Marie Curie und ihre Töchter - Claudine Monteil - E-Book
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Marie Curie und ihre Töchter E-Book

Claudine Monteil

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Beschreibung

Marie Curie ist eine Kämpferin: Zusammen mit ihrem Mann Pierre revolutionierte sie die Erforschung der Radioaktivität. Doch Pierres Unfalltod macht Marie zur Witwe und alleinerziehenden Mutter. Die beiden Töchter, Irène und Ève, sind ihr Ein und Alles. Marie setzt alles daran, ihnen in einer Zeit von Krieg und politischer Unruhe die bestmögliche Bildung zuteilwerden zu lassen. Die Mädchen wachsen zu interessierten und engagierten jungen Frauen heran: Irène folgt ihrer Mutter in die Wissenschaft und erforscht wie sie Radioaktivität. Ève wird sich als Autorin und Diplomatin für eine bessere Welt einsetzen. Marie Curie und ihre Töchter kämpften für ihre Bildung, ihre Freiheit und wurden dadurch zu Vorbildern für Frauen auf der ganzen Welt. Claudine Monteil porträtiert diese drei außergewöhnlichen Frauen, die mit ihrem Mut, ihrer Intelligenz und ihrem Engagement das vergangene Jahrhundert mitgestaltet haben, mit Wärme und lebendigem Blick.

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Seitenzahl: 455

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Cover

Titel

Claudine Monteil

Marie Curie und ihre Töchter

Romanbiografie

Aus dem Französischen von Ilona Zuber

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Marie Curie et ses filles bei Calman-Levy, Paris.Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4978.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Calmann-Lévy, 2021

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildungen: Marie Curie und ihre Töchter Irene und Eve, 1921, Foto: Universal History Archive/Universal Images Group/Getty Images; mauritius images; Adobe

eISBN 978-3-458-77651-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Mutter, Josiane Serre,

Universitätsdozentin, Chemikerin,

Vorbild für zahlreiche Wissenschaftlerinnen und

ehemalige Direktorin der École Normale Supérieure

de Jeunes Filles (ehemals Sèvres),

an der auch Marie Curie und Irène Joliot-Curie lehrten.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1 Von Polen nach Frankreich – die Macht des Willens

2 Wissenschaft und Liebe, Hoffnungen und Prüfungen

3 Der erste Weltkrieg: Marie und Irène an der Front

4 Amerika – ein Traum wird wahr

5 Strahlkraft und Rückzug einer Ausnahmewissenschaftlerin

6 Die Curie-Schwestern – aus dem Schatten ans Licht

7 Iréne und Ève – getrennt in den Wirren des zweiten Weltkriegs

8 Eine vom kalten Krieg zerrissene Familie

9 Ève Curie – dem Andenken an die verstorbenen Verpflichtet

Dank

Endnoten

Weiterführende Literatur

Informationen zum Buch

1

Von Polen nach Frankreich – die Macht des Willens

Die elektrische Schulglocke klingelt laut und vernehmlich. Die kleine, artig gekleidete Maria Skłodowska, ihres Zeichens Klassenbeste, schaut auf – und erstarrt augenblicklich. Jedoch nicht wegen der Kälte, die in diesem Winter 1874 in dem Warschauer Klassenzimmer herrscht, sondern weil der russische Zar, dieser furchteinflößende Mann, bei dessen Erwähnung die Erwachsenen zu Hause stets die Stimmen senken, einen Inspektor in die Schule geschickt hat. Rasch lässt sie die polnischen Hefte und Bücher verschwinden, die die Lehrerin im Unterricht verwendet, obwohl das nicht erlaubt ist. Ein Kind läuft schnell zu den Schlafsälen, um die verbotenen Bücher dort zu verstecken. Auf keinen Fall darf man sich erwischen lassen, sonst drohen den Eltern schreckliche Strafen. Onkel Zdzisław, der Bruder von Marias Vater, hat im Widerstand gegen die russischen Besatzer gekämpft und konnte nach Frankreich entkommen, während Onkel Henry, der Bruder ihrer Mutter, vom Geheimdienst des Zaren geschnappt und, wie so viele andere seiner Landsleute, in Ketten gelegt und in ein Arbeitslager nach Sibirien gebracht wurde.1 Das Kind zittert nun am ganzen Leib, seine Wangen glühen. Es weiß, was jetzt kommt, und senkt den Blick, um nur ja nicht aufzufallen. Die Tür geht auf, und mit finsterer Miene tritt der Inspektor ein. Was er sieht, sind brave kleine Mädchen, die Knopflöcher sticken. Lauter Engelchen.

Der grobschlächtige Mann mit dem schwerfälligen Gang stapft selbstsicher durch die Reihen und öffnet jedes Pult, um den Inhalt zu kontrollieren. Er darf kein einziges auf Polnisch geschriebenes Buch finden, nicht eine Zeile in der Sprache, die die Besatzungsmacht aus dem Gedächtnis dieses unterdrückten Volkes ausradieren will. Zu jener Zeit ist Polen bereits von den Landkarten getilgt und taucht nur mehr unter der Bezeichnung »Weichselland« dort auf. Der Inspektor wirkt fast schon zufrieden. Die vorgefundenen Bücher sind alle auf Russisch und handeln von der Geschichte des Zarenreichs im Laufe der Jahrhunderte. Als habe Polen, die geliebte Heimat der kleinen Maria, nie existiert. Lügen und Täuschen, welche Qualen für ein Kind. Was für eine Lektion, Schmerz und Demütigung verbergen zu müssen. Doch der hohe Herr hat seinen Rundgang noch nicht beendet. Jetzt soll eine der Schülerinnen ihm Rede und Antwort stehen. Maria weiß, dass die Wahl der Lehrerin auf sie fallen wird. Die Kleine erhebt sich, rot vor Scham. Zählt eins nach dem anderen die Mitglieder der Zarenfamilie mitsamt ihren Titeln auf, so wie es ihr befohlen wurde. Zum Abschluss fragt der Inspektor eindringlich und mit ernster Stimme: »Wer ist unser Herrscher?« Maria bleibt stumm. Er schilt sie, und sie erwidert: »Seine Majestät Alexander II., Zar aller Reußen«. Offensichtlich zufrieden mit ihrer Antwort und auch mit sich selbst verlässt der Inspektor den Raum, um die nächste Klasse aufzusuchen. Maria bricht in Tränen aus. Wie konnte sie nur derart lügen, wo sie doch so an Polen hängt?

Auch als sie wieder zu Hause ist, bei ihren Eltern und Geschwistern – den drei Schwestern Zofia, Bronia (eigentlich Bronisława wie die Mutter) und Helena, genannt Hela, sowie dem Bruder Józef –, kann sich die gerade einmal siebenjährige Maria kaum beruhigen. Sie schämt sich, weil sie glaubt, ihr geliebtes Polen verraten zu haben. Doch ihr Vater ist erleichtert. Władysław Skłodowski ist ein kräftig gebauter Mann mit dichtem Bart, dessen ernste Miene zum einen seiner Stellung als Beamter und zum anderen seiner Tätigkeit als Mathematik- und Physiklehrer geschuldet ist. Gerade heute ist er zum stellvertretenden Direktor des Gymnasiums in der Ulica Nowolipki ernannt worden. Seine Tochter hat sie alle vor einer großen Gefahr bewahrt. In dieser Familie hat es zu viele polnische Rebellen gegeben, und er selbst hat sehr früh begriffen, dass Widerstand gegen die russischen Besatzer nichts bringt außer Exil, Internierung und Repressalien gegenüber sämtlichen Angehörigen. Maria, die beste Schülerin der Klasse, hat sich genau richtig verhalten, davon ist ihr Vater überzeugt. Doch die Kleine zittert noch immer, sie läuft zu ihrer Mutter und möchte sich an sie schmiegen, aber als sie deren Kleid berührt, hält sie jäh inne. Was gäbe sie darum, sich in die Arme ihrer Mutter flüchten zu können! Das Mädchen weiß, dass diese heißersehnten Zärtlichkeiten verboten sind. Von der Tuberkulose gezeichnet, darf Bronisława Skłodowska keinesfalls riskieren, ihre Kinder anzustecken. Mit ihrem schmalen, fein geschnittenen Gesicht und der üppigen schwarzen Haarpracht ist sie eine wahre Schönheit. Einst hat sie eine angesehene Mädchenschule geleitet (als eine der wenigen Frauen in solch einer verantwortungsvollen Position), musste aber ihren Beruf schließlich krankheitsbedingt aufgeben und jeglichen Kontakt zu ihren Schülerinnen abbrechen. Manchmal streicht sie mit den Fingerspitzen leicht über die Stirn ihrer Jüngsten, zieht die Hand dann jedoch sogleich wieder zurück: »Diese vertraute Bewegung ist für das Kind das Liebste, das es kennt. Mania2 ist, soweit ihre Erinnerung reicht, niemals von der Mutter geküßt worden.«3

