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In einem Berlin voller Gegensätze begegnen sich zwei Frauen aus völlig unterschiedlichen Welten: Maria, zwischen religiöser Prägung und Freiheitsdrang gefangen, und Yasemin, eine erfolgreiche Immobilienmaklerin mit einer geheimnisumwitterten Vergangenheit. Während Maria sich in ihrer verzweifelten Suche nach Halt an Yasemin klammert, verfolgt diese einen tödlichen Plan, dessen wahre Ausmaße Maria nicht einmal erahnt. Doch als ihre Beziehung wächst, überdenkt Yasemin ihre Entscheidungen und ihre kontrollierte Welt gerät ins Wanken – und mit ihr das Schicksal eines ganzen Landes. Gleichzeitig stößt der Journalist Amir Nouri auf eine gefährliche Spur, die ihn tief in ein terroristisches Netzwerk führt. Der Roman erzählt von einer Liebe, die unter dem Gewicht ideologischer Kämpfe zu zerbrechen droht, und von einem Europa, das sich fragen muss, wie weit es zum Selbstschutz gehen will.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Die folgende Geschichte sowie ihre Akteure sind völlig frei erfunden. Sollten Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen oder zu wahren Geschehnissen ausgemacht werden, sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0596-2
ISBN e-book: 978-3-7116-0596-2
Lektorat: Thomas Ladits
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: www.dreamstime.com
Autorenfoto Markus Majowski: Andreas Brandt
Autorenfoto Nicolai Tegeler: Marina Sturm
www.novumverlag.com
Widmung
für Heinrich Majowski
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Vorbote
Abschnitt 0.1: Nachsicht
Traktat 1: Der Moment des Todes
Traktat 2: Sie rufen mich
Kapitel 1: Prolog
Abschnitt 1.1: Der Schatten der Moschee
Abschnitt 1.2: Die Waffe
Abschnitt 1.3: Erster Schritt
Abschnitt 1.4: Die Angst einer Mutter
Kapitel 2: Vorspiel
Abschnitt 2.1: Amirs Welt
Abschnitt 2.2: Nur ein Traum
Kapitel 3: Die Morgenshow
Abschnitt 3.1: Amirs Sichtungen
Abschnitt 3.2: Layla Sadeghi
Abschnitt 3.3: Claudia und Sybil
Abschnitt 3.4: Tacheles
Abschnitt 3.5: Ausgeklinkt
Abschnitt 3.6: Miraz Scharifi
Abschnitt 3.7: Teheran
Abschnitt 3.8: Unruhiger Geist
Kapitel 4: Worte
Abschnitt 4.1: Die Macht der Erzählungen
Abschnitt 4.2: Leben
Abschnitt 4.3: Bahar und Miraz
Abschnitt 4.4: Die Ermittler
Abschnitt 4.5: Zwiespalt
Abschnitt 4.6: Inneres Parlament
Abschnitt 4.7: Yasemins Mission
Kapitel 5: Die zwei Gesichter von Yasemin
Abschnitt 5.1: Maria-Dorothea
Abschnitt 5.2: Radio Kick
Abschnitt 5.3: Strom der Hitze
Abschnitt 5.4: Ateş dreht sich
Abschnitt 5.5: Yasemins kleine Gewalt
Abschnitt 5.6: Leidenschaft
Abschnitt 5.7: Schmelzpunkt
Abschnitt 5.8: Labor des Todes
Abschnitt 5.9: Die Sitzung
Abschnitt 5.10: Nichts tun
Kapitel 6: Die Schmerzen von Teheran
Abschnitt 6.1: Yasemins Geheimnis
Abschnitt 6.2: Dunkle Arrangements
Abschnitt 6.3: Zwangsprostitution und keine Demut
Abschnitt 6.4: Anfänger
Abschnitt 6.5: Irdisches und Ewiges
Abschnitt 6.6: Diese Hella
Abschnitt 6.7: Share
Abschnitt 6.8: Konfrontation
Abschnitt 6.9: Yasemins mittlere Gewalt
Kapitel 7: Geheime Anziehung
Abschnitt 7.1: Ankunft in Deutschland
Abschnitt 7.2: Das Leben zu seinen Bedingungen
Abschnitt 7.3: Zu viele Umdrehungen
Abschnitt 7.4: Das Tabu der Sonnenallee
Abschnitt 7.5: Aufnahme in Ateş’ Welt
Abschnitt 7.6: Art House
Kapitel 8: Yasemins Vergangenheit
Abschnitt 8.1: Yasemin will fliegen
Abschnitt 8.2: Perspektivwechsel, kein Affekt
Abschnitt 8.3: Perspektivwechsel, Liebe
Abschnitt 8.4: Gegen die Wand
Abschnitt 8.5: Die Rückkehr einer alten Feindin
Abschnitt 8.6: Diese Hella wieder
Abschnitt 8.7: Das Treffen der Rivalinnen
Abschnitt 8.8: Trigger
Kapitel 9: Die dunklen Gassen von Berlin
Abschnitt 9.1: Die Welpen sind da
Abschnitt 9.2: Informationen
Abschnitt 9.3: Der hohe iranische Besuch
Abschnitt 9.4: Die geheimen Billardpartien
Abschnitt 9.5: Deutsche Gewalt
Abschnitt 9.6: Offenbarung
Abschnitt 9.7: Parallelwelten
Abschnitt 9.8: Schutz für den Fuchs
Abschnitt 9.9: Amirs Recherche
Kapitel 10: Verstrickungen und Enthüllungen
Abschnitt 10.1: Verdacht
Abschnitt 10.2: Verwirrung
Abschnitt 10.3: Drogenhandel
Abschnitt 10.4: Fegefeuer im BKA
Abschnitt 10.5: Anzeichen von Gefahr
Abschnitt 10.6: Täuschung
Abschnitt 10.7: Keine Ruhe
Abschnitt 10.8: Lichtsuche
Abschnitt 10.9: Yasemins große Gewalt
Abschnitt 10.10: Sadovicz
Abschnitt 10.11: Die Verfolgung beginnt
Kapitel 11:Der innere Kampf
Abschnitt 11.1: Wofür?
Abschnitt 11.2: Flucht
Abschnitt 11.3: Der persische Sohn
Abschnitt 11.4: Wissen
Abschnitt 11.5: Raus
Kapitel 12: Die Konsolidierung der Macht
Abschnitt 12.1: Das war’s
Abschnitt 12.2: Die letzten Züge
Abschnitt 12.3: Der Russe
Abschnitt 12.4: Yasemins innere Konflikte
Abschnitt 12.5: Nackt
Kapitel 13: Der letzte große Coup
Abschnitt 13.1: Schläfer
Abschnitt 13.2: Studio Yasemin
Abschnitt 13.3: Wahnsinn
Kapitel 14: Die Erkenntnis
Abschnitt 14.1: Wachsende Kluft
Abschnitt 14.2: Iranisches
Abschnitt 14.3: Nahep
Kapitel 15: Kranke Gefährten
Abschnitt 15.1: Auf Messers Schneide
Abschnitt 15.2: Das Gewissen
Abschnitt 15.3: Geständnis
Abschnitt 15.4: Traum Tod
Abschnitt 15.5: So einfach
Kapitel 16: Eskalation
Abschnitt 16.1: Hilflos
Abschnitt 16.2: Empörung
Abschnitt 16.3: Entführt
Abschnitt 16.4: Ruths Forderung
Kapitel 17: Der Wendepunkt
Abschnitt 17.1: Meine Kugel
Abschnitt 17.2: Spezialnoje Nasnatschenije
Abschnitt 17.3: Das Gerippe
Abschnitt 17.4: Wiege der Menschheit
Abschnitt 17.5: Vater Salim
Abschnitt 17.6: Papiere
Kapitel 18: Jenseits
Abschnitt 18.1: Essen von Mohammed
Abschnitt 18.2: Abschied
Abschnitt 18.3: Moskau
Abschnitt 18.4: Krankenkasse
Kapitel 19: Die Enthüllung
Abschnitt 19.1: Schattenjagd
Abschnitt 19.2: „23“
Abschnitt 19.3: Amir
Abschnitt 19.4: Tag und Nacht
Kapitel 20: Klarheit
Abschnitt 20.1: Schweben
Abschnitt 20.2: Meisterhaft
Abschnitt 20.3: Absurd
Abschnitt 20.4: Ballaststoffe
Abschnitt 20.5: Kurskorrektur
Kapitel 21: Die letzte Lektion
Abschnitt 21.1: Inneres Licht
Abschnitt 21.2: Mosaik
Abschnitt 21.3: Entscheidung
Kapitel 22: Yasemins Vermächtnis
Abschnitt 22.1: Der Weg
Abschnitt 22.2: Aufwind
Abschnitt 22.3: Evakuierung
Abschnitt 22.4: Verspielt
Kapitel 23: Der unvollendete Plan
Abschnitt 23.1: Omen
Abschnitt 23.2: Panik und Staatskunst
Abschnitt 23.3: Abschalten
Abschnitt 23.4: Epilog. Schatten im Staub
Abschnitt 23.5: Gebet
Abschnitt 23.6: Nachwort
Abschnitt 23.7: Hakenschlagen
Vorwort: Vorbote
Die Worte führen dich hinab in die Tiefen religiöser Moral, zeigen die Verlockungen der Macht und entfesseln eine stille Kraft, die den Wandel möglich macht.
