Maria und der Patriot - Hans-Werner Honert - E-Book

Maria und der Patriot E-Book

Hans-Werner Honert

3,9

Beschreibung

Maria war noch keine drei Jahre alt, als ihre Mutter 1990 Ostdeutschland verließ und in die USA ging. Fünfundzwanzig Jahre später bekommt sie ihren ersten großen Auftrag, den ihr Lebensgefährte Jack an Land zog. Für eine New Yorker Fernsehstation soll sie einen Dokumentarfilm über Detlev Karsten Rohwedder drehen, erster Chef der Treuhand, der 1991 ermordet wurde. Ihr Vater war sein Bodyguard. Als Jack bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, ist Maria mit ihrem Auftrag allein. Sie will das Vermächtnis ihres Freundes erfüllen, ihre Trauer besiegen und bricht in die Vergangenheit auf. Sie muss begreifen, dass sie von Leuten benutzt wird, die großen Einfluss haben. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod.

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ISBN E-Book 978-3-360-50142-4

ISBN Print 978-3-360-01321-7

© 2017 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

unter Verwendung eines Motivs von ullstein bild – Ulrich Baumgarten

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Maria war noch keine drei Jahre alt, als ihre Mutter 1990 Ostdeutschland verließ und in die USA ging. Fünfundzwanzig Jahre später bekommt sie ihren ersten großen Auftrag, den ihr Lebensgefährte Jack an Land zog. Für eine New Yorker Fernsehstation soll sie einen Dokumentarfilm über Detlev Karsten Rohwedder drehen, erster Chef der Treuhand, der 1991 ermordet wurde. Ihr Vater war sein Bodyguard.

Als Jack bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, ist Maria mit ihrem Auftrag allein. Sie will das Vermächtnis ihres Freundes erfüllen, ihre Trauer besiegen und bricht in die Vergangenheit auf. Sie muss begreifen, dass sie von Leuten benutzt wird, die nicht nur großen Einfluss, sondern auch etwas zu verbergen haben. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod.

Über den Autor

Hans-Werner Honert, geboren 1950 in Leipzig. Nach einem Studium am Institut für Kinematographie in Moskau war er bis 1990 Regisseur beim Deutschen Fernsehfunk und schrieb Drehbücher unter anderem für den »Polizeiruf 110«. 1992 hob er den »Tatort«-Kriminalhauptkommissar Bruno Ehrlicher und seinen Kollegen Kain aus der Taufe und begleitete als Autor und Produzent das beliebte Ermittler-Duo über viele Jahre. Von 1995 bis 2012 war Honert Geschäftsführer der Saxonia Media und arbeitete nebenher als Gastdozent an der Universität Leipzig und Mentor an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Inzwischen lebt er als freier Autor, Regisseur und Produzent in Berlin und Leipzig.

Für Vivian

Inhalt

GEFRORENEAUGENBLICKE

ENTSCHEIDUNGEN

AUFBRUCH

FAMILIENGESCHICHTEN

WAHRHEITEN

IMSÜDENAFRIKAS

DIEERSTEBEGEGNUNG

VATERUNDTOCHTER

DERLEBENDIGETOTE

DIECHANCE

DIEPRÜFUNG

ZWEISAMKEIT

DERFILM

GEFRORENE AUGENBLICKE

Man will es nicht glauben, aber auch in der Welt­metropole New York gibt es ganz gewöhnliche, langweilige Tage. Dieser Junitag des Jahres 2014 scheint so einer zu sein. Ein unfreundlicher Nieselregen hat die Stadt überzogen. Niemand verspürt Lust, bei diesem grau-kalten Wetter spazieren zu gehen. Deshalb bemerkt auch keiner Maria, eine Frau Mitte zwanzig, die im Central Park auf einer Bank sitzt und hinüber zu einem Teich starrt, der laut Touristenführer »Turtle Points« heißt. Der feine Regen ist überall, dringt durch die Strähnen ihres schulterlangen Haares und fällt in schweren Tropfen auf ihre hellblaue Jeans, die bereits völlig durchnässt ist. Die Frau nimmt es nicht wahr, starrt wie gebannt auf einen kleinen Jungen, der an dem Teich steht und mit einem langen Stock auf einen weißen Ball einschlägt. Der Ball ist widerspenstig. Der Junge versucht verzweifelt, ihn ans Ufer zu bugsieren, treibt ihn jedoch immer weiter auf den Teich hinaus. Hilfesuchend dreht sich der Junge um. Sein Blick trifft auf die Frau auf der Bank.

Maria sieht dem Jungen schon eine Weile zu. Sie hat beobachtet, wie der Ball ins Wasser rollte und der Junge um ihn kämpfte. Jetzt schauen sie einander an. Aber es ist, als stände zwischen ihr und dem Jungen eine unsichtbare und undurchdringliche Wand.

Das erdrückende Gefühl von Einsamkeit war vor kaum einer Stunde über sie gekommen. Maria hatte die Teller und Tassen von ihrem ersten gemeinsamen Frühstück in der neuen Wohnung in den Geschirrspüler geräumt und auf »power« gedrückt, aber es tat sich nichts. Jack hatte ihr am Abend zuvor versprochen, den Spüler anzuschließen. Nichts wollte Maria gerade weniger, als abwaschen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Jack es ja dann am Abend erledigen würde. Es befanden sich gerade mal zwei Tassen, drei Teller und zwei Messer in den Schüben. Es war Platz genug für das, was sich über den Tag hinweg noch so ansammeln würde.

Sie schaltete die Stereoanlage ein. Die hatte Jack natürlich als Erstes in Betrieb genommen. Sie summte »Candle in the Wind« von Elton mit. Entschlossen wandte sie sich den Umzugskisten zu, die darauf warteten, endlich geöffnet und ausgeräumt zu werden. Plötzlich klingelte das Telefon. Die Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung klang kalt.

»Spreche ich mit Maria Schwimmer?«

»Ja, ich bin Maria Schwimmer.«

Die Frau hüstelte und schwieg. Maria wartete einen Augenblick, fragte dann: »Hallo! Sind Sie noch da?«

Die Frau hüstelte wieder, es klang gekünstelt.

»Ich bin die Frau von Jack Brown!«

Maria war überrascht. Sie wusste, dass Jack verheiratet war, aber auch, dass er bereits seit Längerem von seiner Frau getrennt lebte. Nur ein Foto kannte sie von ihr. Auf dem Bild machte sie einen strengen Eindruck. Jack hatte behauptet, die Hochzeit habe einen geschäftlichen Hintergrund gehabt. Die Stimme am Telefon schien Jacks Aussage zu bestätigen, sie passte zum Gesicht auf dem Foto. Maria wollte die Situation möglichst souverän bewältigen.

»Ja, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Uns kann keiner helfen.«

Einige Augenblicke herrschte Stille. Dann hörte Maria wieder das Hüsteln, bevor die Frau weitersprach: »Jack ist tot! Ein Truck hat ihn erwischt und plattgemacht. Wahrscheinlich hat er es verdient.«

Die Mitleidlosigkeit, auch wenn sie offensichtlich nur gespielt war, erschreckte Maria.

»Wo?«

»In der Sechsunddreißigsten.«

Jacks Frau legte auf. Maria fühlte sich wie gelähmt, eine Weile noch presste sie den Hörer an ihr Ohr, aus dem ein monotones, gleichgültiges Tuten drang. Als sie sich wieder gefasst hatte, rief sie in Jacks Büro an. Dort erfuhr sie, dass Jack ins Presbyterian University Hospital eingeliefert worden war. Sie lief auf die Straße, sprang in ein Taxi, das sie ins Hospital brachte, stürzte dort zur Rezeption und fragte nach Jack Brown. Die Krankenschwester an der Rezeption sagte ihr, Jack Brown sei verstorben. Auskünfte könne sie nicht geben, da Maria mit Brown weder verwandt noch verheiratet sei.