Seit Marias Geburt leidet Bronisława Skłodowska unter dieser heimtückischen Krankheit, die ihr nach und nach die Kräfte raubt. So wird Marie Curie ihre Mutter nie als gesunde Frau erlebt haben. Die Mutter ist so besorgt um das Wohl ihrer Kinder, dass sie zum Essen eigenes Geschirr benutzt und ihre Sprösslinge zum Spielen in den Garten schickt, obwohl sie nichts lieber täte, als sie zu herzen und zu küssen. Und trotz alldem wächst Maria in einer Familie voller Zärtlichkeit auf, in der das Interesse für die Naturwissenschaften eine sehr wichtige Rolle spielt, aber auch die Liebe zu Kunst, Musik und Literatur, insbesondere zur Poesie mit ihrer tröstlichen Wirkung aufs Gemüt; wenn Gedichte vorgetragen werden, verstummen die Kinder augenblicklich und lauschen andächtig. Mit ihrer zugewandten und aufgeschlossenen Art pflegt die Mutter darüber hinaus Freundschaften zu Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, was im 19. Jahrhundert alles andere als üblich ist.

Eines Abends jedoch, als die Kinder gerade ausgelassen spielen, wird ihre heile Welt mit einem Schlag erschüttert. Der Vater kehrt von der Arbeit aus dem Gymnasium zurück, öffnet die Post und gerät plötzlich ins Taumeln. Den Brief noch in den Händen, lässt er sich in seinen Sessel fallen. Die höflichen und unterwürfigen Antworten der kleinen Maria in der Schule haben nicht verhindern können, dass das Unheil über ihn und seine Familie hereinbricht. Ein weiteres Unglück, das er der russischen Besatzung verdankt. Mit amtlichem Schreiben wird Władysław Skłodowski mitgeteilt, dass nicht nur sein Gehalt gekürzt wird, sondern man ihm auch noch seine Dienstwohnung sowie seinen Titel als Unterinspektor entzieht. Seine Frau ahnt sofort: Dies ist ein Racheakt des Schuldirektors, eines Zarentreuen. Schon wieder der Zar. Da fällt es Skłodowski plötzlich ein: Hat er nicht neulich gewagt, dem Direktor zu widersprechen und ein Kind in Schutz zu nehmen, dem in seinem Russischaufsatz ein Grammatikfehler unterlaufen war?

Die Bestrafung folgt auf dem Fuß, und sie ist hart. Hals über Kopf müssen die Skłodowskis in eine kleinere Wohnung umziehen, und das Gehalt des Vaters reicht nicht mehr aus, um die Familie zu ernähren. So sind sie gezwungen, noch enger zusammenzurücken und Zimmer an Schüler als Pensionatszöglinge zu vermieten. Es gibt keine Privatsphäre mehr, man kann sich nur noch flüsternd unterhalten. Ganz Polen ist mundtot gemacht.

Natürlich muss von jetzt an jede Geldausgabe genauestens überdacht werden. Das ist schwierig, bisweilen riskant. Eines Abends kommt Vater Skłodowski vollkommen niedergeschlagen nach Hause. Ein Spekulationsgeschäft, mit dem er seinem Schwager einen Gefallen tun wollte, erweist sich als finanzielles Fiasko, das ihn an den Rand des Ruins bringt. All seine so mühevoll zusammengetragenen Ersparnisse, dreißigtausend Rubel, sind verloren. Er würde nicht mehr für jede seiner Töchter eine Mitgift aufbringen können, womit die Aussichten der Mädchen auf eine gute Partie dahinschwinden. Er ist überzeugt, dass sie nun zu einem Leben in Armut verdammt sind. Nie wird er sich verzeihen, dass er so naiv sein konnte.

Kurz darauf, im Januar 1876, der Schock über das finanzielle Desaster sitzt noch tief, steckt einer der jungen Zöglinge zwei der Skłodowski-Schwestern mit Typhus an: Bronia, der Maria besonders nahesteht, und Zofia, die schließlich mit nur vierzehn Jahren stirbt. Wegen der Infektionsgefahr und auch, weil sie zu hinfällig ist, um ihrem Kind das letzte Geleit zu geben, verfolgt Bronisława Skłodowska den Leichenzug vom Fenster aus, sieht ihren Mann und ihre Kinder gemessenen Schrittes dem Sarg folgen. Bereits mit acht Jahren hat die kleine Maria unsagbar viel Leid und Schmerz erfahren. Die Erwachsenen erlebt sie als liebevoll und dennoch schwach, von Kummer und Sorgen niedergedrückt.

Auch der von Tag zu Tag sich verschlechternde Gesundheitszustand der Mutter beunruhigt das Mädchen. Am 9. Mai 1878, zwei Jahre nach Zofias Tod, erliegt Bronisława Skłodowska dem Kampf gegen ihre Krankheit. Ein grausamer Verlust für die zehnjährige Maria, die in tiefer Trauer versinkt. Ihr und ihren Geschwistern bleibt nun nur noch der Vater, der seinen Kindern Liebe und wenn schon keine finanzielle, so doch zumindest moralische Unterstützung bieten will. Und eine möglichst normale Kindheit. So halten mit der Zeit Lachen und Scherzen wieder Einzug im Hause der Skłodowskis. Maria vergnügt sich selbstverständlich mit ihrer Schwester Bronia, aber auch mit anderen, gleichaltrigen Jungen und Mädchen. Sie lernt tanzen und beherrscht schon bald die Polka, die Mazurka, den Oberek. In der Schule begeistert sie sich für Literatur und Naturwissenschaften, vor allem aber für die Mathematik, die ihr Vater unterrichtet.

Als Jugendliche wird Maria von einem außergewöhnlichen Wissensdurst beherrscht. Sie lernt für ihr Leben gern – und wird dafür belohnt. Einige Jahre nach ihrer Schwester Bronia gewinnt sie die Goldmedaille des Gymnasiums. Als Anerkennung schenkt man ihr lauter russische Bücher, doch das kann ihr Glück nicht trüben. Die Preisverleihung findet in Anwesenheit des Vaters statt. Władysław Skłodowski ist froh und dankbar. Er hat es geschafft, seinen Kindern die bestmögliche Erziehung und Bildung zu vermitteln, auch wenn seine Frau nicht mehr da ist.

In diesen Jahren ist es der größte Wunsch der heranwachsenden Maria, ihrem geschundenen Heimatland Polen einen Dienst zu erweisen und das Unrecht zu beseitigen, das ihm widerfahren ist. Aber nicht so, wie einige junge polnische Anarchisten oder Revolutionäre, die Bomben auf russische Soldaten werfen, wenn diese in den Straßen herumstolzieren und die Bevölkerung schikanieren. Was ihr vorschwebt, wird ihre Tochter Ève später so formulieren: »Nur eines soll zählen: arbeiten, ein geistiges Kapital in Polen sammeln und die Bildung des Volkes heben, das von der Regierung absichtlich in Unwissenheit gehalten wird.«4

Das 19. Jahrhundert neigt sich bereits dem Ende zu, und die sozialen Fragen, der Kampf gegen die Armut und für die Freiheit treiben die Menschen um. Weit weg in Frankreich, diesem Land, dessen Sprache Maria und Bronia lernen, lebt ein Schriftsteller, der schon zu Lebzeiten ein Mythos ist: Victor Hugo, Verfasser von Werken wie Die Elenden, Der Glöckner von Notre-Dame und Die Legende der Jahrhunderte, die in ganz Europa gelesen werden, ist ein Fürsprecher der Armen und Unterdrückten. Maria kann nicht anders, als ihn zu verehren, mit Begeisterung liest sie seine Prosa und Gedichte, die sie nie vergessen wird.

Daneben sorgt eine neue Lehre für Aufmerksamkeit, erregt die Gemüter und wird begeistert aufgenommen. Der Positivismus von Auguste Comte, die Arbeiten von Pasteur und Darwin stoßen auf beachtlichen Zuspruch. Es ist die Stunde der Wissenschaft, und die junge polnische Generation dürstet nach sozialem Fortschritt. Doch an polnischen Universitäten sind Frauen nicht zugelassen. So beginnt Maria an einer der geheimen polnischen »Fliegenden Universitäten« zu studieren, wo sie bald schon mit ihren Leistungen brilliert. Wie beneidet sie die ausländischen Studentinnen, wenn sie in ihrem Zimmerchen in Warschau sitzt! Vorerst aber drehen sich alle ihre Gedanken um ihre ältere Schwester Bronia, die unbedingt Ärztin werden will. Doch wie kann sie dieses Ziel erreichen?