Am Ufer des Stechlinsees, umgeben von alten Bäumen, hörst du vom roten Hahn. Sein Ruf, so heißt es, hallt über das Wasser, wenn etwas bevorsteht – ein Umbruch, Veränderung.
Kein Märchen, sondern ein stiller Mahner, dass der Wandel die einzige Konstante ist.
Nicht nur der Stechlinsee gerät in Aufruhr. Jenseits der Wälder spinnen terroristische Netzwerke ihre Fäden, schmieden politische Intrigen und währenddessen kämpft Europa – Leuchtturm der Aufklärung – mit den Schatten seiner eigenen Widersprüche und globalen Machtspiele.
Wie der See jede Bewegung auf seiner Oberfläche auffängt und zurückwirft, so spiegelt diese Geschichte die Brüche und Spannungen deiner Zeit. Vielleicht hörst du den Ruf des Hahns – eine Warnung, die dich drängt, mit Nachsicht hinzuschauen.
Abschnitt 0.1: Nachsicht
„Si todas las cosas fueran iguales, si todos fuéramos iguales, sería aburrido.“
Jorge Mario Bergoglio
„Du brauchst den Glauben an die Menschheit nicht zu verlieren. Sie ist ein Ozean; auch wenn ein paar Tropfen seines Wassers schmutzig werden, so wird davon nicht der ganze Ozean verdorben.“
M. Gandhi
„Auf meinen Streifzügen durch Berlin begegnete ich immer wieder Menschen, die ihren Glauben mit beeindruckender Hingabe leben. Ihre dankbaren Gesten und die spürbare Herzlichkeit – sie zogen mich in ihren Bann, fast gegen meinen Willen. Es wurde zu einem Spiel für mich: Woher kommen diese Menschen? Meistens lag ich richtig – es waren persische Menschen, die mich faszinierten. Sie verstanden, das Leben zu feiern, auch in einer Stadt voller Kälte. Die muslimischen Gemeinden, die in ihren Kiezen eine lebendige Fröhlichkeit und unaufdringliche Hilfsbereitschaft verbreiteten, gaben mir als Deutschem immer wieder das Gefühl, willkommen zu sein. Der Orient und besonders die wachsende weibliche Kraft, die dort langsam, aber beständig, emporstieg – das alles zog mich magisch an.“
Unbekannt
Traktat 1: Der Moment des Todes
Feinde lauern im Dunkeln und an meiner Seite ist Yasemin. Meine Liebe. Das Chaos tobt um uns herum: Kugeln zerreißen die Luft. Uns bleibt kein Raum zum Atmen. Alles ist Rauch und Geschrei. Nur Yasemin ist spürbar. Mein Elixier. Ihr Duft ist ein Hauch von Frühling und Rosen. Ich klammere mich an ihr Leben, an ihre Gegenwart, und dann …
Ein kalter Stich durchbohrt mein Herz. Die Kugel schlägt ein und reißt mich in die Dunkelheit. Alles wird verdammt still. Mein Atem stockt, die Welt verlangsamt sich, das Blut rinnt warm aus meiner Brust. Die Zeit scheint sich zu dehnen.
Ich versuche, ihren Namen ein letztes Mal auszusprechen, doch meine Stimme versagt. Yasemin – sie ist ganz nah, und ich kann nichts tun, außer zu fallen. Der Boden zieht mich nach unten. Bevor alles verschwindet, spüre ich ihre Lippen – ihren letzten Kuss. Kühl und liebevoll – es ist unser Abschied. Das Nichts ist da.
Auch Yasemin spürt die Leere. An der Grenze zwischen zwei Leben. Sie hat keinen Halt mehr und erkennt, dass der Weg vor ihr unsichtbar wird. Nur ein Funke von mir bleibt.
Traktat 2: Sie rufen mich
Hier existiert keine klare Trennung zwischen Leben und Tod. Hier bin ich gefangen – irgendwo dazwischen. Hier – das ist ein Raum ohne Zeit. Die Stille umgibt mich, ich bin nicht mehr in meiner Welt.
Mein Name war Maria-Dorothea. 20 Jahre alt. Mein Leben endete abrupt, viel zu früh, als eine Kugel die Nacht durchschnitt und mich traf. Die letzten Gedanken an meine geliebte Frau haben mich nicht verlassen. Sie gehören zu mir, haften an meinem Geist.
Der Stechlinsee war meine Heimat und Berlin meine Hölle. Eine Mutter, die in Schuld und Sünde versank. Ein Vater, der heimlich betete. Meine große Schwester. Und ich, gefangen in einem Strudel aus Ängsten und unerklärlichen Wutausbrüchen. Ich sei besessen, hieß es. Die katholische Gemeinde wollte mich exorzieren, muslimische Verwandte sprachen von Dschinn, die mich quälten. Layla, meine Schwester, versuchte, mich zu retten, aber auch sie konnte meine „Krankheit“ nicht aufhalten. Die Liebe zu Yasemin führte mich in eine Welt, in der ich mich verirren konnte, in der ein Abgrund wartete. Sie war es, die mich lehrte, an meinem Abgrund zu balancieren. Und plötzlich stand ich am Rand, mit einem Fuß auf der Kante. Dann fiel ich.
Jetzt bin ich hier. In meiner Zwischenwelt. Die Zukunft lässt sich kaum erahnen, doch eines ist sicher: Meine Geschichte geht weiter. Sie rufen mich – nicht die Lebenden, sondern die Worte. Worte, die noch geschrieben werden müssen. Worte, die mich tragen werden. Denn durch sie werde ich bleiben.
Kapitel 1: Prolog
Abschnitt 1.1: Der Schatten der Moschee
Berlin schläft nicht, weil es nicht schlafen kann. Die Stadt ist ständig auf der Hut vor dem nächsten Schlag, dem nächsten Aufschrei. Ich sehe Amir Nouri, den Entertainer – von Berlin verehrt und ebenso unruhig. Nicht, weil er heldenhaft wachsam war, sondern weil sein innerer Frieden so oft zerbrach wie das Handydisplay eines notorischen Fallenlassers.
Er hatte den Tag auf seiner Kawasaki verbracht, war durch Straßen gerast wie ein Desperado, der statt eines Revolvers eine Kamera trug. Kollwitzplatz, Görlitzer Bahnhof, Prinzenbad – er suchte diese eine Eisdiele, die veganes Schokoladen- und Vanilleeis aus Hafermilch anbot. Eine irrationale Obsession, die ihn nicht losließ. Etwas Einfaches, Sauberes, das die Unordnung in seinem Kopf für einen Moment glätten konnte. Vielleicht, weil diese kulinarische Achtsamkeit ihm das Gefühl gab, das Chaos der Welt sei lösbar. Doch die Suche blieb erfolglos.