Wie paralysiert stand Maria vor der Frau, deren grellrote Fingernägel auf der weißen Tischplatte glänzten. Das Telefon klingelte, die Frau an der Rezeption wandte sich ab und sprach laut lachend mit jemandem, den sie offensichtlich gut kannte. Sie hatte Maria vergessen. Als sie auflegte, sah sie Maria verwundert an.

»Bitte«, flehte Maria.

»Es tut mir leid«, antwortete die Schwester und widmete sich wieder ihren Papieren.

Maria hörte, wie die Frau deutlich genervt tief und weithin hörbar ausatmete. Sie blickte Maria fest an, legte ihre Hände mit den roten Fingernägeln auf den Tisch, so als ob sie jeden Moment zum Angriff übergehen wolle.

»Haben Sie verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?«

Maria nickte.

»Wir sind gestern in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen.«

Einen Augenblick schauten die Frauen einander schweigend an. Maria spürte, dass ihr Gegenüber dann doch nach einer Lösung suchte. Die Schwester griff zum Telefonhörer, wählte eine Nummer. Nach dem kurzen Telefonat forderte sie Maria auf, ihr zum diensthabenden Arzt zu folgen: »Erzählen Sie ihm Ihre Geschichte. Mehr kann ich für Sie nicht tun.«

Das anscheinend ehrliche Bedauern, das aus der Stimme der Frau herausklang, beruhigte Maria.

Ein junger Arzt begrüßte sie; sie gingen in einen Behandlungsraum, der nach Desinfektionsmitteln roch. Er bat Maria, Platz zu nehmen. Sie wiederholte das, was sie der Frau hinter dem Tresen gesagt hatte. Der Arzt nahm ihre Hand behutsam in die seine.

»Ich begreife Ihre Situation durchaus. In unserem Land gibt es aber Gesetze, an die wir gebunden sind. Dass Sie gestern mit Ihrem Freund zusammengezogen sind, ist für unseren Fall bedeutungslos. Verstehen Sie?«

Noch bevor Maria antworten konnte, fuhr er fort: »Ihre Emotionen kann ich absolut nachvollziehen. Selbst wenn ich Sie zu ihm führen würde, oder anders gesagt, zu dem, was von seinem Körper übrig geblieben ist, wird es für Sie nicht leichter. Behalten Sie ihn so in Erinnerung, in Ihrem Herzen, wie Sie ihn kannten. Zerstören Sie nicht Ihr Bild von ihm.«

Er griff wieder nach Marias Händen. Sie zog sie entschieden zurück. Der Arzt stand auf und ging zum Medikamentenschrank, aus dem er eine Spritze nahm.

»Ich spritze Ihnen jetzt etwas, das Sie beruhigen wird.«

Maria ließ es geschehen. Er desinfizierte ihren linken Oberarm. Doch in dem Moment als die Nadel in die Vene dringen sollte, stand sie plötzlich auf und verließ wortlos den Raum. Sie lief den langen Gang zum Ausgang hinunter. Ein Sicherheitsmann der Klinik folgte ihr noch bis zur Tür. Sie lief durch Straßenschluchten, stieß Leute an, die ihr kopfschüttelnd nachsahen. In der 36. Straße blieb sie erschöpft stehen. Hier irgendwo war Jack verunglückt. Ihr Blick glitt suchend über den Asphalt. Nichts bezeugte das Ereignis, kein Blutfleck, kein verbeultes Auto, keine Glassplitter. Als ein Polizist auf sie aufmerksam wurde und fragte, ob er helfen könne, lief sie schweigend weiter bis zu der Bank, auf der sie schon als Kind mit ihrer Mutter gesessen hatte, und schaute von dort aus gebannt zum Belvedere Castle hinüber. Als sie als Schulkind mit ihrer Klasse das erste Mal das Castle besuchte, konnte sie sich nicht sattsehen an den Schaukästen des Nature Observatory. Die Vögel waren starr und still, wie eingefroren. Man konnte sich diese Welt in aller Ruhe besehen. Nichts war flüchtig, alles blieb an seinem Ort. Sie ging nach ihrem ersten Besuch noch oft mit ihrer Mutter zu den Schaukästen. Danach setzten sie sich immer auf die Bank am Turtle Pond im Central Park, richteten ihre Blicke auf das Castle auf der kleinen Anhöhe vor ihnen und sprachen über die Faszination des Stillstandes, des eingefrorenen Augenblicks.

Der Wind kommt vom Atlantik. Die Wolken sind zu einem grauen Watteball verschmolzen, aus dem ein leichter Nieselregen fällt. Maria spürt nicht die Feuchtigkeit auf ihrem Gesicht. Sie hört nicht die Straßengeräusche, die sich vom Rand des Central Parks kommend über dem Wasser des Turtle Ponds treffen. Sie ist gefangen, erstarrt in kalter Einsamkeit wie die Vögel in den Schaukästen des Nature Observatory.

Ein heftiger Schlag trifft Maria am Kopf. Sie reißt die Augen auf und sieht, wie der Junge den zurückspringenden Ball ergreift, sie geradezu provozierend anlacht und davonläuft. Er schaut im Laufen noch einmal zurück, um sicher zu sein, dass die Frau ihm nicht folgt.

Es dämmert, der Regen hat aufgehört. Die Laternen im Central Park leuchten bereits und kündigen die Nacht an. Maria friert, sie fühlt die nassen, kalten Sachen an ihrem Leib. Wohin soll sie gehen? Mit wem ihre Einsamkeit teilen? Sie fährt mit der U-Bahn zurück in ihre Wohnung. Dort entledigt sie sich ihrer nassen Kleider und kramt einen Bademantel aus einer der Umzugskisten hervor. Sie isst die Überbleibsel des gestrigen Abendessens. Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie noch mit Jack hier zusammengesessen. Sie geht zurück ins Bad, lässt Wasser in die Wanne. Im Spiegel sieht sie den roten Fleck, den der Aufprall des Balles auf ihrer Stirn hinterlassen hat. Er leuchtet wie ein Brandmal. Die Wanne ist noch nicht halb gefüllt, als Maria ins Wasser steigt. Schnell zieht sie ihren Fuß wieder zurück, dreht das heiße Wasser ab, um kaltes nachfließen zu lassen, wartet, prüft mit dem Finger und steigt abermals in die Wanne. Erst als das Wasser nahezu bis zum Rand der Wanne aufgestiegen ist, dreht sie den Hahn zu. Dabei fällt ihr die Zahnbürste mit dem blauen Griff auf dem Wannenrand auf. Er lernt es nie, denkt sie, und stellt die Bürste in einen Becher, der neben einem zweiten auf der Ablage unter dem Spiegel steht, aus dem ein roter Bürstengriff herausragt. Im Zimmer klingelt das Telefon. Langsam gleitet sie zurück ins Wasser, taucht unter, hält die Luft an und wünscht sich nur noch, für immer zu versinken. Als ihre Lungen zu bersten drohen, taucht sie auf. Wasser schwappt über den Rand der Wanne. Sie streicht sich ihr Haar aus dem Gesicht, lehnt ihren Kopf an den Wannenrand, und wieder fällt ihr Blick auf Jacks blaue Zahnbürste. Sie erinnert sich, dass sie am Tag zuvor an ihrem Laptop saß, als Jack ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen. Er hatte seinen Chef überzeugt, Maria einen Dokumentarfilm drehen zu lassen. Bisher hatte sie mit kleinen Werbespots Geld verdient. Maria meinte, ihre Aufgabe gefunden zu haben, obwohl sie sich anfangs noch etwas sträubte. Nunmehr aber hat sich dieses ganze große Glück in einen unbändigen Schmerz verwandelt.