Von Vater Skłodowski gibt es keine guten Neuigkeiten. Er ist erschöpft. Natürlich will er um jeden Preis seine Arbeit am Gymnasium fortführen, aber er hat nicht mehr die Kraft, in seiner Wohnung in der Ulica Leszno Pensionatsschüler zu beherbergen, um mit deren mageren Mietzahlungen seinen Töchtern ein wenig über die Runden zu helfen. Auch ist die neue Wohnung in der Ulica Nowolipki ziemlich klein. Da zieht Maria wieder bei ihm ein. Dass sie wenig Platz hat, macht ihr nichts aus, sie hängt an ihrem liebevollen und treusorgenden Vater, der mit seiner universellen Bildung noch immer die Jugend begeistern kann. Für die junge Frau ist es ein Hochgenuss, sich unablässig mit ihm über alle möglichen Fragen zu Naturwissenschaften, Philosophie oder Literatur auszutauschen. Sie kann gar nicht genug davon bekommen, durch ihn die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, fremde Sprachen oder die aktuellen Neuerscheinungen kennenzulernen. »Den Samstagabend«, so berichtet Ève Curie, »verbringen Vater und Kinder immer gemeinsam – er ist der Literatur gewidmet. Der Vater rezitiert Gedichte oder liest vor. […] Auf diese Weise werden Mania von Woche zu Woche die Meisterwerke der Vergangenheit von einer vertrauten Stimme zugetragen.«5 Das ist ein außergewöhnlicher Glücksfall für eine junge Polin, um den sie ihre Altersgenossinnen in vielen anderen europäischen Ländern beneiden dürften, denn die Vorbehalte gegenüber Frauenbildung sind damals noch fest verankert. Nicht nur die Warschauer Universität ist für Frauen tabu; eine solche Diskriminierung findet man ebenso an den prestigeträchtigsten englischen Colleges, um nur ein Beispiel zu nennen, und Virginia Woolf wird sie einige Jahrzehnte später in ihrem Essay Drei Guineen anprangern.

Doch Władysław Skłodowski steht kurz vor dem Ruhestand, und bei seiner ohnehin schon schlechten wirtschaftlichen Lage reicht seine Pension nicht aus, um die Kinder weiterhin zu unterstützen. So wird das Familienurteil gefällt: Die Töchter haben keine Mitgift zu erwarten und werden arbeiten müssen. Zum Jammern und Klagen hat Maria keine Zeit, und das entspräche auch nicht ihrem Charakter. Sie schickt sich stattdessen an, Privatunterricht zu erteilen, doch ihr schmales Honorar würde schon bald nicht mehr für Kost und Logis und möglicherweise, wer weiß, die Fortsetzung ihrer Studien ausreichen. Bei Regen und Kälte muss sie kreuz und quer durch Warschau laufen und obendrein befürchten, dass man sie nicht bezahlt, einfach aus Vergesslichkeit, was gang und gäbe ist – für die Eltern ihrer Schüler ist es schlicht unvorstellbar, was diese paar Rubel für ein mittelloses junges Mädchen bedeuten.

Doch in jeder Krise hegt Maria insgeheim immer den Traum, ihrem Polen zu dienen; nicht durch revolutionäre Aktionen, sondern durch Bildung. Eine friedenstiftende Kraft für ihr besetztes Land – das möchte sie werden. Diese Kraft erwächst für sie nicht aus der schwärmerischen Energie, die viele ihrer jungen Landsleute antreibt, sondern aus der Neugier und der Faszination für die Wissenschaft. Sie beschäftigt sich intensiv mit Pasteur, Darwin und Claude Bernard. Besonders hat es ihr eine Lehrerin an ihrem Gymnasium angetan, die voller Leidenschaft über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse doziert und diese Begeisterung mit ihren Schülerinnen teilen will. Gemeinsam mit Bronia und Hela nimmt Maria an geheimen Kursen der »Fliegenden Universität« teil, zunächst in Grundlagen der Anatomie und Biologie. Diese Zeit wird sie für immer prägen, was auch in ihren späteren Schriften zum Ausdruck kommt, in denen sie sich mit Freude daran erinnert. Allerdings sind diese Studien nicht erlaubt und daher für die jungen Studentinnen riskant. Doch in ihrem Enthusiasmus gehen sie sogar noch weiter. Sie erteilen ihrerseits Unterricht für junge Frauen aus dem Volk und vermitteln diesen damit eine Bildung, die ihnen ansonsten verwehrt bliebe. Lehren, etwas weitergeben, solidarisch sein – für die Schwestern sind das keine Idealvorstellungen, sondern eine Selbstverständlichkeit. Maria ahnt nicht, wohin sie dies eines Tages führen wird. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen.

Vorerst gilt es allerdings, der Realität ins Auge zu blicken; für zwei arme junge Mädchen aus Polen sind die Zeiten schwierig. Bronia, die Ältere, träumt von Paris, wo auch Frauen studieren dürfen. Ärztin werden und nach Polen zurückkehren, aufs Land ziehen, wo die Not oft groß und die medizinische Versorgung schlecht ist, nützlich sein, helfen. Eine edelmütige Vision, doch ohne Geld ist daran nicht einmal zu denken.

Ein Hirngespinst also? Nicht unbedingt. Maria liebt ihre Schwester über alles. Die zwei Jahre ältere Bronia ist ihre Beschützerin, eine Art Mutterersatz, nur zärtlicher, präsenter und fröhlicher, als die Mutter es je war. Die beiden sind regelrecht verschworen, teilen alle Freuden, Hoffnungen und Sorgen und sind unzertrennlich. Maria will, dass Bronia ihr Glück macht. Sie denkt nicht mehr an ihre eigenen Träume, obwohl auch sie für Paris schwärmt, für Frankreich und dessen Kultur, für seine Wissenschaft, seine Kunst, seine Literatur, seine Landschaften, seine Küche und seine Hauptstadt, die Intellektuelle aus der ganzen Welt anzieht. Sie selbst entsagt diesem Traum. Was allein zählt, ist Bronias Zukunft. Maria glaubt fest daran, dass es eine Lösung gibt, und ersinnt fieberhaft die abenteuerlichsten Pläne, ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg.

Plötzlich kommt ihr eine Idee. Wenn sie sich als Hauslehrerin bei einer Familie verdingte, könnte sie Bronia jeden Monat etwas Geld schicken: »Zuerst wirst du von deinem eigenen Geld leben. Dann werde ich einspringen und Vater auch. Zu gleicher Zeit werde ich für mein künftiges Studium etwas beiseitelegen. Wenn du dann das Doktorat hast, werde ich abreisen, und du wirst mir helfen.«6

Bronia ist hin- und hergerissen. Darf sie ein solches Opfer von einer Siebzehnjährigen annehmen, die doch selbst so brillant ist, und die sie über alles liebt? Und warum soll ausgerechnet sie als Erste gehen? Für Maria liegt es auf der Hand: Bronia ist die Ältere von beiden. Da darf sie mit dem Studium nicht noch länger warten. Mit zwanzig haben viele ihrer Altersgenossen schon mehrere Studienjahre hinter sich, Bronia hat also keine Zeit zu verlieren. Sie selbst hingegen, so sagt sich Maria, kann gut noch ein paar Jahre warten. Bronia gibt schließlich nach, zumal der Vater Maria in ihrem Drängen unterstützt. Die Trennung würde natürlich schmerzhaft werden, Paris ist sehr weit weg, und niemand hätte die Mittel, um für einen Besuch bei Bronia eine Zugreise quer durch Europa anzutreten, nicht einmal in einem Waggon vierter Klasse. Also ein Abschied auf Jahre? Das steht zu befürchten, aber für eine bessere Welt muss man dieses Risiko wohl eingehen.

Mit ein paar belegten Broten und einer Thermosflasche im Gepäck zwängt sich Bronia schließlich in den Zug, der sie nach Paris bringen wird. Maria ihrerseits gelingt es, eine Stelle als Lehrerin zu ergattern. Und lernt die Schattenseiten des Lebens kennen. Trotz äußerster Sparsamkeit schafft sie es in Warschau beim besten Willen nicht, ausreichend Geld auf die Seite zu legen. Sie gibt zu viel aus in dieser Stadt, wo alles teuer ist, sodass zu wenig übrig bleibt, um es der Schwester zu schicken. Wird der Plan der Älteren ihretwegen scheitern? Das würde Maria nicht verkraften, sie fühlt sich überfordert. Doch den düsteren Gedanken gibt sie sich nicht hin. Dazu hat sie keine Zeit. Sie muss etwas tun. Was, wenn sie eine Stelle auf dem Land annähme? Dort wäre sie zwar isoliert, aber sie hätte Kost und Logis frei und nur geringe Ausgaben. Gewiss, es wären schrecklich einsame Jahre, weit weg von Vater und Schwester. Aber wäre ihr großes Ziel dieses Opfer nicht wert?

