?», hakte Marconi nach.

«Würden wir dann hier wohnen?» Emma deutete auf den durchschnittlichen Beige-Farbton im durchschnittlichen Treppenhaus.

Bevor Marconi antworten konnte, öffnete sich über ihnen erneut eine Tür.

«Ich komme später wieder», rief Jens mit mittlerweile leicht heiserer Stimme. Wenig später stand er neben ihnen und sah etwas erschöpft aus.

«Sind Sie so nett und kommen mit uns vor die Tür, bis die Spusi hier ist? Ich habe zwar eine Menge Fragen, aber wichtiger ist erst einmal, dass Sie uns die Kontaktdaten von Piets sämtlichen Bekannten, Kollegen und Freunden geben. Und natürlich die Telefonnummer von Ihrer Freundin, bei der Sie die Nacht verbracht haben.»

Emma Lassen stutzte. «Spusi?»

«Spurensicherung. Die Kollegen werden Sie gleich bitten, die Wohnung noch einmal mit ihnen gemeinsam abzugehen, und dann den Tatort einfrieren. Heißt, der 3D-Scanner wird den Zustand Ihrer Wohnung aufzeichnen. Sie müssen ihnen zeigen, welche Gegenstände Sie bewegt haben, damit das alles protokolliert werden kann. Danach würden meine Kollegen und ich uns gerne einmal bei Ihnen umsehen.»

Emma Lassen nickte. «Mir ist alles recht. Hauptsache, ihr findet Piet», sagte sie leise, und erneut weinte sie fast, während sie beide Handflächen auf ihren Bauch legte. «Dann muss ich hier nicht allein durch.»

Marconi hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass im Norden jeder jeden duzte. Sein Blick folgte ihren Händen, dann nickte er wissend.

«Ach so», fiel der Groschen auch bei Jens. «Glückwunsch?»

«Danke», sagte Emma Lassen und kräuselte den Mund. «Also, bringt ihr mir Piet zurück?», wiederholte sie.

«Davon gehe ich aus», antwortete Marconi. Und er hoffte, dass es stimmte.

5Marconi hat keinen Ruf zu verlieren

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