Minuten später sitzt sie am Schreibtisch und schaltet die kleine Schreibtischlampe an. In ihrem Lichtschein liegt ein Brief. Der Kaffeefleck am oberen linken Rand stammt von Jack. Er hatte, als er mit Maria über diesen Brief sprach, so heftig gestikuliert, dass der Kaffee aus seiner Tasse schwappte. Es war ihr letztes Gespräch. Danach ging Jack aus dem Haus – für immer.

Berlin 13. Dezember 1990

Liebe Claudia,

wie geht es unserer kleinen Maria? Ich bin eben aus den USA zurück. Wie ich Dir schrieb, begleitete ich Herrn Rohwedder zu Verhandlungen mit Bankern. Es war alles umsonst. Keiner der Herren war bereit zu investieren. Er war so allein wie ich, als ich in Greenwich Village vor Eurem Haus stand und alles verschlossen war. Meinen Zettel hast Du bestimmt gefunden. Ich habe für nächstes Jahr Mai Urlaub eingereicht. Lauf nicht weg. Ich habe ein Recht, unser Kind zu sehen. Das ist mein einziger Weihnachtswunsch! Ich wünsche Euch ein frohes Fest. Klaus

PS: Vielleicht freut sich Maria über die kleine Spieluhr.

Maria fand den Ton des Briefes schwülstig, sogar abstoßend. Jack widersprach ihr: »Der schreibt nur, dass er sich genauso scheiße fühlt wie dieser Rohwedder.«

»Das kann man nicht vergleichen«, antwortete sie ihm.

»Wenn man sich scheiße fühlt, fühlt man sich scheiße, der Grund ist erst einmal zweitrangig.«

Jack konnte ihr den Widerwillen, den sie beim Lesen des Briefes empfand, nicht ausreden.

Sie legt den Brief auf die Tastatur des Laptops, geht an geöffneten Umzugskisten vorbei, verharrt vor einer und beginnt zu suchen. Schnell findet sie das Gesuchte. Sie dreht die kleine Spieluhr in ihren Händen. »Nein, nein, nein! Es ist Kitsch!« Mit voller Wucht wirft sie die Spieluhr zu Boden.

Von ihrer Mutter bekam Maria nur einmal eine Antwort auf die Fragen nach ihrem Vater: »Er hat mich betrogen, als ich mit dir schwanger war. Ich habe ihn endgültig aus meinem Leben gestrichen. Dieser Mann hat mit dir nichts zu tun. Er ist ein Fremder.« Als sie Jack später davon erzählte, entgegnete er ihr lachend: »Dieser Vater ist ein Glück für dich.« Gerade der Umstand, dass es im Film auch um ihren Vater gehe, ließe eine sehr persönliche Dramaturgie erwarten. Mit dieser Aussicht hätte er den Sender schließlich überzeugen können, ihr den Filmauftrag zu erteilen. Jack trug dies so energisch vor, dass sie ihren Widerstand aufgab und einwilligte, einen Film für die Reihe »Politische Morde in Europa« zu drehen.

Unablässig kreisen wirre Gedanken in ihrem Kopf herum. Erst in den Morgenstunden überkommt sie ein tiefer, traumloser Schlaf. Wie gerädert fühlt sie sich, als sie Stunden später aufsteht. Die ersten Sonnenstrahlen erhellen das Chaos, das sie umgibt. Maria kommt nicht in den Sinn, weiter die Regale und Schränke einzuräumen. Vom Anrufbeantworter erfährt sie, dass der Übergabetermin ihres Hauses wie abgesprochen stattfinden wird. Ins Bad traut sich Maria nicht, sie hat Angst vor ­Jacks blauer Zahnbürste, die die Erinnerungen nur noch mehr befeuern würde. Wie soll das alles weitergehen? Maria fährt sich mit der Hand durchs Haar und sieht zum Fenster hinaus. Die Wolken sind verschwunden, auf den Fensterscheiben sind die Spuren von ausgetrockneten Regentropfen verblieben. Sie geht zum Fenster und wischt über die Scheibe. Und versucht es zu öffnen. Jack hatte ihr zwar erklärt, wie sich die Fenster öffnen lassen, doch Maria bemüht sich vergeblich. Sie gibt auf. Die Mappe mit dem Kaufvertrag und den anderen Vereinbarungen findet sie nicht sofort. Als sie sie öffnet, liegt obenauf eine To-do-Liste, die Jack geschrieben hat. Maria starrt sie an. Überall Jack.

»Ich halte das nicht aus!«, schreit Maria. Sie kauert sich auf den Boden. Es dauert einige Zeit, bis sie sich beruhigen kann. Dann greift sie zu der Liste, liest, faltet sie zusammen, steckt sie in ihre Hosentasche und die Mappe in einen Plastikbeutel. Sie telefoniert nach einem Taxi. Einige Augenblicke später steht sie bereits auf der Straße. Über ihr leuchtet ein blitzblauer Himmel. Das Taxi lässt auf sich warten. Einige leere fahren an ihr vorbei. Sie nimmt sich vor, keine telefonische Bestellung mehr aufzugeben und ist kurz davor, einem unbesetzten Taxi zuzuwinken, als das bestellte vor ihr hält. Der Fahrer fragt, ob sie Schwimmer heiße. Maria bestätigt das, steigt ein und sagt, dass sie nach Greenwich Village wolle.

Die Straßen sind an diesem Vormittag wie immer vollgestopft mit Autos, deren Fahrer es eilig haben. Auch Marias Fahrer drängelt und hupt. Sie sagt ihm, dass sie Zeit habe. Er reagiert nicht. Als er in die Fifth Avenue einbiegt, vorbei am weißen Marmorbogen, der an den alten George Washington erinnert, muss Maria an ihre Tante Leslie denken, die mit ihrem Dackel Bobbi gern hier spazieren ging. Als die Tante nicht mehr richtig gehen konnte, übernahm Maria den Job. Bobbi mochte die Bäume rechts und links der Straße, die zum Marmorbogen führt. Maria schaut aus dem Fenster des ­Taxis auf die linke Straßenseite. Bobbi hob fast an jedem fünften Baum sein Hinterbein. An den anderen Bäumen schnüffelte er lange, was Maria dann irgendwann nervte. Man kam mit diesem Hund einfach nicht voran. Auf der rechten Straßenseite gingen sie zurück, und Bobbi hob hier seltener sein Bein, schnüffelte aber dafür auch länger. Maria kann nicht sagen, dass sie tieftraurig war, als Bobbi an Altersschwäche starb.

Eigentlich war Leslie nicht ihre richtige Tante. Sie war die zweite Frau des Onkels ihrer Mutter. Ihre Mutter behauptete, Tante Leslie hätte einen Narren gefressen an ihr, als sie 1974 Ostdeutschland besuchte. Tante Leslie fand es gruslig, wie man unter den Kommunisten lebte. Sie wollte dieses Land nicht noch einmal besuchen. Seit dieser Zeit schrieben sich ihre Mutter und die Tante regelmäßig Briefe. Nach Marias Geburt schickte sie Pakete mit rosa Babywäsche und Barbie-Puppen. Als in Berlin die Mauer fiel, setzte der Onkel Marias Mutter in seinem Testament als Erbin ein. Die Mutter befürchtete damals, er habe damit Tante Leslie verletzt. Was die Tante jedoch in keiner Weise bestätigte.