Am Neujahrstag besteigt sie den Zug, der sie an einen wenig einladenden fremden Ort bringen soll. Es herrscht klirrender Frost an diesem 1. Januar 1886, Maria zittert vor Kälte. Sie denkt an alle ihre Lieben. Wird sie sie eines Tages wiedersehen? Sie weiß es nicht. Schon am nächsten Morgen in aller Frühe entdeckt sie beim Blick aus dem Fenster ihres Zimmers im Pächterhaus eines Großgrundbesitzers, dass die ländliche Idylle aus Wäldern, Bäumen und Lichtungen in Wirklichkeit nur aus rauchenden Schornsteinen und Zuckerrübenfeldern besteht, so weit das Auge reicht. Anstelle der sehnlichst erhofften Harmonie und Vielfalt der Natur bietet sich ihr nur die deprimierende Monotonie immergleicher Pflanzungen unter einem finsteren und regengrauen Himmel. Sie muss hart arbeiten, denn die ihr anvertrauten Kinder sind allzu verwöhnt und nur schwer zu bändigen. Und vor allem stellt sie fest, dass materieller Wohlstand keineswegs Hand in Hand geht mit Intelligenz, Bildung oder Wissbegierde. Weit gefehlt. Das ist ein Schock für sie, eine große Enttäuschung – doch gleichzeitig eine Lektion fürs Leben. Mit achtzehn Jahren lernt Maria die Wirklichkeit kennen, und diese Erfahrungen wird sie nie vergessen.

Mit großer Anteilnahme beobachtet sie die Kinder der Bauern und Landarbeiter, die nicht zur Schule gehen und nichts lernen. Sie haben keinerlei Zukunft, ebenso wenig wie ihre Eltern. Immer größer wird Marias Wunsch, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen. Ein Luxus, von dem diese Kinder nicht einmal zu träumen wagen, doch sie glaubt fest daran, einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein. Natürlich braucht sie dazu die Zustimmung ihres Arbeitgebers, des Familienoberhaupts. Maria will die Kinder auf Polnisch unterrichten, nicht auf Russisch. Eine Aktion des Widerstands, wie Ève Curie in der Biografie ihrer Mutter Jahre später vermerken wird. Die junge Frau riskiert damit eine Verbannung nach Sibirien.7 Trotz der Gefahr lässt sich der Hausherr für Marias Idee gewinnen, ist allerdings besonnen genug, sie zu strikter Verschwiegenheit zu verpflichten, und so schleichen sich schon bald zehn Jungen und Mädchen auf Zehenspitzen hinauf in Marias Zimmer, wo diese ihnen Woche für Woche durchschnittlich acht Stunden ihrer Zeit widmet. Die Bauernkinder entdecken, was Hefte und Bleistifte sind, sie verlieren häufig den Mut, aber schaffen es nach vielen Tränen und Fehlschlägen schließlich doch, Buchstaben zu Wörtern aneinanderzureihen. Welch ein Triumph! Und welch eine Belohnung für die junge Frau, die strahlenden Gesichter ihrer Schützlinge zu sehen. Wenn die Kinder am Abend zu ihren Familien zurückkehren, zeigen sie voller Stolz, was sie gelernt haben und was sie schon alles können. Sie fühlen sich stärker und fürs Leben besser gewappnet als ihre Väter und Mütter, die tagein, tagaus von früh bis spät in der Zuckerrübenfabrik schuften.

Doch obwohl sie ihr Ziel erreicht hat, ist Maria nicht zufrieden. Sie ist jung, und sie träumt manchmal von Paris, wo ihre Schwester gerade ihre Medizinprüfungen ablegt, wo junge Menschen miteinander lernen, lachen, leben. In den Briefen, die sie ihrem Vater schreibt, fleht sie ihn an, ihr rasch Chemie-, Physik- und sogar Mathematikaufgaben zu schicken. Die Naturwissenschaften sind ihre ganze Leidenschaft. Der Briefwechsel zwischen Vater und Tochter wird zu einem Band des Herzens, einer Verbindung, wie sie sich Jahre später mit ihrer eigenen Tochter, Irène, wiederholen wird, einer symbiotischen Verbindung durch die Wissenschaft.

Aber es gibt noch weitere Herzensangelegenheiten: Der Sohn der Familie hat ein Auge auf Maria geworfen und macht ihr den Hof. Bei vertraulichen Gesprächen auf ausgiebigen gemeinsamen Spaziergängen über die Rübenfelder entsteht mit der Zeit zwischen den beiden eine Verbundenheit, die den jungen Mann schließlich veranlasst, seine Eltern um Erlaubnis zu bitten, Maria heiraten zu dürfen. Doch obwohl die junge Hauslehrerin von ihren Arbeitgebern bisher so herzlich behandelt worden ist, als gehörte sie zur Familie, fällt das Urteil grausam aus. Das Mädchen ist arm wie eine Kirchenmaus, und auch ihre Herkunft erscheint den Eltern des jungen Mannes in keiner Weise gesellschaftsfähig. Maria stellt ihren Kavalier zur Rede. Wird er sich seiner Familie widersetzen? Dazu fehlt ihm der Mut. Sie treffen sich wieder, sie stellt ihn noch einmal vor die Wahl, doch ohne Erfolg. Da wendet sie sich von ihm ab. Sie ist enttäuscht, am Boden zerstört. Der erste Liebeskummer. Künftig wird sie in Gefühlsdingen auf der Hut sein. Sie wird immer unnahbarer, kapselt sich ab. Und dort in Frankreich, weit weg von zu Hause, wird Bronia noch jahrelang studieren müssen und der Hilfe ihrer Familie bedürfen. Obwohl sie erst zwanzig ist, sieht Maria ihre Zukunft in recht düsteren Farben.

Doch sie darf sich nicht unterkriegen lassen. Die Tage und Monate vergehen. Bald schon sind es drei Jahre, die sie in dieser finsteren Einöde lebt. Nach der Pensionierung ihres Vaters überlegt sie daher, nach Warschau zurückzukehren und mit ihm gemeinsam in eine kleine Wohnung zu ziehen. Ist es nicht von jeher die Pflicht einer Tochter, sich um ihre alten Eltern zu kümmern? Doch Władysław Skłodowski hat nicht die Absicht, zu einer Belastung zu werden. Er nimmt einen Posten an, von dem er nie geglaubt hätte, dass er einmal für ihn infrage käme: die Leitung einer Besserungsanstalt für Kinder. Eine trostlose Aufgabe. Doch es gibt einen Lichtblick in dieser Situation: das Gehalt. Von nun an kann Władysław Skłodowski Bronia mehr Geld schicken. Maria wäre endlich in der Lage, etwas für sich selbst zurückzulegen. Als ihr Vertrag ausläuft, kehrt die junge Frau nach Warschau zurück. Endlich kann sie wieder aufleben. Sie erhält eine Anstellung bei einer sehr vermögenden Familie und bekommt Einblicke in die Sphäre der Reichen. Auch wenn ihre Arbeitgeber sich ihr gegenüber als großzügig erweisen und sich gern kulturbeflissen geben, beobachtet Marie, wie beschränkt der Horizont in dieser oberflächlichen Welt ist. Da trifft plötzlich ein Brief von Bronia ein, an den sie schon nicht mehr geglaubt hat. Ihre ältere Schwester teilt ihr mit, dass sie einen polnischen Kommilitonen heiraten will, der bereits kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums steht und bald schon selbst seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Bronia wird dann nicht länger auf die Zuwendungen des Vaters angewiesen sein:

»Und nun zu Dir, liebe Mania – es ist nun allmählich an der Zeit, daß du etwas aus Deinem Leben machst. Wenn Du in diesem Jahr ein paar hundert Rubel zusammenbringst, kannst Du im nächsten Jahr nach Paris kommen und bei uns wohnen und essen. Die paar hundert Rubel brauchst Du unbedingt für die Inskription an der Sorbonne. […] Du mußt Dich dazu entschließen, Du wartest schon zu lange! Ich garantiere Dir, daß Du in zwei Jahren das Lizentiat hast. Denke darüber nach, sei sparsam und verwahre dein Geld an sicherem Ort, verleihe nichts.«8