Die Vorbereitungen für seine nächste Sendung „Nächstenliebe versus Dschihad“ hatten ihn fest im Griff. Das Hauptstadtstudio war seit Tagen ein Spannungsfeld, das Thema schwelte, der Druck war zu groß. Alles lief auf diesen einen Moment hinaus: Würde Layla Sadeghi, die Dozentin für Islamwissenschaft, tatsächlich erscheinen? Wochenlang war sie nicht erreichbar gewesen, als lebte sie in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
Es war nicht nur die Show, die ihn beschäftigte. Irgendetwas an den Vorgesprächen mit Layla kam ihm vertraut vor, als würde ein altes Gefühl in ihm erwachen.
Kurz vor 22 Uhr hielt Amir an seinem gewohnten Platz nahe der Spree. Er ließ sich auf eine kleine Holzbank sinken, den Blick auf die alten Gebäude gegenüber gerichtet. Die Moschee, die dort wie ein stilles Denkmal thronte, zog ihn an. Mit seiner Rolleiflex machte er einige Aufnahmen, das Licht war schwierig, der Anblick hatte heute etwas Unheimliches – als wüssten die Steine mehr, als sie preisgeben wollten. Links, in der Dunkelheit verborgen, lag die Residenz der ehemaligen Bundeskanzlerin. Amirs Gedanken kreisten.
Der vertraute Geruch nach Bockwurst aus dem Monbijoupark und süßlichen Abgasen zog in seine Nase. Am liebsten hätte er jetzt sein Eis.
Ein Schatten huschte durch die Seitengasse gegenüber, und Amir zuckte zusammen. Langsam öffnete sich eine Tür in dem Gebäude, Gestalten schlüpften hinein.
Er dachte an den Zettel, den er vor ein paar Tagen in seiner Jackentasche gefunden hatte: „Donnerstag, 22 Uhr, Moschee. Sei wachsam.“ Jemand hatte ihn dort platziert.
„Warum bin ich hier? Neugier? Der Wunsch, endlich etwas zu finden, das all die losen Enden meines Lebens zusammenhält?“
Amir stellte sein Handy auf lautlos und ging mit federnden Schritten auf die Moschee zu. Die alten Mauern strahlten Wärme aus, doch als er durch die schmale Seitentür trat, wurde es kalt. Plötzlich war er Teil einer Geschichte – einer Geschichte, die vor mehr als 1400 Jahren begann und hier ihre Fortsetzung fand.
Verborgen im Schatten der Säulen beobachtete Amir das Geschehen. Seine Neugier trieb ihn näher heran. Er stand nur wenige Meter entfernt von einer Art Versammlung. Dunkel gekleidete Gestalten tuschelten miteinander, die Lichter der vorbeifahrenden Autos tanzten an den Wänden. Schnell nahm er die Rollei und hielt einige Augenblicke fest. Dann ein Zischen, und plötzlich loderten Flammen in einer Metallschale auf, tauchten den Raum in flackerndes Licht und erloschen wieder. Ein schwerer Geruch von verbranntem Öl lag in der Luft. Das Ritual faszinierte ihn.
Und was er hörte, klang nicht nach Gebeten. Es war etwas Dunkles. Eine Verschwörung? Ein heiliger Ort als Schaltzentrale für finstere Pläne? Die Ironie entging Amir nicht.
In der Mitte des Raumes stand ein Mann mit einer Kapuze, er drehte sich in Amirs Richtung, die Bewegung schien länger zu dauern, als sie sollte. Neben ihm eine hochgewachsene Frau, deren Gesicht durch das tief in die Stirn gezogene Kopftuch nicht zu erkennen war. Ihre Worte durchbohrten die Anwesenden. „Wir sind hier, weil wir an eine Zukunft glauben – an ein Land, in dem Platz ist für uns alle. Doch wir wissen auch: Platz gibt es nur, wenn wir Raum schaffen. Für die Starken. Für die, die wissen, was es heißt, Opfer zu bringen. Und wir bleiben hier, weil wir eine gemeinsame Vision haben: ein Deutschland, das unsere Werte achtet. Dafür müssen wir handeln.“
Für einen Moment spürte Amir ihren Blick auf sich – kalt, schneidend. Die Frau sprach mit einer Überzeugung, die ihm unangenehm vertraut vorkam. Er erkannte sie nicht, wollte sie nicht erkennen, aber es war Yasemin.
Noch einmal spürte Amir ihren Blick. Sie sprach ihn direkt an, hatte einen Plan. Seit Wochen in ihrem Kopf gereift, und jetzt stand fest: Amir sollte mit seinem journalistischen Instinkt alles in ihrem Leben auf den Kopf stellen.
„Unser Ziel ist klar: Wir eliminieren die Schwachen, um die Starken zu schützen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Die Stimme der Frau wirkte künstlich – wie verfremdet.
Ein Schauer lief Amir über den Rücken. ‚Allah sieht alles, doch das hier wohl kaum!‘ Er trat einen Schritt zurück, sein Fuß streifte eine lose Bodenplatte. Das Geräusch klang in der Stille lauter als eine Sirene. Eine der Gestalten drehte sich abrupt um.
Mit einem tiefen Atemzug wich Amir zurück. Er konnte nicht wissen, dass dies der Beginn einer Geschichte voller Verrat und Machtspiele war. Er hatte von der Quelle einer Verschwörung gekostet. Sein Kopf dröhnte und er musste weg.
Abschnitt 1.2: Die Waffe
Das Summen des Kühlschranks war das einzige Geräusch im Labor, während Mira zum hundertsten Mal die Komponenten überprüfte. Ein Geheimnis braucht dicke Mauern, um verborgen zu bleiben, und die Feuchtigkeit des nahen Stechlinsees und seiner Moore durfte hier nicht vordringen.
Ein isolierter Raum, fernab der Welt. Der Geruch von Chemikalien hing in der Luft. Die Neonröhren warfen ihr flackerndes Licht auf die glänzenden Arbeitsoberflächen. Vor Mira stand der Koffer mit den Reagenzgläsern, jedes akribisch beschriftet. „FMD-Alpha“ und „FMD-Beta“. Hochkonzentrierte und genetisch modifizierte Virus-Kulturen des Maul- und Klauenseuche-Erregers, in speziell angefertigten Halterungen platziert, jedes mit einer schützenden Silikonmanschette. Die hitze- und lichtgeschützten Behälter befanden sich in einem abschließbaren Aluminiumkoffer, der die Temperatur konstant hielt. Jedes Glas war eine potenzielle Katastrophe.
Dann hörte sie einen dumpfen Schlag, gefolgt von metallischem Quietschen. Die zugemauerte Hintertür. Ein Schwachpunkt im Sicherheitskonzept der Anlage. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Sie griff nach dem Telefon – zu spät. Die Wand explodierte in einem Hagel aus Staub und Trümmern. Zwei fremde Männer traten ein, sie brauchten ihre Waffen nicht zu zeigen.
„Mira Sadeghi?“ Der größere der beiden sprach mit kühler, angespannter Stimme.