Maria sieht einen Herrn im Trenchcoat zwischen den Bäumen vor dem schmalen alten zweistöckigen Haus stehen. Sie weist den Taxifahrer an, zu halten, bezahlt schweigend; er gibt ihr das Wechselgeld zurück, ebenfalls ohne ein Wort zu verlieren. Als sie aus dem Taxi steigt, kommt der Mann im Trenchcoat lächelnd auf sie zu.

»Ich dachte schon, ich hätte den Termin verwechselt. Das Geld ist angekommen?«

»Danke, alles gut. Ich bin ausgezogen; das Haus gehört Ihnen.«

Sie kramt nach den Schlüsseln und schaut dabei immer wieder hinüber zum Haus. Die Fenster, umrandet von braunen Backsteinen, scheinen Maria düster anzusehen. Das Haus macht keinen frischen Eindruck. Man könnte meinen, es riefe regelrecht nach Renovierung.

»Es wird Zeit.«

Der Mann lächelt Maria an, gerade so, als habe er den Wunsch des Hauses vernommen.

»Mir fehlte immer das nötige Kleingeld, um zu renovieren.«

Der Mann schmunzelt. »Ich glaube, eine Renovierung wird nicht reichen. In Fachkreisen spricht man in einem Fall wie diesem von Rekonstruktion.«

Maria betrachtet traurig das alte Haus, in dem sie groß geworden ist.

»Darf ich noch einmal einen Blick in die Papiere werfen?«, fragt der Käufer.

Maria gibt ihm den Plastikbeutel mit der Mappe.

»Ich bin gleich zurück«, ruft sie, springt die wenigen Stufen der Treppe hinauf, die vom Fußweg zur Haustür führt und beidseitig von einem schmiedeeisernen Geländer begrenzt wird. Sie schließt auf, lässt die Tür hinter sich offenstehen und verschwindet in der Dunkelheit des Treppenhauses.

Sie steigt die schmale Treppe nach oben. Die Türen der Zimmer stehen offen. Durch die ungeputzten Fensterscheiben fällt ein wenig Licht. Helle quadratische Flecken an der Wand verraten, wo einst Bilder hingen. Am Ende der Treppe bleibt sie vor einem kleinen Fenster stehen und öffnet es. Von hier aus blickt man auf einen Hinterhof, der von anderen braunen Backsteinhäusern eingerahmt ist. In der Mitte dieses Fleckchens Erde, das selten von den Strahlen der Sonne beschienen wird, befindet sich ein kleines Beet, auf dem Blumen ein schattiges Dasein fristen. Neben dem Beet steht ein frisch gestrichenes weißes Bänkchen. Niemand ist zu sehen. Maria beugt sich aus dem Fenster, sammelt Spucke in ihrem Mund und lässt sie auf das kleine Fleckchen Erde unter ihr tropfen.

Vor über zwanzig Jahren bekam Maria an diesem Fenster ihre erste und letzte Ohrfeige von Tante Leslie, als die sie beim Spucken erwischte.

»Das macht man nicht«, zürnte sie und verpasste dem Mädchen eine gehörige Ohrfeige. Maria sah ihre sonst so liebe Tante entsetzt an und begann laut zu weinen. Ihre Mutter kam, nahm sie in den Arm und schrie plötzlich die Tante an. »Das machst du nicht noch einmal. Sonst kannst du dir eine andere Bleibe suchen.« Maria sieht noch heute das erschrockene Gesicht der Tante vor sich. Die suchte nach Worten, fand aber keine. In diesem Moment war Maria klargeworden, dass ihrer Mutter dieses Haus gehörte. Tante Leslie fügte sich. Nie wieder hatte sie das Kind geschlagen.

Als ihre Mutter vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, versuchte die Tante jedoch, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Maria war inzwischen allerdings einundzwanzig Jahre alt. Und darüber hinaus übertrug das Testament, das die Mutter hinterließ, den Besitz des Hauses auf die Tochter. Letztlich war mit dem Testament auch ein geordnetes Miteinander zwischen den beiden Frauen gesichert.

Genießerisch lässt Maria einen zweiten Tropfen Spucke in die Tiefe fallen. Ein lautes »Hallo« reißt sie abrupt aus ihren Erinnerungen. Sie schließt das Fenster und hört, wie jemand die Treppe heraufkommt. Der Mann hat den Trenchcoat mittlerweile ausgezogen und trägt ihn über den linken Arm gelegt. Maria geht ihm entgegen. Er bleibt vor der offenen Tür des ehemaligen Wohnzimmers stehen.

»Haben Sie hier allein gelebt?« Er macht einen Schritt ins Zimmer.

»Erst ist meine Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, dann ist der Dackel Bobbi an Altersschwäche eingegangen und ihm folgte dann meine Tante. Sie ist hier mit sechsundsiebzig Jahren verstorben.«

Der Mann geht durchs Zimmer: »Wie gesagt, es gibt viel zu tun. Das Haus ist aber alles in allem sehr schön.«

Maria lehnt sich an die Tür und mustert den Mann.

»Außer dem Haus ist mir nichts geblieben«, entgegnet sie ihm.

Der Mann blickt verständnisvoll. »Jetzt haben Sie Geld.«

Maria lächelt seit vielen Stunden das erste Mal. »Wollen Sie auch noch wissen, was ich damit anstellen werde?«

Der Mann erwidert ihr Lächeln. Plötzlich hat sie Tränen in den Augen, dreht sich weg und läuft die Treppe hinunter. Die Haustür fällt ins Schloss. Überrascht geht der Mann ihr nach. Maria lehnt am schmiedeeisernen Geländer der kleinen Treppe und weint ganz ungehemmt. Hilflos bleibt der Mann neben ihr stehen. Er weiß nicht, was er tun soll. Langsam steigt er die Stufen zum Gehweg hinab, schaut sich um und wendet sich dann wieder Maria zu. Die wischt sich mit ihren Ärmeln die Tränen vom Gesicht.

»Ich muss mich wohl entschuldigen. Aber gut jetzt! Sie haben alles? Oder? Das Haus gehört nun Ihnen.«

Der Mann zuckt mit den Schultern. »Kann ich Ihnen helfen?«

Maria kommt auf ihn zu und streckt ihm ihre Hand hin. »Ich wünsche Ihnen Glück mit dem Haus.«

Sie schütteln sich die Hände, dann wendet sich Maria ab und geht. Sie geht die Straße hinunter, vorbei an den alten Bäumen, die sie gut kennt, und steigt wieder in ein Taxi.

In der 18. Straße Ecke Broadway lässt sie das Taxi direkt an den Schaufenstern des »Macy’s« halten. An diesem Vormittag ist in dem riesigen Kaufhaus nicht viel los.

In der vierten Etage findet Maria, was sie sucht. Mehrere der schwarzen Kleider nimmt sie mit in die Umkleide. Sie streift das erste über. Das hochgeschlossene Kleid hebt die Konturen ihres schmalen Körpers hervor. Es hat am Rücken einen langen Reißverschluss, der bis zu ihren Hüften reicht. Sie kann ihn allein nicht schließen, so sehr sie sich auch müht.

»Jack wird mir nicht helfen können«, der Gedanke fährt ihr wie ein Messer in den Kopf; sie sinkt erschöpft, so als hätte sie gerade einen schweren Kampf hinter sich gebracht, auf die kleine Bank ihrer Kabine und sitzt eine ganze Weile regungslos, vor sich hinstarrend, bis eine Verkäuferin den Vorhang beiseite schiebt und fragt, ob etwas nicht in Ordnung sei.