Maria zögert, sie muss nach diesen Jahren im Nebel der Monotonie erst einmal wieder zur Besinnung kommen. Sie weiß nicht, ob sie es noch schaffen wird, aus Polen fortzugehen, ihren Vater zurückzulassen. Frankreich ist so weit weg … Doch die Naturwissenschaften haben ihre Anziehungskraft auf Maria nicht verloren. Bald schon verbringt sie die Sonntagabende nicht mehr in der Stadt mit Freunden, sondern in einem Laboratorium, das die »Fliegende Universität« ihr im Industrie- und Landwirtschaftsmuseum zur Verfügung gestellt hat. Was für ein Glück! Beim Hantieren mit Reagenzgläsern empfindet sie eine nie gekannte Kraft und Begeisterung. Eine Weile zögert sie dennoch; soll sie es wagen? Schließlich ist ihr Entschluss gefallen, sie schickt ihre Matratze, ein paar Betttücher und einen Schrankkoffer mit ihren wenigen Habseligkeiten vor und besteigt den Zug nach Paris. Versorgt mit genügend Proviant, versteht sich, denn die Reise wird lange dauern, drei Tage und drei Nächte – eine Ewigkeit auf einer Holzbank in der vierten Klasse. Auf dem windumtosten Bahnsteig umarmt sie der Vater zum Abschied, bevor sie auf das Trittbrett springt und der Zug sich, eingehüllt in eine mächtige Dampfwolke, in Bewegung setzt. Das Rattern der Räder versetzt Maria in ein Gefühl freudiger Erwartung, während sie der so heiß ersehnten unbekannten Zukunft entgegenfährt.

Das Viertel nahe der Gare du Nord, wo Bronia mit ihrem Ehemann lebt, entspricht nicht ganz Marias Vorstellungen. Dennoch ist es ein Symbol für das, was sie sich so sehr erhofft hat: Freiheit und Zugang zur Universität. Hier kann die junge Frau tun, wonach ihr der Sinn steht, sie kann sich mit anderen austauschen und offen diskutieren, ohne die Stimme senken oder sich verstecken zu müssen. Es ist eine Offenbarung, eine geradezu berauschende Erfahrung. Dass sie jeden Tag die Stadt durchqueren muss, um zur Sorbonne zu gelangen, macht ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil, der Lärm, der Verkehr, die doppelstöckigen Omnibusse, die Pferde, das Lachen der Passanten, ihre Art, sich zu kleiden, all das fasziniert die junge Frau. Dennoch kommen ihr nach und nach Zweifel. Das Wiedersehen mit ihrer Schwester war eine riesengroße Freude, doch der Lebensstil des Ehepaars hält sie davon ab, sich mit aller Kraft auf ihr Studium zu konzentrieren. Bei Kazimierz Dłuski und Bronia gehen abends Freunde ein und aus, bis spät in die Nacht wird unermüdlich diskutiert und gesungen. Ein berühmter polnischer Pianist, dem Maria im Hause ihrer Schwester begegnet, erweist den jungen Leuten die Ehre, für sie zu spielen. Dieser Ignacy Paderewski, der gerade erst am Beginn seiner Karriere steht, wird später zu Recht die Welt in Erstaunen versetzen, allerdings nicht nur durch sein begnadetes Klavierspiel. Noch ahnt niemand, dass er sich eines Tages für ein freies Polen engagieren und 1917 beim amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson für die Unabhängigkeit seines Landes einsetzen wird; als erster Premierminister und Außenminister Polens wird er an der Spitze der polnischen Delegation den Versailler Vertrag unterzeichnen. Paderewski verfolgt gleichzeitig eine Laufbahn als Musiker und als Diplomat.

Vorerst hat Maria, die sich nunmehr Marie nennt, alle Hände voll damit zu tun, an der Sorbonne die drei Jahre aufzuholen, die sie fernab der Universität verbracht hat. Da ihre Ersparnisse dahinschwinden, hat sie keine Minute zu verlieren. Auch wenn sie sich in den Hörsälen dieser weltberühmten Stätte der Gelehrsamkeit ganz nach vorn in die erste Reihe setzt, muss sie gelegentlich gegen den Schlaf ankämpfen. Ihr Französisch ist nicht so einwandfrei, wie sie geglaubt hat, und sie möchte es doch ebenso gut und gewandt sprechen und schreiben wie ihre Kommilitonen. Immerhin ist sie eine der wenigen Frauen an diesem Ort. Die jungen Männer beobachten die fleißige blonde Studentin, die ihre Nase immer nur in die Bücher steckt; ab und zu jedoch erhellt ein Lächeln ihr ernstes Gesicht, und das sieht sehr charmant aus. Die ersten Monate erweisen sich als aufregend und anstrengend. Wird Marie durchhalten?

Ein eigenes Zimmer nahe der Universität zu mieten, erscheint ihr als probate Lösung. Es muss ja nur eine kleine Kammer sein, wo sie sich endlich ganz aufs Lernen konzentrieren kann, mit Blick auf den Himmel, die Lichter und die so typischen blaugrauen Schieferdächer der Hauptstadt. Im März 1892 bezieht sie also ein Zimmer im sechsten Stock im 5. Arrondissement, in der Nähe des Val-de-Grâce, wo sich auch das Collège de France, die Bibliotheken, die École Normale Supérieure und die École Municipale de Physique et de Chimie Industrielles de la Ville de Paris befinden und wo auch der Jardin du Luxembourg nicht weit ist, der sich hervorragend für Spaziergänge eignet. Zur Sorbonne sind es nun nur noch zwanzig Minuten zu Fuß, vorbei an Buchhandlungen und Bibliotheken, die sich in den bunten und quirligen Straßen aneinanderreihen. Das Glück scheint perfekt. Endlich ist Paris so, wie sie es sich immer erträumt hat. Marie zieht fortan von Zimmer zu Zimmer, keines ist ihr still und einsam genug, so sehr sehnt sie sich danach, in aller Ruhe lernen zu können. Sie schließt auch ein paar neue Freundschaften, zunächst innerhalb der polnischen Studentengemeinschaft. Trotz ihrer bescheidenen Mittel kochen die jungen Leute manchmal abwechselnd polnische Gerichte, die sie an ihre weit entfernte Heimat und ihre Familien erinnern. Diese Zusammenkünfte gleichen kleinen, fröhlichen Festen. Aber nach und nach kapselt Marie sich immer mehr ab. Schließlich zieht sie in eine Mansarde ohne Heizung und Wasseranschluss. Die Armut zwingt sie dazu. Wie ihre Tochter Ève Curie später in der Biografie über ihre Mutter schreiben wird, muss Marie in der Kälte Kohlensäcke und Wasser über die schief getretenen und gefährlichen Treppenstufen hinaufschleppen. Zum Glück gibt es die Bibliotheken. Dort wird ein wenig geheizt, das rettet die junge Frau. Die schmackhaften warmen Mahlzeiten, die bei Bronia und Kazimierz stets auf den Tisch kamen, fehlen Marie. Sie selbst versteht nichts vom Kochen, und nur mit einem kleinen Ofen und einem Wasserkessel fehlt ihr auch die Ausstattung, um sich angemessen zu ernähren. So lebt sie von Butterbroten und Tee. Sie wird immer schwächer, leidet unter Schwindel, Erschöpfungszuständen und Anämie. Eines Tages wird sie ohnmächtig. Ihr Schwager, der Arzt ist, begibt sich zu ihr, nimmt sie mit und päppelt sie auf, doch schon bald ist Marie wieder bei ihrer schmalen Kost angelangt. Trotz alledem legt sie ihre Prüfungen ab und schafft das unter diesen desolaten Umständen schier Unglaubliche: 1893 erhält sie als Jahrgangsbeste ihr Lizenziat in Physik, im Jahr darauf sollte sie Zweite in Mathematik werden.9 Nur ein Lizenziat wäre für Marie nicht genug gewesen, sie bürdet sich gleich noch die Arbeit für ein weiteres auf! Nachdem sie ihr erstes Lizenziat bestanden hat, kehrt sie für den Sommer nach Warschau zurück, wo sie wieder zu Kräften kommt. Doch beschleicht sie immer wieder eine gewisse Unruhe, wenn sie an Paris denkt. Wie soll sie den Herbst dort überstehen?

Da erscheint wieder einmal unverhofft ein Licht am Ende des Tunnels. Dank des großzügigen Einsatzes einer Polin wird Marie ein Alexandrowitsch-Stipendium gewährt, das begabten polnischen Studenten ein Studium im Ausland ermöglichen soll. Sie wird sechshundert Rubel erhalten, eine fantastische Summe! Das nächste Studienjahr ist gerettet. Und sie nimmt sich vor, weiterhin zu sparen, auf Kosten ihrer Gesundheit, damit sie zwei Jahre lang mit diesem Geld auskommt. Dazu arbeitet sie wie besessen, und sie ist glücklich, denn die Beschäftigung mit der Wissenschaft und die Zeit im Laboratorium, wo sie stundenlang im Stehen Versuche durchführt, sind für Marie eine Erfüllung. Sie geht vollkommen auf im Forschen, Entdecken und Lernen. So studiert sie Jahr um Jahr höchst erfolgreich, der Abschluss rückt immer näher. Nichts kann sie von ihrer Konzentration auf die Arbeit ablenken. Sie hat es geschafft.