Mira wich zurück, suchte nach Halt, blinzelte gegen den Rauch. Erst, als er sich verzog, erfasste sie die Situation. Ihre Augen wanderten zu den Reagenzgläsern. „Was wollen Sie?“
„Die Gefäße“, sagte der Mann. Sein Partner trat zur Seite und ließ den Blick über das Labor gleiten. „Wir sind hier, um die Lieferung abzuholen.“
Mira schüttelte den Kopf, ihre Stimme war ein Flüstern. „Das kann nicht sein. Niemand hat mich darüber informiert.“
„Ich informiere Sie jetzt“, sagte der Mann mit einem gereizten Unterton. „Bitte machen Sie keine Schwierigkeiten.“
Mira griff langsam nach dem Koffer. „Wissen Sie eigentlich, womit Sie es hier zu tun haben?“
Der Mann nickte. „Das ist unser Problem, nicht Ihres. Ist alles bereit?“
Mira schluckte schwer. „Das Virus muss in einem stabilen Zustand bleiben“, begann sie mit flacher Stimme, „Wenn die Temperatur …“
„Wir wissen, wie wir damit umgehen müssen“, unterbrach der Mann sie. „Versiegeln Sie einfach den Koffer.“
Mira hoffte, die Situation würde sich in Luft auflösen. Doch die Männer warteten geduldig und rührten sich nicht. Sie hielt dem Warten stand, schätzte mit den Augen die Entfernung zum Notschalter, der den Keller in einen Lockdown versetzen konnte. Sinnlos. Jetzt zog einer der Männer seine Waffe. „Er ist luftdicht verschlossen.“ Damit schob sie den Koffer über den Tisch.
Dann verschwanden die beiden so schnell, wie sie gekommen waren. Mira tippte eine Nachricht auf ihrem Telefon:
Immer wieder blickte Mira auf das Display. Schließlich kam Yasemins Antwort, sie bestand aus einem einzigen Satz: „Ich weiß nicht, was du meinst.“
Mira starrte auf die Worte, als hätte sie sich verlesen. Ihre Gedanken rasten. Wusste Yasemin wirklich nichts? Sie wählte ihre Nummer, aber der Anruf ging direkt zur Mailbox. Sie ließ sich auf einen Hocker fallen.
Yasemin stand mitten in der Moschee, Amir hatte gerade die Flucht ergriffen. Ein wenig zu früh und zu hastig, wie sie fand. Sie starrte auf Miras Nachricht. Wer wusste von der Waffe?
Es war offensichtlich, dass jemand sie übergangen hatte. Entweder ein Verräter in ihrem eigenen Netzwerk – oder die andere Fraktion. Waren die Russen ihr bereits zu nahe gekommen?
Die Gruppe der Verschwörer kniete nieder, um zu beten. Yasemin streckte den Rücken durch. Inmitten all dieser Männer war sie Dreh- und Angelpunkt, doch etwas schien ihr gerade zu entgleiten.
Abschnitt 1.3: Erster Schritt
Draußen schlug Amir die kühle Nachtluft entgegen, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Hinter ihm das dunkle Gemäuer, die Wortfetzen. War das alles echt? Der Rauchgeruch an seiner Kleidung sprach dafür.
In den letzten Monaten hatte Amir häufiger 12-Schritte-Meetings besucht. Er war ein Süchtiger und die Meetings seine Lebensversicherung. Inneren Frieden zu finden reichte immer nur für das Heute. Die Auseinandersetzung mit seiner Kokainsucht war nie vorbei – clean zu bleiben war tägliche Arbeit. Die Schritte boten einen Weg, um seiner Krankheit und ihrer zerstörerischen Macht zu entkommen. Der erste Schritt war der schwerste: das Eingeständnis, die Kontrolle verloren zu haben. Darauf folgte seine Bereitschaft, Hilfe anzunehmen – sei es bei einer höheren Macht, der Gemeinschaft oder einem inneren Ziel, das größer war als er selbst. Und im dritten Schritt kam die Übergabe der Macht.
Amir konnte Schritt für Schritt ein Leben in Verantwortung und Klarheit aufbauen. Dabei ging es nicht nur um die eigene Heilung, sondern auch darum, anderen zu helfen.
Er murmelte vor sich hin. „Ich bekomme etwas zurück: Freiheit und die Fähigkeit, mit mir selbst im Reinen zu sein.“ Eine Art Gebetsmühle.
Sein Kopf dröhnte, Bilder stürmten auf ihn ein. Und ein Funken begann zu glühen. Das eben war Yasemin! Die Frau, die bei den Meetings oft neben ihm saß, ihn an die Hand genommen hatte, als alles zusammenzubrechen drohte! Aber das konnte nicht sie sein. Nicht an diesem Ort.
Ein Teil von ihm wollte zurück, das Geschehene verstehen, doch dann, wie ein Licht in der Ferne, erinnerte er sich an den Eisladen. Es war absurd, jetzt an Eis zu denken, aber er hielt daran fest.
Mit einem letzten Blick auf die Moschee verschwand Amir in der Berliner Nacht. Sein Motorrad heulte auf, das Dröhnen war lauter als die Gedanken, die er zu unterdrücken versuchte. Und er raste – gegen sich selbst, gegen das Unvermeidliche.
Abschnitt 1.4: Die Angst einer Mutter
Unser Gutshof, „Sadeghis Datscha“, lag die ganze Woche über in dichtem Nebel – eine Verwünschung aus Dunst, der alles verschluckte. Doch hinter den hohen Mauern herrschte kein Frieden. Mutter hatte die zerstörte Kellerwand zügig repariert, verspachtelt und neuen Efeu gepflanzt. Niemand hatte Fragen gestellt. Wer auch? Es gab keine Nachbarn, und Vater war geräuschresistent.
Mira kniete auf dem kalten Steinboden, den Rosenkranz in der Hand. Der Stechlinsee hatte in der Nacht heftig gegen den „Roten Hahn“ gekämpft, als wäre das Unwetter direkt der Legende entsprungen.
Noch vor Tagesanbruch schlich ich durch die Verandatür ins Freie. Ich war ein paar Tage zu Hause gewesen, durfte selig in meinem Kinderzimmer schlafen. Eingelullt von Waldluft und Ruhe.
Heute wollte ich dabei sein, wenn meine Schwester, auf die ich so stolz war, in Amirs Morgenshow auftrat. Layla, mein Stern. Es sollte eine Überraschung werden. Vor mir lag die Fahrt nach Berlin mit den langsamen Bildern der Landschaft, die ich so liebte.
Um fünf Uhr morgens saß ich hinter dem Lenkrad meines VW-Käfers, der Motor erwachte mit einem protestierenden Knattern. Noch eine letzte Zigarette auf dem Hof, bevor ich losfuhr. Die Zeit zog sich wie ein schlecht getunter Vergaser, der sich durch die ersten frostigen Morgenstunden quälte.
Ich hatte geglaubt, Vater und Mutter würden noch schlafen, aber in unserer Hauskapelle herrschte längst ein unseliger Aufruhr. Der Wind pfiff durch die alten Fenster und ließ die Kerzen flackern. Mutter kniete dort, ihr Herz war schwer. Für sie war dieser Ort heilig, doch der ersehnte Frieden blieb fern. In ihrer Jackentasche ruhte ein Fläschchen – das Extrakt aus Oleanderblättern, die sie selbst gesammelt hatte. Der Oleanderstrauch in unserem Garten hatte immer eine besondere Bedeutung für sie gehabt. Er war eine Erinnerung an die glühenden Sommer Isfahans und jetzt ihr tödlicher Helfer mit seinem konzentrierten Gift. Oft hatte ich ihr beim Sammeln der Blätter zugeschaut. Ich hatte ja keine Ahnung.
„Herr“, flüsterte sie. „Ich habe gesündigt, mich von dir entfernt.“
Sie erinnerte sich an Iran und die fernen Tage der Grünen Revolution. An die Proteste und die Hoffnung der Menschen. Doch sie hatte nicht mit ihnen gehofft. Sie hatte ihre christlichen Nachbarn verraten, ihr Leben in eine Lüge verwandelt.
Einst war sie Wissenschaftlerin in Isfahan, wo das Uran in einem filigranen chemischen Prozess zu Uranhexafluorid umgewandelt wurde, was es in eine militärisch nutzbare Form überführte.
In Ost-Deutschland sollte sie den Anschein erwecken, Schutz zu suchen, lebte seither hier als Wissenschaftlerin und war in der Schlussphase beim Rückbau des Kernkraftwerks Rheinsberg als leitende Chemikerin für die radiochemische Analyse und Dekontaminationsstrategien verantwortlich gewesen – stets bereit für den Tag X und unter der fortwährenden Kontrolle ihrer Peiniger in Iran.