»Ich bekomme den Reißverschluss nicht zu.«

Der Satz bringt die Verkäuferin zum Lachen: »Deshalb müssen Sie doch nicht verzweifeln. Ich helfe Ihnen.«

Maria erhebt sich, zieht abrupt den Vorhang wieder zu und streift das Kleid herunter.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt die Verkäuferin.

Maria antwortet mit einem entschlossenen »Ja« und sieht sich die restlichen Kleider genauer an. Ein unscheinbares, ohne Reißverschluss zieht sie an. Es hängt wie ein Sack an ihrem Körper herunter und verdeckt ihre langen Beine bis über die Knie. Ohne weiteres Federlesen kauft sie es. Mit dem schwarzen Kleid in einer Tüte, auf der ein roter Stern prangt, fährt sie die Rolltreppe hinunter in die »Cellar Bar«. Hier war sie im vergangenen Winter mit Jack. Sie mussten warten, bis ein Tisch frei wurde. Heute ist es anders. Sie nimmt an einem Zweiertisch Platz, bestellt, ohne in die Karte zu schauen, Steak & Fries. Das hatten sie bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch auch bestellt. Jack behauptete damals, vierundzwanzig Dollar seien ein stolzer Preis. Am liebsten würde sie die Bestellung jetzt wieder rückgängig machen. Sie tut es nicht; trotzig würgt sie das blutige Steak herunter. Dann auf der Toilette erbricht sie das Vierundzwanzig-Dollar-Gericht in das Toilettenbecken. Als sie am Ausgang des »Macy’s« steht, bemerkt sie, dass sie den Beutel mit dem roten Stern in der Bar vergessen hat. Aber der Kellner hat die Tüte bereits entdeckt und kommt Maria entgegen, um ihr das Kleid zu übergeben, das sie zu Jacks Beerdigung tragen wird.

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht steht für Maria fest, dass es so nicht weitergehen darf. Sie muss etwas tun.

Diesen Vorsatz ruft sie an diesem Vormittag immer wieder auf, während sie die Umzugskisten in einer Ecke stapelt und so versucht Ordnung in das sie umgebende Chaos zu bringen. Die blaue Zahnbürste wirft sie samt Becher in eine Mülltüte. Dann duscht sie, trocknet sich ab und streift, noch mit nassen Haaren, das neue schwarze Kleid über. Sie vermeidet jede Pause, will unbedingt in Bewegung bleiben. Auf ihrem Arbeitstisch sortiert sie die CDs, verwahrt sie in Hüllen. Eine noch unbeschriftete schiebt sie in ihren Laptop. Auf dem Display läuft ein Fernsehbericht von 1990 an. Eine Gruppe von Mitarbeitern der ostdeutschen Hotelgruppe »Interhotel« hatte die Treuhandanstalt am Berliner Alexanderplatz gestürmt. Der damalige Treuhandchef Rohwedder stellte sich ihnen in den Weg und schleuderte der aufgebrachten Menge die Worte entgegen: »Die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber!« Doch die Demonstranten skandierten weiter lautstark ihre Forderung, die Interhotels an die Kempinski-Gruppe zu verkaufen. In dem Moment als sich Rohwedder von den Demonstranten abwendete, gab er den Blick auf einen Mann frei, der die ganze Zeit hinter ihm stand.

An dieser Stelle stoppt Maria den Filmbericht. Jack hatte ihr am Abend, bevor er starb, ein Foto ihres Vaters gezeigt. Es war das erste Foto von ihm, das Maria zu Gesicht bekam. Jack hatte es offensichtlich aus diesem Fernsehbericht kopiert. Er erzählte, dass ihr Vater ein ostdeutscher Polizist war. Nachdem man Detlev Karsten Rohwedder aus dem Westen in den Osten geholt hatte, um das einstige Volkseigentum der DDR zu privatisieren, wurde ihr Vater Bodyguard des Treuhandchefs.

Maria nimmt die CD aus dem Laptop. Gerade als sie sie beschriften will, läutet die Türglocke. Vor der Tür steht ein grauhaariger älterer Mann mit einem kleinen schwarzen Aktenkoffer in der rechten Hand. Maria schaut ihn überrascht an. Sie kennt den Mann. Es ist Maier, dem der Sender gehört, für den Jack arbeitete. Ihn hatte Jack überzeugt, dass Maria für diesen Rohwedder-Film die Richtige sei.

»Herr Maier?«

Maier lächelt traurig. »Guten Morgen. Darf ich reinkommen?«

Maria geht zurück ins Wohnzimmer. Maier folgt ihr, schließt die Tür hinter sich, schaut sich um und legt dann seinen Mantel über einen der Stapel von Umzugskisten und stellt seinen schwarzen Aktenkoffer daneben ab. Maria beobachtet Maier, wie er sich über ihren Laptop beugt, dann aufschaut und sie mustert. Sie lehnt in ihrem schwarzen Kleid und mit den immer noch nassen Haaren an der Tür zur Wohnküche. Er geht er auf sie zu und nimmt sie in die Arme.

»Er ist nicht mehr aufgewacht. Die haben alles versucht.«

Maria zwingt sich, nicht wieder in Tränen auszubrechen. »Sie haben mich nicht zu ihm gelassen.«

Maier nickt, so als teile er die Entscheidung der Behörde. »Sein Kopf war völlig zertrümmert. Sie hätten ihn nicht erkannt.«

Maria schluckt, unterdrückt mit aller Kraft einen Weinkrampf. Ihre Stimme klingt betont sachlich, als sie sich an Maier wendet. »Warum haben die Sie angerufen?«

»Ich war sein Arbeitgeber. Sein einziger fester Kontakt hier in New York.«

Maria geht zum Herd und gießt Tee auf. Maier folgt ihr.

»Ich kannte ihn fast zwanzig Jahre. Er war für mich wie ein Sohn.«

Sie steht am Herd, schweigt. Er geht zurück zu seinem schwarzen Aktenkoffer.

»Ich habe ihnen seine persönlichen Sachen aus dem Büro mitgebracht.«

Er legt ein gerahmtes Foto auf den Tisch. Maria setzt die Teekanne ab und starrt auf das Foto. Darauf hält Jack Maria lachend im Arm und reckt seine Finger zum Siegeszeichen in den Himmel. Maria atmet schwer. Ihre Hände klammern sich an die Tischplatte.

Nach einigen Augenblicken bricht Maier das Schweigen. Behutsam formuliert er seine Worte: »Gegen diesen Schmerz gibt es keine Medizin. Er lähmt und die so tiefempfundene Verzweiflung bedeutet nichts anderes als Hilflosigkeit. Glauben Sie einem alten Mann. Wenn Sie versuchen, im Sinne von Jack weiterzuleben, bleibt er Ihnen. Irgendwann wird er Sie dann freigeben. Alles hat seine Zeit.«

»Wann ist die Beerdigung?«, fragt Maria.

Für einen Augenblick wirkt der alte Mann wie überrumpelt.

»Seine sterblichen Überreste sind auf dem Weg nach Houston.«

»Houston?«

»Sie wissen doch, dass seine Frau dort lebt.«

Maria macht einen Schritt auf Maier zu. »Wann?«

»Ich glaube, Sie sind dort fehl am Platz.« Er legt seinen Arm um Marias Schulter. »Jack war so erfüllt von dem Wunsch, dass Sie den Film über Ihren Vater machen. Erfüllen Sie ihm den Wunsch, besiegen Sie so Ihren Schmerz.«

Maier zieht aus seiner Jackentasche ein Kuvert und schiebt es auf den Tisch. »Das genügt, glaube ich, für eine Stunde Film. Ihr Ticket liegt am Flughafen bereit.«

Als Maier gegangen ist, breitet sich eine Ruhe in Maria aus. Ihre Gedanken schwärmen nicht mehr wie wild umher. Sie sind klar, geordnet, kontrolliert, keine Gefühlsattacken bringen sie jetzt durcheinander. Maria begreift, dass sie allein ist.