Eines Tages schlägt ihr ein polnischer Freund vor, sie an der Sorbonne mit einem jungen französischen Wissenschaftler bekannt zu machen, der ihr vielleicht dabei behilflich sein könnte, ein geräumigeres Laboratorium zu finden als das des renommierten Physikers Gabriel Lippmann.10 Warum nicht? Dieser Freund ist der Professor Józef Kowalski von der Universität Fribourg, der sich gerade anlässlich seiner Hochzeitsreise in Paris aufhält und den Marie bereits seit ihrer Jugend in Warschau kennt. Ein Glücksfall. Kowalski und auch seine junge Frau sind sogleich der Ansicht, dass dies ein nettes Zusammentreffen werden könnte. Marie vertraut den beiden; schließlich brennt sie darauf, unter besseren Bedingungen forschen zu können. Sie hat bei dieser Verabredung nichts zu verlieren.

Pierre Curie steht am Fenster. Auf die Ellbogen gestützt, blickt er verträumt zum Himmel hinauf, ins Licht. Er scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Als Marie den Raum betritt, wendet er sich zu ihr um, deutet eine Geste an, richtet sich auf und begrüßt sie. Er ist höflich, hochgewachsen, trägt einen schönen Bart, sein Gesicht wirkt offen und sehr sanftmütig. Der französische Wissenschaftler scheint sich zu freuen über die Begegnung mit einer jungen Frau, die sich genau wie er für die Physik und die exakten Wissenschaften begeistert; ansonsten ist dies eine überaus männlich geprägte Domäne. Pierre hat noch immer nicht den vor Jahren erlittenen Verlust seiner Jugendliebe verkraftet. Tief erschüttert durch den Tod der Freundin hat er sich vorgenommen, nie mehr eine Frau zu lieben, um nicht noch einmal so zu leiden. Und doch hat er sich insgeheim oft nach einer Gefährtin gesehnt, nach einer Partnerin, die seine Faszination für die Forschung versteht und teilt. Marie ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass der Mann, der hier vor ihr steht, im Wissenschaftskosmos des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine große Ausnahme darstellt. Frauen sind darin grundsätzlich auf die Rolle der unterwürfigen Gattin festgelegt. In dieser Eigenschaft verbringen sie den größten Teil ihrer Zeit damit, die Kinder zu erziehen und durch Einladungen und Empfänge den beruflichen Aufstieg ihrer Ehemänner voranzutreiben. Kaum ein Wissenschaftler würde zu jener Zeit die Kreativität und das Talent einer Frau gelten lassen.

Marie ist beeindruckt von der bescheidenen Wesensart dieses Mannes, wie sie Jahre später in ihren Erinnerungen festhalten wird. Trotz des Altersunterschieds von acht Jahren und der reichen Erfahrung dieses anerkannten französischen Wissenschaftlers fühlt sie sich keineswegs eingeschüchtert:

»Als ich eintrat, stand Pierre Curie in der Nische der Balkontür. Er schien mir sehr jung, obwohl er damals schon fünfunddreißig Jahre alt war. Was mir an ihm auffiel, war der Blick seiner hellen Augen und eine gewisse Lässigkeit in der Haltung seines hochgewachsenen Körpers. Die etwas langsame, bedächtige Sprechweise, seine Schlichtheit, das zugleich ernste und jugendliche Lächeln hatten etwas sehr Vertrauenerweckendes. Es entwickelte sich ein Gespräch zwischen uns, das bald freundschaftlichen Charakter annahm; wir sprachen über wissenschaftliche Themen, und ich war glücklich, ihn nach seiner Meinung fragen zu können, aber auch über soziale oder humanitäre Angelegenheiten, die uns beiden von Interesse schienen. Trotz der kulturellen Unterschiede unserer Heimatländer stellten sich erstaunliche Parallelen in unseren Ansichten heraus, die ohne Zweifel zum Teil auf die recht ähnlichen ethischen Werte unserer Familien zurückzuführen sind, mit denen wir beide aufwuchsen.«11

Pierre Curie hat zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre als Forscher und Entdecker hinter sich. Seine in Physikerkreisen hochgeschätzten Arbeiten sind auch dem polnischen Freund bekannt, der Marie und Pierre einander vorstellt. Pierres Werdegang wie auch sein Talent sind außergewöhnlich. Er hat nie eine Schule besucht. Seine Eltern haben ihn von Hauslehrern unterrichten lassen, weil sie begriffen hatten, dass diesem schüchternen Träumer das Schulsystem mit all seinen Zwängen nicht guttun würde. Für den jungen Pierre ist auch sein älterer Bruder Jacques stets eine wichtige Bezugsperson gewesen. Er war sein engster Freund und trug, wie auch der Vater und die Mutter, zu seiner Ausbildung bei. Doch die beiden Brüder verbindet nicht nur eine unverbrüchliche Zuneigung, sie begeistern sich auch gleichermaßen für physikalische Experimente. Mit sechzehn besteht Pierre Curie sein Abitur, mit achtzehn das Lizenziat in Physik. Weil er wegen finanzieller Engpässe sein Studium nicht fortsetzen kann, arbeitet er als Laborassistent. Parallel dazu setzen Pierre und Jacques ihre gemeinsamen Versuche fort und entdecken den piezoelektrischen Effekt12. So werden die beiden Brüder binnen kurzer Zeit zu jungen Physikern, die für ihre Kreativität bekannt sind.

Pierre hat zwar noch Kontakt zu einigen Jugendfreunden, doch das gesellschaftliche Leben kennt er nur durch seine Eltern und aus Berichten von Söhnen ihrer Freunde. Sein Vater, der Arzt Eugène Curie, ist ein aufgeschlossener, humorvoller Mann von wacher Intelligenz und antiklerikalem Geist. Pierre hat nicht die klassische französische Universitätslaufbahn absolviert. Ihn hat es nicht an die École Normale Supérieure Rue d'Ulm gezogen, die sich damit brüsten kann, die bedeutendsten französischen Wissenschaftler und ab 1900 die meisten Nobelpreisträger der wissenschaftlichen Kategorien hervorgebracht zu haben. Auch schreibt er keine Thèse d'État, die für eine Lehrtätigkeit an einer Universität unabdingbar ist. Doch er unterrichtet an der ebenfalls sehr renommierten École Municipale de Physique et de Chimie Industrielles de la Ville de Paris, die sich im Quartier Latin befindet, unweit des Pantheons, wo sich zwischen der Rue des Écoles, der Rue Saint-Jacques und der Rue d'Ulm die Wege der berühmtesten Wissenschaftler kreuzen. 1889 erfindet und konstruiert er die »Curie-Waage«, eine magnetische Präzisionswaage, mit der die Wiegegeschwindigkeit erheblich gesteigert werden kann. Darüber hinaus entdeckt er das sogenannte »Curiesche Gesetz«, ein neues Grundprinzip magnetischer Thermometer, die bei sehr niedrigen Temperaturen eingesetzt werden. Bei ihrer ersten Begegnung trifft Marie also auf einen für seine Entdeckungen bereits anerkannten Forscher. Da er nur für seine Arbeit lebt, könnte man vermuten, dass es ihm schwerfallen würde, sich an die tagtägliche Präsenz einer Frau zu gewöhnen. Doch Pierre Curie ist in der von Zuneigung und Wohlwollen geprägten Atmosphäre einer liebevollen Familie aufgewachsen. Mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder hat er ein beispielhaft harmonisches Familienleben erfahren.

Das Zusammentreffen mit Marie ruft in ihm unerwartete Empfindungen wach. Es ist ihm Freude und Genuss zugleich, mit einer Frau über seine Lieblingsthemen, ja über seinen Lebensinhalt sprechen zu können, über die Physik mit all ihren Problemstellungen und Herausforderungen und über das Glück, an deren Lösungen zu arbeiten. Eine Welle der Zuneigung durchströmt ihn, schon lange hatte er sich nicht mehr so wohlgefühlt. Nachdem Marie gegangen ist, denkt der junge Mann nur noch daran, wie er es anstellen könnte, sie wiederzusehen. Doch da er im Umgang mit Frauen so schüchtern ist, hat er Angst, sie zu verschrecken.