„Ich wollte uns retten“, flüsterte sie weiter. „Aber um welchen Preis?“
Ihre Tränen brannten, sie hielt sie vergeblich zurück. Die Worte der Männer in Uniform hallten in ihrem Kopf. Sie versprachen, ihre Tochter Maria, mich, nicht hinzurichten. Die Dreijährige, der die Mullahs einen Dschinn andichteten. Für die Familie sollte Reisefreiheit gelten und im Gegenzug sollte Mira ihre christlichen Nachbarn ausspionieren. Damit hatte sie dem Teufel die Hand gereicht.
„Herr“, flehte sie, ihre Schultern bebten. „Vergib mir für das, was ich getan habe.“
Die Gedanken wanderten zu ihren Kindern. Layla und ich kannten die dunklen Entscheidungen nicht, die Mira getroffen hatte, um uns zu schützen.
„Ich wollte, dass sie frei leben“, flüsterte sie. „Ich habe Dich verraten.“
Die Oleander-Tränen bedeuteten die Erlösung. Ein einfacher Weg, doch sie zögerte. Was, wenn die Kinder nicht verstehen würden? Würde Gott?
Mira hielt das Glas mit dem Gift in der Hand. Wochenlang hatte sie wie eine Alchemistin der Verzweiflung die Blätter gepresst und die Essenz gewonnen. Oleandrin, das Herzglykosid, welches Leben nicht heilt, sondern gnadenlos beendet. Sie kannte jedes Detail: den Kalziumfluss, den Moment, in dem die Zellen die Kontrolle verlieren und das Herz im Takt des Todes tanzt.
40 Milligramm Oleandrin auf 10 Milliliter Wasser. Eine Dosis, die genau kalkulierte Sicherheit bot. Kein Spielraum, kein Zufall. Spätestens nach einer Stunde, das wusste Mira, würde alles vorbei sein – lange genug, um zu spüren, was sie fühlte, aber kurz genug, um nicht mehr umzukehren.
Sie hob das Glas langsam an die Lippen, unsere Gesichter vor Augen.
„Herr“, sagte sie ein letztes Mal und schaute auf das Kreuz, „gib mir Frieden.“
Sie schloss die Lider, atmete tief durch, und trank. Bitter. Scharf. Endgültig.
Schnell kamen die ersten Symptome. Ein Brennen im Magen, das die Zeit dahinschmelzen ließ. Schweiß auf der Stirn, kalt wie der Gedanke, dass niemand kommen würde. Das Herz raste, dann stolperte es. Ein chaotisches Pochen, das sie mit jedem Schlag tiefer in den Abgrund zog.
Mira griff nach dem Tisch, die Welt verschwand unter ihr. Ihr Körper wurde schwer, als wolle er sie ermahnen, welches Gewicht der letzte Akt hat. Das Kammerflimmern kam, unerbittlich, bis alles verstummte. Mutters Herz blieb stehen und sie ließ los.
In der Kapelle kehrte Stille ein. Endgültig.
Jeder Kilometer war mit Kindheit durchtränkt – das Echo alter Gespräche mit Vater, der immer meinte, dass Berlin näher wäre, wenn man nicht darüber nachdachte, wie weit es noch war. Kurz vor Gransee fiel das erste Licht durch die Wolken, die Felder öffneten sich in die Weite. Die B96 zog sich durch das märkische Irgendwo, ein endloses Band aus Asphalt und bröckelnden Leitplanken. Weiter Richtung Autobahn, die A111, der Beton wurde dunkelgrau, die Autos schneller, die Stille des Sees war weit zurückgeblieben.
Nach gut einer Stunde dann der erste Blick auf die Stadt, ein Zerren zwischen Ankommen und Widerstand. Pankow, Prenzlauer Allee, Alexanderplatz, Unter den Linden. 06:30, zurück im Chaos. Aber irgendetwas in mir blieb dort, wo der See ruhte.
Als ich das Fernsehstudio erreichte, spürte ich plötzlich einen Verlust, als hätte die Welt ein Stück von sich aufgegeben. Mutters Seele war auf eine unbestimmte Wanderschaft gegangen.
Und selbst hier, in meiner Zwischenwelt, während diese Worte gelesen werden, sehe ich sie nicht. Mira ist fort.
Kapitel 2: Vorspiel
Abschnitt 2.1: Amirs Welt
Die Morgenluft war ein stiller Mitwisser, kühl und fordernd. Amir stand als einsamer Navigator. Neben ihm seine Kawasaki, ein Versprechen auf Freiheit. Seine Mutter Christine, in ihrem Morgenmantel, musterte ihn mit einer Mischung aus mütterlicher Fürsorge und Pragmatismus. Ihre Stimme war fest, aber Amir hörte die kleinste Verschiebung in ihrem Ton – ein Aufseufzen, das sie nicht verbarg. Er wich ihrem Blick aus, sein zuckender Mundwinkel verriet den unterdrückten Widerstand.
„Also, Amir. Du bist beim Fernsehen. Fernsehen! Und ich dachte, das mit der Journalistenschule zahlt sich anders aus. Aber bitte – mach, was du willst. Und wenn du’s machst, mach’s ordentlich. Hörst du?“
Sie hielt kurz inne, ließ den obligatorischen Kuss auf seinem Helm folgen und setzte nach: „Und jetzt lass die alte Italienerin krachen.“
Die alte Italienerin war natürlich keine Italienerin, sondern ein japanisches Wunderwerk. Christine bestand darauf, die Kawasaki mit der Aprilia seines verunglückten Vaters zu verwechseln. Hinter der Kapelle, links vom jüdischen Teil – dort lag Mahmud begraben.
Amir rollte aus der Ausfahrt, hob leicht die Hand zum Gruß und küsste das Licht. Dankbarkeit wallte in ihm auf – manchmal wie Balsam, manchmal eine Bürde. Christines Worte waren schon seit Monaten dieselben. Irgendwie hatte sie immer etwas an ihm auszusetzen. Zwei Tage in der Woche pflegte er seine Mutter. Er kochte, wusch ihre Wäsche und ruhte im Garten. Den Vögeln warf er Obststücke zu und genoss die vertraute Wärme, wenn seine Mutter sich an seine Brust schmiegte. Sie war das Zentrum seines Lebens. Ihre Worte hallten natürlich in ihm nach.
„Amir, seit wann bist du nur noch ein Entertainer? Wo ist der Journalist, der Geschichten ausgegraben hat, die andere Leute ärgern?“
„Mama, ich mache, was ich kann.“
„Klar, und vielleicht brauchst du einen Hund.“
„Einen Hund? Echt?“
„Kümmere dich um jemanden, Amir. Vielleicht hilft es dir, dich zu erden.“
„Danke, Mama. Vielleicht später. Vielleicht nie.“
Er war der Anchorman von „Amirs Sichtungen“, der ersten orientalisch angehauchten Morgenshow des deutschen Fernsehens. Vier Sendungen im Monat, live und unzensiert. Sein Name auf Plakaten. Ein Erfolg, den er früher für den Heiligen Gral gehalten hätte. Jetzt fühlte es sich an wie ein hübsches Halsband – eng, glänzend und mit einem leichten Würgereiz verbunden.
Auf der alten Allee Richtung Studio sah er den Hirsch zuerst nur undeutlich aus der Entfernung. Das Geweih, majestätisch wie ein Kriegerhelm, glänzte in der aufgehenden Sonne. Ein stilles Symbol – Stärke, ja. Vielleicht auch nur Sturheit, auf dem Mittelstreifen einer Landstraße stehen zu bleiben, oder der Gruß eines Männchens an ein anderes Männchen, das gerade dabei war, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu verlieren.
Amir nahm Gas weg, ließ die Kawasaki knurren, leise, respektvoll. Der Hirsch bewegte sich kaum, hob nur den Kopf, als würde er Amir herausfordern: „Dein Move, Amir.“ Sekunden später war er verschwunden, verschluckt vom Wald und der Zeit.