ENTSCHEIDUNGEN

Es heißt, der Tod liege in Gottes Hand. Wenn man sich die Ereignisse vor zwei Tagen, an jenem regnerischen Junitag in New York, durch den Kopf gehen lässt, kommt man zu dem Schluss, dass man zuallererst die Frage stellen muss: Wer überhaupt ist Gott?

Als Jack Brown an diesem Morgen die Wohnung verließ, in die er am vergangenen Nachmittag mit Maria eingezogen war, fiel ihm erst kurz vor seinem Büro ein, dass er vergessen hatte, den Geschirrspüler anzuschließen. Maria würde sich darüber ärgern, und er überlegte, wie er ihr am Abend eine Freude machen könnte. In seinem Büro erwartete ihn der Assistent von Maier, seinem Dienstherrn, der um eine sofortige Unterredung bat. In einem ruhigen Ton erklärte er, Jack sei ein Sicherheitsrisiko und der Chef habe deshalb angeordnet, ihn vorläufig aus dem Rennen zu nehmen. Der Assistent forderte Jack auf, seine Frau in Houston anzurufen und sie zu bitten, Maria davon in Kenntnis zu setzen, dass ein Truck ihn in der 36. Straße überrollt hätte und er nun also tot sei. Das Weitere würde ihm der Chef selbst erklären. Jack wusste, dass er keine Möglichkeit hatte, sich der Entscheidung entgegenzustellen. Er bat den Assistenten, das Telefonat mit seiner Frau zu übernehmen. Schließlich sei er ja tot, und seine Frau würde Maria authentischer die Nachricht überbringen, wenn auch sie von seinem Tod überzeugt wäre. Dem Assistenten leuchtete das ein; er unterrichtete Jacks Frau. Diese nahm die Nachricht emotionslos entgegen und versprach, Maria zu informieren – und zwar sehr gerne, denn, wie sie meinte, sei ihr diese Nachricht eine Freude, um nicht zu sagen, geradezu eine Genugtuung. Nach diesem Telefonat fuhr der Assistent mit Jack in Maiers Büro.

Der Regen hatte noch nicht begonnen. Der Himmel war klar. Man sah die Schiffe auf dem Hudson River, die Flugzeuge im Landeanflug zum Kennedy Airport und die Autos weit unten in der Fifth Avenue im Stau stehen. Nur Jack und der Alte standen am Fenster des großen Büros im fünfundvierzigsten Stock.

»Du warst mir immer wie ein eigener Sohn.« Maier sprach leise. »Wir sollten das Ganze als einen Betriebs­unfall verbuchen. Du fliegst jetzt nach Houston und sagst deiner Frau die Wahrheit. Ihr werdet mir noch einmal dankbar sein, dass ich eure Ehe gerettet habe.«

Maier setzte sich hinter seinen schweren Eichenschreibtisch. Jack bewegte sich nicht, gab keinen Ton von sich.

»Du hattest deine Chance, hättest dich eben nicht verlieben dürfen, du Depp.«

Jack ging müde zur kleinen Sitzgruppe vor dem Schreibtisch, goss sich aus der Wasserkaraffe ein Glas ein und trank es in einem Zug leer. Dann setzte er sich.

»Ist es das Ganze denn wert?«

»Ja«, antwortete der grauhaarige Mann hinter dem Schreibtisch trocken. Er faltete seine knochigen Hände und atmete übertrieben angestrengt ein und aus.

»Wir haben die halbe Welt nach ihm abgesucht«, entgegnete ihm Jack.

Der Alte lächelte. »Eben nur die halbe.«

»Was ist dieses verfluchte Papierstück denn heute noch wert?«

»Es darf nicht in fremde Hände kommen – und wenn doch, wären die Konsequenzen nicht nur für die direkt Beteiligten verheerend.«

Jack sah ihn fragend an: »In wessen Hände darf es denn nicht gelangen?«

»Das geht dich nichts an!«, gab der Alte ihm höhnisch lachend zur Antwort.

»Sie haben mit dem Mord an diesem Deutschen nichts zu tun. Das haben sie mehrfach versichert.« Jacks Stimme hatte ihre Kraft wiedergewonnen.

Maier hob beschwichtigend die Hände. »Fang jetzt nicht wieder an zu schreien!«

»Ich liebe Maria«, entgegnete Jack leise.

Er bekam das blecherne Lachen des Alten zu hören: »Das ist ja der Schwachsinn. Du hattest einen Job. Und diesen Job hast du vergeigt. Dafür würden dich andere entsorgen. Begreife es endlich!«

Jack nickte heftig. »Ich bin tot!«

»Was blieb mir übrig?«

Hilflos stand Jack in der eisigen Stille, die plötzlich herrschte. Der Alte erhob sich und trat an Jack heran. Väterlich legte er die Hand auf seine Schulter.

»Das Mädchen ist völlig naiv. Was soll sie mit der Wahrheit anfangen?« Maier sprach wieder betont leise. »Sie war noch nicht einmal drei Jahre alt, als ihre Mutter mit ihr Deutschland verließ. Amerika kennt sie mehr schlecht als recht. Die Musikszene vielleicht noch am besten. Für diese Generation ist Weltpolitik nur lästig. Und das ist vielleicht auch gut so. Als nämlich in Deutschland Ende der sechziger Jahre die jungen Leute anfingen, sich für Politik zu interessieren, gab es Mord und Totschlag. Behüte uns Gott davor.«

Jack streifte die Hand des Alten von seiner Schulter. »Ja, vielleicht bin auch ich naiv.«

»Weißt du, was meine Großmutter zu solchen Situationen sagte? Wo der Schwanz regiert, ist der Geist im Arsch.« Der Alte lachte wieder blechern. Dann klopfte er Jack auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um das Mädchen.«

»Und was wird mit mir?«

Maier ging zu seinem Schreibtisch, zog einen Aktenordner aus der Schublade und setzte sich. »Neues Spiel, neues Glück. Du gehst nach Shanghai.«

Jack ließ sich in einen Sessel fallen. »Shanghai?«

»Du wirst dort eine Gruppe von Autoren und Dramaturgen anleiten. Wir sind mit der Shanghai Film Group über mögliche Co-Produktionen in Verhandlung und suchen Stoffe. Zunächst aber, atme erst mal durch und bring deine Familie in Ordnung.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, ließ er Jack mit dem Aktenorder, den er auf seinen Schreibtisch liegenließ, allein.

Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, konnte Jack nicht sagen. Seine Gedanken fuhren Achterbahn. Er starrte durch die nasse Fensterscheibe nach draußen. Das ergab alles keinen Sinn. Er griff noch einmal zur Karaffe und goss gedankenversunken Wasser in das Glas, bis es überlief und auf dem Mahagoniholz der Tischplatte eine Lache bildete. Langsam bewegte sich diese Lache zur Tischkante und tropfte dann zu Boden. Jack sah teilnahmslos zu. Marias Bild gewann in seinem Kopf immer mehr an Schärfe. Er ging zurück zum Fenster. Was wird aus ihnen, was sollen, können sie jetzt noch tun? Da war die Frage wieder, die ihn fast dazu getrieben hatte, Maier an die Gurgel zu gehen. Die Regentropfen sahen wie Perlen aus, glitten über die Scheibe in die Tiefe und trübten Jacks Blick. Marias Bild verschwand. Unzählige Stockwerke unter ihm brodelte der Verkehr. Das hektische Gewimmel ging regelrecht in den Regentropfen auf der Fensterscheibe unter. Was hatte er getan? Warum hat er es geschehen lassen? Diese Frage aber konnte und wollte er nicht beantworten. Am Nachmittag saß er im Flieger nach Houston.