Rasch ersinnt er daher eine Strategie. Er wird ihr schreiben; nicht um ihr zu sagen, wie gern er sie wiedersehen würde, sondern um sich mit ihr über das auszutauschen, was sie beide verbindet: die Wissenschaft, die Forschung. Sie schreiben einander, und sie treffen sich wieder. Doch dann fährt Marie nach Polen, und sie erwägt, möglicherweise für immer dorthin zurückzukehren. Ein unerträglicher Gedanke. In den Briefen, die er ihr nach Warschau schreibt, offenbart Pierre ihr nun offen seine Zuneigung. Nach und nach lässt Marie sich berühren von diesen Botschaften, die ihr einen Halt geben, den sie schon so lange entbehren muss. Sie zögert zunächst, gibt aber schließlich nach. Im Herbst kehrt sie nach Frankreich zurück. Und diesmal fährt sie nicht nur nach Paris, sondern auch zu Pierre.

Eine angenehme Wärme erfüllt die Luft an diesem Sommertag des 26. Juli 1895 im Trauzimmer des cremeweiß gestrichenen Rathauses von Sceaux, das an ein besonders elegantes Palais erinnert. Maries Vater und ihre Schwester sind eigens aus Polen angereist. Vor Freude sind sie schon ganz aufgeregt. Als die junge Wissenschaftlerin das Gebäude betritt, tut sie dies keineswegs im weißen Brautkleid. Wo sollte sie auch anschließend damit hin? An ihren langen Arbeitstagen könnte sie so etwas auf keinen Fall tragen. Marie erscheint vor dem Bürgermeister in einem hübschen, jedoch schlichten blauen Wollkostüm. Für sie, die nahezu mittellos aus ihrer polnischen Heimat hergereist ist, spartanisch in einem kleinen Zimmerchen gelebt und sich kaum je ordentlich ernährt hat, ist jede unnötige Ausgabe unvorstellbar. Sie denkt praktisch und hat stets die Arbeit im Sinn. Dieses Kleid in gedeckten Farbtönen würde sie auch im Laboratorium zwischen Gesteinsproben und Reagenzgläsern und sogar beim Radfahren tragen können. Ein Cousin hat ihnen etwas Geld geschenkt, das sie in ihre gemeinsame Leidenschaft investiert haben: zwei Fahrräder, ihr ganzer Luxus. Damit durchqueren die Jungvermählten die Île-de-France in allen Himmelsrichtungen. Es ist eine wundervolle, glückliche Hochzeitsreise. Schon bald unternehmen sie immer ausgedehntere Fahrten, und für Marie geht endlich in Erfüllung, wovon sie seit ihrer Zeit als Hauslehrerin auf dem Lande in Polen geträumt hat. Bei ihren Fahrradausflügen wird das Land von Victor Hugo, aber auch das der zu jener Zeit äußerst populären Romanschriftstellerin Colette zu ihrer zweiten Heimat. Polen und Frankreich, Frankreich und Polen. Welch eine Bereicherung der eigenen Identität, die danach drängt, sich zu entfalten, und dabei keine der beiden Kulturen missen möchte. Die Natur und die Wissenschaft bilden die Grundpfeiler des gemeinsamen Lebens von Marie und Pierre.

Jeden Sonntag essen die beiden bei Pierres Eltern, Doktor Eugène Curie und seiner Frau Sophie-Claire, zu Mittag. Das junge Paar lässt sich gern verwöhnen und genießt die herrlich entspannten Stunden. Die Schwiegereltern nehmen die junge Polin so herzlich auf, als sei sie die Tochter, die sie nie hatten. Auch Pierres Bruder Jacques ist Marie sehr zugetan. Die Stimmung bei Tisch ist fröhlich und lebhaft, und Doktor Curie, ein Mann der Kultur von entschieden antireligiöser Haltung und Verfechter der Republik, übt eifrig Kritik an der Regierung – auf eine so bestechend humorvolle Art, dass er alle Anwesenden damit aufs Beste unterhält.

Marie hat sich nicht mit ihrem naturwissenschaftlichen Lizenziat zufriedengegeben, sondern im letzten Jahr auch ein Lizenziat in Mathematik bestanden. Ein Jahr nach der Hochzeit erlebt das Ehepaar Curie einen zweiten glücklichen Sommer. Im August 1896 absolviert Marie die Agrégation in Naturwissenschaften für das Lehramt an höheren Mädchenschulen – als Jahrgangsbeste. Sie ist nun eine der Frauen mit den meisten Abschlüssen in Frankreich, und sie hat einen Ehemann gefunden, der sie als vollkommen gleichgestellt betrachtet. Das ist ein Glücksfall; die meisten Wissenschaftlerinnen können auf eine derartige Anerkennung eher nicht hoffen. Außerdem würde kaum ein Mann eine berufstätige Frau heiraten. Die zu allem Überfluss auch noch denkt! Doch Pierre träumt davon, dass er und Marie gemeinsam für den wissenschaftlichen Fortschritt arbeiten. Die beiden sind weit entfernt vom klassischen Schema, bei dem der Mann als Gelehrter glänzt und Karriere macht, während die Frau in seinem Schatten steht und ihm den Rücken freihält. Nein, bei ihnen heißt Liebe, alles miteinander zu teilen und Seite an Seite mit Leidenschaft zu forschen.

Ihre Wohnung befindet sich in der Nähe des Quartier Mouffetard, unweit der Place de la Contrescarpe und des Pantheons. Von der Bibliothek Sainte-Geneviève blickt man auf das Pantheon, in dem zehn Jahre zuvor Victor Hugo in einer pompösen Zeremonie beigesetzt wurde. Ein Staatsbegräbnis für einen Mann, der einen Teil seines Vermögens den Armen vermacht hat. Pierre und Marie lassen sich am Rande des 13. Arrondissements in der Rue de la Glacière nieder. So können sie ihr Laboratorium in der Rue Lhomond mit dem Fahrrad erreichen. Marie schätzt die schlichte und pflegeleichte Dreizimmerwohnung. Manchmal werden die beiden Schlafzimmer für häusliche Laborarbeiten genutzt. Immer steht der praktische Aspekt im Vordergrund. Sehr wenige Möbelstücke, aber dafür eine überbordende Bibliothek und ein Tisch, der sich biegt unter Fachliteratur und Berechnungstabellen. Nicht zu vergessen zwei Stühle …

Diese Wohnung wird der Schauplatz jahrelanger intensiver Arbeit sein. Und der Schauplatz des Lebens, mit all seinem Glück und all seinem Kummer. An diesem Ort wird Marie Pierre voller Freude mitteilen, dass sie ihr erstes Kind erwartet, auch wenn sie, über ihre Reagenzgläser gebeugt, von Schwindel geplagt wird. Doch das Glück erhält schon bald einen Dämpfer. Eines Abends kommt Pierre bedrückt nach Hause. Seine Mutter ist an Krebs erkrankt. Und wie so oft liegen Leben und Sterben eng beieinander. Am 12. September 1897 bringt Marie ihr erstes Kind Irène zur Welt, und nur wenige Tage darauf stirbt Sophie-Claire Curie.

Es ist ein Schock und für Pierre eine Verwirrung der Gefühle, die ihn stark angreift. Wenn es trotz des Kummers einmal geschieht, dass er lachen muss, quälen ihn anschließend Schuldgefühle. Doch Marie ist für ihn da und tröstet ihn. Seine tief empfundene Trauer, so versichert sie ihm, könne durch sein Lachen um nichts gemindert werden. So geht das Leben weiter, und neue Anforderungen bringen den Curies ihre Energie zurück. Künftig wird ihnen in ihrer kleinen Wohnung ein neuer Mitbewohner Gesellschaft leisten. Doktor Curie, nunmehr Witwer, zieht bei der jungen Familie ein. Er möchte seine kleine Enkelin Irène um sich haben, und mit der Zeit wird das Kind sein Trost. Der Vorschlag, ihn aufzunehmen, war von Marie gekommen. Für sie ist dies eine Selbstverständlichkeit, schließlich kann sie sich noch lebhaft daran erinnern, welchen Schmerz ihr eigener Vater nach dem Verlust der Mutter durchlitten hat. Władysław Skłodowski hatte die Erziehung seiner Kinder allein in die Hand genommen und ihnen ein neues Zuhause geschaffen, ein trautes Heim, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Einige Monate nach Irènes Geburt beginnt Marie mit den Arbeiten zu ihrem Doktorat. An der École Municipale de Physique et de Chimie Industrielles de la Ville de Paris hat man dem Ehepaar Curie dafür einen Schuppen in der Rue Lhomond 42 zur Verfügung gestellt. Marie ist hingerissen von diesem Ort, an dem man in späteren Zeiten einen Film noir hätte drehen können: »Eine Bretterbaracke mit asphaltiertem Boden und einem Glasdach, das nur mangelhaft vor dem Regen schützte, ohne jegliche Einrichtung. […] Alles, was sie enthielt, waren einige abgenützte Tische aus weichem Holz, ein Schmelzofen, der den Raum nur ganz ungenügend erwärmte, und die Schwarze Tafel, deren sich Pierre Curie so gern bediente.«13 In diesem »zusammengewürfelten« Laboratorium werden sie zwei Jahre lang arbeiten und, wie Marie später bezeugen wird, glücklich sein. Zu zweit konzentriert auf ein einziges Ziel hinarbeiten, entdecken, Geheimnisse verstehen, sich Fragen stellen, gemeinsam zu neuen Erkenntnissen gelangen, einen Lebensinhalt teilen, der sie einander nicht nur immer näher bringt, sondern sie vereint. In diesem kahlen Raum gelangen sie zu einer Art Symbiose. Vom Standard der öffentlichen oder privaten Forschungslaboratorien in den USA ist man hier himmelweit entfernt. Pierre findet in der Rue Lhomond eine Anstellung als Laborassistent und schreibt an seiner Doktorarbeit. Jahre später, nach der Promotion, wird er Professor an ebendieser Hochschule. Er wird dort jahrelang glücklich sein und in Ruhe forschen, vereint mit der Gefährtin seines Lebens. Die Curies halten sich auch über die Arbeiten anderer Physiker auf dem Laufenden.