‚Vier Shows im Monat‘, dachte Amir, während er sich seinem Stamm-Bäcker näherte. Ein kleiner Laden, der die besten Croissants der Stadt hatte – wenn man bereit war, dafür ein schlechtes Gewissen zu kaufen. ‚Drei Jahre mache ich das jetzt. Was ist mit mir passiert? Bin ich wirklich glücklich oder habe ich einfach vergessen, wie sich Unzufriedenheit anfühlt?‘
Den Bäcker ließ er links liegen. Das Motorrad war sein Kumpel, sein Beichtstuhl, der einzige Ort, an dem er sich nicht erklären musste. Der Fahrtwind legte seine Gedanken in Schichten frei. Journalist! Früher der Heuchelei und der Korruption das Wasser abgraben, heute Teil der Show. Unterhalter – und die Leute lachen. Aber lachen sie mit ihm oder über ihn? Und Freiheit! Ja, die Maschine unter ihm war frei. Aber er?
An einer roten Ampel sah er einen anderen Biker auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein kurzes Kopfnicken, der wortlose Pakt zwischen Fremden auf zwei Rädern. Für einen Moment fühlte Amir sich verbunden.
Die Ampel wechselte auf Grün, aber Amir zögerte. Warten oder losfahren? Ein unentschlossener Schaltvorgang und plötzlich war er im zweiten Gang. Er drehte am Gas, ließ die Kupplung kommen – zu wenig Schwung. Die Kawasaki ruckte, stotterte, kämpfte gegen ihr eigenes Gewicht. Die Maschine zuckte nach vorn, als würde sie sich widerwillig aus dem Stand lösen, wie ein großer, schwerer Körper, der ins Stolpern gerät.
Der Verkehr schwoll an und Amir tauchte endlich ein in den Fluss der Stadt.
Abschnitt 2.2: Nur ein Traum
Yasemin träumte mit dem Geschmack von Asche auf der Zunge. In ihrem Kopf sang ein Vogel, der nicht wusste, dass er in einem sterbenden Garten lebte.
Es war keiner dieser Träume, die ich nach dem Aufwachen sofort wieder vergessen könnte. Sie lag ganz still, ihr Atem ging schwer und unruhig, und ich schwebte über ihr.
Malik Rezvani saß an seinem Sekretär wie ein gestrandetes Tier. Yasemin sah ihn an, und ich sah durch sie hindurch.
Rezvani schrieb.
An den Präsidenten der Islamischen Republik
Sehr geehrter Herr Präsident,
Ich trete mit sofortiger Wirkung von meinem Amt zurück.
Ich kann und will nicht länger Teil eines Staates sein, der seine eigene Seele zerstört hat. Ein Staat, der sich als Hüter des Glaubens ausgibt, während er nichts als Leere hinterlässt. Wir haben versagt, Herr Präsident. Nicht nur politisch oder wirtschaftlich – nein, wir haben moralisch versagt.
Die jungen Frauen in unserem Land reißen sich das Kopftuch vom Kopf, aus Verzweiflung. Sie wissen, dass sie ihre Freiheit mit dem Leben bezahlen könnten, und doch tun sie es. Warum tun sie es? Weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Das Regime hat ihnen alles genommen – ihre Sicherheit, ihre Würde, ihren Glauben.
Wir nennen sie „gestört“, wir bringen sie in Kliniken unter, die nichts anderes sind als Folterstätten. Wir versuchen, ihren Geist zu brechen, weil wir Angst vor ihrer Stärke haben. Aber die Wahrheit ist, Herr Präsident, dass sie stärker sind als wir. Jede von ihnen hat mehr Mut, als wir je gezeigt haben.
Unsere jungen Männer? Sie sterben auf den Straßen, erschossen von denen, die vorgeben, das Gesetz zu schützen. Unsere Kinder? Sie wachsen ohne Glauben auf, weil wir ihnen keinen Grund gegeben haben, an etwas Höheres zu glauben. Wir haben der nächsten Generation nicht nur ihre Zukunft geraubt, sondern auch ihre Seele.
Ich will weg, Herr Präsident. Ich will weit weg von diesem Wahnsinn, von den Lügen und der Gewalt. Ich will irgendwohin, wo ich vielleicht nur das Rauschen der Wellen höre und nicht die Schreie derer, die wir zerstört haben.
Ich trete zurück, Herr Präsident. Möge Allah uns allen vergeben, auch wenn wir es nicht verdienen.
Mit bitteren Grüßen,
Malik Rezvani, amtierender Oberbefehlshaber der Islamischen Revolutionsgarde.
Das Ende des Traums kam gleichzeitig mit der tiefen Angst vor ihren nächsten Entscheidungen, die Yasemin in sich trug. Malik Rezvani verbrannte seinen Brief in einem Aschenbecher, ein Windstoß wirbelte die Asche empor und Yasemins geschlossene Augen bewegten sich unruhig hin und her. Als sie erwachte, war die Welt die gleiche. Ein Blick in den Spiegel und sie erkannte, dass die Träumerin dem Wahnsinn näher war als der Erlösung. Der Geruch von verbranntem Papier durchzog ihren Tag. Und ich war der Vogel, den sie fangen musste.
Kapitel 3: Die Morgenshow
Abschnitt 3.1: Amirs Sichtungen
Im Studio angekommen, begrüßte Amir die bekannten Gesichter mit einem flüchtigen Lächeln. Die Atmosphäre war intensiv; ein elektrisches Knistern schien den Raum zu beherrschen. Vor seinen Augen verwandelte sich die Bühne langsam in eine schillernde Version des Orients – ein Reich, das die Gegensätze zwischen Tradition und Moderne symbolisierte. Und darum ging es heute: „Nächstenliebe versus Dschihad“. Die Musiker der Studio-Band stimmten ihre Instrumente und die melancholischen Klänge einer Oud hallten durch den Raum. Für einen Moment schloss Amir die Augen und ließ die Melodie auf sich wirken.
Eine unsichtbare Spannung nagte an ihm, als drohe etwas in ihm zu zerreißen. Diese Sendung bedeutete ihm mehr als jede andere zuvor. Nicht nur wegen des sensiblen Themas, sondern auch, weil er sich in den letzten Monaten zunehmend entfremdet fühlte – von sich selbst, von seinen Wurzeln, von seinem Glauben. Es war, als würde ihm seine journalistische Stimme, der Kern seines Seins, langsam verloren gehen. Und heute, mit Layla Sadeghi als Gast, war die innere Zerrissenheit noch deutlicher zu spüren.
Aus der Ferne hörte er jetzt den Soundcheck der israelischen Künstlerin, die mit ihrem Jazz-Quintett zu Gast war. Sie war eine Freundin von Layla. Amir erinnerte sich an die intensiven Vorgespräche. Unterschiedliche Perspektiven trafen aufeinander und doch: Die Antworten auf Amirs Fragen waren immer nur einen Atemzug entfernt.
Dann spürte Amir dieses nervöse Kribbeln, das ihn immer überkam, wenn der Druck vor einem Auftritt zunahm. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Würde er gleich den richtigen Schritt machen? Oder würde er ins Bodenlose versinken? Eine Mischung aus Vorfreude und Unsicherheit. Er brauchte eine Ablenkung –, schließlich entschloss er sich, Layla in ihrer Garderobe zu besuchen.
„Möchtest du noch etwas?“, fragte er beiläufig und versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Layla blickte auf, in ihren Augen blitzte eine Mischung aus Trotz und Leichtigkeit auf. „Nur Mut“, erwiderte sie trocken und reichte ihm eine Schüssel Salat.
Ihre Gelassenheit stand in scharfem Kontrast zu seiner Anspannung. Für einen kurzen Moment fragte er sich, wie Layla trotz all der Konflikte und Herausforderungen, die sie erlebt hatte, eine solche innere Ruhe bewahrte. Er wusste, dass sie mehr gesehen und erlebt hatte, als sie jemals zugeben würde. Und plötzlich dachte er: ‚Warum sehen Vegetarierinnen morgens immer wie Kaninchen aus?‘ So war er. Er hatte manchmal peinliche Gedanken. Und wenn er sie aussprach, dann gab es Ärger. Aber daran arbeitete er.