Maria ist entschlossen, das zu befolgen, was der Alte ihr gerade mit einfühlsamen Worten nahegelegt hat. »Erfüllen Sie ihm den Wunsch und besiegen Sie Ihren Schmerz!«

Das waren Maiers Worte.

Sie fängt an, Jacks Recherchen zu ordnen, findet Kontaktadressen in Deutschland, systematisiert sie nach Familie, Freunden und Kollegen. Unter dem Eintrag »Großeltern« stößt sie auf eine Adresse in einem Ort mit Namen Pritzwalk, von dem sie noch nie gehört hat. Ein Kontakt in Berlin ist zweimal unterstrichen. Es ist nur ein Vorname eingetragen und eine E-Mailadresse. Maria entschließt sich, an diese Adresse eine Mail zu senden. In dem Schreiben berichtet sie von Jacks Tod und ihrem Wunsch, seine Arbeit fortzusetzen und deshalb nach Deutschland zu kommen. Die Adresse habe sie in Jacks Unterlagen gefunden. Sie sei zweimal unterstrichen gewesen, woraus sie meine schließen zu können, dass er, André, für Jack wichtig gewesen sei.

Seit dem Versenden der E-Mail ist ein Tag vergangen. Maria steht in der Küche, schält Gemüse und wartet auf Antwort, während in ihrem Laptop die erste CD des Stapels mit der Aufschrift »Originalberichte Deutscher Fernsehfunk« läuft. Rohwedder steht an einem Rednerpult und spricht ohne Manuskript. Sein Ton ist heiter:

»Wenn ich einmal ganz speziell den heute in der Presse diskutierten Fall ›Interhotel‹ herausgreifen darf, meine Damen und Herren, so möchte ich Ihnen sagen, dass die Treuhandanstalt nicht bereit ist, eine oder zwei Milliarden Mark des anvertrauten Vermögens durch die Finger gleiten zu lassen. Und die Schlussbemerkung hierzu: Dem Ganzen haftet eine gewisse Zwielichtigkeit und Anrüchigkeit an. Die Treuhandanstalt ist kein Basar, in dem das höchste Angebot über den Kauf entscheidet und sonst nichts. Uns geht es nicht darum, nun sehr schnell staatliche Monopole durch marktbeherrschende Unternehmen außerhalb der DDR zu ersetzen. Ich bekenne mich also zu der Nichterfüllung des Gesetzes und vertraue mich Ihrer Weisheit an, wie dieses Problem rektifiziert, korrigiert und in Ordnung gebracht werden kann. Ich habe neulich lax gesagt: Erst kommt das Leben und dann die Paragrafen. Ich entschuldige mich vor dem Gesetzgeber für dieses Wort, aber es ist vielleicht nicht falsch.«

Der Topf, in den Maria das Gemüse getan hat, kocht über. Sie zieht ihn vom Herd und verbrüht sich dabei die Finger. Hastig öffnet sie den Wasserhahn über der Spüle und lässt kaltes Wasser über ihre Hand laufen. Sie starrt auf den Wasserstrahl, und plötzlich ist die Erinnerung an ihren letzten Abend mit Jack im Haus ihrer Mutter wieder präsent: Jack freute sich mit Maria über den unerwartet aufgetauchten Brief ihres Vaters. Er lag überraschenderweise in einem Kochbuch ihrer Mutter.

»Dieser ist ihr wohl durchgerutscht. Glücklicherweise! Es war mit Sicherheit nicht der einzige Brief, den der Vater in all der Zeit geschrieben hat«, mutmaßte Jack.

»Warum soll sie die Briefe verbrannt haben?« Maria glaubte Jack nicht.

Der sah sie lachend an. »Maria, du neigst zur Dramatisierung. Ich würde sagen, sie hat sie schlicht und einfach in den Müll geworfen. Du aber siehst sie gleich brennen.«

Maria schüttelte den Kopf. »Müll oder Feuer, ist doch egal. Warum aber bitte soll sie sie vernichtet haben?«

Jack zuckte mit den Schultern. »Dafür gäbe es viele Erklärungen.«

»Ich höre?«

Maria setzte sich rittlings auf den Küchenstuhl und sah Jack herausfordernd an. Der ging in der Küche auf und ab. Seine Worte unterstützte er mit heftigen Gesten – gerade so, wie es die Italiener gerne machen.

»Die erste Möglichkeit: Sie wollte vergessen. Du fragst: Warum? Da gibt es wieder mehrere Möglichkeiten. Also, sie liebte ihn noch und die Erinnerung tat ihr weh. Oder sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dir damals einfach fortgegangen ist. Vielleicht aber war das Leben mit deinem Vater die Hölle. Eine Möglichkeit noch: Sie wollte die Geschichte einfach auslöschen. Sie wollte dich damit nicht konfrontieren. Sie wollte nicht, dass du sie mit Fragen nach deinem Vater löcherst.«

Maria lächelte. »Viele Möglichkeiten. Was ist die Wahrheit?« Sie hatte den Eindruck, ihr herausfordernder Blick verunsichere Jack. Der setzte sich mit einem Ruck auf das Küchenbord, und Maria fuhr fort: »Du hast gesagt, die erste Möglichkeit sei, dass sie vergessen wollte.«

»Das habe ich gesagt. Gehen wir einmal davon aus, deine Mutter wusste, dass dein Vater in den Mord an Rohwedder verwickelt ist.«

»Ja und?« Marias Frage verblüffte Jack. Er sprang vom Bord, kam einige Schritte auf sie zu.

»Glaubst du nicht, dass sie Angst hatte, in die Sache hineingezogen zu werden?«

Maria reagierte gereizt. »Angst, vor wem?«

Jack sah sie von oben herab an. »Du bist naiv. Dein Vater war im Fadenkreuz. Er war ein Gefolgsmann der Kommunisten.«

Maria mochte es nicht, wenn er so betont abgeklärt mit ihr sprach.

»Wer hat diesen Typen deiner Meinung nach umgebracht? Mein Vater?«

»Den Mörder kennt bislang niemand!«

Jacks Gelassenheit brachte sie auf die Palme. »Das ist ein Armutszeugnis.«

»Für wen?«

Da war es wieder, Jacks überhebliches Lächeln. Maria sprang von ihrem Stuhl auf und gestikulierte jetzt ihrerseits heftig.