Zu Hause verfolgt Doktor Eugène Curie aufmerksam die Nachrichten aus der Politik. Als Freidenker beschäftigt ihn eine Sache ganz besonders, ein Vorfall, der das Land erschüttert und Familien entzweit: die Dreyfus-Affäre14. Auf der einen Seite stehen die Sozialisten und zahlreiche Republikaner, für die Alfred Dreyfus unschuldig ist, auf der anderen katholische und konservative Franzosen, die den Tod des Offiziers fordern. Marie für ihren Teil hört zu, wenn ihr Schwiegervater und ihr Mann über die Dreyfus-Affäre diskutieren, bleibt aber zurückhaltend, als diese später erneut auf den Titelseiten der Zeitungen auftaucht. In den Hörsälen der Sorbonne musste sie sich oft genug die bissigen Bemerkungen der Studenten anhören, die sich über »die Ausländerin« lustig machten. Außer während des Ersten Weltkriegs wird sie ihr ganzes Leben lang möglichst vermeiden, in politischen Fragen Partei zu ergreifen, auch wenn ihr Herz und ihr Handeln stets der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet sind.

Maries ganze Leidenschaft ist es, Tag und Nacht im Laboratorium über den Magnetismus und seine Eigenschaften an bestimmten Derivaten zu forschen. Doch welches Thema soll sie wählen? Sie wendet sich der neuesten Entdeckung zu, auf die Henri Becquerel bei seinen Experimenten zur Fluoreszenz gestoßen ist. Der Physiker berichtet über eine mysteriöse Strahlung, ähnlich den von Wilhelm Conrad Röntgen isolierten »X-Strahlen«, mit denen jener die Knochen einer Hand sichtbar machen konnte. Diese Röntgenstrahlen bewirken ein Phosphoreszieren, das Henri Becquerel der Académie des Sciences präsentieren will: »Uransalze geben mit bemerkenswerter Konstanz eine unsichtbare Strahlung ab, während dies bei anderen phosphoreszierenden Substanzen nicht der Fall ist.«15

Doch wie kommt es zu dieser Strahlung? Ein Rätsel, das Maries Neugier erregt. In ihrem Laboratorium in der Rue Lhomond, sozusagen im Epizentrum der französischen Wissenschaft, macht sie sich Gedanken über ihre bevorstehende Doktorarbeit. Das Laboratorium spottet jeder Beschreibung: Ein heruntergekommener und feuchtkalter Raum, in dem es von der Decke tropft und fortwährend die Sicherungen herausspringen. In einer derart unsauberen Umgebung sind Probleme mit den empfindlichen Apparaten vorprogrammiert. Es sind miserable Arbeitsbedingungen für die französische Spitzenforschung. Doch Marie ist durch nichts zu bremsen. Sie misst zunächst die Ionisationsfähigkeit von Uran und entdeckt, dass die geheimnisvolle Strahlung nicht auf chemischen Prozessen beruht, sondern von der Materie selbst ausgeht. Könnte es nicht sein, dass es noch andere, bisher unentdeckte Elemente gibt? Der jungen Forscherin gelingt es, Thoriumverbindungen zu finden, die eine vergleichbare Strahlungsintensität besitzen. Sie tauft dieses Phänomen »Radioaktivität«.

Nun macht sich Marie daran, die Strahlung zahlreicher Minerale zu untersuchen. Bald wird ihr klar, dass bei manchen Mineralen die darin enthaltenen Mengen an Uran und Thorium nicht ausreichen, um ihre teilweise extrem starke Strahlung zu erklären. Diese kann also nur von einer weiteren, noch radioaktiveren Substanz herrühren. Nachdem sie alle bekannten chemischen Elemente überprüft hat, kommt sie zu einer revolutionären Schlussfolgerung: Es muss einen unbekannten Stoff geben, der noch wesentlich radioaktiver ist als Uran und Thorium. Ihre Vermutung erweist sich als richtig. Und ihre Doktorarbeit über die »Uranstrahlen« scheint nun überholt.

Unverzüglich spricht sie darüber mit Pierre, der an der Arbeit seiner Frau großen Anteil nimmt. Sie macht ihm klar, dass diese Zwischenergebnisse unverzüglich der Académie des Sciences zur Kenntnis gebracht werden müssen. Doch weder sie selbst noch Pierre sind dort Mitglied. Zum einen sind sie zu jung, zum anderen werden dort nur Männer aufgenommen. Daher bittet Marie ihren ehemaligen Lehrer Gabriel Lippmann, der 1908 den Nobelpreis für Physik erhalten wird, am 12. April 1898 ihren Bericht in der Académie zu präsentieren. Dieser wird sofort im Anschluss in den Comptes rendus, den berühmten Protokollen der Académie des Sciences, veröffentlicht, und verweist auf die mögliche Existenz eines neuen, hochradioaktiven Elements – der erste Schritt zur Entdeckung des Radiums.

Pierre Curie ist fasziniert von der Intuition seiner Frau, und er glaubt an sie. Ihm ist klar, dass die bevorstehende Forschungsarbeit gigantisch und höchst aufwendig sein wird. Sie wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Drei Monate später entdecken die Eheleute gemeinsam, dass sich die Radioaktivität in zwei Fraktionen der Pechblende – eines uranhaltigen Minerals, das wesentlich stärker strahlt als Uran selbst – konzentriert. Nun ist es Zeit, der neuen Substanz einen Namen zu geben, der im Juli 1898 in einer weiteren Ausgabe der Comptes rendus veröffentlicht wird. »Wenn das Vorhandensein dieses neuen Metalls sich bestätigen sollte, schlagen wir vor, nach der Herkunft eines von uns es Polonium zu nennen.«16

Bis jetzt hat jedoch noch niemand Radium oder Polonium gesehen. Wollte man es isolieren, müssten in dem erbärmlichen Schuppen riesige Mengen Pechblende bearbeitet werden. Um das Geld dafür aufzubringen, greifen Marie und Pierre auf ihre mageren Ersparnisse zurück. Doch sie benötigen auch einen größeren Raum. Sie erhalten eine Ablehnung nach der anderen. Frankreich liebt zwar die Wissenschaften, aber nur in der Theorie, sodass den Forschenden nicht die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um ihre Arbeiten erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Das Paar muss sich daher mit einem noch schäbigeren Schuppen begnügen, einer armseligen, eiskalten Holzbaracke ohne Fußbodenbelag. Mehr schlecht als recht richten sich Marie und Pierre darin ein. Voller Eifer macht Marie sich daran, Pechblende zu bearbeiten, um das darin enthaltene Radium zu isolieren. Dies ist allerdings mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden, da die Substanz nur in sehr geringen Konzentrationen in dem Erz enthalten ist. Um ihre Forschung fortsetzen zu können, benötigen die beiden demnach beträchtliche Mengen an Pechblende. Diese hoffen sie aus Böhmen beziehen zu können, wo es in St. Joachimsthal ein bedeutendes Uranoxid-Vorkommen gibt. Pierre und Marie arbeiten mit der Böhmischen Zentralgesellschaft für chemische Produkte zusammen, die über ein industrielles Verfahren zur Verarbeitung von Pechblende verfügt. Doch sind mehrere Tonnen dieses Gesteins erforderlich, »um einige Dezigramm aktiver Stoffe zu extrahieren – eine langwierige, mühsame und kostspielige Arbeit«.17