Es war Zeit für Layla, in die Maske zu gehen. Sie umarmten sich kurz, ein unverfänglicher Moment der Nähe, bevor Amir sich zurückzog.
Es waren diese Minuten kurz vor der Show, die er am meisten liebte. In diesen Momenten wurde er still. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem subtilen Chaos um ihn herum: dem Klappern der Schminkpinsel, dem Gebrabbel des Teams, dem Surren der Technik.
Plötzlich legte ihm sein Assistent Pierre sanft die Hand auf den Kopf. Eine Pause. Ein tiefer Atemzug, dann flüsterte er: „Es geht los, Amir.“ Nach kurzem Zögern fügte Pierre hinzu: „Saluki?“ Amir musste lächeln. Er antwortete mit einem heulenden Laut, der sich in der Weite des Raumes verlor.
Die ersten Takte der persischen Eröffnungsmelodie erklangen, fließend wie ein ruhiger Fluss. Amir trat ins grelle Scheinwerferlicht. 5, 4, 3, 2 …
„Willkommen im Hauptstadtstudio, live aus Berlin. Es ist 7 Uhr morgens: Zeit für Joghurt und süßen Tee!“ Seine Stimme war klar und energisch, ein wenig amüsiert. „Wir sind bei ‚Amirs Sichtungen‘! Die Morgensendung, die tiefer gräbt und neue Perspektiven eröffnet.“
Sein Tonfall wurde einladender.
„Unser Thema heute: ‚Nächstenliebe versus Dschihad‘ – ein kontroverser Titel, der die Gegensätze beleuchtet, die unsere Welt prägen. Mein Name ist Amir Nouri, ich bin ein Mensch aus dem Orient und deutscher Staatsbürger.“
Mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu:
„Mein iranischer Name verheißt: ‚Nur das Licht, das sich ausbreitet, wird selbst sehen‘. Also, lasst uns gemeinsam Licht in die Dunkelheit bringen.“
Mit Verve setzte die Band ein, und der Saal füllte sich mit kraftvollem Tahrir-Gesang. Die tiefen, emotionalen Töne schufen eine fast sakrale Atmosphäre. Amir fuhr fort, seine Stimme erhob sich über der langsam ausklingenden Musik.
„Ich bin in einer muslimischen Familie aufgewachsen. Der Gedanke, mich zu Jesus Christus zu bekennen, schwirrt schon seit Jahren in meinem Kopf herum. Aber die Angst, missverstanden zu werden, hält mich zurück.“
Nahtlos leitete die Band über zu einem aramäischen Suryoyo-Medley, jede Musiksequenz erzählte ihre eigene Geschichte, jede so lebendig wie einst an den Flüssen Mesopotamiens.
Abschnitt 3.2: Layla Sadeghi
Amirs Stimme bekam jetzt etwas Vehementes.
„Heute bei uns: Layla Sadeghi – eine unorthodoxe Muslima, Dozentin für Islamwissenschaften. Wird sie heute wie der persische Wüstenwind Chamsin sein? Wird sie die Widersprüche des Lebens für uns aufwirbeln?“
Die Band begann mit dem Refrain von Sogands „Modele Man“ und Layla schritt mit anmutiger Gelassenheit durch das Studio. Amir spürte aber die Last, die sie mit sich trug. Sie stellte sich ihrer Vergangenheit und rang mit den Schatten der Sucht. Die Kamera folgte ihr, die Vorhänge flatterten im Luftzug.
„Layla hat gegen die Dämonen der Sucht gekämpft, doch seit 16 Jahren lebt sie abstinent. Das 12-Schritte-Programm hat ihr geholfen, eine spirituelle Verbindung zu entwickeln, die sowohl Kraft als auch Verletzlichkeit vereint.“
Die Musik wechselte zu einer persischen Fanfare von Ali Shakeri. Ein gemeinsamer Atemzug im Saal schien Licht und Schatten miteinander tanzen zu lassen.
Amir und Layla nahmen Platz und das Licht fand sie in der Mitte. Die Kameras näherten sich vorsichtig und das Publikum lehnte sich erwartungsvoll zurück.
Amir blickte lange in Laylas Augen. In der Aufnahmeleitung wuchs die Spannung, der Schlagzeuger spielte eine kurze Sequenz auf der Snare Drum und Amir holte tief Luft. Er setzte zum Sprechen an, machte eine kurze Pause und legte los: „Layla, du bist Dozentin für Islamwissenschaften und hast durch eine höhere Macht den Weg aus der aktiven Sucht gefunden. Dein Leben ist von Wandlungen geprägt, voller Widersprüche und Kämpfe. Was treibt dich an?“
Layla, mit einem nachdenklichen Lächeln im Gesicht, antwortete: „Amir! Meine Geschichte ist … Nun ja, bunt wäre die passende Beschreibung, sie ist auf jeden Fall von Dankbarkeit geprägt.“
Ein leises Lachen entwich ihren Lippen. „Ich bin in einem kleinen Dorf in Ostdeutschland aufgewachsen, fernab von Iran, wo meine Eltern geboren wurden. Meine Mutter ist Christin, bodenständig, in gewisser Hinsicht … schwierig, während mein Vater – der ist Muslim – die Energie und die Geschichten der persischen Kultur in unser Haus brachte.“ Layla hielt einen Moment inne. Ein subtiler Ausdruck von Nachdenklichkeit zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie fortfuhr: „Es war, als würden zwei völlig gegensätzliche Welten aufeinanderprallen – die Unberührtheit des Ländlichen und das Temperament meines Vaters.“
Amir lauschte ihren Worten. Layla hatte ihn mit dieser Beschreibung abgeholt. Es war, als spräche sie nicht nur von sich selbst. Es war auch sein Thema – der ständige Versuch, seinen Platz in einer Welt voller Widersprüche zu finden, ohne in eine Sucht oder Obsessionen zu verfallen.
Abschnitt 3.3: Claudia und Sybil
In Studio 2 sprang die Klimaanlage an wie eine nervöse Katze und beherrschte mit ihrem Brummen den Raum. Amir warf einen wütenden Blick in Richtung Regie. Seine Maskenbildnerin Claudia saß auf ihrem Freischwinger und beobachtete die Szene. Ihr kurzes blondes Haar und die halbvollen Lippen ließen sie hart wirken, etwas in ihrem Gesicht verriet Nervosität. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her, während der Druck auf ihre Blase zunahm. Pierre beugte sich zu ihr und flüsterte: „Na, Claudia, alles in Ordnung? Ziemlich angespannt heute, oder?“
Claudia antwortete gespielt entspannt: „Es ist der Stuhl. Zu bequem. Ich suche nach der perfekten Position.“ Pierre lächelte. „Interessant, wo hast du den her? Sieht besonders aus.“ Verärgert antwortete Claudia: „In einem kleinen Laden entdeckt. Liebe auf den ersten Blick.“ Pierre zwinkerte und flüsterte: „Psst!“, als Amir wieder einen Blick in ihre Richtung warf.
Plötzlich sprang Claudia auf, rannte, was sie konnte. In der Damentoilette traf sie auf ihre Kollegin Sybil, die mit einem Kajal bewaffnet ihrem Spiegelbild den letzten Schliff gab. Während Claudia sich – bei offener Tür – erleichterte, summte Sybil leise eine Melodie, halb Gebet, halb Chanson. „Na, betest du dich selbst an?“, frotzelte Claudia, während sie die Spülung betätigte.