»Du verdächtigst meinen Vater, hast aber keinerlei Beweise! Das ist Rufmord. Alle diese Polizisten, Geheimdienste und was es da noch so alles gegeben haben mag, haben keine einzige Spur gefunden? Und nur, weil mein Vater unmittelbar nach dem Mordanschlag auf Rohwedder verschwunden ist, willst du ihm diesen Mord anhängen. Vielleicht hatte er genau vor diesen vorschnellen Verdächtigungen Angst. Er war immerhin für die Sicherheit dieses Rohwedder zuständig, und wie man nunmehr weiß, konnte er ihn eben nicht schützen. Vielleicht hat man meinen Vater irgendwo verscharrt, weil er etwas wusste! Was bitte grinst du da?« Jack wollte Maria lachend in die Arme nehmen, doch die stieß ihn weg. »Du kannst doch aus meinem Vater nicht einfach so mir nichts, dir nichts einen Mörder machen!«

»Das ist nicht meine Absicht.«

»Was ist dann deine Absicht?«

»Dir zu helfen, deinen Vater zu finden und über diese Suche einen Film zu machen. Im Übrigen, ich bin völlig platt, wie du plötzlich bereit bist, deinen Vater zu verteidigen. Du kennst ihn doch gar nicht.«

Maria erinnert sich, dass Jack wortlos die Küche verließ. Sie folgte ihm. Er saß vor dem Haus auf der kleinen Treppe, die von der Straße zur Haustür führte. Maria lehnte sich an das eiserne Geländer und sah ihn an. Er spürte ihren Blick und begann leise zu sprechen.

»In jedem von uns ruhen Geheimnisse.«

Sie setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf sein Knie. »Du hast recht. Ich kenne meinen Vater nicht und verteidige ihn dennoch und vielleicht nur deshalb, weil er mein Vater ist.«

Jack lächelte traurig und drehte sich zu ihr. »Allerdings, und du bist seine Tochter.«

Maria hob ihren Blick zu den Sternen, die hinter den Bäumen am hellen Nachthimmel New Yorks blass leuchteten.

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern, und doch ist er für mich nicht gestorben. Er hat mir gefehlt.«

»Was würdest du tun, wenn er plötzlich vor dir stünde?«

»Ich weiß es nicht.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Und was ist dein Geheimnis?«

Jack hielt ihrem Blick nicht stand, er erhob sich und sprach laut und bestimmt. »Für heute ist es genug mit Geheimnissen. Meine sind nicht so spannend.«

In diesem Augenblick war er ihr fremd. Sie gingen zu Bett, Maria lag noch eine lange Zeit wach neben ihm.

»Sein Geheimnis werde ich nie erfahren«, geht es Maria durch den Kopf. Sie dreht den Wasserhahn über der Spüle ab. Den Schmerz, den der heiße Dampf auf ihren Fingern verursacht hat, spürt sie nicht mehr. Sie wischt das übergelaufene Wasser vom Herd und geht zum Schreibtisch. Auf der CD, die sie aus dem Laptop zieht, steht handschriftlich eine Zwei. Es ist Jacks Handschrift. Die CD legt sie auf die Nummer 1, die neben dem CD-Türmchen liegt. Als sie nach CD Nummer 3 greift, fällt ihr Blick auf das schwarze Kleid, das sie auf Jacks Beerdigung tragen will. Es hängt auf einem Bügel an der Schlafzimmertür. In diesem Augenblick wird ihr plötzlich klar, dass keiner ihr sagen wird, wann und wo man Jack beerdigt. Sie durchsucht das Internet nach einer Todesanzeige. Im Houston Informer-Texas findet sie einen Rob Brown mit dem Geburtsdatum 1969, der vor zwei Monaten verstorben ist. Keine Spur von Jack. Sie ruft in der Stadtverwaltung von Houston an. Dort kann ihr niemand weiterhelfen, verspricht aber, sich zu kümmern. Man würde sich melden.

Die Tage vergehen. Jeden Tag durchsucht sie das Internet. Auch von Jacks vermeintlichem Freund André bekommt sie keine Antwort auf ihre Mail. Der Turm mit den noch nicht durchgehörten CDs schmilzt immer weiter ab. Die Seiten mit Jacks Recherchen sind inzwischen im ganzen Raum verteilt. Drei Tage nach dem Anruf bei der Stadtverwaltung schiebt sie die CD mit der Aufschrift Siebzehn in den Laptop. Es ist die letzte des kleinen Türmchens. Ein Fernsehbericht über die Ermordung Rohwedders. Der Abtransport seiner Leiche aus dem Wohnhaus in Düsseldorf und einige Details zum Tathergang, wie zum Beispiel eine zerschossene Fensterscheibe, werden gezeigt. Der Sprecher kommentiert: »Den Chef der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, trafen zwei Kugeln in seinem Arbeitszimmer. Er hatte das Wochenende in Düsseldorf bei seiner Familie verbracht.«

Maria greift sich einen Stapel loser Blätter, die auf dem Schreibtisch verblieben sind und mit einer Büroklammer zusammengehalten werden.

Jack notierte auf das Deckblatt: Online Infos zum Mord. Dienstag, 1.4.2008, 10:29, von FOCUS-Online-Redakteur Jens Bauszus. Sie liest:

»Der Killer hat ein leichtes Spiel. Schon der erste Treffer ist tödlich. Detlev Karsten Rohwedder steht am 1. April 1991 gegen 23.30 Uhr im ersten Stock seines Düsseldorfer Hauses mit dem Rücken zum Fenster, als ihn ein Schuss aus rund 63 Meter Entfernung trifft. Der Vorstand der Treuhand gibt an diesem Ostermontag ein perfektes Ziel ab. Wie immer sind noch nicht einmal die Gardinen zugezogen. Er stand dort wie auf einem Präsentierteller, geben die Nachbarn später zu Protokoll.

Nur zur Sicherheit feuert der Scharfschütze aus einer gegenüberliegenden Schrebergartensiedlung noch zwei weitere Schüsse auf das feudale Anwesen am Kaiser-Friedrich-Ring 71 ab. Während die zweite Kugel seine ins Zimmer gestürzte Frau trifft und Hergard Rohwedders Ellenbogen zertrümmert, schlägt der dritte Schuss in ein Bücherregal ein. In diesem Moment sinkt der 1,92 Meter große Rohwedder schon zu Boden. Die Gewehrkugel hat Aorta, Luft- und Speiseröhre zerfetzt. Der 58-Jährige verblutet. Rohwedder war sich der Gefahr durchaus bewusst. Auf Vorschlag des damaligen DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (CDU) hatte er im Juli 1990 den Vorsitz der Berliner Treuhandanstalt angenommen – den wohl schwierigsten Job, der in der Wirtschaft nach der Wiedervereinigung zu vergeben war. Er sollte nicht weniger als für die Sanierung der maroden ostdeutschen Wirtschaft, die Privatisierung Tausender DDR-Betriebe und die Lösung der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden verantwortlich sein. Doch schon Anfang 1991 zeichnet sich der Zusammenbruch der Wirtschaft im Osten ab. Unzählige Firmen werden von West-Betrieben übernommen, viele gehen pleite. Die Unternehmen, die weiter fortbestehen, müssen zum Teil massiv Stellen abbauen. In den Medien ist meist nur von ›Ausverkauf‹ und ›Abwicklung‹ die Rede. Nicht wenige im Osten sehen in den Verantwortlichen der Treuhand die Schuldigen für diese Situation. Als Treuhand-Chef steht Rohwedder automatisch im Mittelpunkt der Kritik. Der frisch gekürte ›Manager des Jahres‹ ignoriert jedoch sämtliche Warnsignale. Mehrfach schlägt er Hinweise der Sicherheitsexperten in den Wind, er müsse sich auch an seinen freien Tagen in der rheinischen Wahlheimat den strengen Regeln des Personenschutzes unterwerfen. Der langjährige Staatssekretär im Bonner Bundeswirtschaftsministerium lehnt es sogar ab, dass sein Haus im Nobelstadtteil Oberkassel komplett mit Panzerglas versehen wird – die Fensterscheiben im ersten Stock sind aus Normalglas.«

Maria fällt es schwer, sich auf die Fakten zu konzentrieren. Immer wieder geht ihr die Frage durch den Kopf, wann und wo Jack beerdigt werden wird.