Sybil drehte sich abrupt um, ihre Augen funkelten. „Weißt du, was du da sagst?“ Claudia fasste sich machohaft in den Schritt. „Komm schon, Sybil, mach nicht so einen Aufstand.“ Sybil grinste und imitierte Claudias Geste. „Bist du ein Mann oder was?“
Claudia ließ sich Zeit mit der Antwort, dann wechselte sie das Thema und plapperte los. „Und beim Grillen am Sonntag, Sybil … hast du da mit meinem Thomas geflirtet?“ Sybil schnappte scharf nach Luft. „Claudia, ich bin eine gläubige Muslima. So etwas mache ich nicht. Außerdem habe ich einen Freund, Mehmet. Von ihm habe ich viel über den Glauben gelernt. Je mehr ich bete, desto stärker fühle ich mich.“
Claudia packte Sybil am Arm und zischte: „Und was erzählt dir Mehmet sonst noch?“ Sybil hielt ihrem Blick stand. „Er sagt, der Islam lacht über euch Deutsche, weil ihr schwach seid und euren Glauben verloren habt.“
Claudia hatte noch immer Sybils Arm fest im Griff. Sie drückte fester zu. Doch plötzlich mussten beide Frauen lachen – sie legten die Finger auf ihre Lippen und flüsterten: „Psst!“, bevor sie sich überschwänglich umarmten. Oft trieben sie dieses Spiel miteinander. Sybil strahlte: „Brauchen wir das wirklich? Wir übernehmen ihre Taktiken, ihre Kämpfe, ihre Sprache. Aber weißt du was? Wir sind keine Männer. Wir kämpfen, um als Frauen sichtbar, laut und unverrückbar da zu sein. Jin, jiyan, azadi!“
Claudia prustete los und spuckte einen kleinen Wasserstrahl vor sich her. „Du bist echt anstrengend, weißt du das?“ Sybil wischte sich lachend die Augen. „Und trotzdem magst du mich.“ Claudia summte nachdenklich vor sich hin. Nach einer Weile fragte sie: „Was hältst du davon, dass Amir mit dem Christentum liebäugelt? Das ist doch krass, oder? Ist er jetzt Muslim, Christ oder einfach nur … Amir?“
Sybil wog die Frage einen Moment lang ab, während sie sich die Hände wusch. „Hm, er lebt in dieser Zwölf-Schritte-Gemeinschaft, die an eine ‚Höhere Macht‘ glaubt. Das könnte alles sein. Ja, das ist krass. Aber ich verstehe ihn. Jeder sucht nach der Wahrheit, die für ihn Sinn macht. Für mich bleibt Allah der Weg, aber ich respektiere andere Glaubensrichtungen.“
Claudia verdrehte die Augen. „Ist der Islam wirklich ein guter Weg, wenn er Deutsche als schwach verurteilt?“ Sybil sah ernst in den Spiegel. „Es geht nicht darum, andere Menschen abzuwerten. Es geht um die Stärke, die wir im Glauben finden. Und ja, die westliche Welt wirkt schwach, weil viele Menschen den Glauben verloren haben.“
Claudia schüttelte den Kopf. „Eure Türkei wirkt wie ein Militärapparat, der nur Befehle erteilt.“ Plötzlich fasste Sybil Claudia an den Wangen und küsste sie kurz und heftig. „Claudia. Glaube bedeutet Disziplin, Gehorsam – aber wenn ich die Regeln brechen will, dann tue ich das auch – heimlich.“
Beide Frauen standen einen Moment schweigend da. „Wahrscheinlich bin ich zu dumm für all das“, murmelte Claudia.
In diesem Moment segelte Yasemin herein, mit einer jungen Frau im Schlepptau. Yasemins Lächeln war freundlich, während sie zwei Päckchen Kokain überreichte und das Geld entgegennahm, als handle es sich um einen fairen Briefmarkentausch. Sie bemerkte Claudia und Sybil und winkte ihnen kurz zu.
„Peinlich. Erzählst du nicht überall, dass du clean bist, Yasemin?“, spöttelte Sybil mit Augen voller falscher Unschuld. Claudia, weniger geneigt, die Fassade der Höflichkeit zu wahren, schoss scharf: „Weißt du, dass sie die Tochter unseres Chefredakteurs ist? Irene, bist du völlig übergeschnappt? Dein Vater wird dich wieder in die Klapse werfen, wenn er das erfährt!“ Yasemin sah die beiden an und mit einem Schulterzucken sagte sie: „Ihr schaut zu viel fern. Kommt mal runter.“
Und damit war sie verschwunden und ließ nur einen Hauch von Parfüm zurück. Claudia und Sybil räumten genervt das Feld, murmelten etwas von „unfassbar“.
Irene blieb als Teil eines Bildes, das sie nicht verstand.
Dann öffnete sie einen Klodeckel, blickte kurz auf die Päckchen in ihrer Hand, bevor sie den Inhalt ins Wasser rieseln ließ. Mit einem dumpfen „Scheiße!“ wurde das Zeug weggespült – eine Zusammenfassung ihres Lebens in einem Wort. Irene strich sich durchs Haar, atmete tief durch und kehrte ins Studio zurück, wo Amir und Layla noch immer miteinander palaverten.
Abschnitt 3.4: Tacheles
„Weißt du, wer mich wirklich geprägt hat, Amir?“ Layla nahm Fahrt auf. „Maria, meine Schwester. Sie ist jünger als ich und hat gesundheitliche Probleme. Ihre Krankheit war immer eine Herausforderung für die Familie, vor allem für die Verwandten in Iran. Manche halten Maria bis heute für besessen, aber das wollte ich nie akzeptieren. Für mich ist sie meine Schwester, die um ihr Leben kämpft. Ich bin einfach für sie da. Egal, wie schwer es ist. An dieser Aufgabe bin ich gewachsen. Als Teenager war ich zwar ein Punk, aber jede freie Minute verbrachte ich mit Maria und musste irgendwo ‚dazwischen‘ meinen Platz finden.“ Amir hakte direkt nach: „Ein Punk in Ostdeutschland! Und wie passt das mit deiner persischen Herkunft zusammen?“
Layla lächelte: „Nicht wirklich. Ich war rebellisch. Punkt. Damit musste sich die Familie abfinden. Die starren Strukturen in der Schule und zu Hause haben mich genervt, also suchte ich nach Auswegen. In Teheran hatte ich ein paar Freundinnen und wir kombinierten Punkmusik mit traditionellen persischen Klängen. Das gefiel mir und kam gut an – zumindest in Iran. Ich fliege noch heute oft in die Heimat und feiere Partys. Das ist ein Teil von mir, den ich nicht aufgegeben habe.“
„Und wer war dein Halt in diesem wilden Leben?“, fragte Amir. Layla antwortete nachdenklich: „Meine Māmā Jān, also meine Großmutter – sie war eine starke Frau, geboren in Teheran. Dort lebte sie als Christin in einer Kultur, die es ihr nicht leicht machte. Ihr Selbstvertrauen war Vorbild für mich. Tagsüber zog ich zugedröhnt und mit lautem Punkrock durch die Straßen, abends erzählte sie mir biblische Geschichten, immer leise, immer mit diesem festen Glauben. Sie war mein Fels in der chaotischen Welt. Sie gab mir das Gefühl, dass es in Ordnung ist, zu suchen und zu rebellieren.“
Amir wollte es wissen. „Deine Großmutter war also wie ein Fels in der Brandung, was wie ein Widerspruch klingt, wenn man bedenkt, dass du süchtig geworden bist. Dein Blogtitel ‚Es gibt keine hoffnungslosen Fälle‘ – ist das auch Teil deines Programms?“ Layla nahm den Ball auf: „Ja, Amir, das ist es. Als ich zum 12-Schritte-Programm kam, habe ich gelernt, dass es nicht um Kontrolle geht, sondern um Hingabe. Die Grundidee des Programms ist einfach, aber kraftvoll: Wir geben zu, dass wir die Kontrolle verloren haben, und vertrauen uns einer ‚Höheren Macht‘ an – so wie wir sie verstehen. Für mich war das nicht der Gott meiner Familie, sondern etwas Größeres, Universelleres. Diese ‚Höhere Macht‘ hat mir geholfen, von den Drogen wegzukommen. Und ich konnte erkennen, dass meine Stärke darin besteht, für andere da zu sein, auch wenn es mir selber schlecht geht.“